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Full text of "Briefe an George Sand, mit einem Essay von Heinrich Mann [Deutsch von Else von Hollander]"

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BRIEFWECHSEL 
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DER  LIEBHABERBIBLIOTHEK 
ZWEIUNDZWANZIGSTER  BAND 


DRUCK     VON    E.    GUNDLACH    A.-G.    IN    BIELEFELD 


GUSTAVE  FLAUBERT 

BRIEFE  AN  GEORGE  SAND 


MIT    EINEM    ESSAY 
VON   HEINRICH   MANN 


ERSTES    BIS    FÜNFTES   TAUSEND 


GUSTAV  KIEPENHEUER  / VERLAG  / POTSDAM 

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DEUTSCH  VON  ELSE  VON  HOLLANDER 


FLAUBERT 
UND  DIE  KRITIK 

VON 
HEINRICH    MANN 


Flaubert  ist  aus  seinem  Werk  allein  nicht  zu  er- 
kennen. Er  hat  sich,  sobald  er  an  die  Nachwelt  dachte 

—  und  er  dachte  an  die  Ewigkeit  —  versteckt;  er 
hat  über  sich  getäuscht.  Man  muß  ihn  aufsuchen, 
wo  er  sich  gehen  ließ,  nicht  unter  Verantwortung 
schrieb.  Dort  wird  man  erfahren,  daß  der  fühllose 
Beobachter  einen  Zärtlichen  birgt,  der  Verächter 
einen  Leidenden;  daß  dem  stummen,  strengen  Bildner 
das  Herz  voll  formloser  Sehnsucht  ist;  daß  es  ihm 
voll  Forderungen  und  unterdrückter  Schreie  ist; 
daß  der  wach  umherblickende  Arbeiter  lieber  in  sich 
hinabschauen  und  seine  Tiefen  durchspüren  würde; 

—  ja,  daß  hier  ein  Plastiker  auf  der  Stelle  den  Meißel 
schwingt,  wo  er  einen  Analytiker  lebendig  begraben 
hat.  Das  mußte  geschehen.  Ein  Lyriker  und  Zerteiler 
der  eigenen  Seele  war  für  die  Zeit  nicht  mehr  zu  ge- 
brauchen. Auf  Mussets  Behauptung,  das  Herz  allein 
sei  Dichter,  mußte  endlich  geantwortet  werden: 
„Nicht  die  Dichter  sind  die  Bleibenden,  sondern  die, 
die  schreiben  können".  Gefühle  hat  jeder;  und 
Beranger  und  Onkel  Tom  hatten  sie  kompromittiert. 
Es  hieß  nun  männlich  werden :  keusch  und  der  Wirk- 
lichkeit    ergeben,     der     Außenwelt.      ,, Leidenschaft 

III 


zeugt  keine  Verse,  und  je  persönlicher  man  ist,  um 
so  schwächer  ist  man."  Wem  nur  daran  gelegen  ist, 
mit  seinem  Ich  ansteckend  zu  wirken,  lachen  oder 
weinen  zu  machen,  der  weiß  noch  nicht,  was  Kunst 
ist.  Die  Gefühlssucht  haßt  das  Vollkommene:  aber 
man  muß  es  lieben.  Man  muß  nur  eins  lieben: 
die  Schönheit,  die  absolute  Schönheit,  die  vom  Per- 
sönlichen unabhängig,  vom  Stoff,  ja  vielleicht  vom 
Sinn  der  Worte  unabhängig,  in  Sätzen,  die  wie 
kabbalistische  Formeln  sind,  ein  ihrem  Priester 
selbst  unbegreifliches  Dasein  hat.  Ihr  Priester  sein! 
Den  Stolz  derer,  die  sich  selbst  vergöttlichen,  weit 
von  sich  weisen;  nur  der  Priester  einer  viel  höheren, 
der  höchsten  Gottheit  sein  und  zu  ihren  Füßen  ein 
Leben  des  Darbens  und  der  Kasteiungen,  ein  strenges 
und  demütiges,  aber  auch  ein  vornehmes  und  allem 
Menschlichen   entronnenes  Leben   führen. 

Manchmal  bricht  das  Gefühl  des  Heiligen,  das 
einem  anvertraut  ist,  berauschend  aus  einem  hervor, 
wie  ein  fremder,  wilder  Weiheduft,  der  einer  Wunde 
im  eigenen  Fleisch  zu  entschlüpfen  scheint.  Aber 
das  sind  Sonntagsstunden;  an  unabsehbar  vielen 
Alltagen  fühlt  man  dafür  den  Leib  vom  Stachelring 
zerkratzt,  sinkt  abgemattet  und  immer  unbefriedigt 
—  denn  das  Ziel  ist  das  Vollkommene  I  —  zurück  in 
einen  Sumpf  innerer  Öde.   Dann  zieht  man  wohl  alte 

IV 


Manuskripte  hervor  und  betrachtet  den  lockigen, 
selbstsicheren  jungen  Menschen,  der  damals,  unbe- 
sorgt, ob  in  guten  oder  schlechten  Sätzen,  ob  nebelig 
oder  klar,  sein  Herz  preisgab  und  seine  Meinungen 
verfocht;  der  Geschmacklosigkeiten  beging  und  Be- 
geisterungen austobte.  Und  man  sehnt  sich.  Man 
erleidet  Versuchungen.  Die  Erinnerungen  jenes 
Jünglings  wären  zu  schreiben:  das  wäre  Erholung. 
Ach  nein,  es  wäre  Rückfall;  und  man  hat  es  so  nötig, 
sich  zu  behüten.  Der  Freundin,  die  einem  rät,  sich 
selbst  zu  malen,  das  eigene  Leiden  zu  erleichtem, 
indem  man  es  beschreibe,  antwortet  man  fast  erbittert ; 
denn  sie  rät  einem,  was  das  nie  ganz  erzogene  Herz 
sich  heimlich  wünscht.  „Es  widerstrebt  mir  unsäglich, 
etwas  von  meinem  Herzen  zu  Papier  zu  bringen. 
Ich  finde  sogar,  daß  ein  Romancier  nicht  das  Recht 
hat,  über  was  immer  seine  Meinung  zu  äußern. 
Die  große  Kunst  ist,  glaube  ich,  unpersönlich,  wie 
die  Wissenschaft.** 

Meinungen  äußern!  Zusammenhänge  zu  Schlüssen 
führen!  Seine  Persönlichkeit  ans  Licht  lassen,  um 
sich  schlagen,  Kritik  üben!  Flaubert,  als  Lyriker 
geboren  und  darum  Kritiker,  sah  diese  Genüsse  in 
der  Feme  schweben,  wie  den  Lohn  alles  Entbehrens, 
alles  Geleisteten.  Er  hat  die  Kritik,  den  Kult  des 
Persönlichen    und    des    Gefühlsmäßigen,    als    seine 


Gefahr  empfunden,  als  sein  Laster;  hat  sie  sich  ver- 
sagt, solange  er  sich  auf  der  Höhe  fühlen  würde, 
und  sie  sich  erst  für  sein  Alter  versprochen,  wenn  sein 
Tintenfaß  trocken  wäre.  Er  hat  in  schlecht  bewachten 
Stunden  mit  der  Kritik  geliebäugelt,  wie  ein  arbeit- 
samer, strenger  Bürger  mit  den  Dämchen,  die  er  sich 
vielleicht  gönnen  wird,  wenn  er  Rentner  ist.  In  seinen 
Briefen  nimmt  er  sich  einen  Vorgeschmack  der  künf- 
tigen Instinktbefreiung;  sagt  sein  Wort  zu  Zeit  und 
Welt  und  feiert  mit  einem  trübsinnigen  alten  Mädchen, 
das  er  nie  sieht,  kleine,  leise  Gefühlsorgien:  „Ich  habe, 
wie  Sie,  die  durchdringende  Schwermut  gekannt, 
die  das  Avemaria  an  Sommerabenden  uns  gibt  . . . 
Seinen  ganzen  Lebenslauf  entlang  tauchen  da  und 
dort  kritische  Vorsätze  auf:  ein  Band  Vorreden, 
eine  Geschichte  des  poetischen  Empfindens  in  Frank- 
reich, sein  berühmtes  Wörterbuch  der  überkommenen 
Ideen,  dessen  Wirkung  sein  sollte,  daß  niemand  mehr 
zu  sprechen  wagte,  aus  Furcht,  seine  Worte  könnten 
darin,  ernsthaft  und  mit  Knirschen,  als  Muster  auf- 
gestellt sein.  Denn  alle  gangbaren  Dummheiten, 
die  ganze  ewige  Mittelmäßigkeit  sollte  dort  heim- 
tückisch verteidigt,  alles  Große  und  Freie  im  Sinne 
der  Zahmen  und  Kleinen  verhöhnt  werden.  Und 
das  war  dann  endlich  die  Rache  eines,  den  seine 
hinabgewürgten   Meinungen   erstickten:  seine  Rache 

VI 


an  Bürgern  und  Kritik.  Denn  die  Kritik,  wie  sie 
geübt  ward,  war  spießbürgerlich  und  dem  Großen 
mißgesinnt.  Sie  verkleinerte,  was  groß  war,  und 
förderte  das  Belanglose.  Sie  war  die-  Zuflucht  der 
Nichtskönner;  sie  stand  der  Form  und  dem  geistigen 
Wert  nach  unter  den  gereimten  Gesellschaftsscherzen. 
Seine  alte  Geliebte  machte  ihn  in  einem  Roman 
schlecht.  Welche  traurigen  Werke  kämen  dabei 
heraus,  wenn  man  die  Literatur  in  den  Dienst  der 
eigenen  Persönlichkeit  stellte !  . . .  Dann  werde  die 
Kritik  also  verschwinden?  0  nein:  sie  steht  erst  am 
Anfang,  und  ihre  großen  Männer  kommen  erst. 
Große  Phantasie  und  große  Güte  sind  nötig,  was  so 
viel  heißt  als  eine  stets  bereite  Begeisterungsfähigkeit, 
—  und  Geschmack  obendrein. 

Das  bedeutet:  Flaubert  hat  jetzt  Werke  zu  be- 
haupten; Werke,  deren  er  nicht  immer  sicher  war, 
die  er  manchmal  verleugnet  hat.  ,,Ich  hasse  die  bürger- 
liche Poesie,  die  Familienkunst,  obwohl  ich  selbst 
welche  schreibe.**  Um  so  weniger  durften  andere 
daran  rühren.  Das  Werk  konnte  seinem  Meister 
Zweifel  und  Qual  machen,  so  blieb  es  doch  das  Werk 
seines  Schicksals.  Mochte  er  es  unvollkommen  aus 
dem  Marmor  geschlagen  haben,  so  hatte  es  doch, 
schon  vor  ihm,  darin  gesteckt.  Die  göttliche  Folge- 
richtigkeit des  Schaffens  machte  in  diesem,  wie  in 

VII 


jedem  wahren  Künstlerbewußtsein,  die  Kritik  zu 
einem  Popanz.  Da  das  Werk  nun  geschehen  ist 
und  dasteht:  was  soll  Reden?  Redet  man  gegen  das 
Weltall  und  seinen  Schöpfer?  Schreibt  Artikel  gegen 
eine  Pflanze?  Worte  über  den  Sternenhimmel  hin 
und  ein  wenig  gesprochene  Luft  auf  einen  Halm 
oder  einen  Wald  gehaucht:  das  ist  Kritik.  Vielleicht 
konnte  sie  einmal  von  innen  kommen  und  das  stumme 
Werk  redend  machen ;  konnte  ein  Kritiker  alles  schon 
gewesen  sein,  was  der  Dichter  selbst  einst  war:  Nil- 
schiffer, griechischer  Rhetor,  Pirat  und  Mönch, 
Seiltänzer  und  byzantinischer  Kaiser,  und  konnte  auch 
das  hier  entstandene  schon  erlebt  haben.  Aber  es 
war  unwahrscheinlich,  daß  diese  ideale  Kritik  einem 
andern  zu  Gebote  stand,  als  dem  Autor.  Und  es 
blieb  schwer  begreiflich,  wie  jemand  sich  einbilden 
konnte,  er  habe  Macht  über  das  Werk  eines  andern. 
War*s  ein  Eigener,  der  Kritik  trieb,  wie  Sainte-Beuve, 
dann  staunte  Flaubert,  daß  er  nicht  lieber  Bücher 
schrieb.  Wo  es  ging,  sah  er  in  Kritiken  Haß;  und  wo 
es  nicht  möglich  war,  staunte  er.  Unergründlich  muß 
er  die  verachtet  haben,  die  Herz  von  ihm  forderten. 
Sie  fehlten  ihm  nicht  und  fehlen  keinem.  Sie  grassieren 
in  den  großen  Revuen,  überall  dort,  wo  die  Literatur 
zum  Gebrauch  der  Familien  hergerichtet  wird  und 
das   Schreiben    nichts,    aber   alles   das   Gemüt   gilt. 

VIII 


Die  Keuschheit  und  das  göttliche  Gemisch  aus  Ver- 
achtung und  Verstehen  in  einem  Meister,  der  ver- 
hüllten Hauptes  hinter  seiner  Welt  bleibt,  dulden 
diese  Herzlichen  nicht.  Sie  fordern,  daß  er  hervor- 
trete, jedes  Ding  mit  dem  erklärenden  Stöckchen 
betupfe  und  auf  jedes  eine  gerührte  Träne  fallen 
lasse.  Er  soll  ihnen  sein  Herz  auf  offener  Hand  ent- 
gegentragen. Verschmäht  er*s,  geraten  die  Herz- 
lichen vor  Bosheit  außer  sich.  Seine  große  Kunst 
erbittert  sie  nur  noch  mehr.  Ein  malender,  tönender 
Stil,  weise  Kadenzen,  Vergleiche  aus  unbürgerlichen 
Gebieten  machen  ihn  kalter  Virtuosität  höchst  ver- 
dächtig. Sie  fassen  es  nicht,  daß  man,  um  gelitten 
zu  haben,  nicht  ihre  häßlichen  Sätze  schreiben  muß. 
Sie  sind  nicht  streng  genug,  sich  in  ein  künstliches 
Getriebe  zu  versenken,  das  grausam  ist  wie  das  der 
Natur.  Sie  sind  nicht  tief  genug,  zu  wissen,  daß 
Schönheit  niemals  kalt  war;  daß  hinter  jeder  Schön- 
heit der  Schmerz  steht,  den  Meißel  noch  in  der  Hand. 
Sie  sind  die  Herzlichen  —  und  waren  noch  immer 
auf  dem  Posten,  wenn  es  hieß,  eine  Bovary 
kreuzigen. 

Was  ist  mit  Leuten  anzufangen,  die  ihm,  vom 
Herzen  zu  schweigen,  nicht  einmal  die  nötigste 
Erregbarkeit  der  Nerven  zugestehen  wollen.  Ihm, 
der  tagelang  den  Geschmack  des  Giftes  nicht  los  ward, 

IX 


das  Emma  Bovary  genommen  hatte.  Der  mit  Herz- 
klopfen ans  Fenster  treten  mußte,  weil  der  Rausch 
der  Liebenden  und  ihres  Kusses,  der  Rausch  ihres 
Waldes,  ihrer  Sonne,  ihres  Windes  ihn,  der  es  für  sie 
erlebte,  überwältigt  hatte.  Was  schuldet  man  diesen 
Leuten?  Den  anderen?  Mögen  sie,  im  Haufen, 
einander  lieb  haben:  wir  sind  allein,  und  wir  lehnen 
ab,  was  sie  bewegt. 

Flaubert  war  niemals  versöhnlich,  wo  Kunst  auf 
dem  Spiel  stand.  Er  wird  nun  abweisend  gegen 
alle,  die  nicht  ihm  folgen,  sich  seinen  Gesetzen 
nicht  unterwerfen.  Früher  hatte  er  von  Stendhal 
nichts  wissen  wollen;  jetzt  schränkt  er  Zola  ein. 
Der  Absolutist,  der  in  jedem  Künstler  keimt,  ist  reif 
und  bricht  aus.  Wer  an  uns  rührt,  ist  unser  Feind : 
unser  Feind,  wer  anders  ist.  Schlagt  ihn  tot!  Ganz 
verstehen  konnte  Flaubert  nur  sich;  und  jetzt  versteht 
er  nur  noch  sich.  Seine  Sympathie  haben  einzig  die 
Fanatiker,  die  Genossen  im  Tyrannenpurpur;  und  die 
Asketen,  die  heilig  und  in  Wüsten  sind.  Die  Einsam- 
keit erstreckt  sich  allmählich  bis  an  die  äußersten 
Grenzen  seines  Lebens.  Jedes  Übergreifen  auf  andere 
scheint  nun  unmöglich.  Mit  niemandem  läßt  sich  noch 
reden.  Überall  springen  feindliche  Meinungen  auf, 
nicht  zu  duldende;  überall  müßte  man  zuschlagen. 
Man  geht  nicht  in  Gesellschaft,  ohne  angegriffen  zu 


werden:  denn  der  mißtrauische  Tyrann  fühlt  in  jeder 
Majestät  sich  selbst  beleidigt.  Immer  gab  der  Glaube 
an  die  Großen  ihm  Glaube  an  sich.  Welch  Schauer, 
wenn  er  sich  vorstellte,  er  werde'Shakespeare  schauen 
und  daran  sterben!  Diese  aber  würden  den  Größten, 
trete  er  leibhaftig  ein,  antasten  mit  ihren  feinen  Zungen. 
Und  er  kann  nicht  erwidern,  kann  die  Aufrührer  mit 
Worten    nicht    zerstören. 

Die  Kunst  des  Sicheinschleichens  und  Unter- 
grabens durch  Analyse  ist  ihm  die  fremdeste  ge- 
worden, das  Wesen  des  Kritikers  das  feindlichste 
auf  Erden.  Er  ward  alt  und  steif  und  ist  nur 
noch     ein     stummer,     dummer      Bildner.  „Die 

Meisterwerke  sind  dumm",  erkannte  er  einst;  und 
sein  Ich  ist  nun  eins  mit  einem  Meisterwerk.  Das 
steht  für  ihn.  Jene  aber  tun,  als  sähen  sie  es  nicht. 
Sein  Werk  schlägt  durch  bloßes  Dasein  alles,  was 
sie  vorbringen.  Aber  sie  tun,  als  sähen  sie  es  nicht. 
Was  ist  da  zu  machen?  Er  hebt,  krank  vor  ohnmächti- 
gem Zorn,  die  Arme,  er  stößt  Beschimpfungen  aus. 
Zu  Hause  schwingt  er,  ächzend  unter  ungerächten 
Demütigungen,  seinen  Hammer.  Dies  Werk  wird  ihn 
rächen;  es  wird  glänzen,  wenn  jene  modern. 

. . .  Ach  nein,  es  geht  über  Menschenkraft,  es  wird 
stürzen,  alles  wird  stürzen.  Einsame  Triumphe, 
einsame   Niederlagen,   —  und  dann   sinkt  ihm  der 

XI 


Arm;  zu  den  Füßen  cles  unfertigen  Werkes  briclit 
er  nieder  ...  Ein  Meister  ist  tot,  ein  Kämpfer  und 
ein  Herr:  jetzt  mögen  sie  lästern. 


XII 


...   i866 

Teure,  gnädige  Frau! 
Ich  kann  Ihnen  nicht  genug  dafür  danken,   daß  Sie 
getan  haben,  was  Sie  eine  Pflicht  nennen.    Die  Güte 
Ihres  Herzens  hat  mich  gerührt  und  Ihre  Sympathie 
hat  mich  stolz  gemacht.    Das  ist  alles. 

Ihr  Brief,  den  ich  soeben  bekomme,  ergänzt  Ihren 
Artikel  noch  und  übertrifft  ihn,  und  ich  kann  Ihnen 
nur  das  eine  sagen,  daß  ich  Sie  sehr  aufrichtig  liebe. 

Nicht  i  c  h  habe  Ihnen  im  September  eine  kleine 
Blume  in  einem  Briefumschlag  geschickt.  Sonderbar 
ist  aber,  daß  mir  zur  gleichen  Zeit  auf  dieselbe  Art 
ein  grünes  Blatt  übersandt  wurde. 

Was  Ihre  so  herzliche  Einladung  betrifft,  so  sage 
ich  nicht  ja  und  nicht  nein  darauf,  als  echter  Nor- 
manne. Ich  werde  Sie  vielleicht  eines  Tages  in  diesem 
Sommer  überraschen.  Denn  ich  habe  große  Lust, 
Sie  zu  sehen  und  mit   Ihnen  zu  plaudern. 

Es  würde  mir  sehr  lieb  sein,  Ihr  Bild  zu  haben, 
um  es  in  meinem  Zimmer  an  die  Wand  hängen  zu 
können,  hier  auf  dem  Lande,  wo  ich  oft  lange  Monate 
ganz  allein  verbringe.  Ist  die  Bitte  unbescheiden? 
Wenn  nicht,  so  im  voraus  tausend  D£mk!  Zusammen 
mit  dem  obigen,  den  ich  wiederhole. 

1 


Croisset,  Freitag  (1866) 
Teurer  Meister! 
Wenn  Sie  aus  Saint-Valery  um  dreiviertel  neun  Uhr 
abfahren,  sind  Sie  in  einer  Stunde  in  Rouen.  Dort 
werden  Sie  mich  an  der  Tür  Ihres  Kupees  finden 
und  brauchen  sich  dann  um  nichts  mehr  zu  kümmern. 
Wenn  Sie  nicht  morgens  aus  Saint-Valery  abfahren, 
bleibt  Ihnen  nur  noch  der  Zug  um  vier  Uhr  nach- 
mittags. 

Sie  werden  telegraphisch  ein  paar  Worte  empfemgen 
haben,  die  Ihnen  sagen,  daß  Ihr  Zimmer  Sie  erwartet. 
Sie  werden  also  hier  übernachten. 

Wenn  Ihr  Katarrh  hartnäckig  ist,  (siehe  die  Epistel 
Casimir  Delavignes  an  Lamartine) 
—  und  keuchend  der  Atem  stoßweis* 
und  pfeifend  dem  Munde  entfleucht, 
Nur  unbesorgt: 

Will  man  die  Lunge  gebührend  erfrischen, 
muß    man    den    Chalardschen    Heiltrunk    sich 
mischen. 
Ich  küsse  Ihnen  beide  Hände. 

...   1866 

Aber  sicher  rechne  ich  auf  Ihren  Besuch  in  meiner 
Wohnung.  Was  die  Störungen  betrifft,  die  das  schöne 
Geschlecht  herbeiführen  kann,  so  werden  Sie  sie  nicht 


bemerken  (seien  Sie  dessen  sicher),  nicht  mehr  als 
die  andern.  Aber  da  es  von  meiner  Wohnung  zu 
der  Ihren  weit  ist  und  Sie  den  Weg  vergeblich  machen 
könnten,  so  bestimmen  Sie  bitte,  sobald  Sie  in  Paris 
sind,  eine  Zusammenkunft.  Und  wir  werden  uns 
dann  noch  ein  zweites  Mal  treffen,  um  in  aller 
Gemütlichkeit  zusammen  zu  speisen. 

Bouilhet  habe  ich  Ihre  herzlichen  Zeilen  geschickt. 

Augenblicklich  bin  ich  angeekelt  von  der  Menschen- 
masse, die  sich  unter  meinen  Fenstern  hinter  dem 
Faschingsochsen  herwälzt!  Und  dabei  sagt  man, 
daß  der  Witz  auf  der  Straße  zu  Hause  ist. 

Croisset,  Dienstag,  1866 

Sie  sind  allein  und  traurig  dort  unten,  —  ich  bin 
in  gleicher  Verfassung  hier.  Woher  kommt  das, 
diese  Anfälle  düsterer  Stimmung,  die  einen  bisweilen 
überkommen?  Es  wächst  wie  ein  Alp,  mcm  fühlt 
sich  ertrinken,  man  muß  fliehen.  Ich  lege  mich 
dann  lang  auf  den  Rücken,  tue  gar  nichts,  und  die 
Welle  geht  vorüber. 

Mein  Roman  will  augenblicklich  sehr  schlecht 
vorwärts.  Hinzu  kommen  noch  die  verschiedenen 
Todesnachrichten:  der  Tod  Cormenins  (eines  fünf- 
undzwanzigjährigen Freundes),  der  Gavarois'  und 
dann  alles  übrige;  nun,  es  wird  vorübergehen.    Sie 


wissen  nicht,  was  es  heißt,  einen  ganzen  Tag  den  Kopf 
in  seine  beiden  Hände  graben  und  sein  unglück- 
seliges Hirn  zermartern,  um  ein  einziges  Wort  zu 
finden.  Bei  Ihnen  strömt  der  Gedanke  üppig,  unauf- 
hörlich, wie  ein  Fluß.  Bei  mir  ist  es  ein  winziges 
Rinnsal.  Bei  mir  ist  große  künstlerische  Arbeit  nötig, 
bevor  ich  einen  Wasserfall  erziele.  Ja,  ich  kenne 
die  Schrecknisse  des  Stils! 

Kurz,  ich  verbringe  mein  Leben  damit,  mir  Herz 
und  Hirn  zu  zerfleischen,  das  ist  der  wirkliche  Kern 
Ihres  Freundes. 

Sie  fragen  ihn,  ob  er  manchmal  an  seinen  alten 
Troubadour  denkt,  —  das  will  ich  meinen!  Und  er 
vermißt  ihn.  Unsere  nächtlichen  Plaudereien  waren 
sehr  fein  (es  gab  Augenblicke,  wo  ich  an  mich  halten 
mußte,  um  Sie  nicht  zu  hätscheln  wie  ein  großes 
Kind).  Ihnen  mögen  gestern  abend  die  Ohren  ge- 
klungen haben.  Ich  aß  mit  der  ganzen  Familie  bei 
meinem  Bruder.  Es  ist  fast  nur  von  Ihnen  die  Rede 
gewesen,  und  alle  Leute  sangen  Ihr  Lob,  außer  mir 
natürlich,  der  Sie  möglichst  schlecht  gemacht  hat, 
mein  geliebter,  teurer  Meister. 

Ich  habe  anläßlich  Ihres  letzten  Briefes  (und  in 
einer  ganz  natürlichen  Ideenverbindung)  das  Kapitel 
im  Montaigne  gelesen,  das  betitelt  ist:  „Einige  Verse 
von   Virgil".    Was   er  von   der    Keuschheit  sagt,  ist 


genau  auch  meine  Auffassung.  Das  Bestreben  ist 
schön,  nicht  die  Enthaltsamkeit  an  sich.  Sonst  müßte 
man  das  Fleisch  verfluchen  gleich  den  Katholiken. 
Gott  weiß,  wohin  das  führen  würde.  Also  auf  die 
Gefahr  hin,  wiederzukäuen  und  als  ein  Spießbürger 
zu  erscheinen,  wiederhole  ich,  daß  Ihr  junger  Freund 
unrecht  hat.  Wenn  er  mit  zwanzig  Jahren  enthaltsam 
ist,  wird  er  mit  fünfzig  ein  gemeiner  Wüstling  sein. 
Alles  rächt  sich!  Die  großen  Naturen,  zugleich  die 
guten,  sind  vor  allem  verschwenderisch  und  nehmen 
es  nicht  so  genau  mit  ihrer  Hingabe.  Man  muß  lachen 
und  weinen,  lieben,  arbeiten,  genießen  und  leiden, 
und  überhaupt  soviel  wie  möglich  nach  dem  Maße 
seiner  Fähigkeiten  in  Schwingung  sein.  Das  ist, 
glaube  ich,  das  wahrhaft  Menschliche. 

Croisset,  Sonnabend 

Ich  habe  auf  meiner  kurzen  Pariser  Reise  kein  Glück 
gehabt,  teurer  Meister.  Als  ich  Ihnen  am  Mittwoch 
Ihren  Schal  und  die  Tulpenblätter  brachte,  gedachte 
ich  mich,  falls  ich  Sie  nicht  träfe,  am  andern  Morgen 
vor  Ihrer  Tür  einzufinden.  Am  andern  Morgen  aber 
hatte  ich  eine  Zusammenkunft  mit  Dumaine,  der 
uns  zweimal  am  selben  Tage  im  Stich  gelassen  hat. 
Kurz,  die  Vorlesung  hat  nicht  stattgefunden.  Man 
hat  Angst  gehabt,  uns  anzuhören.    Das  Spiel  ist  also 


noch  unentschieden,  und  ich  mache  mich  in  tiefster 
Seele  darüber  lustig. 

Ich  bin  voll  Ungeduld,  all  Ihre  Bücher  auf  einem 
Brett  aufgestellt  zu  sehen.  Das  ist  doch  noch  ein 
Geschenk,  —  ein  königliches  Geschenk,  das  mich 
tief  gerührt  hat. 

Vergessen  Sie  auch  das  Porträt  nicht,  damit  ich 
Ihren  lieben,  schönen  Kopf  immer  vor  Augen  habe. 

Wo  sind  Sie  jetzt?  Ich  werde  erst  Ende  Oktober 
in  den  zivilisierten  Gegenden  auftauchen,  zur  Premiere 
meines  Freundes  Bouilhet. 

Croisset,  Samstag  abend,  . . .   iS60 

Nun  habe  ich  also  das  schöne,  liebe  und  berühmte 
Antlitz  bei  mir.  Ich  werde  einen  großen  Rahmen  dafür 
machen  lassen  und  es  an  meine  Wand  hängen,  und 
könnte  dann  wie  Talleyrand  zu  Louis-Philipp  sagen : 
„Das  ist  die  größte  Ehre,  die  meinem  Hause  wider- 
fahren ist,**  ein  schlechtes  Wort,  denn  wir  beide 
sind  mehr  wert  als  diese  beiden  Biedermänner. 

Von  den  beiden  Porträten  ziehe  ich  die  Zeichnung 
Coutures  vor.  Was  Marchai  betrifft,  so  hat  er  in  Ihnen 
nur  die  „brave  Frau*'  gesehen;  ich  aber  bin  ein  alter 
Romantiker,  ich  finde  in  dem  andern  Bilde  den  Kopf 
des  Dichters  wieder,  der  mir  in  meiner  Jugend  sovielc 
Träume  geschenkt  hat  . . . 


...   i866 

Ich,  ein  geheimnisvolles  Wesen?  aber,  teurer  Meister! 
Ich  finde  mich  von  widerlicher  Plattheit  und  bin  oft 
sehr  angeekelt  von  dem  Spießbürger,  den  ich  unter 
der  Haut  habe.  Unter  uns:  Sainte-Beuve  kannte 
mich  gar  nicht,  obwohl  er  es  behauptet.  Ich  schwöre 
Ihnen  sogar  (bei  dem  Lächeln  Ihrer  Enkelin),  daß 
ich  wenige  Menschen  kenne,  die  weniger  „lasterhaft" 
sind  als  ich.  Ich  habe  viel  geplant  und  sehr  wenig 
ausgeführt.  Was  den  oberflächlichen  Beobachter 
täuscht,  das  ist  die  Disharmonie,  die  zwischen  meinen 
Gefühlen  und  meinen  Gedanken  besteht.  Wenn  Sie 
sie  hören  wollen,  will  ich  Ihnen  eine  rückhaltlose 
Beichte  ablegen. 

Der  Sinn  fürs  Groteske  hat  mich  in  der  Liederlich- 
keit festgehalten.  Ich  behaupte,  daß  der  Zynismus 
an  die  Keuschheit  angrenzt.  Wir  werden  uns  viel 
darüber  zu  sagen  haben  (falls  Sie  es  wünschen),  wenn 
wir  uns  das  nächste  Mal  sehen. 

Ich  schlage  Ihnen  folgendes  Programm  vor.  Mein 
Haus  wird  für  einen  Monat  un wohnlich  und  un- 
bequem sein.  Aber  Ende  Oktober  oder  Anfang  No- 
vember (nach  Bouilhets  Stück)  wird  nichts  Sie  hindern, 
hoffe  ich,  mit  mir  hierher  zurückzukehren,  nicht  für 
einen  Tag,  wie  Sie  sagten,  sondern  wenigstens  für 
eine  Woche.   Sie  bekommen  Ihr  Zimmer  „mit  einem 


Schreibtisch  und  allem,  was  man  zum  Schreiben 
braucht'*.  Einverstanden?  Was  die  Zauberposse 
betrifft,  so  danke  ich  Ihnen  für  Ihre  guten  Dienste. 
Ich  werde  Ihnen  die  Sache  vordeklamieren,  (sie  ist 
mit  Bouilhet  zusammen  gemacht),  aber  ich  halte  sie 
für  eine  schwache  Bagatelle,  und  ich  schwanke  zwi- 
schen dem  Wunsch,  ein  paar  Piaster  zu  verdienen 
und  dem  Schamgefühl,  eine  Albernheit  aufzutischen. 

Ich  finde  Sie  ein  wenig  streng  gegen  die  Bretagne, 
nicht  gegen  die  Bretagner,  die  mir  als  abstoßende 
Tiere  erschienen  sind.  Was  übrigens  keltische  Archäo- 
logie betrifft,  so  habe  ich  im  „Artiste**  1858  einen 
recht  guten  Sermon  über  die  Wackelsteine  veröffent- 
licht, aber  ich  habe  die  Nummer  nicht  und  erinnere 
mich  sogar  nicht  mehr  des  Monats. 

Ich  habe  in  einem  Zuge  die  zehn  Bände  der  „Ge- 
schichte meines  Lebens"  gelesen,  von  der  ich  ungefähr 
zwei  Drittel  kannte,  aber  in  Bruchstücken.  Ich  habe 
Ihnen  zu  all  dem  eine  Unmenge  von  Bemerkungen 
zu  unterbreiten,   die   mir  wieder  einfallen   werden. 

Croisset,  Samstag  abend,  . . .  1866 
Die  Übersendung  der  beiden  Porträte  hatte  mich  in  den 
Glauben  versetzt,  Sie  seien  in  Paris,  teurer  Meister, 
und    ich    habe    Ihnen   einen   Brief   geschrieben,   der 
Sie  in  der  Rue  des  Feulllantines  erwartet. 

8 


Ich  habe  meinen  Artikel  über  die  Druidensteine 
nicht  wiedergefunden,  aber  ich  habe  das  ganze  Manu- 
skript meiner  Bretagnereise  unter  meinen  „Unver- 
öffentlichten Werken".  Wir  werden  darüber  zu 
schwatzen  haben,  wenn  Sie  hier  sind,  nur  Mut! 

Ich  habe  nicht,  wie  Sie,  dies  Gefühl,  als  wollte  das 
Leben  soeben  beginnen,  habe  nicht  dies  Staunen 
über  das  frisch  erblühte  Dasein.  Mir  ist  im  Gegen- 
teil, als  hätte  ich  immer  existiert!  Und  ich  habe 
Erinnerungen,  die  bis  zu  den  Pharaonen  zurück- 
reichen. Ich  sehe  mich  ganz  deutlich  in  den  ver- 
schiedenen Zeitaltern,  wie  ich  verschiedene  Gewerbe 
betreibe,  in  mannigfachen  Lebensumständen.  Mein 
gegenwärtiges  Individuum  ist  das  Ergebnis  meiner 
entschwundenen  Individualitäten.  Ich  war  Kahn- 
schiffer auf  dem  Nil,  leno  in  Rom  zur  Zeit  der  puni- 
schen  Kriege,  später  griechischer  Rhetor  in  Suburre, 
wo  ich  von  Wanzen  zernagt  wurde.  Ich  bin  während 
der  Kreuzzüge  gestorben,  weil  ich  an  den  Gestaden 
Syriens  zuviele  Weintrauben  gegessen  habe.  Ich  bin 
Seeräuber  und  Mönch  gewesen,  Seiltänzer  und  Kut- 
scher.    Vielleicht    auch    Kaiser   des    Morgenlandes? 

Sehr  viele  Dinge  würden  sich  erklären,  wenn  wir 
unsere  wirkliche  Genealogie  kennten.  Denn  da  die 
Elemente,  die  einen  Menschen  bilden,  beschränkt 
sind,  müssen  sich  die  gleichen  Kombinationen  wieder- 


holen.  Daher  ist  die  Lehre  von  der  Vererbung  im 
Prinzip  richtig,    ist  aber  falsch  angewendet  worden. 

Es  ist  mit  diesem  Wort  wie  mit  sehr  vielen  andern. 
Jeder  faßt  es  an  einem  Ende  an,  und  man  versteht 
sich  nicht.  Die  psychologischen  Wissenschaften 
werden  bleiben,  wo  sie  sind,  das  heißt  in  Finsternis 
und  Torheit,  solange  sie  nicht  eine  genaue  Nomen- 
klatur haben  und  solange  es  erlaubt  ist,  den  gleichen 
Ausdruck  zur  Bezeichnung  der  verschiedensten  Be- 
griffe anzuwenden.  Wenn  man  die  Kategorien  durch- 
einanderbringt, dann  lebwohl  Moral! 

Finden  Sie  im  Grunde  nicht,  daß  man  seit  89 
Stroh  drischt?  Statt  auf  der  großen  Landstraße  weiter- 
zugehen, die  breit  und  schön  war  wie  eine  Via  trium- 
phalis,  ist  man  auf  Seitenpfade  abgebogen  und  watet 
im  Morast.  Es  wäre  vielleicht  weise,  spontan  zu 
Holbach  zurückzukehren?  Wenn  man,  bevor  man 
Proudhon   bewundert,   Turgot   kennte? 

Aber  was  würde  aus  dem  ,,Chic'*  werden,  dieser 
modernen  Religion? 

Chic  ist :  für  den  Katholizismus  sein  (ohne  ein  Wort 
davon  zu  glauben),  für  die  Sklaverei  sein,  für  das  Haus 
Osterreich  sein,  Trauer  um  die  Königin  Amelic 
tragen,  „Orpheus  in  der  Unterwelt**  bewundern,  sich 
mit  landwirtschaftlichen  Vereinen  beschäftigen,  über 
Sport  reden,  kühl  erscheinen,  so  idiotisch  sein,  daß 

10 


man  sogar  die  Verträge  von  1815  bedauert.  Das  ist 
das  Neueste. 

0,  Sie  denken,  weil  ich  mein  Leben  mit  den 
Versuchen  hinbringe,  unter  Vermeidung  von  Asso- 
nanzen harmonische  Phrasen  zu  drechseln,  ich  hätte 
deshalb  nicht  auch  meine  kleinen  Urteile  über  die 
Dinge  dieser  Welt?  Leider  doch,  und  ich  krepiere, 
wenn  ich  sie  nicht  ausspreche.  Aber  genug  ge- 
schwatzt, ich  möchte  Sie  sonst  langweilen. 

Bouilhets  Stück  wird  in  den  ersten  Tagen  des 
November  gespielt  werden.  Wir  werden  uns  also 
in  einem  Monat  sehen. 

Ich  umarme  Sie  herzlich,  teurer  Meister. 

Montag  nacht,  . . .   1866 

Sie  sind  traurig,  armer  Freund,  teurer  Meister, 
an  Sie  habe  ich  gedacht,  als  ich  den  Tod  Duveyriers 
erfuhr.  Da  Sie  ihn  gehebt  haben,  beklage  ich  Sie. 
Dieser  Verlust  gesellt  sich  den  andern  bei.  Wie  wir 
diese  Toten  im  Herzen  haben!  Jeder  von  uns  trägt 
seine  Totenstadt  in  sich. 

Ich  bin  seit  Ihrer  Abreise  vöUig  abgeschraubt 
und  habe  das  Gefühl,  als  hätte  ich  Sie  seit  zehn  Jahren 
nicht  gesehen!  Mein  einziges  Gesprächsthema  mit 
meiner  Mutter  ist,  von  Ihnen  zu  reden,  alle  Leute 
hier  vergöttern  Sie. 

11 


Unter  welcher  Konstellation  sind  Sie  eigentlich 
geboren,  daß  Sie  in  Ihrer  Person  so  verschieden- 
artige, so  mannigfache  und  so  seltene  Eigenschaften 
vereinen? 

Ich  v^eiß  nicht,  welche  Art  Gefühl  ich  Ihnen  ent- 
gegenbringe, —  aber  ich  empfinde  für  Sie  eine  be- 
sondere Zärtlichkeit,  wie  ich  sie  bis  jetzt  für  niemanden 
gefühlt  habe.  Wir  haben  uns  gut  verstanden,  nicht 
wahr,  es  war  schön. 

Ich  habe  Sie  besonders  gestern  abend  um  zehn  Uhr 
vermißt.  Es  war  Feuer  bei  meinem  Holzhändler. 
Der  Himmel  war  rot,  und  die  Seine  hatte  eine  Farbe 
wie  Johannisbeergelee.  Ich  habe  drei  Stunden  lang 
an  der  Pumpe  gearbeitet  und  bin  höchst  erschöpft 
nach  Hause  gekommen. 

Eine  Zeitung  in  Rouen,  le  Nouvelliste,  hat  von  Ihrem 
Besuch  in  Rouen  erzählt,  so  gut,  daß  ich  am  Sonn- 
abend, nachdem  ich  Sie  verlassen  hatte,  mehrere 
Bürger  traf,  die  wütend  auf  mich  waren,  weil  ich  Sie 
nicht  vorgeführt  hatte.  Das  schönste  Wort  ist  mir 
von  einem  ehemaligen  Unterpräfekten  gesagt  worden : 
,,Ah,  wenn  wir  gewußt  hätten,  daß  sie  da  war  . . 
so  würden  wir  ihr. . .  so  würden  wir  ihr,**  wohl  fünf 
Minuten  lang  suchte  er  nach  dem  Wort:  „würden 
wir  ihr  . . .  zugelächelt  haben.**  Das  wäre  sehr  wenig 
gewesen,  nicht  wahr? 

12 


Sie  „mehr**  zu  lieben,  ist  mir  unmöglich,  aber  ich 
umarme  Sie  zärtlich.  Ihr  melancholischer  Brief  von 
heute  früh  trifft  den  Nagel  auf  den  Kopf.  Wir  haben 
uns  in  dem  Augenblick  getrennt,  wo  uns  sehr  viele 
Dinge  auf  die  Lippen  kommen  wollten.  Zwischen 
uns  beiden  sind  noch  nicht  alle  Tore  geöffnet.  Sie 
flößen  mir  große  Achtung  ein  und  ich  wage  keine 
Fragen  an  Sie  zu  stellen. 

Mittwoch  nacht,  . . .   iS66 

Oh,  wie  schön  ist  der  Brief  von  Marengol'hirondelle! 
Wirklich,  ich  finde,  das  ist  ein  Meisterwerk!  Kein 
Wort,  das  nicht  genial  wäre.  Ich  habe  wiederholt 
ganz  laut  gelacht.  Ich  danke  Ihnen  sehr,  teurer 
Meister,  Sie  sind  reizend  wie  stets. 

Sie  erzählen  mir  nie,  was  Sie  tun.  Wie  ist  es  mit 
dem  Drama? 

Ich  bin  durchaus  nicht  überrascht,  daß  Sie  meine 
literarischen  Nöte  nicht  verstehen !  Ich  verstehe  mich 
selber  darin  nicht.  Aber  sie  sind  trotzdem  vorhanden 
und  zwar  heftig.  Ich  weiß  nicht  mehr,  wie  ich  es  an- 
fangen soll  zu  schreiben,  und  nach  unendlichem 
Umhertasten  glückt  es  mir  kaum  den  hundertsten 
Teil  meiner  Gedanken  auszudrücken.  Nicht  der 
ersten  Eingebung  folgt  Ihr  Freund,  nein,  durchaus 
nicht !   Zwei  ganze  Tage  drehe  und  wende  ich  einen 

13 


Passus  hin  und  her,  ohne  zum  Ziel  zu  kommen. 
Manchmal  möchte  ich  weinen!  Ich  kann  Ihnen  leid 
tun,  und  mir  auch. 

Was  unser  Diskussionsthema  betrifft  (hinsichtlich 
Ihres  jungen  Freundes),  so  ist  das,  was  Sie  mir  in 
Ihrem  letzten  Brief  schreiben,  so  völlig  meine  Art 
zu  sehen,  daß  ich  es  nicht  nur  in  die  Praxis  umgesetzt, 
sondern  auch  verkündet  habe.  Fragen  Sie  Theo. 
Wir  wollen  uns  aber  einigen.  Die  Künstler  (die 
Priester  sind)  riskieren  nichts,  wenn  sie  keusch  sind, 
im  Gegenteil I  Aber  die  Spießbürger,  wozu  denn? 
Gewisse  Leute  müssen  doch  menschlich  bleiben. 
Glücklich  sind  die,  die  nicht  daran  rühren.  — 

Ich  glaube  nicht  (im  Gegensatz  zu  Ihnen),  daß  es 
den  Charakter  des  idealen  Künstlers  zum  Guten 
beeinflussen  könnte,  er  würde  ein  Ungeheuer.  Die 
Kunst  ist  nicht  dazu  da,  Ausnahmen  zu  schildern; 
daher  empfinde  ich  einen  unbesieglichen  Widerwillen 
dagegen,  irgend  etwas  aus  meinem  Herzen  zu  Papier 
zu  bringen.  Ich  finde  sogar,  daß  ein  Dichter  nicht 
das  Recht  hat,  seine  Ansicht  über  irgend  etwas,  was 
es  auch  sei,  auszudrücken.  Hat  der  liebe  Gott  jemals 
seine  Meinung  gesagt?  Deshalb  sind  in  mir  nicht 
wenige  Dinge,  die  mich  ersticken,  die  ich  heraus- 
sprudeln möchte  und  die  ich  doch  hinunterschlucke. 
Wozu  soll  ich  sie  denn  auch  sagen?    Der  erste  Be«te 

14 


ist  interessanter  als  Herr  Gustave  Flaubert,  weil  er 
«Jlgemeiner  und  infolgedessen  typischer  ist. 

Es  gibt  gleichwohl  Tage,  wo  ich  mich  als  Kretin 
fühle.  Ich  habe  jetzt  ein  Bassin  mit  Goldfischen,  und 
das  macht  mir  Spaß.  Sie  leisten  mir  Gesellschaft, 
wenn  ich  esse.  Ist  es  dumm,  sich  für  so  einfältige 
Dinge  zu  interessieren?  Leben  Sie  wohl,  es  ist  spät, 
mir  brennt  der  Kopf. 

Ich  umarme  Sie. 

Samstag  morgen,  . . .  1866 

Beunruhigen  Sie  sich  nicht  wegen  der  Auskünfte 
über  die  Zeitschriften.  Das  wird  wenig  Platz  in  mei- 
nem Buch  einnehmen,  und  ich  habe  Zeit  zu  warten. 

Aber  wenn  Sie  nichts  zu  tun  haben,  so  skizzieren 
Sie  mir  irgend  etwas,  was  Ihnen  von  48  in  Erinnerung 
ist.  Dann  können  Sie  es  mir  mündlich  genauer  er- 
zählen. Ich  will  keine  Abhandlung  von  Ihnen,  wohl- 
verstanden, sondern  bitte  Sie,  Ihre  persönlichen 
Erinnerungen  ein  wenig  zu  sammeln. 

Kennen  Sie  eine  Schauspielerin  vom  Odeon,  die 
Macdulf  im  Macbeth  gespielt  hat,  namens  Dugu^ret: 
Sie  möchte  in  Mont-Revcche  gern  die  Rolle  der 
Nathalie  haben.  Sie  wird  Ihnen  von  Girardin,  Dumas 
und  mir  empfohlen  werden.  Ich  habe  sie  gestern  in 
Faustine  gesehen,  wo  sie  viel  Verve  zeigte.  Sie  wissen 

15 


also  Bescheid,  an  Ihnen  ist  es.  Ihre  Maßnahmen  zu 
treffen.  Meine  Meinung  ist,  daß  sie  Intelligenz  hat 
und  daß  man  Nutzen  daraus  ziehen  kann. 

.Wenn  Ihr  kleiner  Ingenieur  ein  Gelübde  abgelegt 
hat  und  dies  Gelübde  ihm  nicht  schwer  fällt,  so  hat 
er  recht,  es  zu  halten;  wenn  nicht,  so  ist  es  eine  reine 
Albernheit,  unter  uns  gesagt.  Wo  gibt  es  Freiheit, 
wenn  nicht  in  der  Leidenschaft? 

Also  nein.  Zu  meiner  Zeit  legten  wir  nicht  solche 
Gelübde  ab;  man  war  verliebt!  Und  wie!  Aber  alles 
vereinigte  sich  in  einem  großen  Eklektizismus,  und 
wenn  man  sich  von  den  „Damen"  entfernte,  geschah 
es  aus  Stolz,  aus  Mißtrauen  gegen  sich  selbst,  als 
Kraftprobe.  Aber  wir  waren  auch  rote  Romantiker, 
von  vollendeter  Lächerlichkeit,  doch  in  höchster 
Blüte.  Das  wenige  Gute,  das  mir  geblieben  ist,  stammt 
aus  jener  Zeit. 

...  j866 

Da  ich  Sie  nicht  bei  mir  habe,  lese  ich  Sie,  oder 
vielmehr  lese  Sie  wieder.  Ich  habe  mir  „Consuelo" 
vorgenommen,  die  ich  früher  in  der  Revue  Indepen- 
dante  verschlungen  habe. 

Ich  bin  von  neuem  bezaubert.  Ist  das  ein  Talent, 
großer  Gott!  ist  das  ein  Talent!  Diesen  Ruf  stoße 
ich    in    Zwischenräumen    „im    stillen    Kämmerlein 

16 


I 


aus.  Ich  habe  vorhin  tatsächlich  geweint  über  den 
Kuß,  den  Porpora  auf  Consuelos  Stirn  drückt  . . . 
Ich  kann  Sie  nur  mit  einem  großen  Strome  Amerikas 
vergleichen.    Riesenhaftigkeit  und  Sanftheit. 

Ich  habe  die  „Odeurs"  des  großen  Mannes  namens 
Veuillot  noch  nicht  gelesen.  Wenn  keine  Beleidi- 
gungen gegen  uns  darin  stehen,  ist  es  unvollständig. 
Und  Leute  von  Geist  bewundem  das  alles  doch! 
0  heiliger  Polykarpl 

...  1866 

Ich  bin  gestern,  Samstag  abend,  hier  angekommen; 
all  meine  Studien  sind  erledigt,  und  ich  mache  mich 
heute  nachmittag  wieder  an  die  Arbeit. 

Sainte-Beuve  scheint  mir  sehr  krank  zu  sein.  Ich 
glaube,  daß  er  es  nicht  mehr  lange  macht. 

Ich  habe  vorgestern  und  gestern  mit  Turgenjeff 
gespeist.  Dieser  Mann  hat  eine  so  schöne  Bildhaftig- 
keit,  sogar  in  der  Unterhaltung,  daß  er  mir  George 
Sand  gezeigt  hat,  wie  sie  im  Schloß  der  Frau 
Viardot  in  Rosay  auf  einem  Balkon  lehnte.  Unterhalb 
des  Türmchens  war  ein  Wassergraben,  auf  dem 
Graben  ein  Boot,  und  Turgenjeff,  der  auf  der  Bank 
dieses  Kahns  saß,  betrachtete  Sie  von  unten,  und  die 
untergehende  Sonne  glitt  über  Ihr  schwarzes  Haar. 


17 


Mittwoch,  . . .   iS66 

Ich  habe  gestern  das  Buch  Ihres  Sohnes  bekommen. 
Ich  werde  mich  daran  machen,  wenn  ich  etliche 
wahrscheinlich  weniger  erbauliche  Lektüre  hinter 
mir  habe.  Sagen  Sie  ihm  trotzdem  inzwischen  meinen 
Dank,  teurer  Meister. 

Sprechen  wir  zunächst  von  Ihnen,  vom  Arsenik. 
Ich  glaube  gar!  Sie  müssen  Eisen  trinken,  spa- 
zieren gehen  und  schlafen  und  in  den  Süden  fahren, 
was  es  auch  koste,  basta!  Sonst  wird  die  Frau  aus 
Eisen  zerbrechen.  Was  das  Geld  betrifft,  so  findet 
man  es;  und  die  Zeit  nimmt  man  sich.  Sie  werden 
natürlich  nichts  von  dem  tun,  was  ich  Ihnen  rate. 
Das  ist  unrecht  von  Ihnen,  und  Sie  betrüben  mich. 

Nein,  ich  habe  nicht,  was  man  Geldsorgen  nennt; 
meine  Einnahmen  sind  sehr  beschränkt,  aber  sicher. 
Nur  da  es  in  der  Gewohnheit  Ihres  Freundes  liegt, 
dieselben  vorher  zu  verausgaben,  ist  er  bisweilen 
in  Verlegenheit  und  klagt  im  „stillen  Kämmerlein", 
aber  nicht  anderswo.  Falls  nicht  außergewöhnliche 
Ereignisse  eintreten,  werde  ich  bis  ans  Ende  meiner 
Tage  immer  mein  Essen  und  eine  warme  Stube 
haben.  Meine  Erben  sind  oder  werden  reich  sein 
(denn  ich  bin  der  arme  Mann  von  der  Familie),  also 
still  I 

18 


Was  das  Geldverdienen  durch  meine  Feder  betrifft, 
so  ist  das  eine  Anmaßung,  die  ich  niemals  gehabt 
habe,  da  ich  mich  dafür  vollständig  unfähig  fühle. 

Man  muß  also  als  kleiner  Rentner  auf  dem  Lande 
leben,  was  nicht  besonders  possierlich  ist.  Aber  da 
soviele  andere,  die  mehr  wert  sind  als  ich,  keinen 
Grund  und  Boden  ihr  eigen  nennen,  wäre  es  un- 
gerecht, sich  zu  beklagen.  Die  Vorsehung  anschul- 
digen ist  übrigens  eine  so  allgemeine  Gewohnheit, 
daß  man  sich  schon  einfach  aus  gutem  Ton  dessen 
enthalten  muß. 

Noch  ein  Wort  über  die  Geldfrage,  das  unter  uns 
bleiben  wird.  Ich  kann  Ihnen,  ohne  daß  es  mich 
irgendwie  in  Verlegenheit  brächte,  sobald  ich  in  Paris 
bin,  das  heißt  am  zwanzigsten  oder  dreiundzwanzigsten 
dieses  Monats,  tausend  Franken  leihen,  wenn  Sie  sie 
brauchen,  um  nach  Cannes  zu  gehen.  Ich  mache 
Ihnen  diesen  Vorschlag  frei  heraus,  wie  ich  ihn  Bouil- 
het  machen  würde  oder  jedem  andern  vertrauten 
Freunde.     Keine  Zeremonie!    Vorwärts! 

Unter  Gesellschaftsmenschen  wäre  das  nicht 
passend,  das  weiß  ich,  aber  unter  Troubadouren  sind 
sehr  viele  Dinge  möglich. 

Ihre  Einladung,  nach  Nohant  zu  kommen,  ist  sehr 
liebenswürdig.  Ich  werde  kommen,  denn  ich  möchte 
gern  Ihr  Haus  sehen.    Wenn  ich  an  Sie  denke,  stört 


2* 


19 


es  mich,  daß  ich  es  nicht  kenne.  Aber  ich  muß  dies 
Vergnügen  bis  zum  nächsten  Sommer  aufschieben. 
Ich  muß  jetzt  einige  Zeit  in  Paris  bleiben.  Drei 
Monate  sind  nicht  zuviel  für  alles,  was  ich  dort  tun 
will. 

Ich  schicke  Ihnen  den  Artikel  von  dem  guten 
Barbes  zurück,  dessen  wirkliche  Biographie  ich  sehr 
unvollkommen  kenne.  Ich  weiß  nur  von  ihm,  daß 
er  ehrlich  und  heldenhaft  ist.  Drücken  Sie  ihm  in 
meinem  Namen  die  Hand,  um  ihm  für  seine  Sympathie 
zu  danken.  Unter  uns:  ist  er  ebenso  klug  wie  bieder? 

Mir  wäre  es  jetzt  nötig,  daß  Männer  aus  jener  Welt 
sich  offenherzig  mir  gegenüber  aussprächen.  Denn 
ich  gehe  eben  daran,  die  Revolution  von  48  zu  stu- 
dieren. Sie  haben  mir  versprochen,  mir  in  Ihrer 
Bibliothek  in  Nohant  herauszusuchen :  1 .  einen  Artikel 
von  Ihnen  über  die  Fayencen;  2.  einen  Roman  von 
Pater  X  ....  Jesuit,  über  die  Heilige  Jungfrau. 

Aber  welche  Strenge  gegen  Vater  Beuve,  der  weder 
Jesuit  noch  Jungfrau  ist!  Er  bedauert,  sagen  Sie, 
„was  gar  nicht  bedauernswert  ist,  in  seinem  Sinne 
wenigstens".  Warum  das?  Alles  hängt  von  der 
Intensität   ab,   die   man   auf   eine   Sache   verwendet. 

Die  Menschen  werden  immer  finden,  daß  die 
ernsthafteste  Sache  in  ihrem  Dasein  das  Genießen  ist. 

20 


Die  Frau  ist  für  uns  alle  der  Spitzbogen  der  Un- 
endlichkeit. Das  ist  nicht  edel,  aber  es  ist  der  wahre 
Kern  des  Männchens.  Man  macht  von  dem  ganzen 
unmäßig  viel  Aufhebens.  Gott  sei  Dank  für  die 
Literatur  und  auch  für  das  individuelle  Glück. 

0,  ich  habe  Sie  vorhin  so  sehr  vermißt.  Die  Bran- 
dung ist  wundervoll,  der  Wind  tost,  der  Fluß  schäumt 
und  tritt  über  die  Ufer.  Er  trägt  Meerluft  herüber, 
die  gut  tut. 

I.  November  1866 
Teurer  Meister! 

Ich  bin  gestern  abend  ebenso  beschämt  wie  gerührt 
gewesen,  als  ich  Ihre  „so  zierliche"  Epistel  bekam. 
Ich  bin  ein  Schuft,  daß  ich  auf  die  erste  nicht  geant- 
wortet habe.  Wie  kommt  das?  Denn  für  gewöhnlich 
fehlt  es   mir  nicht  an  Pünktlichkeit. 

Mit  der  Arbeit  geht  es  nicht  sonderlich  schlecht. 
Ich  hoffe  meinen  zweiten  Teil  [Schule  der  Empfind- 
samkeit] im  Februar  beendigt  zu  haben.  Aber  wenn 
ich  in  zwei  Jahren  fertig  sein  will,  darf  sich  Ihr  alter 
Freund  von  jetzt  an  nicht  mehr  vom  Stuhl  rühren. 
Das  ist  der  Grund,  daß  ich  nicht  nach  Nohant  komme. 
Acht  Tage  Ferien  sind  für  mich  drei  Monate  Träume- 
rei. Ich  würde  nur  noch  an  Sie  denken,  an  die  Ihren, 
an    Berry,    an    alles,   was   ich   gesehen   hätte.'    Mein 

21 


unglücklicher  Geist  würde  in  fremden  Gewässern 
schiffen.    Ich  habe  so  wenig  Kraft. 

Ich  verhehle  nicht,  wieviel  Vergnügen  mir  Ihre 
kurzen  Worte  über  Salammbo  bereitet  haben. 
Dieser  Schmöker  müßte  von  gewissen  Inversio- 
nen befreit  werden;  es  sind  zuviele  „dann",  „aber** 
und  „und"  darin.    Man  spürt  die  Mühe. 

Was  meine  augenblickliche  Arbeit  betrifft,  so 
fürchte  ich,  daß  der  Entwurf  fehlerhaft  ist,  und  das 
ist  irreparabel.  Und  , werden  so  reale  Charaktere 
interessieren?  Man  erkielt  große  Wirkungen  nur 
durch  einfache  Dinge,  durch  sezierte  Leidenschaften. 
Aber  ich  sehe  in  der  modernen  Welt  nirgends  Einfach- 
heit. 

Traurige  Welt!  Sind  diese  italienischen  Affären 
nicht  wirklich  beklagenswert  und  bedauerlich  grotesk? 
All  diese  Befehle,  Gegenbefehle  zu  Gegenbefehlen 
von  Gegenbefehlen !  Die  Erde  ist  entschieden  ein  sehr 
untergeordneter  Planet. 

Sie  haben  mir  nicht  gesagt,  ob  Sie  mit  den  Auf- 
führungen im  Odeon  zufrieden  gewesen  sind.  Wann 
werden  Sie  in  den  Süden  gehen?    Und  wohin? 

Heute  in  acht  Tagen,  das  heißt  am  siebenten  oder 
zehnten  November  werde  ich  in  Paris  sein,  da  ich 
durch  Auteuil  bummeln  muß,  um  kleine  Winkel 
zu  entdecken.   Reizend  wäre  es,  wenn  wir  zusammen 

22 


nach  Croisset  zurückkehren  könnten.  Sie  wissen 
wohl,  daß  ich  Ihnen  wegen  Ihrer  beiden  letzten  Reisen 
in  die  Normandie  sehr  böse  bin. 

Auf  bald,  nicht  wahr?  Ohne  Gefasel!  Ich  um- 
arme Sie,  wie  ich  Sie  liebe,  teurer  Meister,  das  heißt 
sehr  zärtlich. 

Croisset,  Samstag  nacht,  . . .  i86y 

Nein,  teurer  Meister,  Sie  sind  nicht  Ihrem  Ende 
nahe.  Um  so  schlimmer  für  Sie  vielleicht.  Aber 
Sie  werden  alt  werden,  sehr  alt,  wie  die  Riesen,  da 
Sie  ja  von  dieser  Rasse  sind :  nur  Sie  müssen  sich 
Ruhe  gönnen.  Eins  erstaunt  mich,  daß  Sie  nicht 
schon  zwanzigmal  gestorben  sind,  da  Sie  soviel  ge- 
dacht, soviel  geschrieben  und  soviel  gelitten  haben. 
Gehen  Sie  doch,  da  Sie  Lust  dazu  haben,  für  eine 
Weile  ans  Mittelländische  Meer.  Der  Azur  beruhigt 
und  stählt.  Es  gibt  Verjüngungsländer,  zum  Beispiel 
der  Golf  von  Neapel.  In  gewissen  Momenten  machen 
sie  vielleicht  trauriger?    Ich  weiß  es  nicht. 

Das  Leben  ist  nicht  leicht!  Eine  komplizierte  und 
kostspielige  Sache!  Ich  weiß  nur  eins.  Man  braucht 
zu  allem  Geld,  so  sehr,  daß  man  bei  einem  geringen 
Einkommen  und  einem  wenig  einträglichen  Beruf 
auf  vieles  verzichten  muß.  Das  tue  ich!  Das  ist  nun 
einmal  nicht  anders,  aber  die  Tage,  an  denen  die  Arbeit 

23 


nicht  gehen  will,  sind  nicht  amüsant.  0  ja,  o  ja,  ich 
will  Ihnen  gern  auf  einen  andern  Planeten  folgen. 
Und  was  das  Geld  betrifft,  so  wird  eben  das  den  unsem 
in  einer  nahen  Zukunft  unbewohnbar  machen,  denn 
es  wird  selbst  für  den  Reichsten  unmöglich  sein, 
hier  zu  leben,  ohne  sich  mit  seinem  Hab  und  Gut 
zu  beschäftigen;  alle  Leute  werden  mehrere  Stunden 
täglich  damit  hinbringen  müssen,  sich  über  ihr 
Kapital  den  Kopf  zu  zerbrechen.  Reizend!  Ich  für 
mein  Teil  zerbreche  mir  weiter  den  Kopf  über 
meinen  Roman  und  gehe  nach  Paris,  sobald  ich 
mein  Kapitel  beendet  habe,  —  gegen  Mitte  des 
nächsten  Monats. 

Obwohl  Sie  es  vermuten,  besucht  mich  „keine 
schöne  Dame".  Die  schönen  Damen  haben  meinen 
Geist  sehr  beschäftigt,  haben  mich  aber  sehr  wenig 
Zeit  gekostet.  Mich  Einsiedler  zu  nennen,  ist  vielleicht 
ein  richtigerer  Vergleich  als  Sie  glauben. 

Ich  bringe  ganze  Wochen  hin,  ohne  em  Wort  mit 
einem  menschlichen  Wesen  zu  wechseln,  und  am 
Ende  einer  Woche  ist  es  mir  unmöglich,  mich  auf 
einen  einzigen  Tag  oder  auf  irgendein  Ereignis  zu 
besinnen.  Ich  sehe  Sonntags  meine  Mutter  und 
meine  Nichte,  das  ist  alles.  Meine  einzige  Gesell- 
schaft besteht  in  einer  Bande  Ratten,  die  auf  dem 
Boden,   über   meinem    Kopf,   einen   Höllenspektakel 

24 


macht,  wenn  das  Wasser  nicht  braust  und  der  Wind 
nicht  weht.  Die  Nächte  sind  schwarz  wie  Tinte,  und 
mich  umgibt  eine  Stille  wie  in  der  Wüste.  Die  Reiz- 
barkeit steigert  sich  in  einem  solchen  Milieu  un- 
geheuer.   Ich  habe  Herzklopfen  um  nichts. 

Das  alles  ist  die  Folge  unserer  hübschen  Beschäfti- 
gung. Das  kommt  dabei  heraus,  wenn  man  sich 
Seele  und  Körper  zermartert.  Aber  ob  diese  Marter 
nicht  das  einzig  mögliche  auf  dieser  Erde  ist? 

Ich  habe  Ihnen  gesagt,  nicht  wahr,  daß  ich  Consuelo 
und  die  Herzogin  von  Rudolstadt  noch  einmal  gelesen 
habe;  das  hat  mich  vier  Tage  gekostet.  Wir  werden 
sehr  eingehend  darüber  sprechen,  sobald  Sie  wollen. 
Warum  bin  ich  in  Si verain  verliebt?  Vielleicht  bin 
ich  zweigeschlechtig. 

...  I86^ 

Teurer  Meister! 

oie  müßten  wirklich  irgendwo  die  Sonne  aufsuchen; 
es  ist  töricht,  immer  leidend  zu  sein;  reisen  Sie^doch; 
ruhen  Sie  sich;  die  Resignation  ist  die  schlimmste  der 
Tugenden. 

Ich  habe  ein  gutes  Maß  davon  nötig,  um  alle  Dumm- 
heiten zu  ertragen,  die  ich  mitanhören  muß!  Sie 
machen  sich  keine  Vorstellung,  wie  weit  man  ge- 
kommen ist.    Frankreich,  das  bisweilen  vom  Veits- 

25 


tanz  ergriffen  gewesen  ist  (wie  unter  Karl  VI.),  scheint 
mir  jetzt  an  einer  Gehirnparalyse  zu  leiden.  Man  ist 
aus  Angst  idiotisch.  Aus  Angst  vor  Preußen,  Angst 
vor  Streiken,  Angst  vor  der  Ausstellung,  die  „nicht 
geht,"  Angst  vor  allem.  Man  muß  bis  1849  zurück- 
gehen, um  einen  solchen  Grad  von  Kretinismus  zu 
finden. 

Man  hat  das  letzte  Mal  bei  Magny  derartige  Portiers- 
unterhaltungen geführt,  daß  ich  mir  innerlich  ge- 
schworen habe,  keinen  Fuß  mehr  dahinzusetzen. 
Es  ist  die  ganze  Zeit  nur  von  Herrn  von  Bismarck 
und  Luxemburg  die  Rede  gewesen.  Ich  bin  noch 
damit  vollgestopft!  Es  fällt  mir  übrigens  nicht  leicht 
zu  leben!  Statt  sich  abzustumpfen,  spitzt  sich  meine 
Reizbarkeit  zu;  ein  Haufen  wichtiger  Dinge  quält 
mich.  Verzeihen  Sie  diese  Schwäche,  Sie,  die  so  stark 
und  so  duldsam  sind! 

Der  Roman  kommt  gar  nicht  vorwärts.  Ich  bin  in 
die  Lektüre  der  Zeitungen  von  48  versunken  und  habe 
verschiedene  Ausflüge  nach  Sevres,  Creil  usw.  machen 
müssen  (und  ich  bin  noch  nicht  damit  fertig). 

Der  alte  Sainte-Beuve  arbeitet  eine  Rede  über 
Gedankenfreiheit  aus,  die  er  im  Senat  halten  will, 
gelegentlich  des  Preßgesetzes.  Er  ist  sehr  verwegen, 
wissen  Sie. 

26 


Sagen  Sie  Ihrem  Sohn  Maurice,  daß  ich  ihn  sehr 
liebe,  erstens  weil  er  Ihr  Sohn  ist  und  zweitens,  weil 
er  er  selbst  ist.  Ich  finde  ihn  gut,  geistreich,  gebildet, 
nicht  Poseur,  durchaus  bezaubernd  und  „talentvoll". 

...  1867 

Ich  bin  in  Unruhe,  weil  ich  keine  Nachricht  von 
Ihnen  habe,  teurer  Meister.  Was  machen  Sie?  Wann 
sehe  ich  Sie? 

Aus  meiner  Reise  nach  Nohant  ist  nichts  geworden. 
Der  Grund:  meine  Mutter  hat  vor  acht  Tagen  einen 
kleinen  Anfall  gehabt.  Es  ist  nichts  zurückgeblieben, 
aber  es  kann  wiederkommen.  Sie  sehnt  sich  nach 
mir,  und  ich  will  meine  Rückkehr  nach  Croisset  be- 
schleunigen. Wenn  es  ihr  im  August  gut  geht  und  ich 
unbesorgt  sein  kann,  brauche  ich  Ihnen  wohl  nicht 
zu  sagen,  daß  ich   Ihren  Penaten  zueilen  werde. 

An  Neuigkeiten  dieses,  daß  Sainte-Beuve  mir 
ernstlich  krank  zu  sein  scheint  und  daß  Bouilhet 
soeben  zum  Bibliothekar  in  Rouen  ernannt  worden  ist. 

Seit  die  Kriegsgerüchte  wieder  verstummt  sind, 
scheint  man  mir  etwas  weniger  idiotisch  zu  sein. 
Der  Ekel,  den  die  allgemeine  Feigheit  mir  einflößte, 
schwindet. 

Ich  bin  zweimal  in  der  Ausstellung  gewesen;  das 
ist  vernichtend.   Es  gibt  prachtvolle  und  ganz  kuriose 

27 


Sachen.  Aber  der  Mensch  ist  nicht  geschaffen,  das 
Unendliche  zu  verdauen;  er  müßte  alle  Wissen- 
schaften und  alle  Künste  beherrschen,  um  sich  für 
alles  das  interessieren  zu  können,  was  man  auf  dem 
Marsfelde  sieht.  Gleichviel:  einer,  der  drei  ganze 
Monate  Zeit  hätte  und  jeden  Morgen  hinginge,  um 
sich  Notizen  zu  machen,  würde  dadurch  viel  Lektüre 
und  sehr  viele  Reisen  sparen. 

Man  fühlt  sich  dort  sehr  fern  von  Paris,  in  einer 
neuen  und  häßUchen  Welt,  einer  ungeheuren  Welt, 
die  vielleicht  die  Welt  der  Zukunft  ist.  Als  ich  das 
erste  Mal  dort  gefrühstückt  habe,  habe  ich  immer- 
fort an  Amerika  gedacht,  und  ich  hätte  am  liebsten 
wie  ein  Neger  gesprochen. 

...   i86y 

Ich  bin  zu  Anfang  dieser  Woche  für  sechsunddreißig 
Stunden  in  Paris  gewesen,  um  dem  Ball  in  den  Tuile- 
rien  beizuwohnen.  Es  war,  ohne  jede  Übertreibung, 
prachtvoll.  Paris  wächst  übrigens  ins  Riesenhafte. 
Es  wird  närrisch  und  ungeheuer.  Wir  kehren  vielleicht 
zum  alten  Orient  zurück.  Es  scheint  mir.  als  wüchsen 
Idole  aus  dem  Boden.  Man  ist  von  einem  Babylon 
bedroht. 

Warum  nicht?  Das  Individuum  wird  derartig  ab- 
geleugnet von  der  Demokratie,  daß  es  sich  zu  voll- 

28 


ständiger  Erschlaffung  erniedrigen  wird,  wie  unter 
den  großen  theokratlschen  Despotismen. 

Mein  Roman  geht  piano.  In  dem  Maße,  wie  ich 
vorwärtskomme,  tauchen  die  Schwierigkeiten  auf. 
Es  ist  ein  schwerer  Karren  mit  Steinen  zu  ziehen! 
Und  S  i  e  klagen  über  eine  Arbeit,  die  sechs  Monate 
dauert  I 

Ich  habe  noch  wenigstens  zwei  Jahre  zu  tun  (mit 
meiner).  Wie,  zum  Teufel,  machen  Sie  es,  um  die 
Verbindung  zwischen  Ihren  Gedanken  zu  finden? 
Das  hält  mich  auf.  Übrigens  erfordert  dies  Buch 
[Die  Schule  der  Empfindsamkeit]  weitgehende  For- 
schungen. So  bin  ich  am  Montag  hintereinander  im 
Jockey-Klub,  im  Cafe  Anglais  und  bei  einem  Rechts- 
anwalt gewesen. 

Schätzen  Sie  das  Vorwort  Victos  Hugos  zu  Paris- 
Guide?  Nicht  besonders,  nicht  wahr?  Die  Philosophie 
Hugos  erscheint  mir  immer  etwas  unklar. 

Ich  habe  mich  vor  acht  Tagen  an  einem  Zigeuner- 
lager in  Rouen  ergötzt.  Es  ist  das  dritte  Mal,  daß  ich 
so  etwas  sehe  und  stets  mit  neuem  Vergnügen.  Das 
Wunderbare  war,  daß  sie  den  Haß  der  Bürger  erregten, 
obwohl  sie  harmlos  sind  wie  Schafe. 

Ich  habe  bei  der  Menge  einen  schlechten  Eindruck 
gemacht,  weil  ich  ihnen  ein  paar  Sous  gegeben  habe, 
und  ich  habe  hübsche  Worte  gehört  k  la  Prudhomme. 

29 


Dieser  Haß  geht  auf  etwas  sehr  Tiefes  und  Ver- 
wickeltes zurück.  Man  findet  ihn  bei  allen  Ordnungs- 
menschen. 

Es  ist  der  Haß,  den  man  gegen  den  Beduinen  hegt, 
gegen  den  Ketzer,  den  Philosophen,  den  Einsiedler, 
den  Dichter,  und  es  ist  Furcht  in  diesem  Haß.  Mich, 
der  ich  immer  für  die  Minorität  bin,  erbittert  er. 
Allerdings  erbittern  mich  viele  Dinge.  An  dem  Tage, 
da  ich  nicht  mehr  empört  sein  werde,  werde  ich 
machtlos  hinfallen  wie  eine  Puppe,  die  man  von  ihrem 
Draht  abschneidet. 

Der  Draht,  der  mich  diesen  Winter  gehalten  hat, 
war  die  Empörung,  die  ich  gegen  unsem  großen 
nationalen  Historiker  Thiers  empfand,  der  in  die 
Kategorie  der  Halbgötter  übergegangen  war,  femer 
gegen  die  Broschüre  Trochu  und  den  ewigen  Chan- 
garnier,  der  über  den  Wassern  schwebt.  Gott  sei 
Dank  hat  das  Ausstellungsdelirium  uns  momentan 
von  diesen  „großen  Männern"  befreit. 

Sonnabend,  . . .  1867 

Jenes  Wort  muß  korrigiert  werden,  teurer  Meister; 
ich  war  nicht  so  sehr  in  die  Arbeit  versunken,  daß  ich 
nicht  Lust  gehabt  hätte,  Sie  zu  sehen.  Ich  habe  der 
Literatur  bis  jetzt  genügend  Opfer  gebracht,  ohne 
noch    dies    letzte   hinzuzufügen.     Der   Grund    war: 

30 


man  hat  meine  Wohnung  neu  gestrichen.  So  gründ- 
lich, daß  ich  vierzehn  Tage  in  Rouen  bei  meiner 
Mutter  gewohnt  habe  und  dann  noch  eine  Woche 
in  dem  kleinen  Pavillon  hinten  im  Garten.  Deshalb 
hat   man   seinen  Alten   nicht  gebeten,   zu  kommen. 

Aber  wer  kann  uns  hindern,  uns  vom  September 
ab  zu  sehen?  Ich  werde  den  ganzen  August  abwesend 
sein.  Adressieren  Sie  Ihre  Briefe  an  mich  nach  dem 
Boulevard  du  Temple,  42. 

Und  die  Arbeit?    Was  macht  Cadio? 

Ich  fühle  mich  alt  wie  eine  Pyramide  und  erschöpft 
wie  ein  Esel.  Meine  Mutter  trägt  nicht  dazu  bei, 
mich  froh  zu  machen.  Sie  wird  immer  schwächer, 
immer  bitterer,  ist  traurig  und  macht  mich  .traurig. 
Um  sie  ein  wenig  zu  zerstreuen,  führe  ich  sie  auf  die 
Ausstellung. 

Trotzdem  verrichte  ich  mein  Tagewerk  und 
hoffe  Ende  dieses  Jahres  meinen  zweiten  Teil  beendigt 
zu  haben.  Das  Ganze  wird  nicht  vor  zwei  Jahren  fertig 
sein!  Und  dann  ade  für  immer,  Spießbürger I  Nichts 
ist  so  anstrengend,  wie  die  menschliche  Dummheit 
zu  ergründen. 

Was  die  Dummheit  betrifft:  es  scheint,  daß  die 
offizielle  Welt  wütend  auf  den  alten  Sainte-Beuve 
ist.  Das  Unglück  Camille  Doucets  grenzt  ans  Er- 
habene. 

31 


Vom  Standpunkt  der  zukünftigen  Freiheit  muß 
man  vielleicht  diese  religiöse  Heuchelei  der  GeselU 
Schaftsmenschen  segnen,  die  uns  so  sehr  empört! 
Je  später  die  Frage  entschieden  wird,  desto  besser 
wird  sie  entschieden  werden.  Die  andern  können 
nur  schwächer  werden,  wir  aber  werden  uns  festigen. 

Teurer  Meister  I 
Wie!    Keine  Nachricht? 

Aber  jetzt  werden  Sie  mir  antworten,  da  ich  Sie 
ja  um  eine  Gefälligkeit  bitte.  Ich  lese  in  meinen 
Notizen  das  folgende :  „»National*  von  1841.  Schlechte 
Behandlung  Barbes,  Fußtritte  gegen  die  Brust,  man 
zerrt  ihn  an  Bart  und  Haaren,  um  ihn  ins  Gewahrsam 
zu  bringen.  Das  Protokoll,  worin  gegen  diese  Gewalt- 
taten Beschwerde  erhoben  wird,  ist  unterzeichnet: 
E.  Arago,  Favre,  Berryer." 

Informieren  Sie  sich  bei  ihm,  ob  das  alles  stimmt, 
ich  bin   Ihnen  dankbar  dafür. 

Croisset,  Samstag  nacht 

Nur    gut,    daß  Sie  mit  dem  Odeon  zufrieden  sind, 
teurer  Meister. 

Ich  mache  mich  auf  einen  neuen  „Villemer"  gefaßt 
und  werde  natürlich  bei  der  Premiere  sein.    Sie  ist 

32 


im  April,  nichc  wahr?    Übrigens  ist  es  gleich,  ob  ich 
hier  oder  dort  unten  bin,  ich  gehe  hin. 

Fräulein  Bosquet  (die  Verfasserin  von  Normandie 
merveilleuse)  hat  einen  Roman  veröffentlicht  unter 
dem  Titel  „Eine  gebildete  Frau".  Es  steckt  sicher 
etwas  darin.  Ich  habe  mir  erlaubt,  ihr  zu  raten,  Ihnen 
ein  Exemplar  anzubieten.  Ist  das  ein  Stil!  Wenn  Sie 
von  Mario  Proth  oder  irgendeinem  Ihrer  Freunde 
eine  Kritik  darüber  schreiben  lassen  könnten,  würden 
Sie  eine  gute  Tat  tun. 

Croisset,  Samstag  nacht,  . . .  i86y 

Ich  habe  den  Bürger  Bouilhet  gesehen,  der  in  seinem 
schönen  Vaterlande  einen  wahren  Triumph  gehabt 
hat.  Seine  Landsleute,  die  ihn  bisher  radikal  ver-  • 
leugneten,  brüllen  vor  Begeisterung  seit  dem  Augen- 
blick, da  Paris  ihm  zugejubelt  hat.  —  Er  wird  am 
nächsten  Sonnabend  zurückkommen  wegen  eines 
Festessens,  das  man  ihm  zu  Ehren  veranstaltet.  — 
Achtzig  Gedecke  mindestens  usw.! 

Was  „Marengo  l'hirondelle**  betrifft,  so  hat  er  das 
Geheimnis  so  gut  bewahrt,  daß  er  den  fraglichen 
Brief  mit  einem  Erstaunen  gelesen  hat,  das  mich 
irre  machte. 

Armer  Marengo  I  das  ist  eine  Figur !  —  Die  müßten 
Sie  irgendwo  gestalten.    Ich  frage  mich,  was  seine 

3  33 


Memoiren  sein  würden,  wenn  sie  in  einem  solchen 
Stil  geschrieben  wären?  —  Meiner  (der  Stil)  macht 
mir  weiter  Kopfzerbrechen,  und  zwar  nicht  geringes. 
—  Ich  hoffe,  in  einem  Monat  die  ödeste  Stelle  über- 
wunden zu  haben.  Aber  augenblicklich  habe  ich 
mich  in  eine  Wüste  verrannt;  das  ist  ja  eben  das 
schlimme !  —  Mit  welchem  Vergnügen  werde  ich  dies 
Genre  verlassen,  um  nie  in  meinem  Leben  dazu 
zurückzukehren . 

Moderne  französische  Spießbürger  schildern  ekelt 
mich  merkwürdig  an.  Und  es  wäre  auch  vielleicht 
Zeit,  sich  etwas  am  Dasein  zu  freuen  und  dem  Autor 
angenehme  Stoffe  zu  wählen. 

Ich  habe  mich  schlecht  ausgedrückt,  als  ich  Ihnen 
sagte,  man  dürfe  nicht  mit  seinem  Herzen  schreiben; 
ich  habe  sagen  wollen:  nicht  seine  Persönlichkeit 
in  Szene  setzen.  Ich  glaube,  daß  die  große  Kunst 
wissenschaftlich  und  unpersönlich  ist.  Man  muß 
durch  geistige  Anstrengung  sich  in  die  Persönlich- 
keiten hineinversetzen,  nicht  sie  an  sich  ziehen. 
Das  ist  wenigstens  die  Methode;  was  so  viel  heißt 
wie:  Versucht  viel  Talent  und  sogar  Genie  zu  haben, 
wenn  ihr  könnt.  Wie  eitel  sind  all  diese  Dichter  und 
Kritiker  I  —  Und  das  Aufhebens,  das  diese  Herren 
davon  machen,  verblüfft  mich.  Ol  diese  Pracht- 
kerle haben  keine  Hemmungen. 

34 


Ist  Ihnen  aufgefallen,  wie  allgemeine  Gedanken 
bisweilen  in  der  Luft  liegen?  So  habe  ich  eben 
den  neuen  Roman  meines  Freundes  Du  Camp  gelesen : 
„Die  verlorenen  Kräfte".  Er  erinnert  in  sehr  vielen 
Richtungen  an  den,  den  ich  schreibe.  Es  (seins) 
ist  ein  sehr  naives  Buch,  das  einen  richtigen  Begriff 
von  den  Menschen  unserer  Generation  gibt,  die  für 
die  jungen  Leute  von  heute  wahre  Fossilien  geworden 
sind.  Die  Reaktion  von  48  hat  zwischen  den  beiden 
Frankreichs  einen  Abgrund  aufgerissen. 

Bouilhet  hat  mir  gesagt,  Sie  seien  das  letzte  Mal 
bei  Magny  ernstlich  unpäßlich  gewesen,  Sie 
„Frau  aus  Eisen",  die  Sie  zu  sein  behaupten. 

0  nein,  Sie  sind  nicht  aus  Eisen,  Sie  liebes,  gutes, 
großes  Herz!  „Alter,  geliebter  Troubadour",  es  wäre 
vielleicht  angebracht,  Almansor  im  Theater  wieder 
zu  Ehren  zu  bringen?  Ich  sehe  ihn  mit  seinem  Tur- 
ban, seiner  Gitarre  und  seiner  aprikosenfarbenen 
Tunika,  wie  er  hoch  von  einem  Felsen  herunter  die 
Spekulanten  im  schwarzen  Rock  beschimpft.  Die 
Rede  könnte  fein  sein.  Aber  jetzt  gute  Nacht,  ich  küsse 
Sie  zärtlich  auf  beide  Wangen. 

Mittwoch  nacht,  . . .  i86y 

Ich  bin  Ihrem  I^t  gefolgt,  teurer  Meister,  ich  habe 
mir  Bewegung  gemacht!!! 

y  35 


Bin  ich  lieb,  ja? 

Sonntag  abend,  um  elf  Uhr,  war  eine  solche  Mond- 
helle auf  dem  Fluß  und  auf  dem  Schnee,  daß  ich 
von  einer  Sucht  nach  Bewegung  erfaßt  wurde;  ich 
bin  zwei  und  eine  halbe  Stunde  lang  spazieren  ge- 
gangen, habe  den  Hügel  erstiegen  und  mir  vorgestellt, 
ich  wanderte  in  Rußland  oder  Norwegen.  Wenn  die 
Flut  kam  und  die  Eisschollen  der  Seine  und  die  zu- 
gefrorenen Bäche  krachten,  war  es  unstreitig  wunder- 
voll. Da  habe  ich  an  Sie  gedacht  und  habe  Sie  ver- 
mißt. 

Ich  mag  nicht  allein  essen.  Ich  muß  den  Gedanken 
an  irgend  jemanden  mit  den  Dingen  verbinden,  die 
mir  Freude  machen.  Aber  dieser  Jemand  ist  selten. 
Ich  frage  mich  auch,  warum  ich  Sie  liebe.  Deshalb, 
weil  Sie  ein  großer  Mensch,  oder  weil  Sie  ein  ent- 
zückendes Geschöpf  sind?  Ich  weiß  es  nicht.  Sicher 
ist  aber,  daß  ich  ein  besonderes  Gefühl  für  Sic  habe, 
das  ich  nicht  definieren  kann. 

Und  bei  dieser  Gelegenheit:  glauben  Sie  (Sie, 
die  Sie  ein  Meister  der  Psychologie  sind),  daß  man 
zwei  Menschen  auf  dieselbe  Art  liebt,  daß  man  jemals 
zwei  übereinstimmende  Gefühle  empfindet?  Ich 
glaube  es  nicht,  weil  unser  Ich  sich  in  allen  Momenten 
seines  Daseins  wandelt. 

36 


Sie  schreiben  mir  herrliche  Dinge  über  die  „selbst- 
lose Zärtlichkeit'*.  Das  ist  wahr,  aber  das  Gegenteil 
ist  auch  wahr.  Wir  machen  immer  Gott  zu  unserm 
Bilde.  Im  Kern  aller  unserer  Sympathie  und  aller 
unserer  Bewunderungen  finden  wir  uns  selbst  wieder, 
uns  oder  irgend  etwas  Verwandtes.  Was  schadet 
das,  wenn  dies   „uns"   gut  ist? 

Mein  Ich  langweilt  mich  augenblicklich  tödlich. 
Wie  lästig  mir  dieser  Kerl  bisweilen  ist!  Er  schreibt 
zu  langsam  und  posiert  nicht  im  mindesten,  wenn  er 
über  seine  Arbeit  klagt.  Ist  das  ein  Pensum!  Und 
was  für  eine  teuflische  Idee  ist  es  gewesen,  einen 
solchen  Stoff  zu  wählen.  Sie  könnten  mir  wohl  ein 
Rezept    geben,    wie    ich    schneller  vorwärts  komme. 

Ich  habe  von  Sainte-Beuve  ein  Briefchen  bekom- 
men, das  mich  über  seine  Gesundheit  beruhigt,  das 
aber  traurig  ist.  Er  scheint  mir  verzweifelt  zu  sein, 
daß  er  nicht  in  die  Zyprischen  Wälder  kann!  Er 
hat  schließlich  recht,  oder  wenigstens  von  sich  aus 
recht,  was  auf  das  gleiche  herauskommt.  Ich  werde 
ihm  vielleicht  ähnlich  sein,  wenn  ich  sein  Alter  er- 
reicht habe?  Aber  ich  glaube  es  doch  nicht.  Da 
ich  nicht  die  gleiche  Jugend  gehabt  habe,  wird  mein 
Alter  anders  sein. 

Das  erinnert  mich  daran,  daß  ich  früher  ein  Buch 
über  die  Heilige  Perine  geplant  habe.    Champfleury 

37 


hat  diesen  Stoff  mißhandelt.  Denn  ich  sehe  nichts 
Komisches  darin;  ich  würde  ihn  wild  und  schauerlich 
gestaltet  haben.  Ich  glaube,  daß  das  Herz  nicht  altert. 
Es  gibt  sogar  Leute,  bei  denen  es  im  Alter  wächst. 
Ich  war  vor  zwanzig  Jahren  trockener  und  rauher 
als  heute.  Ich  habe  mich  durch  die  Abnutzung 
verweiblicht  und  erweicht,  wie  andere  hart  und  zäh 
werden,  und  das  empört  mich.  Ich  fühle,  daß  ich 
ein  Waschlappen  werde;  ein  Nichts  genügt,  um  mich 
zu  erschüttern,  alles  stört  mich  und  erregt  mich, 
ich  bin  ein  schwank|ndes  Rohr  im   Winde. 

Ein  Wort  von  Ihnen,  das  mir  eingefallen  ist,  veran- 
laßt mich,  das  Schöne  Mädchen  von  Perth  noch 
einmal  zu  lesen.  Es  ist  hübsch,  was  man  auch  sagen 
mag.  Dieser  gute  Mann  hatte  schon  Phantasie,  ganz 
entschieden. 

Aber  jetzt  leben  Sie  wohl.  Denken  Sie  an  mich. 
Ich  sende  Ihnen  meine  besten  Grüße. 

Mittwoch  nacht 

Lieber  Meister,  teure  Freundin  des  lieben  Gottes, 
„sprechen  wir  ein  wenig  von  Dozenval,"  brüllen 
wir  gegen  Herrn  Thiers!  Kann  man  sich'  einen 
triumphlerenderen  Dummkopf,  einen  verächtlicheren 
Zopfmenschen,  einen  waschlappigeren  Spießbürger 
vorstellen?!     Nein,    nichts   kann    einen   Begriff   von 

38 


dem  Ekel  geben,  den  dieser  alte  diplomatische  Ein- 
faltspinsel mir  einllößt,  der  seine  Dummheit  auf 
dem  Misthaufen  der  Bourgeoisie  mästet!  Ist  es 
möglich,  Philosophie,  Religion,  Völker,  Freiheit, 
Vergangenheit  und  Zukunft,  Geschichte  und  Natur- 
geschichte, und  alles  übrige  mit  naiverer  und  alber- 
nerer Ungeniertheit  zu  behandeln?  Er  erscheint 
mir  ewig  wie  die  Mittelmäßigkeit!  Er  zermalmt 
mich! 

Nett  sind  aber  die  wackeren  Nationalgarden,  die 
er  1848  angeführt  hat,  und  die  wieder  anfangen, 
ihm  Beifall  zu  spenden !  Welch  ein  unendlicher  Wahn- 
sinn! Was  beweist,  daß  alles  Temperamentsache  ist. 
Die  Prostituierten  —  wie  Frankreich  —  haben  stets 
eine  Schwäche  für  die  alten  Hanswürste. 

Ich  werde  übrigens  versuchen,  im  dritten  Teil 
meines  Romans  (wenn  ich  zu  der  Reaktion  komme, 
die  den  Junitagen  gefolgt  ist)  ein  Hühnchen  mit  ihm 
zu  pflücken,  anläßlich  seines  Buches  „Vom  Eigentum'*, 
und  ich  hoffe,  er  wird  zufrieden  mit  mir  sein. 

Welche  Form  muß  man  wählen,  um  bisweilen 
seine  Meinung  über  die  Dinge  dieser  Welt  zu  sagen, 
ohne  Gefahr  zu  laufen,  später  für  einen  Dummkopf 
zu  gelten?  Das  ist  ein  schweres  Problem.  Mir  scheint 
es  das  Beste,  diese  Dinge,  die  einen  erbittern,  ganz 
schlicht  zu  schildern.    Sezieren  ist  eine  Rache. 

39 


Nun,  ich  zürne  weder  ihm,  noch  den  andern;  wohl 
aber  unsem  Leuten.  Wenn  man  sich  mehr  mit  der 
Belehrung  der  oberen  Klassen  befaßt  und  die  land- 
wirtschaftlichen Vereine  auf  später  vertagt,  wenn 
man  endlich  den  Kopf  über  den  Bauch  erhoben  hätte, 
würden  wir  jetzt  wahrscheinlich  nicht  so  dastehen. 

Ich  habe  in  dieser  Woche  die  Einleitung  Buchez* 
zu  seiner  Geschichte  des  Parlamentarismus  gelesen. 
Aus  dieser  Zeit  rühren  unter  anderm  viele  Dumm- 
heiten her,  deren  Last  wir  heute  tragen. 

Und  dann  ist  es  nicht  recht,  wenn  Sie  sagen,  ich 
denke  nicht  „an  meinen  alten  Troubadour'*.  An  wen 
soll  ich  sonst  denken?  An  meinen  Schmöker  etwa? 
Aber  das  ist  viel  schwieriger  und  weniger  angenehm. 

Bis  wann  bleiben  Sie  in  Cannes? 

Wird  man  nach  Cannes  nicht  wieder  nach  Paris 
kommen?   Ich  werde  gegen  Ende  Januar  dort   sein. 

Wenn  ich  mein  Buch  im  Frühling  1869  fertig 
haben  will,  darf  ich  von  jetzt  an  mir  nicht  mehr  acht 
Tage  Ruhe  gönnen.  Deshalb  komme  ich  nicht  nach 
Nohant.  Es  ist  immer  wieder  die  Geschichte  mit 
den  Amazonen.  Um  besser  Bogen  schießen  zu  können, 
drücken  sie  sich  die  Brust  ein.  Ist  das  wirklich  ein 
so  gutes  Mittel? 

Leben  Sie  wohl,  teurer  Meister,  schreiben  Sie  mir, 
Ja?       Ich  umarme  Sie  zärtlich. 

40 


I.  Januar  1868 

Es  ist  nicht  hübsch  von  Ihnen,  mich  mit  der  Schilde- 
rung der  Freuden  Nohants  zu  betrüben,  da  ich  ja 
nicht  daran  teilnehmen  kann.  Ich  brauche  soviel 
Zeit,  um  so  wenig  fertig  zu  machen,  daß  ich  keine 
Minute  zu  verlieren  (oder  zu  gewinnen)  habe,  wenn 
ich  meinen  dicken  Schmöker  im  Sommer  1869  vollen- 
den will. 

Ich  habe  nicht  gesagt,  daß  man  das  Herz  unter- 
drücken müsse,  aber  man  muß  es  leider  Gottes  be- 
zähmen. 

Was  meine  Lebensweise  betrifft,  die  allen  Regeln 
der  Hygiene  widerspricht,  so  bin  ich  nicht  erst  seit 
gestern  daran  gewöhnt.  Ich  habe  trotzdem  eine  ziem- 
lich scharfe  Kritik,  und  es  ist  Zeit,  daß  mein  zweiter 
Teil  fertig  wird,  worauf  ich  nach  Paris  gehen  werde. 
Das  wird  gegen  Ende  des  Monats  geschehen.  Sie 
sagen  mir  nicht,  wann  Sie  aus  Cannes  zurückkehren. 

Meine  Wut  gegen  Herrn  Thiers  hat  sich  nicht 
gelegt,  im  Gegenteil!   Sie  idealisiert  sich  und  wächst! 

...  1868 
Endlich,    endlich    hat    man    Nachricht    von    Ihnen, 
teurer  Meister,  und  gute,  was  doppelt  angenehm  ist. 
Ich  rechne    darauf,    mit    Frau  Sand    in  mein  ein- 
sames   Haus    zurückzukehren,    und    meine    Mutter 

41 


hofft  es  auch.   Was  meinen  Sie  dazu?  Denn  man  sieht 
sich  ja  sonst  überhaupt  nicht  mehr! 

Was  das  Reisen  betrifft,  so  fehlt  mir  nicht  die  Lust 
dazu.  Aber  ich  wäre  verloren,  wenn  ich  das  Ende 
meines  Romans  von  hier  verlegte.  Ihr  Freund  ist  ein 
Mann  aus  Wachs;  alles  drückt  sich  ihm  auf,  prägt 
sich  ihm  ein,  durchdringt  ihn.  Wenn  ich  von  Ihnen 
zurückkäme,  würde  ich  nur  noch  an  Sie  und  die  Ihren 
denken,  an  Ihr  Haus,  Ihre  Gegend,  die  Gesichter 
der  Leute,  denen  ich  begegnet  wäre  usw.  Es 
kostet  mich  große  Anstrengung,  mich  zu  sammeln; 
jeden  Augenblick  fließe  ich  über.  Aus  diesem  Grunde, 
lieber,  guter,  angebeteter  Meister,  versage  ich  es  mir, 
mich  in  Ihrem  Hause  anzusiedeln  und  dort  zu  träu- 
men. Aber  im  Sommer  oder  Herbst  1869  werden 
Sie  sehen,  was  für  einen  guten  Handlungsreisenden 
ich  abgebe,  wenn  ich  einmal  losgelassen  werde.  Ich 
bin  gemein,  das  sage  ich  Ihnen. 

In  Punkte  Neuigkeiten  ist  wieder  Ruhe,  seit  der 
Fall  Kerveguen  eines  natürlichen  Todes  gestorben 
ist.    War  es  ein  dummer  Streich? 

Sainte-Beuve  arbeite  eine  Rede  über  das  Freß- 
gesetz  aus.  Es  geht  ihm  entschieden  besser.  Ich  habe 
Dienstag  mit  Renan  gespeist.  Er  sprühte  von  Geist, 
Beredsamkeit  und  Künstlertum,  wie  ich  ihn  noch  nie 

42 


gesehen  hatte.    Haben  Sie  sein  neues  Buch  gelesen? 
Sein  Vorwort  macht  Aufsehen. 

Mein  armer  Theo  beunruhigt  mich.    Ich  finde  ihn 
nicht  widerstandsfähig. 

...  1868 
Mein  teurer  Meister! 

In  Ihrem  letzten  Brief  loben  Sie  mich,  unter  andern 
reizenden  Dingen,  die  Sie  mir  sagen,  daß  ich  nicht 
hochmütig  sei;  man  ist  nicht  hochmütig  dem  Hohen 
gegenüber.  Also  können  Sie  mich  in  dieser  Beziehung 
nicht  kennen,  ich  muß  Sie  für  inkompetent  erklären. 
Obwohl  ich  mich  für  einen  guten  Menschen  halte, 
bin  ich  nicht  immer  ein  angenehmer  Mann;  Beweis: 
was  mir  letzten  Donnerstag  passiert  ist.  Nach  einem 
Frühstück  bei  einer  Dame,  die  ich  „Gans"  tituliert 
hatte,  machte  ich  einen  Besuch  bei  einer  andern,  die 
ich  als  dumme  Pute  behandelt  habe;  das  ist  meine 
alte  französische  Galanterie.  Die  eine  hatte  mich 
mit  ihren  spiritualistischen  Auseinandersetzungen 
und  ihrer  angemaßten  Vorbildlichkeit  gelangweilt; 
die  andere  erregte  meine  Empörung,  weil  sie  sagte, 
Renan  sei  ein  Lump.  Beachten  Sie,  daß  sie  mir 
gestanden  hat,  seine  Bücher  nicht  gelesen  zu  haben. 
Eis  gibt  Dinge,  bei  denen  ich  die  Geduld  verliere, 
und  wenn   man  einen  Freund  vor  mir  verleumdet, 

43 


kommt  mein  Blut  in  Wallung,  ich  sehe  rot.  Es  gibt 
nichts  Dümmeres!  Denn  es  nützt  nichts  und  es  tut 
mir  sehr  weh. 

Übrigens  scheint  mir  dieses  Laster,  das  Herab- 
setzen von  Freunden  in  der  Gesellschaft,  riesenhaften 
Umfang  anzunehmen. 

Freitag  abend,  . . .  1868 

Ich  habe  Ihre  beiden  Briefe  bekommen,  teurer 
Meister.  Sie  raten  mir,  das  Wort  Wasserjungfer 
durch  das  Wort  Eisvogel  zu  ersetzen.  Georges  Souchet 
gibt  mir  das  Wort  Gerre  des  lacs  (Familie  der  Gerris). 
Nun,  mir  paßt  weder  das  eine  noch  das  andere,  weil 
sie  dem  unwissenden  Leser  nicht  sofort  das  Bild 
geben. 

Man  müßte  also  das  besagte  Tierchen  beschreiben  ? 
Aber  das  würde  die  Bewegung  hemmen!  das  würde 
die  ganze  Landschaft  anfüllen!  Ich  werde  sagen: 
„Insekten  mit  langen  Beinen"  oder  , .lange  Insekten", 
das  ist  klar  und  kurz. 

Wenige  Bücher  haben  mich  mehr  gepackt  als  Cadio 
und  ich  teile  Maximes  Bewunderung  durchaus. 

Ich  hätte  Ihnen  schon  früher  davon  gesprochen, 
wenn  mir  meine  Mutter  und  meine  Nichte  nicht  mein 
Exemplar  weggenommen  hätten.  Heute  abend  endlich 
hat  man  es  mir  wiedergegeben;  es  liegt  auf  meinem 

44 


Tisch  und  ich  blättere  darin,  während  ich  Ihnen 
schreibe. 

Zunächst  habe  ich  das  Gefühl,  es  muß  so  gewesen 
sein!  Man  sieht  es,  mein  ist  mitten  darin  und  man 
glüht.  Wieviele  Menschen  mögen  dem  Saint- Gueltas, 
dem  Grafen  Sauvieres,  der  Rebekka  ähnlich  gewesen 
sein!  und  sogar  dem  Henri,  obwohl  die  Modelle  für 
ihn  seltener  sind.  Was  Cadios  Persönlichkeit  betrifft» 
der  mehr  Erfindung  ist  als  die  andern,  so  liebe  ich 
an  ihm  besonders  die  tolle  Wut.  Darin  liegt  die  lokale 
Wahrheit  des  Charakters.  Die  Menschlichkeit  in 
Wut  gewandelt,  die  Guillotine  mystisch  geworden, 
das  Dasein  nur  noch  eine  Art  blutiger  Traum,  — 
so  muß  es  in  solchen  Köpfen  aussehen.  Ich  finde  eine 
Szene  shakespearisch :  die  des  Abgeordneten  der  Natio- 
nalversammlung mit  seinen  beiden  Sekretären  ist  von 
unerhörter  Kraft.  Man  könnte  weinen!  Noch  eine 
andere  Szene  hat  mich  beim  ersten  Lesen  stark  er- 
griffen, die  Szene,  wo  Saint  Gueltas  und  Henri  beide 
ihre  Pistolen  in  der  Tasche  haben;  und  noch  viele 
andere. 

Wie  prachtvoll  (ich  schlage  ganz  zufällig  auQ  ist 
Seite  161! 

Müßte  man  in  diesem  Stück  der  legitimen  Frau 
des  guten  Saint-Gueltas  nicht  eine  längere  Rolle 
geben?  Das  Drama  kann  nicht  schwer  zu  überarbeiten 

45 


sein.  Es  handelt  sich  nur  darum,  es  zu  kondensieren 
und  zu  kürzen.  Wenn  man  es  zur  Aufführung  bringt, 
garantiere  ich  Ihnen  einen  Riesenerfolg.  Aber  die 
Zensur? 

JedenfcJls  haben  Sie  ein  meisterliches  Buch  ge- 
schrieben, das  außerdem  sehr  amüsant  ist.  Meine 
Mutter  behauptet,  es  erinnere  sie  an  Geschichten,  die 
sie  als  Kind  gehört  hat. 

Meine  Mutter  begibt  sich  in  einigen  Tagen  nach 
Dieppe  zu  ihrer  Enkelin.  Ich  werde  für  einen  guten 
Teil  des  Sommers  allein  sein  und  nehme  mir  vor, 
furchtbar  zu  schuften. 

Ich   arbeite   viel   und   fürchte   die   Geselligkeit, 
Nicht  auf  den  Bällen  wird  die  Zukunft  uns  bereitet. 

(Camille  Doucet.) 

Aber  mein  ewiger  Roman  langweilt  mich  bisweilen 
unglaublich  Es  fällt  mir  schwer,  diese  winzigen 
Einzelheiten  von  der  Stelle  zu  bringen.  Warum 
quält  man  sich  auf  einer  so  erbärmlichen  Basis? 

Ich  wollte  Ihnen  sehr  viel  über  Cadio  schreiben; 
aber  es  ist  spät,  und  die  Augen  brennen  mir. 

Deshalb  nur  einen  ganz  schlichten  Dank,  mein 
teurer  Meister. 

46 


Croisset,  Sonntag,  5.  Juli  1868 

Ich  habe  seit  sechs  Wochen  furchtbar  geschuftet- 
Die  Patrioten  werden  mir  dies  Buch  nicht  verzeihen, 
und  die  Reaktionäre  auch  nicht.  Um  so  schlimmer; 
ich  schreibe  die  Dinge,  wie  ich  sie  fühle,  das  heißt 
wie  ich  glaube,  daß  sie  sind.  Ist  das  meinerseits  eine 
Dummheit?  Aber  mir  scheint,  daß  unser  Unglück 
ausschließlich  von  den  Leuten  unserer  Partei  her- 
rührt. Was  ich  an  Christentum  im  Sozialismus  finde, 
ist  ungeheuer.  Nachstehend  zwei  kleine  Notizen, 
die  auf  meinem  Tisch  liegen. 

,,Dies  System  (das  seine)  ist  kein  System  der  Ord- 
nungslosigkeit,  denn  es  hat  seine  Quelle  im  Evan- 
gelium, und  aus  dieser  göttlichen  Quelle  kann  kein 
Haß,  können  keine  Kriege,  kann  keine  Reibung  aller 
Interessen  fließen,  denn  die  vom  Evangelium  auf- 
gestellte Lehre  ist  eine  Lehre  des  Friedens,  der  Einig- 
keit, der  Liebe.**  (L.  Blanc.) 

„Ich  wage  sogar  zu  behaupten,  daß  mit  der  Heili- 
gung des  Sonntags  in  der  Seele  unserer  Verseschmiede 
auch  der  letzte  Funke  des  poetischen  Feuers  erloschen 
ist.  Es  gibt  ein  altes  Wort:  Ohne  Religion  keine 
Poesie.**  (Proudhon.) 

Was  diesen  Mann  betrifft,  so  flehe  ich  Sie  an,  teurer 
Meister,  lesen  Sie  nach  seinem  Buch  über  die  Heili- 
gung des  Sonntags  eine  Liebesgeschichte,  die  glaube 

47 


ich  „Marie  und  Maxime**  betitelt  ist.  Man  muß  sie 
kennen,  um  einen  Begriff  vom  Stil  dieser  Denker  zu 
haben.  Das  ist  ein  Gegenstück  zu  der  Bretagnereise 
des  großen  Veuillot,  in  „Hier  und  Dort".  Was  nicht 
hindert,  daß  wir  Freunde  haben,  die  diese  beiden 
Herren  sehr  bewundern. 

Wenn  ich  alt  bin,  werde  ich  zur  Kritik  übergehen; 
das  wird  mich  erleichtem,  denn  oft  ersticke  ich  an 
zurückgehaltenen  Ansichten.  Niemand  versteht  besser 
als  ich  die  Entrüstung  des  braven  Boileau  gegen  den 
schlechten  Geschmack:  „Die  Dummheiten,  die  ich 
in  der  Akademie  hören  muß,  beschleunigen  mein 
Ende.**    Das  ist  ein  Mensch. 

So  oft  ich  jetzt  die  Ankerkette  der  Dampfer  höre, 
denke  ich  an  Sie,  und  dies  Geräusch  reizt  mich  weniger, 
wenn  ich  mir  sage,  daß  Sie  es  lieben.  War  das  ein 
Mondschein  heute  nacht  auf  dem  Flußl 

Dieppe,  Montag,  . . .  1868 

Ja  gewiß,  teurer  Meister,  ich  war  in  Paris  bei  dieser 
„krankhaften"  Hitze,  (wie  Herr  X.  sagt,  der  Gouver- 
neur des  Schlosses  in  Versailles)  und  ich  habe  furcht- 
bar geschwitzt.  Ich  bin  zweimal  in  Fontainebleau 
gewesen  und  habe  mir  das  zweite  Mal  auf  Ihren  Rat 
die  Gruppen  von  Arbonne  angesehen.  Es  ist  so  schön, 
daß  mir  ganz  schwindlig  geworden  ist. 

48 


Ich  bin  auch  in  Saint-Gratien  gewesen.  Jetzt  bin 
ich  in  Dieppe,  und  Mittwoch  werde  ich  in  Croisset 
sein,  um  mich  dann  lange  nicht  mehr  von  der  Stelle 
zu  rühren;  ich  muß  den  Roman  weiterbringen. 

Gestern  habe  ich  Dumas  gesehen;  wir  haben  natür- 
lich von  Ihnen  gesprochen,  und  da  ich  ihn  morgen 
wiedersehe,  werden  wir  wieder  von  Ihnen  sprechen. 

Ich  habe  mich  schlecht  ausgedrückt,  wenn  ich 
gesagt  habe,  mein  Buch  „lege  den  Patrioten  alles 
Unheil  zur  Last".  Ich  maße  mir  nicht  das  Recht  an, 
jemandem  etwas  zur  Last  zu  legen.  Ich  glaube  sogar 
nicht,  daß  der  Schriftsteller  seine  Meinung  über 
die  Dinge  dieser  Welt  ausdrücken  darf.  (Das  ist 
ein  Teil  meiner  Dichtung  und  meiner  selbst.)  Ich 
beschränke  mich  also  darauf,  die  Dinge  so  darzustellen, 
wie  ich  sie  sehe,  auszudrücken,  was  mir  als  das  Wahre 
erscheint.  Die  Folgen  kann  ich  nicht  abwenden. 
Reiche  oder  Arme,  Sieger  oder  Besiegte,  ich  lasse 
nichts  von  all  dem  gelten.  Ich  will  weder  Liebe, 
noch  Haß,  noch  Mitleid,  noch  Zorn.  Mit  der  Sympa- 
thie ist  es  etwas  anderes:  davon  kann  man  nie  genug 
haben.  Die  Reaktionäre  werden  übrigens  noch 
weniger  geschont  werden  als  die  andern,  denn  sie 
erscheinen  mir  schuldiger. 

\  49 


Ist  es  nicht  Zeit,  die  Gerechtigkeit  in  die  Kunst 
einzuführen?  Die  Unparteilichkeit  der  Schilderung 
würde  dann  der  Majestät  des  Gesetzes  gleichkommen 
—  und  der  Exaktheit  der  Wissenschaft! 

Da  ich  aber  zu  Ihrem  großen  Geist  absolutes  Ver- 
trauen habe,  werde  ich  Ihnen  meinen  dritten  Teil 
vorlesen,  wenn  er  fertig  ist,  und  falls  in  meiner  Arbeit 
irgend  etwas  ist,  was  Ihnen  böse  erscheint,  so  werde 
ich  es  ausmerzen. 

Aber  ich  bin  von  vornherein  überzeugt,  daß  Sie 
nichts  einzuwenden  haben  werden. 

Von  Anspielungen  auf  Personen  ist  keine  Spur 
vorhanden. 

Prinz  Napoleon,  den  ich  Donnerstag  bei  seiner 
Schwester  gesehen  habe,  hat  mich  nach  Ihnen  gefragt 
und  sagte  mir  eine  Schmeichelei  über  Maurice. 
Prinzessin  Mathilde  erklärte  mir,  sie  fände  Sie  reizend, 
weshalb  ich  sie  noch  ein  wenig  mehr  liebe  als  bisher. 

Wie  können  die  Proben  zu  Cadio  Sie  hindern, 
Ihren  armen  Alten  in  diesem  Herbst  zu  besuchen? 
Nicht  möglich,  nicht  möglich  1  Ich  kenne  Freville. 
Es  ist  ein  ausgezeichneter  und  sehr  belesener  Mann. 

50 


Croisset,  Mittwoch  abend,  g.  September  1868 

Ist  das  ein  Benehmen,  teurer  Meister?  Fast  zwei 
Monate  haben  Sie  Ihrem  alten  Troubadour  nicht 
geschrieben.  Sind  Sie  in  Paris,  in  Nohant,  oder 
wo  sonst? 

Man  sagt,  Gidio  werde  gegenwärtig  in  der  Porte 
Saint  Martin  einstudiert.  (Sie  und  Chilly  haben  sich 
also  überworfen?)  Man  sagt,  die  Thuillier  werde 
in  Ihrer  Arbeit  zuerst  wiederauftreten,  und  ich  dachte, 
sie  läge  im  Sterben,  die  Thuillier,  nicht  Ihre  Arbeit. 
Und  wann  wird  man  denn  den  Cadio  spielen?  Sind 
Sie  zufrieden?     Usw.  usw. 

Ich  lebe  vollkommen  wie  eine  Auster.  Mein  Roman 
ist  der  Fels,  an  den  ich  mich  anklammere,  und  ich 
weiß  nichts  von  dem,  was  in  der  Welt  vorgeht. 

Ich  lese  sogar  nicht  mehr  die  Laterne,  oder  vielmehr 
habe  sie  nicht  gelesen.  Rochefort  langweilt  mich, 
unter  uns  gesagt.  Es  gehört  Mut  dazu,  wenn  man 
schüchtern  zu  sagen  wagt,  er  sei  vielleicht  doch  nicht 
der  erste  Schriftsteller  des  Jahrhunderts.  0  Barbaren! 
o  Barbaren!  wie  Voltaire  seufzen  (oder  brüllen) 
würde. 

Und  Sainte-Beuve?  Sehen  Sie  ihn?  Ich  für  mein 
Teil  arbeite  rasend.  Ich  habe  soeben  eine  Schilderung 
des  Waldes  von  Fontainebleau  geschrieben,  die  mir 
Lust  gemacht  hat,  mich  an  einem  seiner  Bäume  aufzu- 

<•  51 


hängen.  Da  ich  mich  drei  Wochen  lang  unterbrochen 
hatte,  ist  es  mir  entsetzlich  schwer  gefallen,  wieder 
in  Zug  zu  kommen.  Ich  bin  vom  Gelichter  der  Ka- 
mele, die  man  rieht  anhalten  kann,  wenn  sie  laufen 
und  nicht  von  der  Stelle  bringt,  wenn  sie  rasten.  Ich 
habe  noch  ein  Jahr  zu  tun.  Worauf  ich  dann  die  Spieß- 
bürger endgültig  verabschiede.  Es  ist  zu  schwierig 
und  im  ganzen  zu  häßlich.  Es  wäre  Zeit,  etwas 
Schönes  zu  schreiben,  was  mir  gefällt. 

Es  wäre  mir  im  Augenblick  sehr  angenehm,  Sie 
zu  umarmen.  Wann  wird  das  sein?  Bis  dahin  tausend 
herzliche  Grüße! 

...  1868 

Das  wundert  Sie,  teurer  Meister?  Nun,  mich  nicht I 
Ich  hatte  es  Ihnen  ja  gesagt,  aber  Sie  wollten  mir 
nicht  glauben. 

Ich  beklage  Sie.  Denn  es  ist  traurig,  die  Menschen, 
die  man  liebt,  sich  verändern  zu  sehen.  Dies  Ver- 
drängtwerden einer  Seele  durch  eine  andere  in  einem 
Körper,  der  dem,  was  er  war,  identisch  bleibt,  ist  ein 
herzzerreißendes  Schauspiel.  Man  fühlt  sich  ver- 
raten! Ich  habe  das  durchgemacht,  und  mehr  als 
einmal. 

Aber  was  für  einen  Begriff  haben  Sie  denn  von 
Frauen,  Sie,  die  Sic  vom  dritten  Geschlecht  sind? 

52 


Sind  sie  nicht,  wie  Proudhon  gesagt  hat,  „die  Ver- 
zweiflung des  Gerechten**?  Seit  wann  können  sie 
auf  Hirngespinste  verzichten?  Nach  der  Liebe  die 
Frömmigkeit;  das  ist  ganz  in  Ordnung.  Dorine  hat 
keine  Männer  mehr,  sie  nimmt  den  lieben  Gott.  Das 
ist  alles. 

Die  Menschen  sind  selten,  die  das  Übernatürliche 
nicht  nötig  haben.  Die  Philosophie  wird  immer 
Sache  der  Aristokraten  sein.  Man  mag  das  mensch- 
liche Vieh  noch  so  gut  mästen,  ihm  Streu  bis  unter 
den  Bauch  geben  und  sogar  seinen  Stall  vergolden, 
es  wird  Tier  bleiben,  was  man  auch  sagen  mag.  Der 
ganze  Fortschritt,  den  man  erhoffen  kann,  ist,  das 
Tier  etwas  weniger  böse  zu  machen.  Aber  in  bezug 
auf  die  Veredelung  der  Ideen  der  Masse,  auf  die 
Möglichkeit,  ihr  eine  größere  und  damit  weniger 
menschliche  Auffassung  von  Gott  zu  geben,  bin  ich 
skeptisch,  sehr  skeptisch. 

Ich  lese  jetzt  ein  ehrliches  Ding  von  einem  Buch 
(geschrieben  von  einem  meiner  Freunde,  einem  Be- 
amten) über  die  Revolution  im  Eure-Departement. 
Es  ist  voll  von  Artikeln,  die  die  Bürger  jener  Zeit 
geschrieben  haben,  einfache  Privatleute  in  kleinen 
Städten.  Nun,  ich  versichere  Ihnen,  es  gibt  heute 
wenige  von  gleicher  Kraft!    Sie  waren  gebildet  und 

53 


wacker,  voll  gesundem  Menschenverstand,  voller 
Ideen  und  Großmut! 

Der  Neokatholizismus  einerseits  und  der  Sozialismus 
anderseits  haben  Frankreich  verdummt.  Alles  dreht 
sich  um  die  unbefleckte  Empfängnis  und  die 
Arbeiterschüsseln . 

Ich  sagte  Ihnen  schon,  daß  ich  in  meinem  Schmöker 
den  Demokraten  nicht  schmeichle!  Aber  ich  stehe 
Ihnen  dafür,  daß  auch  die  Konservativen  nicht  ge- 
schont werden.  Ich  schreibe  jetzt  drei  Seiten  über  die 
Greueltaten  der  Nationalgarde  im  Juni  48,  die  mich 
bei  den  Bürgern  sehr  in  Ansehen  bringen  werden.  Ich 
schlage  ihnen  in  ihrer  Schändlichkeit,  so  gut  ich  kann, 
die  Nase  ein. 

Bei  all  dem  erzählen  Sie  mir  nichts  Genaues  über 
Cadio.    Welches  sind  die  Schauspieler  usw.? 

Ich  mißtraue  Ihrem  Roman  über  das  Theater. 
Sie  lieben  diese  Leute  zu  sehr!  Haben  Sie  viele  ge- 
kannt, die  ihre  Kunst  lieben?  Künstler  sind  nur 
verirrte  Bürger! 

Wir  werden  uns  also  spätestens  in  drei  Wochen 
sehen.    Ich  freue  mich  sehr  darauf  und  umarme  Sie. 

Und  die  Zensur?  Ich  hoffe  sehr  für  Sie,  daß  sie 
Dummheiten  machen  wird.  Abgesehen  davon  würde 
es  mich  betrüben,  wenn  sie  ihrer  Gewohnheit  untreu 
würde. 

54 


Haben  Sie  in  der  Zeitung  den  Ausspruch  gelesen: 
„Victor  Hugo  und  Rochefort,  die  größten  Schrift- 
steller der  Zeit!"  Wenn  Badinguet  sich  jetzt  nicht 
gerächt  fühlt,  so  liegt  es  daran,  daß  er  in  Punkto 
Martern  schwer  zu  befriedigen  ist. 

Dienstag,  1868 

Teurer  Meister! 

Sie  können  sich  nicht  vorstellen,  welchen  Kummer 
Sie  mir  bereiten.  Obwohl  ich  große  Lust  habe, 
antworte  ich  „nein".  Aber  mich  zerreißt  das  Ver- 
langen, ja  zu  sagen.  Das  gibt  mir  das  Ansehn  eines 
Herrn,  der  sich  durch  nichts  stören  läßt,  was  sehr 
lächerlich  ist.  Aber  ich  kenne  mich :  wenn  ich  zu 
Ihnen  nach  Nohant  ginge,  würde  ich  nachher  einen 
Monat  lang  von  meiner  Reise  zu  träumen  haben. 
WirkHche  Bilder  würden  in  meinem  armen  Hirn 
die  erdichteten  Bilder  verdrängen,  die  ich  mühselig 
aufbaue.  Mein  ganzes  Kartenhaus  würde  zusammen- 
stürzen. 

Vor  drei  Wochen  habe  ich  für  die  Dummheit,  eine 
Dinereinladung  in  der  Nachbarschaft  anzunehmen, 
vier  Tage  verloren  (sie!).  Was  sollte  werden,  wenn 
ich  aus  Nohant  zurückkäme?  Sie  verstehen  das 
nicht,  Sie  starkes  Wesen! 

55 


Mir  scheint,  man  grollt  seinem  alten  Troubadour 
ein  wenig  (ich  bitte  tausendmal  um  Verzeihung, 
wenn  ich  mich  täusche),  weil  er  nicht  zur  Taufe  der 
beiden  Engelchen  von  Freund  Maurice  gekommen 
ist?  Der  teure  Meister  muß  mir  schreiben,  ob  ich 
unrecht  habe,  und  um  mir  Nachricht  von  sich  zu 
geben. 

Lassen  Sie  sich  von  mir  erzählen :  Ich  arbeite  maß- 
los und  bin  im  Grunde  froh  über  die  Aussicht  auf  das 
Ende,  das  sich  zu  zeigen  beginnt. 

Damit  es  schneller  kommt,  habe  ich  den  Entschluß 
gefaßt,  den  ganzen  Winter  über  hier  zu  bleiben, 
wahrscheinlich  bis  Ende  März.  Angenommen,  daß 
alles  gut  geht,  werde  ich  das  Ganze  doch  nicht  vor 
Ende  Mai  fertig  haben.  Ich  weiß  nicht,  was  passiert, 
und  ich  lese  nichts,  außer  etwas  französischer  Revo- 
lution nach  den  Mahlzeiten,  um  zu  verdauen.  Ich 
bin  der  guten  Gewohnheit,  die  ich  früher  hatte,  alle 
Tage  Latein  zu  lesen,  untreu  geworden.  Daher  kann 
ich  kein  Wort  mehr!  Ich  werde  mich  wieder  dem 
Schönen  widmen,  wenn  ich  erst  von  meinen  ver- 
haßten Bürgern  befreit  bin,  und  ich  werde  sobald 
nicht  wieder  mit  ihnen  anfangen. 

Meine  einzige  Störung  besteht  darin,  daß  ich  jeden 
Sonntag  in  Rouen  bei  meiner  Mutter  zu  Tisch  bin. 

56 


Ich  fahre  um  sechs  Uhr  ab  und  bin  um  zehn  Uhr 
wieder  hier.    Das  ist  mein  Dasein. 

Habe  ich  Ihnen  gesagt,  daß  ich  Turgenjeff  hier 
gehabt  habe?    Wie  würden  Sie  ihn  lieben! 

Sainte-Beuve  hält  sich  aufrecht.  Übrigens  werde 
ich  ihn  nächste  Woche  sehen,  denn  ich  werde  auf 
zwei  Tage  in  Paris  sein,  um  mir  dort  Auskünfte  zu 
holen,  die  ich  brauche.  Auskünfte  worüber?  Über 
die  Nationalgarde!!! 

Eins  müssen  Sie  hören :  der  Figaro,  der  nicht  weiß, 
womit  er  seine  Spalten  füllen  soll,  ist  auf  den  Einfall 
gekommen,  zu  erzählen,  mein  Roman  behandle  das 
Leben  des  Kanzlers  Pasquier!  Daraufhin  Angst 
besagter  Familie;  sie  hat  an  einen  andern  in  Rouen 
wohnhaften  Zweig  der  Familie  geschrieben.  Diese 
hat  sich  einen  Advokaten  genommen,  der  meinem 
Bruder  einen  Besuch  gemacht  hat,  damit  . . .  Kurz, 
ich  bin  blöd  genug  gewesen,  mir  die  „Gelegenheit 
nicht  zunutze  zu  machen".  Das  ist  herrlich  als  Dumm- 
heit, nicht  wahr? 

Samstag  abend,  . . .  1868 

Ich  habe  Gewissensbisse,  weil  ich  so  lange  auf  Ihren 
letzten  Brief  nicht  geantwortet  habe,  mein  teurer 
Meister.  Sie  sprachen  mir  von  , Ärgernissen",  die 
man  Ihnen  bereitet  habe.    Glauben  Sie.  daß  ich  das 

57 


nicht  wußte?  Ich  will  Ihnen  sogar  (unter  uns)  ge- 
stehen, daß  ich  in  Ihrem  Namen  gekränkt  gewesen 
bin,  mehr  noch  in  meinem  guten  Geschmack  als  in 
meiner  Liebe  zu  Ihnen.  Ich  habe  mehrere  Ihrer 
Intimen  nicht  warm  genug  gefunden.  „Mein  Gott, 
mein  Gott,  wie  sind  diese  Schriftsteller  dumm!" 
Bruchstück  aus  der  Korrespondenz  Napoleons  I. 
Das  ist  ein  reizender  Ausspruch,  nicht  wahr?  Haben 
Sie  nicht  den  Eindruck,  daß  man  ihn  zu  sehr  ver- 
leumdet? 

Die  unendliche  Stupidität  der  Massen  macht  mich 
nachsichtig  gegen  die  Individualitäten,  so  widerwärtig 
sie  auch  sein  mögen.  Ich  habe  soeben  die  ersten 
sechs  Bände  von  Buchez  und  Roux  verschlungen. 
Der  Effekt  ist  ein  ungeheurer  Widerwille  gegen  die 
Franzosen.  Herr  des  Himmels!  wie  albern  ist  man 
zu  allen  Zeiten  in  unserm  schönen  Vaterlande  ge- 
wesen! Kein  liberaler  Gedanke,  der  nicht  unpopulär 
gewesen  ist,  keine  gerechte  Sache,  die  nicht  Ärgernis 
erregt  hätte,  kein  großer  Mann,  der  nicht  mit  faulen 
Äpfeln  beworfen  oder  mit  Messerstichen  traktiert 
worden  wäre!!  „Geschichte  des  menschlichen  Geistes, 
Geschichte  der  menschlichen  Dummheit!"  wie  Vol- 
taire sagt. 

Und  ich  überzeuge  mich  immer  mehr  von  der 
einen  Wahrheit:  die  Doktrin  der  Gnade  hat  uns  so 

58 


völlig  durdidningen,  daß  der  Sinn  für  Gerechtigkeit 
verloren  gegangen  ist.  Was  mich  in  der  Geschichte 
des  Jahres  48  erschreckt,  hat  seinen  ganz  natürlichen 
Ursprung  in  der  Revolution,  die  sich,  was  man  auch 
sage,  nicht  vom  Mittelalter. frei  gemacht  hat.  Ich  habe 
in  Marat  ganze  Bruchstücke  von  Proudhon  (sie!) 
wiedergefunden,  und  ich  wette,  daß  man  sie  auch  in 
den  Rednern  der  Liga  wiederfinden  würde. 

Welche  Maßnahmen  brachten  die  Fortgeschritten- 
sten nach  Varennes  in  Vorschlag?  Die  Diktatur  und 
die  Militärdiktatur.  Man  schließt  die  Kirchen,  aber 
man  errichtet  Tempel  usw. 

Ich  kann  Ihnen  sagen,  daß  ich  von  der  Revolution 
blödsinnig  werde.  Dieser  Abgrund  wird  mich  ver- 
schlingen. 

Aber  ich  arbeite  an  meinem  Roman  wie  mehrere 
Ochsen.  Ich  hoffe,  ich  werde  Neujahr  nur  noch 
hundert  Seiten  zu  schreiben  haben,  das  heißt  noch 
sechs  gute  Arbeitsmonate.  Ich  werde  so  spät  wie 
möglich  nach  Paris  gehen.  Mein  Winter  wird  in  voll- 
ständiger Einsamkeit  verfließen,  ein  gutes  Mittel, 
um  das  Leben  schnell  entschwinden  zu  lassen. 

Silvesternacht,  i  Uhr,  i86g 

Warum  sollte  ich  nicht  das  Jahr  1869  damit  beginnen, 
Ihnen  und  den   Ihren  „eine  Reihe  von  guten  und 

59 


glücklichen  Jahren**  zu  wünschen.  Das  ist  Rokoko, 
aber  es  gefällt  mir.    Jetzt  wollen  wir  plaudern. 

Nein,  „ich  verbrenne  mir  nicht  das  Blut",  denn 
ich  bin  nie  gesünder  gewesen.  Man  hat  mich  in 
Paris  „frisch  wie  ein  junges  Mädchen"  gefunden, 
und  die  Leute,  die  meine  Lebensgeschichte  nicht 
kennen,  haben  dies  gesunde  Aussehen  der  Landluft 
zugeschrieben.  Das  sind  übernommene  Begriffe. 
Jeder  hat  seine  Hygiene.  Das  einzige,  was  ich,  wenn 
ich  keinen  Hunger  habe,  essen  kann,  ist  trocknes 
Brot.  Und  die  unverdaulichsten  Speisen,  wie  zum 
Beispiel  unreife  Apfel  und  Speck,  helfen  mir  gegen 
einen  verdorbenen  Magen.  So  in  allem.  EÜn  Mensch, 
der  keinen  gesunden  Menschenverstand  hat,  kann 
nicht  nach  den  Regeln  des  gesunden  Menschen- 
verstandes leben. 

Was  meine  Arbeitswut  betrifft,  möchte  ich  sie 
einer  Flechte  vergleichen.  Ich  kratze  mich  weinend. 
Es  ist  Lust  und  Marter  zugleich.  Und  ich  tue  nichts 
von  dem,  was  ich  tun  möchte.  Denn  man  wählt  seine 
Stoffe  nicht,  sie  drängen  sich  einem  auf.  Werde  ich 
je  meinen  Stoff  finden?  Wird  mir  eine  Idee  vom 
Himmel  fallen,  die  in  vollkommenem  Einklang  mit 
meinem  Temperament  steht?  Werde  ich  ein  Buch 
schreiben  können,  in  dem  ich  mich  ganz  gebe?  In 
meinen  eitlen  Momenten  habe  ich  das  Gefühl,  daß 

60 


ich  zu  ahnen  beginne,  was  ein  Roman  sein  muß. 
Aber  vor  jenem  (der  übrigens  noch  sehr  undeutlich 
ist)  habe  ich  noch  drei  oder  vier  andere  zu  schreiben, 
und  bei  dem  Tempo,  das  ich  habe,  werde  ich  höchstens 
noch  diese  drei  oder  vier  schreiben.  Ich  bin  wie 
Prudhomme,  der  findet,  daß  die  schönste  Kirche  die 
sein  würde,  die  den  Turm  des  Straßburger  Mün- 
sters, die  Säulen  der  Peterskirche,  den  Portikus  des 
Parthenons  usw.  vereinigte.  Ich  habe  widersprechende 
Ideale.  Daraus  entspringen  Verlegenheiten,  Hem- 
mungen, Unfähigkeit. 

„Die  Klausur,  zu  der  ich  mich  verdamme,  sei  ein 
Zustand  der  Wonne",  nein.  Aber  was  tun?  Sich  in 
Tinte  berauschen  ist  besser,  als  sich  in  Schnaps  be- 
rauschen. Die  Muse,  so  herb  sie  auch  ist,  schafft 
weniger  Kümmernisse  als  die  Frau.  Ich  kann  die 
beiden  nicht  in  Einklang  bringen.  Man  muß  wählen. 
Meine  Wahl  ist  getroffen  und  seit  langem.  Bleibt 
die  Geschichte  mit  den  Sinnen.  Sie  sind  stets  meine 
Diener  gewesen.  Selbst  in  der  Zeit  meiner  grünsten 
Jugend  habe  ich  mit  ihnen  absolut  das  getan,  was 
ich  wollte.  Ich  bin  den  Fünfzig  nahe  und  habe  nicht 
eben  unter  ihrem  Ungestüm  zu  leiden. 

Diese  Lebensweise  ist  nicht  amüsant,  das  gebe  ich 
zu.  Man  hat  Augenblicke  der  Leere  und  furchtbarer 
Langeweile.   Aber  sie  werden  immer  seltener,  je  älter 

61 


man  wird.  Jedenfalls  erscheint  mir  leben  als  ein  Be- 
ruf, für  den  ich  nicht  geschaffen  bin,  —  und  dennoch. 

Ich  bin  drei  Tage  in  Paris  geblieben  und  habe  sie 
zu  Studien  und  Laufereien  für  meinen  Schmöker 
benutzt.  Ich  war  am  letzten  Freitag  so  erschöpft, 
daß  ich  um  sieben  Uhr  abends  zu  Bett  gegangen  bin. 
Das   sind   meine   tollen   Orgien   in   der   Hauptstadt. 

Ich  fand  die  Goncourts  voll  wahnsinniger  Bewunde- 
rung  (sie!)  eines  Werkes,  das  den  Titel  führt: 
„Geschichte  meines  Lebens**,  von  George  Sand. 
Was  von  ihrer  Seite  mehr  guten  Geschmack  als 
Belesenheit  beweist.  Sie  wollten  Ihnen  sogar  schrei- 
ben, um  Ihnen  ihre  ganze  Bewunderung  auszu- 
drücken. Dagegen  habe  ich  ***  stupid  gefunden. 
Er  vergleicht  Feydeau  mit  Chateaubriand,  bewundert 
den  Aussätzigen  von  Aosta  sehr,  findet  den  Don 
Quixote  langweilig  usw. 

Erkennen  Sie,  wie  selten  das  literarische  Gefühl 
ist?  Die  Kenntnis  der  Sprachen,  die  Archäologie. 
die  Geschichte  usw.,  das  alles  müßte  doch  helfen 
Aber  nein!  Die  angeblich  aufgeklärten  Leute  werden 
in  Kunstdingen  immer  unfähiger.  Was  Kunst  ist. 
entgeht  ihnen.  Die  Anmerkungen  sind  für  sie  wich 
tiger  als  der  Text.  Sie  legen  mehr  Wert  auf  die 
Krücken  als  auf  die  Beine. 

62 


Donnerstag  abend,  . . .  i86g 

Wissen  Sie,  teurer  Meister,  daß  es  sehr  hübsch  (ür 
uns  beide  ist,  daß  wir  uns  gleichzeitig  während  der 
Silvesternacht  geschrieben  haben?  Es  ist  entschieden 
ein  starker  Zusammenhang. 

Ich  sehe  niemanden,  ich  weiß  nichts,  ich  lebe  wie 
ein  ausgestopfter  Bär.  In  der  letzten  Woche  bin  ich 
aber  in  Rouen  gewesen,  in  der  Präfektur!  Jawohl  I 
um  den  Heiratskontrakt  der  Tochter  des  Präfekten 
mit  zu  unterschreiben.  Meine  Landsleute  haben 
riesenhafte  Perücken  und  ich  habe  mich  sehr  amüsiert. 

Warum  fühlt  man  das  Komische  nicht,  wenn  man 
jung  ist? 

Ich  habe  Ihren  Brief  natürlich  sofort  den  Gon- 
courts  geschickt.  Ich  versichere  Ihnen  (von  neuem), 
daß  sie  sehr  reizend  sind,  und  es  gibt  soviele  Lumpen  I 

Wissen  Sie  Näheres  über  den  Fall  Sainte-Beuve? 
Ich  nicht.  Hat  er  endgültig  das  Kaiserreich  auf- 
gegeben? Er  hat  sich  also  von  dem  Reich  des  Zorns 
überwältigen  lassen?    Verzeihung! 

Dienstag  nacht,  . . .  i86g 

Was  ich  dazu  sage,  teurer  Meister!  Ob  man  die 
Empfindsamkeit  der  Kinder  anspornen  oder  unter- 
drücken soll?  Mir  scheint,  daß  man  darüber  keine 
vorgefaßte  Meinung  haben  darf.  Es  muß  sich  danach 

63 


richten,  ob  sie  dem  Zuviel  oder  dem  Zuwenig  zu- 
neigen. Den  Kern  kann  man  doch  nicht  ändern. 
Es  gibt  zärtliche  Naturen  und  trockene  Naturen, 
unabänderlich.  Und  daher  können  die  gleichen  Ein- 
drücke, die  gleiche  Erziehung  entgegengesetzte  Wir- 
kungen hervorrufen.  Nichts  hätte  mich  mehr  abhärten 
müssen,  als  der  Umstand,  daß  ich  in  einem  Kranken- 
haus aufgewachsen  bin  und  als  Kind  in  einem  Sezier- 
saal gespielt  habe.  Niemand  ist  aber  mitfühlender 
als  ich  in  bezug  auf  körperliche  Schmerzen.  Aller- 
dings bin  ich  der  Sohn  eines  Mannes,  der  außer- 
ordentlich menschlich  war,  sensibel  im  guten  Sinne 
des  Worts.  Der  Anblick  eines  leidenden  Hundes 
feuchtete  ihm  die  Lider.  Deswegen  führte  er  seine 
chirurgischen  Operationen  nicht  weniger  gut  aus, 
und  er  hat  etliche  furchtbare  dazu  erfunden. 

„Den  Kindern  nur  das  Schöne  und  Gute  vom  Leben 
zeigen  bis  zu  dem  Augenblick,  da  der  Verstand  ihnen 
helfen  kann,  das  Schlechte  hinzunehmen  oder  zu 
bekämpfen.'*  Das  ist  nicht  meine  Ansicht.  Denn  es 
muß  dann  in  ihren  Herzen  etwas  Furchtbares  vor  sich 
gehen,  eine  unendliche  Entzauberung.  Und  wie 
sollte  der  Verstand  sich  bilden  können,  wenn  er  nicht 
dazu  verwendet  wird  (oder  wenn  man  ihn  nicht  täglich 
dazu  verwendet),  das  Gute  vom  Schlechten  zu  unter- 
scheiden?   Das  Leben   muß  eine  unaufhörliche  Er- 

64 


Ziehung  sein,  man  muß  alles  lernen,  vom  Sprechen 
bis  zum  Sterben. 

Sie  sagen  sehr  richtige  Dinge  über  die  Unwissen- 
heit der  Kinder.  Wer  deutlich  in  diesen  kleinen 
Gehirnen  lesen  könnte,  würde  darin  die  Wurzeln 
menschlichen  Wesens  finden,  den  Ursprung  der 
Götter,  die  Kraft,  die  später  die  Taten  veranlaßt 
usw.  Ein  Neger,  der  mit  seinem  Götzen,  und  ein 
Kind,  das  mit  seiner  Puppe  spricht,  erscheinen  mir 
sehr  nahe  verwandt. 

Das  Kind  und  der  Barbar  (der  primitive)  unter- 
scheiden das  Wirkliche  nicht  vom  Phantastischen. 
Ich  erinnere  mich  sehr  deutlich,  daß  ich  mit  fünf 
oder  sechs  Jahren  „mein  Herz"  einem  kleinen  Mäd- 
chen „schicken**  wollte,  in  das  ich  verliebt  war  (ich 
sage  mein  materielles  Herz).  Ich  sah  es  in  Heu  ver- 
packt, in  einem  Korb,  einem  Austernkorb. 

Aber  niemand  ist  in  diesen  Analysen  so  weit  ge- 
kommen wie  Sie.  In  der  ,, Geschichte  meines  Lebens'* 
sind  Stellen  darüber,  die  von  ungeheurer  Tiefe  sind. 
Was  ich  sage,  ist  wahr,  da  die  Ihnen  fernsten  Geister 
darüber  in  Staunen  geraten  sind.  Beweis  die  Gon- 
courts. 

Der  gute  Turgenjeff  wird  Ende  März  in  Paris  sein. 
Entzückend  wäre,  wenn  wir  drei  zusammen  speisen 
könnten. 

'  65 


Ich  denke  wieder  an  Sainte-Beuve.  Zweifellos 
kann  man  mit  einer  Rente  von  dreißigtausend  Franken 
auskommen.  Aber  es  gibt  noch  etwas  Leichteres: 
nämlich,  wenn  man  diese  Rente  hat,  nicht  jede  Woche 
in  den  Zeitschriften  zu  schwatzen.  Warum  schreibt 
er  keine  Bücher,  da  er  reich  ist  und  Talent  hat? 

Ich  lese  augenblicklich  den  Don  Quixote  noch 
einmal.  Welch  ein  ungeheures  Buch!  Gibt  es  ein 
schöneres? 

Croisset,  Dienstag,  den  2.  Februar  i86g 

Mein  teurer  Meister! 
Sie  sehen  in  Ihrem  alten  Troubadour  einen  tod- 
müden Menschen.  Ich  bin  acht  Tage  in  Paris  gewesen, 
auf  der  Suche  nach  langweiligen  Einzelheiten  (sieben 
bis  neun  Stunden  Wagenfahrt  alle  Tage,  was  ein  gutes 
Mittel  ist,  mit  der  Literatur  Geld  zu  verdienen) 
Basta! 

Ich  überlege  soeben  mein  Programm.  Was  ich 
noch  zu  schreiben  habe,  ist  mir  lästig  oder  vielmehr 
ekelt  mich  an  bis  zum  Erbrechen.  So  ist  es  immer, 
wenn  ich  mich  wieder  an  die  Arbeit  mache.  Dann 
langweile  ich  mich,  langweile  ich  mich,  langweile  ich 
mich.  Aber  diesmal  ist  es  schlimmer  als  sonst!  Des- 
halb fürchte  ich  die  Unterbrechungen  im  Schuften 
so.   Ich  konnte  es  aber  nicht  anders  machen.   Ich  habe 

66 


mich  in  die  Pompes  fun^bres  geschleppt,  auf  den 
Pere  Lachaise,  in  das  Tal  von  Montmorency,  durch 
Läden  mit  religiösen  Gegenständen  usw. 

Kurz,  ich  habe  noch  vier  oder  fünf  Monate  zu  tun. 
Welch  ein  erlöstes  „Uff**  werde  ich  ausstoßen,  wenn 
es  fertig  ist,  und  ich  werde  mich  nicht  noch  einmal 
mit  den  Bürgern  abgeben!  Es  ist  Zeit,  daß  ich  mich 
amüsiere. 

Ich  habe  Sainte-Beuve  und  die  Prinzessin 
Mathilde  gesehen  und  kenne  die  Geschichte  ihres 
Bruches,  der  mir  unwiderruflich  erscheint,  gründlich. 
Sainte-Beuve  ist  auf  Dalloz  wütend  gewesen  und  ist 
zum  Temps  gegangen.  Die  Prinzessin  hat  ihn  an- 
gefleht, es  nicht  zu  tun.  Er  hat  nicht  auf  sie  gehört. 
Das  ist  das  ganze.  Mein  Urteil  darüber,  wenn  Sie  es 
gern  vrissen  wollen,  ist  dieses:  das  erste  Unrecht 
war  auf  Seite  der  Prinzessin,  die  heftig  gewesen  ist; 
aber  das  zweite  und  schwerere  liegt  bei  dem  alten 
Beuve,  der  sich  nicht  als  galanter  Mann  benommen 
hat.  Wenn  man  einen  so  guten  Kerl  zum  Freund 
hat,  und  dieser  Freund  einem  eine  Rente  von 
dreißigtausend  Franken  gewährt,  schuldet  man  ihm 
Rücksichten.  Ich  habe  das  Gefühl,  ich  hätte  an 
Sainte-Beuves  Stelle  gesagt:  „Das  mißfällt  Ihnen, 
sprechen  wir  nicht  mehr  darüber!"  Er  hat  es  an 
Manieren    und    Haltung   fehlen    lassen.     Was    mich, 

67 


unter  uns,  ein  wenig  angewidert  hat,  ist  das  Loblied, 
das  er  mir  gegenüber  auf  den  Kaiser  gesungen  hat. 
Jawohl,  mir  gegenüber  das  Lob  Badinguets!  — 
Und  wir  waren  allein! 

Die  Prinzessin  hat  von  Anfang  an  die  Sache  zu 
ernst  genommen.  Ich  habe  es  ihr  geschrieben  und 
habe  Sainte-Beuve  recht  gegeben,  der,  davon  bin 
ich  überzeugt,  mich  sehr  kühl  gefunden  hat.  Darauf- 
hin, um  sich  mir  gegenüber  zu  rechtfertigen,  hat  er 
mir  diese  isidorianischen  Liebesbeteuerungen  ge- 
macht, die  mich  etwas  gedemütigt  haben;  denn  es 
hieß   mich  für  einen   offenbaren   Schafskopf   halten. 

Ich  glaube,  daß  er  sich  auf  einen  Tod  k  la  Beranger 
vorbereitet  und  daß  die  Popularität  Hugos  ihn  eifer- 
süchtig macht.  Warum  in  den  Zeitungen  schreiben, 
wenn  man  Bücher  schreiben  kann  und  nicht  Hungers 
stirbt?  Er  ist  alles  andere  als  ein  Weiser;  er  ist  nicht 
wie  Sie! 

Ihre  Kraft  bezaubert  und  verblüfft  mich.  Ich 
meine  die  Kraft  der  ganzen  Person,  nicht  nur  die  des 
Gehirns. 

Sie  sprechen  in  Ihrem  letzten  Brief  von  der  Kritik 
und  sagen,  daß  sie  demnächst  erlöschen  wird.  Ich 
glaube  im  Gegenteil,  daß  sie  höchstens  im  Erwachen 
ist.  Man  tut  das  Gegenteil  von  dem,  was  die  frühere 
getan  hat,  aber  nicht  mehr.   Zur  Zeit  La  Harpes  war 

68 


man  Grammatiker,  zur  Zeit  Sainte-Beuves  und  Taines 
ist  man  Historiker.  Wann  wird  man  Künstler  sein, 
nur  Künstler,  aber  wirklich  Künstler?  Wo  kennen 
Sie  eine  Kritik,  die  sich  mit  dem  Werk  an  sich  be- 
schäftigt, in  intensiver  Art?  Man  analysiert  sehr 
scharfsinnig  das  Milieu,  in  dem  es  entstanden  ist 
und  die  Ursachen,  die  es  herbeigeführt  haben;  aber 
die  unbewußte  Dichtung?  Woraus  sie  entspringt? 
Ihre  Komposition,  ihren  Stil,  den  Standpunkt  des 
Verfassers  ?    Nirgends  I 

Für  diese  Kritik  wäre  eine  starke  Phantasie  und  eine 
große  Güte  erforderlich,  ich  meine  eine  stets  bereite 
Begeisterungsfähigkeit,  und  außerdem  Geschmack, 
eine  seltene  Eigenschaft,  selbst  in  den  Besten,  so 
selten,  daß  man  überhaupt  nicht  mehr  davon  spricht. 

Was  mich  täglich  empört,  ist,  mitanzusehen,  wie  ein 
Meisterwerk  und  eine  Scheußlichkeit  auf  eine  Stufe 
gestellt  werden.  Man  regt  die  Kleinen  auf  und  er- 
niedrigt die  Großen,  nichts  ist  dummer  und  un- 
moralischer. 

Auf  dem  Pere  Lachaise  bin  ich  von  einem  tiefen 
und  schmerzlichen  Widerwillen  vor  der  Menschheit 
erfaßt  worden.  Wir  machen  uns  keine  Vorstellung 
von  dem  Fetischismus  der  Gräber.  Der  echte  Pariser 
ist  ein  größerer  Götzendiener  als  der  Neger.  Ich  hätte 
mich   am    liebsten  in  eins  der  Gräber  hineingelegt. 

69 


Und  die  vorgescKrittenen  Leute  glauben,  daß  es 
nichts  besseres  zu  tun  gibt  als  Robespierre  rehabili- 
tieren.   Man  sehe  das  Buch  Hamels. 

Wann  wird  man  sich  sehen?  Ich  gedenke  von 
Ostern  bis  Ende  Mai  in  Paris  zu  sein.  In  diesem 
Sommer  werde  ich  Sie  in  Nohant  besuchen.  Ich 
schwöre  es. 

. . .  i86g 

Meine  Prophezeiung  hat  sich  bewahrheitet,  mein 
Freund  X.  hat  bei  seiner  Kandidatur  nur  Gelächter 
geemtet.  Das  ist  wohl  getan.  Wenn  ein  Mensch 
von  Stil  sich  zur  Aktion  erniedrigt,  sinkt  er  und  muß 
bestraft  werden.  Und  außerdem,  handelt  es  sich  jetzt 
um  Politik?  Die  Bürger,  die  sich  für  oder  gegen 
Kaiserreich  oder  Republik  erregen,  erscheinen  mir 
ebenso  nützlich  wie  diejenigen,  die  über  die  wirkende 
Gnade  diskutierten.  Die  Politik  ist  tot  wie  die  Theolo- 
gie. Sie  hat  drei  Jahrhunderte  lang  gelebt,  das  ist 
doch  genug. 

Ich  bin  gegenwärtig  in  die  Kirchenväter  versunken . 
An  meinen  Roman  „Die  Schule  der  Empfindsamkeit  ' 
denke  ich  nicht  mehr.  Gott  sei  Dank.  Er  ist  ab- 
geschrieben. Andere  Hände  haben  ihn  berührt. 
Also  ist  er  nicht  mehr  mein.  Er  existiert  nicht  mehr, 
gute  Nacht.    Ich  habe  meine  alte  Idee  des  Heiligen 

70 


Antonius  wieder  aufgenommen.  Ich  habe  meine 
Aufzeichnungen  durchgelesen,  mache  einen 
neuen  Plan  und  zerreiße  die  kirchlichen  Memoiren 
Nain  de  Tillemonts.  Ich  hoffe  zwischen  den  ver- 
schiedenen Halluzinationen  des  Heiligen  ein  logisches 
Band  (und  damit  ein  dramatisches  Interesse)  finden 
zu  können.  Dieses  außergewöhnliche  Milieu  gefällt 
mir  und  ich  stürze  mich  hinein. 

Um  meinen  armen  Bouilhet  sorge  ich  mich.  Er  ist  in 
so  nervöser  Verfassung,  daß  man  ihm  geraten  hat,  eine 
kleine  Reise  in  den  Süden  Frankreichs  zu  machen. 
Er  ist  von  einer  unbesieglichen  Hypochondrie  be- 
fallen. Wie  sonderbar!  er,  der  früher  so  fröhlich 
war! 

Mein  Gott,  wie  schön  und  lustig  war  das  Leben 
der  Anachoreten.  Aber  sie  waren  zweifellos  alle 
Buddhisten.  Hier  liegt  ein  Problem,  das  zum  Be- 
arbeiten lockt,  und  seine  Lösung  wäre  v^chtiger 
als  die  Wahl  eines  Akademikers.  Ol  Männer  von 
wenig  Glauben!    Es  lebe  der  heilige  Polycarp! 

Fangeat,  der  jetzt  in  diesen  Tagen  wiederauf- 
getaucht ist,  ist  der  Bürger,  der  am  25.  Februar  1848 
den  Tod  Louis  Philippes  „ohne  Verhör"  verlangt 
hat.  Auf  diese  Weise  dient  man  der  Sache  des  Fort- 
schritts. 

71 


. . .  i86g 

Wie  gut  und  reizend  war  Ihr  Brief,  angebeteter 
Meister!  Es  gibt  also  nur  noch  Sie,  mein  Ehrenwort! 
Ich  sterbe  mit  diesem  Glauben.  Ein  Wind  der  Dumm- 
heit und  Torheit  weht  jetzt  auf  der  Welt.  Die  fest 
und    aufrecht    stehen    bleiben,    sind    selten. 

Das  habe  ich  damit  sagen  wollen,  als  ich  schrieb, 
die  Zeit  der  Politik  sei  vorbei.  Im  achtzehnten  Jahr- 
hundert war  die  Diplomatie  die  Hauptsache.  Das 
Geheimnis  der  Kabinette  existierte  tatsächlich.  Die 
Völker  ließen  sich  noch  genügend  leiten,  so  daß  man 
sie  trennen"  und  verschmelzen  konnte.  Diese  Ordnung 
der  Dinge  scheint  mit  1 81 5  ihr  letztes  Wort  gesprochen 
zu  haben.  Seit  der  Zeit  hat  man  kaum  etwas  anderes 
getan,  als  über  die  äußere  Form  diskutiert,  die  man  dem 
phantastischen  und  v^derwärtigen  Wesen,  Staat 
genannt,  am  passendsten  geben  könne. 

Die  Erfahrung  lehrt  (scheint  mir),  daß  keine  Form  das 
Gute  an  sich  ist.  Orleanismus,  Republik,  Kaiserreich 
sagen  einem  nichts  mehr,  da  ja  die  widersprechendsten 
Ideen  in  jedem  dieser  Fächer  liegen  können.  Alle 
Fahnen  sind  so  mit  Blut  und  M  . . .  besudelt  worden, 
daß  es  Zeit  ist,  überhaupt  keine  mehr  zu  haben. 
Nieder  mit  den  Worten!  Keine  Symbole  und  keine 
Fetische  mehr!  Die  große  Moral  der  jetzigen  Regie- 
rung  wird   sein,    zu   beweisen,   daß   das   allgemeine 

72 


Wahlrecht  ebenso  dumm  ist  wie  das  göttliche  Recht, 
wenn  auch  etwas  weniger  widerlich! 

Die  Frage  ist  also  deplaziert.  Es  handelt  sich  nicht 
mehr  darum,  die  beste  Form  der  Regierung  zu  er- 
sinnen, da  ja  alle  gleich  viel  taugen,  sondern  die 
Wissenschaft  zur  Vorherrschaft  zu  bringen.  Das  ist 
das  Nötigste.  Das  übrige  wird  sich  natumotwendig 
daraus  ergeben.  Die  rein  intellektuellen  Menschen 
haben  der  menschlichen  Rasse  größere  Dienste  ge- 
leistet als  alle  Saint  Vincent  de  Pauls  der  Welt !  Und 
die  Politik  wird  ewig  eine  Bagatelle  sein,  wenn  sie  nicht 
eine  Unterabteilung  der  Gesamtakademie  wird,  und 
zwar  die  letzte  von  allen. 

Bevor  Sie  sich  mit  Hilfskassen  und  sogar  mit  Land- 
wirtschaft beschäftigen,  schicken  Sie  in  alle  Dörfer 
Frankreichs  Robert  Houdins,  um  Wunder  zu  tun! 
Das  größte  Verbrechen  Isidores  ist  der  Schmutz, 
in  dem  er  unser  schönes  Vaterland  liegen  läßt.   Dixi! 

Ich  bewundere  die  Tätigkeit  Maurices  und  sein 
so  gesundes  Leben.  Aber  ich  bin  nicht  imstande,  es 
ihm  nachzumachen.  Die  Natur  greift  mich  an,  statt 
mich  zu  kräftigen.  Wenn  ich  mich  ins  Gras  lege, 
habe  ich  das  Gefühl,  als  wenn  ich  schon  unter  der 
Erde  bin  und  die  Wurzeln  des  Salats  in  meinem  Bauch 
zu  sprießen  beginnen.  Ihr  Troubadour  ist  ein  von 
Natur  ungesunder  Mensch.    Ich  liebe  das  Land  nur 

73 


auf  Reisen,  weil  dann  die  Unabhängigkeit  meines 
Individuums  mich  über  das  Bewußtsein  meines 
Nichts  hinausträgt. 

...   i86g 

Lieber,  guter,  angebeteter  Meister! 
Ich  will  Ihnen  seit  mehreren  Tagen  einen  langen  Brief 
schreiben,  in  welchem  ich  Ihnen  alles  sagen  wollte, 
was  ich  seit  einem  Monat  empfunden  habe.  Es  ist 
komisch.  Ich  habe  seltsame  und  wunderliche  Zu- 
stände durchgemacht.  Aber  ich  habe  nicht  die  Zeit 
und   die   Geistesruhe,   mich   genügend   zu   sammeln. 

Machen  Sie  sich  keine  Sorgen  um  Ihren  Trouba- 
dour. Er  wird  stets  „seine  Unabhängigkeit  und  seine 
Freiheit*'  haben,  weil  er  leben  wird,  wie  er  stets 
gelebt  hat.  Er  hat  lieber  alles  fahren  lassen,  als  sich 
irgendeiner  Verpflichtung  zu  unterwerfen,  und  dann 
werden  mit  dem  Alter  auch  die  Bedürfnisse  kleiner. 
Ich  leide  nicht  mehr  darunter,  nicht  in  der  Alhambra 
zu  leben. 

Was  mir  jetzt  gut  täte,  wäre,  mich  wütend  in  den 
Heiligen  Antonius  zu  stürzen,  aber  ich  habe  nicht 
einmal  die  Zeit  zu  lesen. 

Hören  Sie  zu:  Ihr  Stück  sollte  ursprünglich  nach 
Aisse  gespielt  werden,  dann  ist  verabredet  worden, 
daß  es  vorher  aufgeführt  wird.    Jetzt  wollen  Chilly 

74 


und  Duquesnel  aber,  daß  es  hinterher  aufgeführt 
wird,  einzig  aus  dem  Grunde,  um  „die  Konjunktur 
auszunutzen",  um  aus  dem  Tode  meines  armen 
Bouilhet  Nutzen  zu  ziehen.  Man  wird  Ihnen  „irgend 
eine  Entschädigung"  geben.  Ich  aber,  der  ich  Besitzer 
und  Herr  der  Aisse  bin,  als  wenn  ich  ihr  Verfasser 
wäre,  will  das  nicht.  Ich  will  nicht,  verstehen  Sie, 
daß  Sie  irgend  welche  Opfer  bringen. 

Sie  meinen,  daß  ich  .sanft  wie  ein  Schaf  bin?  Er- 
kennen Sie  Ihren  Irrtum  und  tun  Sie  ganz,  als  wenn 
Aisse  überhaupt  nicht  existierte,  und  vor  allem  kein 
Zartgefühl,  nein?  Das  würde  mich  beleidigen.  Unter 
einfachen  Freunden  schuldet  man  sich  Rücksichten 
und  Höflichkeiten,  aber  zwischen  Ihnen  und  mir 
würde  mir  das  wenig  passend  erscheinen;  wir  sind 
ans  nichts  schuldig  als  Liebe. 

Ich  glaube,  daß  die  Direktoren  des  Odeon  Bouilhet 
in  jeder  Weise  vermissen  werden.  Ich  werde  bei 
den  Proben  weniger  bequem  sein  als  er.  Ich  möchte 
Ihnen  Aisse  wohl  vorlesen,  damit  wir  ein  wenig  dar- 
über plaudern  könnten;  einige  der  Schauspieler, 
die  man  vorschlägt,  sind  nach  meiner  Meinung  un- 
möglich. Es  ist  hart,  mit  Analphabeten  zu  tun  zu 
haben. 


75 


...    iSÖQ 

Nein,  teurer  Meister!  Ich  bin  nicht  krank,  aber  ich 
war  durch  meinen  Fortzug  aus  Paris  und  meine 
Wiedereinrichtung  in  Croisset  in  Anspruch  genommen. 
Dann  ist  meine  Mutter  sehr  leidend  gewesen.  Es  geht 
ihr  jetzt  wieder  gut;  außerdem  habe  ich  den  Nachlaß 
meines  armen  Bouilhet  entwirren  müssen  und  habe 
den  Nekrolog  zu  schreiben  begonnen.  Ich  habe  in 
dieser  Woche  fast  sechs  Seiten  geschrieben,  was  für 
mich  recht  schön  ist;  diese  Arbeit  ist  mir  in  jeder 
Weise  peinlich.  Die  Schwierigkeit  ist,  zu  wissen, 
was  man  nicht  sagen  soll.  Ich  werde  mich  etwas 
schadlos  halten,  indem  ich  zwei  oder  drei  Dogmen 
über  die  Kunst  des  Schreibens  einstreue.  Das  wird 
mir  Gelegenheit  geben,  auszudrücken,  was  ich  denke; 
eine  wunderschöne  Sache,  die  ich  mir  immer  versagt 
habe. 

Sie  sagen  mir  auch  sehr  schöne  und  gute  Dinge, 
um  mir  meinen  Mut  wiederzugeben.  Ich  habe  wenig 
Mut,  aber  ich  tue,  als  hätte  ich  welchen,  was  vielleicht 
auf  eins  herauskommt. 

Ich  fühle  nicht  mehr  das  Bedürfnis  zu  schreiben, 
weil  ich  eigentlich  für  ein  einziges  Wesen  schrieb, 
das  nicht  mehr  ist.  Das  ist  Tatsache!  Und  dennoch 
werde  ich  weiterschreiben.  Aber  die  Freude  ist  nicht 
mehr  da,  die  Begeisterung  ist  fort.   Es  gibt  so  wenige 

76 


Menschen,  die  lieben,  was  ich  liebe,  die  sich  um  das 
kümmern,  was  mich  beschäftigt.  Kennen  Sie  in  Paris, 
das  so  groß  ist,  ein  einziges  Haus,  wo  man  von  Lite- 
ratur spricht?  Und  wenn  sie  beiläufig  erörtert  wird, 
so  sind  es  immer  ihre  untergeordneten  und  äußeren 
Seiten,  die  Frage  des  Erfolgs,  der  Moral,  der  Nützlich- 
keit, der  Aktualität  usw.  Ich  habe  das  Gefühl,  ein 
Fossil,  ein  Geschöpf  ohne  Beziehung  zur  umgebenden 
Schöpfung  zu  sein. 

Ich  wünsche  mir  nichts  besseres,  als  mich  in  eine 
neue  Liebe  zu  stürzen.  Aber  wie?  Fast  all  meine  alten 
Freunde  sind  verheiratet,  Beamte,  denken  das  ganze 
Jahr  hindurch  an  ihr  kleines  Metier,  während  der 
Ferien  an  die  Jagd  und  nach  Tisch  an  den  Whist. 
Ich  kenne  nicht  einen,  der  imstande  wäre,  einen  Nach- 
mittag mit  mir  bei  der  Lektüre  eines  Dichters  zu 
verbringen.  Sie  haben  ihre  Geschäfte;  ich  habe  keine 
Geschäfte.  Bedenken  Sie,  daß  ich  in  der  gleichen 
sozialen  Lage  bin,  in  der  ich  mich  mit  achtzehn  Jahren 
befand.  Meine  Nichte,  die  ich  wie  meine  Tochter 
liebe,  wohnt  nicht  bei  mir,  und  meine  arme  gute  Mutter 
wird  so  alt,  daß  jede  Unterhaltung  mit  ihr  (außer 
über  ihr  Befinden)  unmöglich  ist.  Das  alles  ergibt 
ein  wenig  erbauliches  Dasein. 

Was  die  Damen  betrifft,  so  hat  mein  kleines  Nest 
keine,  und  wenn  auch!    Ich  habe  niemals  Venus  mit 

77 


Apollo  unter  einen  Hut  bringen  können.  Eins  oder 
das  andere,  da  ich  ein  Mensch  der  Extreme  bin,  ein 
Mensch,  der  das,  was  er  tut,  ganz  tut. 

Ich  wiederhole  das  Wort  Goethes :  Über  die  Gräber 
hin  vorwärts!  Und  ich  hoffe  mich. an  meine  Leere  zu 
gewöhnen,  aber  nichts  weiter. 

Je  mehr  ich  Sie  kenne,  desto  mehr  bewundere  ich 
Sie;  wie  stark  Sie  sind! 

Aber  Sie  sind  zu  gut,  daß  Sie  abermals  an  das  Kind 
Israels  geschrieben  haben.  Mag  er  sein  Gold 
behalten!!!  Er  glaubte  wohl  sehr  großmütig  zu  sein, 
als  er  mir  vorschlug,  mir  zinsfrei  Geld  zu  leihen, 
aber  unter  der  Bedingung,  daß  ich  mich  durch  einen 
neuen  Vertrag  bände.  Ich  zürne  ihm  durchaus  nicht, 
denn  er  hat  mich  nicht  verletzt;  er  hat  die  empfind- 
liche Stelle  nicht  gefunden. 

Außer  etwa»  Spinoza  und  Plutarch  habe  ich  seit 
meiner  Rückkehr  nichts  gelesen,  da  ich  von  meiner 
gegenwärtigen  Arbeit  vollkommen  in  Anspruch  ge- 
nommen bin.  Diese  Arbeit  wird  mich  bis  Ende 
Juli  festhalten.  Ich  möchte  sie  gern  bald  los  sein,  um 
mich  wieder  in  die  Überschwenglichkeiten  des  guten 
Heiligen  Antonius  stürzen  zu  können,  aber  ich 
fürchte,   ich   bin   nicht   recht  in   Stimmung. 

Das  ist  eine  schöne  Geschichte,  nicht  wahr,  die  des 
Fräulein  d*  Hauterive.  Dieser  Selbstmord  der  Lieben- 

78 


den,  um  dem  Elend  zu  entgehen,  wird  Prudhomme  zu 
schönen  moralischen  Redensarten  begeistern.  Ich 
verstehe  ihn.  Amerikanisch  ist  es  nicht,  was  sie  getan 
haben,  aber  wie  römisch  und  antik  ist  es!  Sie  waren 
nicht  stark,  aber  vielleicht  sehr  zart. 

Teurer  Meister! 

Nein!  Keine  Opfer!  Bitte  nicht!  Wenn  ich  nicht  die 
Angelegenheiten  Bouilhets  durchaus  als  die  meinen 
betrachtete,  würde  ich  Ihren  Vorschlag  sofort  an- 
genommen haben.  Aber  erstens  ist  es  meine  An- 
gelegenheit, zweitens  dürfen  die  Toten  den  Lebenden 
nicht  schaden. 

Aber  ich  bin  den  Herren  sehr  böse,  das  will  ich 
Ihnen  nicht  verhehlen,  daß  sie  uns  von  Latour  Saint 
Ybars  nichts  gesagt  haben.  Denn  der  besagte  Latour 
ist  längst  angenommen.  Warum  wissen  wir  nichts 
davon  ? 

Kurz:  Chilly  soll  mir  den  Brief  schreiben,  den  wir 
Mittwoch  verabredet  haben  und  es  soll  nicht  mehr  die 
Rede  davon  sein. 

Ich  glaube,  daß  Sie  am  15.  Dezember  aufgeführt 
sein  können,  wenn  „Affranchie**  etwa  am  20.  No- 
vember herauskommt.  Zweieinhalb  Monate  geben 
ungefähr    fünfzig    Vorstellungen;    wenn    Sie    mehr 

79 


haben,  wird  Aisse  erst  im  nächsten  Jahr  gespielt 
werden. 

Also  das  ist  abgemacht,  da  man  ja  Latour  Saint 
Ybars  nicht  unterdrücken  kann;  Sie  kommen  hinter 
ihm  und  dann  Aisse,  meiner  Meinung  nach. 

Wir  werden  uns  Sonnabend  sehen  bei  der  Beerdi- 
gung des  armen  Sainte-Beuve.  Wie  der  kleine  Kreis 
sich  vermindert!  Wie  die  wenigen  Geretteten  vom 
Floß  der  Medusa  verschwinden! 

Tausend  Grüße! 

. . .   1870 
Lieber,  guter  Meister! 

Ihr  alter  Troubadour  wird  von  den  Zeitungen  stark 
angeschwärzt.  Lesen  Sie  den  Constitutione!  vom 
letzten  Montag,  den  Gaulois  von  heute,  früh,  es  ist 
klar  und  deutlich.  Man  behandelt  mich  als  Kretin 
und  Kanaille.  Der  Artikel  von  Barbey  d'Aurevilly 
(im Constitutione!)  ist  in  dieser  Art  ein  Muster,  und  der 
des  guten  Sarcey  gibt  ihm  nichts  nach,  obwohl  er 
weniger  heftig  ist.  Diese  Herren  protestieren  im 
Namen  der  Moral  und  des  Ideals.  Ich  bin  auch  im 
„Figaro**  und  „Paris"  heruntergerissen  worden  von 
Cesena  und  Duranty.  Ich  mache  mir  nicht  das  gering- 
ste daraus!  Was  nicht  hindert,  daß  ich  über  soviel 
Haß  und  Treulosigkeit  erstaunt  bin. 

80 


„Tribüne",  „Pays"  und  „Opinion  nationale" 
haben  mich  dagegen  sehr  gerühmt  . . .  Was  die 
Freunde  betrifft,  die  Leute,  die  ein  mit  meiner  Klaue 
verziertes  Exemplar  bekommen  haben,  so  fürchten 
sie  sich  zu  kompromittieren,  und  man  spricht  von  allen 
möglichen  andern  Dingen.  Die  Tapferen  sind  selten. 
Das  Buch  geht  gleichwohl  trotz  der  Politik  sehr  gut 
und  Levy  scheint  zufrieden  zu  sein. 

Ich  weiß,  daß  die  Bürger  von  Ronen  wütend  auf 
mich  sind,  wegen  des  alten  Roque  und  des  Tuilerien- 
kankan.  Sie  finden,  daß  man  die  Veröffentlichung 
solcher  Bücher  verhindern  müßte  (wörtlich),  daß  ich 
den  Roten  die  Hand  reiche,  daß  ich  imstande  bin, 
die  revolutionären  Leidenschaften  zu  schüren  usw. 
usw.  Kurz,  ich  sammle  bis  jetzt  sehr  wenig  Lorbeeren, 
und  kein  Rosendorn  verwundet  mich. 

Ich  habe  Ihnen  erzählt,  nicht  wahr,  daß  ich  die 
Zauberposse  umgearbeitet  habe?  (Ich  habe  alles, 
was  mir  schablonenhaft  schien,  gestrichen.)  Raphael 
Felix  scheint  es  nicht  eilig  zu  haben,  sie  kennen  zu 
lernen.   Problem! 

Alle  Zeitungen  zitieren  als  Beweis  meiner  Gemein- 
heit die  Episode  der  Türkin,  die  man  natürHch  fälscht, 
und  Sarcey  vergleicht  mich  mit  dem  Marquis  de 
Sade,  den  er  —  wie  er  selbst  zugibt  —  nie  gelesen 
hat!  ... 

6  81 


Das  alles  schraubt  mich  keineswegs  auseinander. 
Aber  ich  frage   mich,   wozu   etwas  drucken   lassen? 

Dienstag,  4  Öhr,  i8yo 
Teurer  Meister! 

Ihr  alter  Troubadour  wird  mit  Füßen  getreten  und 
zwar  auf  ganz  unerhörte  Art.  Die  Leute,  die  meinen 
Roman  gelesen  haben,  fürchten  sich,  mir  davon  zu 
sprechen,  aus  Angst,  sich  zu  kompromittieren  oder 
aus  Mitleid  mit  mir.  Die  Nachsichtigsten  finden, 
daß  ich  nur  Bilder  geschaffen  habe,  und  daß  Kompo- 
sition und  Planmäßigkeit  vollständig  fehlen. 

Saint-Victor,  der  die  Bücher  Arsene  Houssayes 
in  den  Himmel  hebt,  will  über  meins  keinen  Artikel 
schreiben,  da  er  es  zu  schlecht  findet.  So  liegt  die 
Sache.  Theo  ist  nicht  da,  und  niemand,  absolut 
niemand  übernimmt  meine  Verteidigung. 

Eine  weitere  Geschichte:  Raphael  und  Michel 
Levy  haben  gestern  die  Vorlesung  der  Zauberposse 
angehört.  Beifall,  Begeisterung.  Ich  sah  den  Moment 
vor  Augen,  in  dem  der  Vertrag  stehenden  Fußes 
unterzeichnet  werden  würde.  Raphael  hat  das  Stück 
so  gut  verstanden,  daß  er  zwei  oder  drei  ausgezeichnete 
kritische  Bemerkungen  gemacht  hat.  Ich  fand  übri- 
gens, daß  er  ein  reizender  Kerl  ist.  Er  bat  mich, 
bis  Sonnabend  zu  warten,  dann  wolle  er  mir  die  end- 

82 


gültige  Antwort  geben.  Jetzt  soeben  ein  (sehr  höf- 
licher) Brief  des  besagten  Raphael,  in  welchem  er  mir 
erklärt,  daß  die  Zauberposse  ihn  in  zu  erhebliche 
Ausgaben  stürzen  würde.  Wiedereinmal  reingefallen. 
Ich  muß  mich  anderswohin  wenden.  Im  Odeon  nichts 
Neues, 

Sarcey  hat  einen  zweiten  Artikel  gegen  mich  ver- 
öffentlicht. Barbey  d'Aurevilly  behauptet,  ich 
beschmutze  den  Bach,  wenn  ich  mich  darin  wasche 
(siel).  Das  alles  wirft  mich  durchaus  nicht  aus  dem 
Sattel. 

Freitag,  lo  Uhr  abends,  i8yo 

Teurer  Meister,  Sie  sind  gut  wie  gutes  Brot. 

Ich  habe  Ihnen  sofort  telegraphisch  das  eine  Wort 
übermittelt.  ,,Girardin".  Die  Liberte  wird  Ihren 
Artikel  sofort  abdrucken.  Was  sagen  Sie  zu  meinem 
Freunde  Saint-Victor,  der  abgelehnt  hat,  eine  Kritik 
zu  schreiben,  da  er  „das  Buch  schlecht'*  findet? 
S  i  e  haben  nicht  soviel  Gewissen ! 

Ich  werde  weiter  mit  Kot  beworfen.  Die  „Gi- 
ronde"  nennt  mich  einen  Prudhomme.  Das  erscheint 
mir  neu. 

Wie  soll  ich  Ihnen  danken.  Ich  fühle  das  Bedürf- 
nis, Ihnen  Zärtlichkeiten  zu  sagen.  Ich  habe  soviele 
in  meinem  Herzen,  daß  mir  nicht  eine  in  die  Feder 


6* 


83 


fließen  will.  Was  für  eine  wackere  Frau  sind  Sie  und 
was  für  ein  wackerer  Mensch!  Von  dem  übrigen  gar 
nicht  zu  reden! 


Mittwoch  nachmittag,  . . .  i8yo 
Teurer  Meister! 

Ihr  Auftrag  war  gestern  in  einer  Stunde  erledigt. 
Die  Prinzessin  hat  vor  meinen  Augen  sich  eine  Notiz 
über  Ihre  Angelegenheit  gemacht,  um  sich  sofort  damit 
zu  beschäftigen.  Sie  schien  sehr  zufrieden  zu  sein, 
Ihnen  einen  Dienst  erweisen  zu  können. 

Man  spricht  nur  vom  Tode  Noirs!  Das  allgemeine 
Gefühl  ist  Furcht,  nichts  anderes! 

In  was  für  trübselige  Sitten  sind  wir  hineingetaucht! 
Es  liegt  soviel  Dummheit  in  der  Luft,  daß  man  wild 
wird.  Ich  bin  weniger  empört  als  abgestoßen.  Was 
sagen  Sie  von  diesen  Herren,  die  als  Parlamentäre 
kamen  und  mit  Pistolen  und  Stockflinten  ausgerüstet 
waren?  Und  von  dem  andern,  diesem  Fürsten,  der 
mitten  in  einem  Arsenal  lebt  und  es  benutzt?  Rei- 
zend!   Reizend! 

Was  für  einen  prächtigen  Brief  haben  Sie  mir  vor- 
gestern geschrieben!  Aber  Ihre  Freundschaft  macht 
Sie  blind,  lieber,  guter  Meister.  Ich  gehöre  nicht 
zu  der  Familie  derer,  von  denen  Sie  sprechen.    Ich» 

84 


der  ich  mich  kenne,  weiß,  was  mir  fehlt!  Und  mir 
fehlt  ungeheuer  viel! 

Als  ich  meinen  armen  Bouilhet  verlor,  habe  ich 
meinen  Geburtshelfer  verloren,  den  Menschen,  der 
klarer  als  ich  selbst  in  meinen  Gedanken  las.  Sein 
Tod  hat  eine  Leere  hinterlassen,  die  mir  mit  jedem 
Tage  fühlbarer  wird. 

Wozu  eigentlich  Zugeständnisse  machen?  Warum 
sich  zwingen?  Ich  bin  im  Gegenteil  fest  entschlossen, 
künftig  zu  meinem  persönlichen  Vergnügen  zu  schrei- 
ben und  ohne  jeden  Zwang.    Komme  was  da  wolle! 

i^.  März  i8yo 
Teurer  Meister! 

Ich  habe  gestern  abend  ein  Telegramm  von  Frau 
Comu  bekommen,  das  die  folgenden  Worte  enthielt: 
„Kommen  Sie  zu  mir,  eilige  Angelegenheit."  Ich 
habe  mich  also  heute  zu  ihr  begeben  und  nun  hören 
Sie  die  Geschichte. 

Die  Kaiserin  behauptet,  Sie  hätten  in  der  letzten 
Nummer  der  „Revue"  sehr  ungezogene  Anspielungen 
auf  ihre  Person  gemacht!  „Wie?  Auf  mich,  die  jetzt 
von  aller  Welt  angegriffen  wird!  Das  hätte  ich  nicht 
geglaubt.  Und  ich  wollte  sie  zum  Mitglied  der  Akade- 
mie ernennen  lassen!  Aber  was  habe  ich  ihr  denn 
getan?  usw.  usw."    Kurz,  sie  ist  verzweifelt  und  der 

85 


Kaiser  ebenfalls!  Er  war  nicht  entrüstet,  aber  ent- 
kräftet (sie). 

Frau  Comu  bat  ihr  vergebens  vorgestellt,  daß  sie 
sich  täusche  und  daß  Sie  keinerlei  Anspielung  hätten 
machen  wollen. 

,,Gut,  dann  soll  sie  also  in  den  Zeitungen  schreiben, 
daß  sie  mich  nicht  hat  kränken  wollen.'* 

,,Das  wird  sie  nicht  tun,  dafür  verbürge  ich  mich." 

, .Schreiben  Sie  ihr,  daß  sie  es  Ihnen  sagen  soll." 

„Ich  wage  diesen  Schritt  nicht." 

„Aber  ich  möchte  doch  die  Wahrheit  wissen !  Ken- 
nen Sie  irgend  jemanden,  der  ..."  Da  hat  Frau  Comu 
mich  genannt. 

„0,  sagen  Sie  nicht,  daß  ich  mit  Ihnen  darüber 
gesprochen  habe!" 

Das  ist  das  Gespräch,  das  Frau  Comu  mir  geschildert 
hat.  Sie  wünscht,  daß  Sie  mir  einen  Brief  schreiben, 
in  dem  Sie  mir  sagen,  daß  die  Kaiserin  Ihnen  nicht 
als  Modell  gedient  hat.  Ich  schicke  diesen  Brief  an 
Frau  Comu,  die  ihn  der  Kaiserin  übergeben  wird. 

Ich  finde  diese  Geschichte  blöd;  die  Leute  sind 
sehr  zartfühlend;  uns  sagt  man  ganz  andere  Dingt 

Jetzt,  geliebter  Meister,  werden  Sie  ganz  tun,  was 
Ihnen  paßt. 

Die  Kaiserin  ist  stets  sehr  liebenswürdig  gegen 
mich  gewesen  und  es  wäre  mir  nicht  unangenehm, 

86 


ihr  gefällig  zu  sein.  Ich  habe  die  berühmte  Stelle 
gelesen.  Ich  sehe  nichts  Kränkendes  darin.  Aber  die 
Frauengehime  sind  so  komisch! 

Ich  bin  von  meinem  (meinem  Gehirn)  sehr  an- 
gewidert, oder  vielmehr  es  hat  augenblicklich  einen 
großen  Tiefstand.  Ich  bemühe  mich  vergebens,  zu 
arbeiten,  es  geht  nicht,  es  geht  nicht !  Alles  reizt  mich 
und  verletzt  mich;  und  da  ich  mich  vor  der  Welt  zu- 
sammennehme, werde  ich  von  Zeit  zu  Zeit  von  Wein- 
anfällen übermannt,  an  denen  ich  zu  sterben  glaube. 
Ich  fühle  etwas  ganz  Neues:  das  Nahen  des  Alters. 
Der  Schatten  überwuchert  mich,  wie  Victor  Hugo 
sagen  würde. 

Frau  Cornu  hat  mir  voll  Begeisterung  von  einem 
Brief  erzählt,  den  Sie  ihr  über  eine  Unterrichtsmethode 
geschrieben  haben. 

...   iS^o 
Teurer  Meister! 

Ich  habe  soeben  Ihren  Brief  (für  den  ich  Ihnen  danke) 
an  Frau  Cornu  geschickt,  begleitet  von  einem  Schreiben 
Ihres  Troubadours,  in  dem  ich  mir  erlaube,  offen 
meine  Ansicht  darzulegen. 

Die  beiden  Schriftstücke  werden  der  Dame  vorgelegt 
werden  und  ihr  etwas  Ästhetik  beibringen. 

87 


Gestern  habe  ich  „l'Autre**  gesehen  und  verschie- 
dentlich geweint.  Das  hat  mir  gut  getan.  Ach  ja! 
Wie  zart  und  begeisternd  ist  das!  Wie  schön  ist  das 
Werk  und  wie  liebt  man  den  Autor.  Sie  haben  mir 
sehr  gefehlt.  Ich  hätte  Sie  streicheln  mögen  wie  ein 
kleines  Kind.  Mein  bedrücktes  Herz  hat  sich  be- 
ruhigt, ich  danke  Ihnen.  Ich  glaube,  daß  es  jetzt  besser 
gehen  wird.  Es  waren  viele  Leute  da.  Berton  und 
sein  Sohn  sind  zweimal  gerufen  worden. 

Montag  früh,  ii  Uhr,  1870 

Ich  fühlte,  daß  Ihnen  etwas  Schlimmes  zugestoßen 
war,  ich  hatte  Ihnen  schon  geschrieben,  um  Sie  nach 
Ihrem  Ergehen  zu  fragen,  als  man  mir  Ihren  Brief 
von  heute  früh  brachte.  Ich  habe  mir  den  meinen 
beim  Portier  wieder  herausgefischt;  hier  ist  also  ein 
zweiter. 

Armer,  lieber  Meister!  Wie  besorgt  mögen  Sie 
gewesen  sein!  Und  auch  Frau  Maurice!  Sie  sagen 
mir  nicht,  was  ihm  gefehlt  hat  (Maurice)?  Schreiben 
Sie  mir  in  einigen  Tagen  (vor  Ende  der  Woche), 
um  mir  zu  erzählen,  daß  alles  gut  überstanden  ist. 
Die  Schuld  liegt,  glaube  ich,  an  dem  fürchterlichen 
Winter,  den  wir  gehabt  haben.  Man  hört  nur  von 
Krankheiten  und  Beerdigungen  sprechen!  Mein 
armer  Diener  ist  noch  immer  bei  Dubois,  und  mir 

88 


zerreißt  das  Herz,  wenn  ich  ihn  besuche.  Er  Hegt 
seit  zwei  Monaten  zu  Bett  und  hat  gräßliche  Schmerzen, 

Mir  geht  es  besser.  Ich  habe  ungeheuer  viel  gelesen. 
Ich  habe  mich  erholt  und  stehe  beinahe  wieder  auf 
den  Füßen.  Der  Klumpen  Schwarz,  den  ich  im 
Grunde  des  Herzens  habe,  ist  ein  wenig  größer  ge- 
worden, das  ist  alles.  Aber  in  einiger  Zeit,  hoffe  ich, 
wird  man  das  nicht  mehr  bemerken.  Ich  verbringe 
meine  Tage  in  der  Bibliothek  der  Akademie.  Aus 
der  Arsenalbibliothek  bekomme  ich  Bücher,  die  ich 
abends  lese,  und  am  andern  Morgen  fange  ich  von 
neuem  an.  Anfang  Mai  werde  ich  mich  wieder  nach 
Croisset  begeben.  Aber  ich  werde  Sie  bald  sehen. 
Alles  wird  mit  der  Sonne  wieder  gut  werden. 

Die  betreffende  Dame  hat  sich  bei  mir,  Sie  be- 
treffend, passend  entschuldigt  und  mir  versichert, 
daß  sie  , »niemals  die  Absicht  gehabt  habe,  das  Genie 
zu  beleidigen". 

F.  möchte  ich  wirklich  gern  kennen  lernen;  da  er 
einer  der  Ihren  ist,  werde  ich  ihn  lieben. 

Dienstag  früh,  . . .  i8yo 
Teurer  Meister! 

Nicht  der  Aufenthalt  in  Paris  greift  mich  an,  sondern 
die  Reihe  von  Kümmernissen,  die  ich  seit  acht  Mo- 
naten gehabt  habe.     Ich  arbeite  nicht   zuviel,  denn 


was  wäre  ohne  die  Arbeit  aus  mir  geworden?  Eis  fällt 
mir  aber  sehr  schwer,  vernünftig  zu  sein.  Ich  bin 
von  einer  schwarzen  Melancholie  überspült,  die  sich 
bei  allem  und  jedem  einstellt,  mehrmals  täglich.  Sie 
geht  vorbei,  und  sie  kommt  wieder.  Vielleicht  habe 
ich  zu  lange  nicht  geschrieben?  Der  nervöse  Abfluß 
fehlt. 

Sobald  ich  in  Croisset  bin,  werde  ich  den  Nekrolog 
über  meinen  armen  Bouilhet  schreiben,  eine  schmerz- 
liche und  mühselige  Arbeit,  die  ich  gern  hinter  mir 
haben  möchte,  um  mich  an  den  Heihgen  Antonius 
zu  machen.  Da  es  ein  extravaganter  Stoff  ist,  hoffe 
ich,  daß  er  mich  ablenken  wird. 

Ich  habe  Ihren  Arzt  gesehen,  Herrn  F...,  der 
mir,  unter  uns  gesagt,  sehr  sonderbar  und  etwas 
närrisch  vorgekommen  ist.  Er  muß  mit  mir  zufrieden 
sein,  denn  ich  habe  ihn  die  ganze  Zeit  sprechen  lassen. 
Es  sind  große  Blitze  in  seiner  Konversation,  Dinge, 
die  einen  Augenblick  blenden,  dann  versteht  man 
nicht  das  geringste  mehr. 

Paris,  Donnerstag 

Herr  X.  hat  mir  am  Sonnabend  von  Ihnen  berichtet: 
also  weiß  ich  wenigstens,  daß  bei  Ihnen  alles  gut  geht 
und  Sie  keine  Sorge  mehr  haben,  teurer  Meister. 
Aber  wie  geht  es  Ihnen  persönlich?    Der  fünfzehnte 

90 


ist  da,  und  ich  sehe  Sie  noch  immer  nicht  kommen. 

Meine  Stimmung  ist  noch  immer  nicht  sehr  heiter. 
Ich  stecke  wie  stets  furchtbar  in  der  Lektüre,  aber 
es  ist  Zeit,  daß  ich  aufhöre,  denn  mein  Stoff  beginnt 
mich  anzuwidern. 

Lesen  Sie  den  dicken  Schmöker  von  Taine?  Ich 
habe  den  ersten  Band  mit  unendlichem  Vergnügen 
verschlungen.  In  fünfzig  Jahren  wird  das  vielleicht 
die  Philosophie  sein,  die  in  den  Schulen  gelehrt 
wird. 

Und  das  Vorwort  der  „Ideen**  von  Aubray? 

Wie  gern  würde  ich  Sie  sehen  und  mit  Ihnen 
schwatzen ! 

Freitag,  g  Uhr  abends,  iSyo 

Lieber,  guter  Meister! 
Michel  Levy  ist  vorhin  zu  mir  gekommen,  um  sechs 
Uhr,  und  nachdem  er  von   diesem   und  jenem  ge- 
sprochen hatte,  sagte  er:    ,,Frau  Sand  hat  mir  ge- 
schrieben, daß  Sie  in  Verlegenheit  sind." 

Das  stimmt,  das  bin  ich  immer! 

Gut,  daraufhin  hat  er  sich  in  eine  Flut  von  Phrasen 
gestürzt,  die  mir  beweisen  sollten,  daß  er  mit  seinem 
Geschäft  kein  Geld  verdiene,  daß  er  sogar  gezwungen 
sei,  für  sein  Haus  neben  der  Oper  eine  Anleihe  aufzu- 
nehmen und  daß  er  seine  Unkosten  bei  der  , .Schule 

91 


der  Empfindsamkeit"  noch  nicht  gedeckt  habe.  Kurz, 
wissen  Sie,  was  er  mir  vorschlägt?  Mir  ohne  Zinsen 
drei-  bis  viertausend  Franken  zu  leihen,  unter  der 
Bedingung,  daß  mein  nächster  Roman  ihm  zu  den 
gleichen  Bedingungen  gehört,  das  heißt  etwa  acht- 
tausend Franken  für  den  Band.  Wenn  er  nicht  dreißig- 
mal gesagt  hat:  „Ich  möchte  Ihnen  einen  Gefallen 
tun,  mein  Ehrenwort,"  so  will  ich  gehängt  werden. 

Es  fehlt  mir  nicht  an  Freunden,  bei  Ihnen  an- 
gefangen, die  mir  Geld  zinsfrei  leihen  würden.  Aber 
Gott  sei  Dank  bin  ich  noch  nicht  so  weit.  Wenn 
nicht  ein  dringendes  Bedürfnis  vorliegt,  verstehe  ich 
nicht,  daß  man  Schulden  macht,  denn  man  muß  das 
Geld  früher  oder  später  zurückgeben,  und  ist  dadurch 
nicht  weitergekommen. 

Psychologisches  Problem :  warum  bin  ich  seit  dem 
Besuch  Michel  Levys  sehr  vergnügt?  Mein  armer 
Bouilhet  sagte  oft:  „Es  gibt  keinen  moralischeren 
Menschen  als  dich  und  keinen,  der  die  Unmoral 
mehr  liebt  als  du:  eine  Gemeinheit  entzückt  dich." 
Daran  ist  etwas  Wahres.  Ist  mein  Stolz  schuld  daran? 
Oder  eine  gewisse  Perversität? 

Jetzt  aber  gute  Nacht !  Nicht  diese  Dinge  bewegen 
mich.    Ich  begnüge  mich  damit,  mit  Athalie  zu  sagen : 

Gott  der  Juden,  du  nimmst  ihn  hinweg I 

Und  ich  denke  nicht  mehr  daran. 

92 


Ich  bitte  Sie  sogar,  mit  Levy  nicht  mehr  darüber 
zu  sprechen,  wenn  Sie  ihm  schreiben  oder  ihn  sehen. 
Er  wird  von  mir  das  Vorwort  des  Gedichtbandes  von 
Bouilhet  bekommen.  In  bezug  auf  alles  übrige  will 
ich  künftig  vollkommen  frei  sein. 

Z  U,  zu,  mach's  Buch  zu! 

Ich  habe  den  Doktor  ***  gestern  bei  Dumas  wieder- 
gesehen. Sonderbarer  Biedermann.  Ich  müßte  ein 
Lexikon  haben,  um  ihn  zu  verstehen. 

Sie  machen  sich  keine  Vorstellung,  in  welch  einen 
Grad  von  Dummheit  die  Volksabstimmung  die 
Pariser  stürzt.  Man  könnte  vor  Langeweile  sterben. 
Daher  mache  ich  mich  aus  dem  Staube. 

Haben  Sie  die  beiden  Bände  von  Taine  gelesen? 

Ich  kzmnte  Spinozas  Ethik,  aber  nicht  den  Tractatus 
Theologico-politicus,  der  mich  verblüfft,  mich  blendet, 
mich  in  Bewunderung  versetzt!  Ist  das  ein  Mensch! 
Ist  das  ein  Kopf!  Dieses  Wissen  und  dieser  Geist! 
Er  war  entschieden  stärker  als  Caro. 

Wann  sieht  man  sich?  Kann  ich  nicht  auf  einen 
kleinen  Besuch  in  Croisset  rechnen?  Nicht  einen 
kleinen,  sondern  einen  richtigen!  Ich  habe  über 
zwei  Pläne  ausführlich  mit  Ihnen  zu  sprechen. 


93 


Sonntag,  26.  Juni  i8yo 
Man  vergißt  seinen  Troubadour,  der  soeben  wieder 
einen  Freund  begraben  hat.  Von  den  sieben,  die 
beim  ersten  Magny-Diner  waren,  sind  nur  noch 
drei  übrig!  Ich  bin  voll  von  Särgen  wie  ein  alter 
Kirchhof!    Ich  habe  genug  davon,  wirklich! 

Und  bei  all  dem  arbeite  ich  weiter!  Ich  habe 
gestern  so  gut  es  ging,  den  Nekrolog  über  meinen 
armen  Bouilhet  beendet.  Ich  will  sehen,  ob  es  nicht 
möglich  ist,  eine  Komödie  (Das  schwache  Geschlecht) 
von  ihm,  in  Prosa,  zurechtzustutzen.  Worauf  ich 
mich  an  den  Heiligen  Antonius  machen  werde. 

Und  Sie,  lieber  Meister,  was  machen  Sie  und  die 
Ihren?  Meine  Nichte  ist  in  den  Pyrenäen  und  ich 
lebe  allein  mit  meiner  Mutter,  die  immer  tauber 
wird,  so  daß  mein  Dasein  jeder  Aufheiterung  er- 
mangelt.,^ Ich  müßte  an  einem  wärmeren  Gestade 
liegen  und  schlafen.  Aber  dafür  fehlt  es  mir  an  Zeit 
und  Geld.  Also  muß  man  seine  Streicharbeit  fort- 
führen und  soviel  wie  möglich  schuften. 

Ich  werde  Anfang  August  nach  Paris  gehen.  Dann 
werde  ich  den  ganzen  Oktober  wegen  der  Aisseproben 
dort  bleiben.  Meine  Ferien  werden  sich  auf  etwa 
acht  Tage  beschränken,  die  ich  Ende  August  in 
Dieppe  verbringen  will.    Das  sind  meine  Pläne. 

94 


Das  Begräbnis  Jules  de  Goncourts  war  jammervoll. 
Theo  weinte  Ströme. 

Samstag  abend,  2.  Juli  i8yo 

Lieber,  guter  Meister! 
Der  Tod  Barbes  hat  mich  um  Ihretwillen  sehr  betrübt. 
Wir  haben  beide  unsere  Trauer.  Ist  das  eine  Pro- 
zession von  Toten  seit  einem  Jahr!  Ich  bin  betäubt 
davon,  als  hätte  man  mir  Stockschläge  auf  den  Kopf 
gegeben.  Was  mich  verzweifelt  macht  (denn  wir  be- 
ziehen alles  auf  uns),  ist  die  furchtbare  Einsamkeit,  in 
der  ich  lebe.  Ich  habe  niemanden  mehr,  ich  meine: 
niemanden,  mit  dem  ich  plaudern  kann,  ,,der  sich 
heute  mit  Stil  und  Beredsamkeit  befaßt". 

Außer  Ihnen  und  Turgenjeff  kenne  ich  keinen 
Sterblichen,  dem  gegenüber  ich  mich  über  alle  Dinge, 
die  mir  am  meisten  am  Herzen  liegen,  aussprechen 
kann,  und  Sie  beide  wohnen  weit  von  mir! 

Ich  fahre  aber  mit  meiner  Arbeit  fort.  Ich  habe 
mich  entschlossen,  mich  morgen  oder  übermorgen 
an  meinen  Heiligen  Antonius  zu  machen.  Aber  wenn 
man  eine  Arbeit  von  langem  Atem  anfangen  soll, 
muß  man  eine  gewisse  Freudigkeit  haben,  die  mir 
fehlt.  Ich  hoffe  jedoch,  daß  diese  extravagante  Arbeit 
mich  packen  wird.  Ol  Wie  gern  möchte  ich  nicht 
mehr  an  mein  armes  Ich,  an  meinen  elenden  Körper 

95 


(lenken!  Es  geht  dem  Körper  sehr  gut.  Ich  schlafe 
ungeheuer  viel!  „Der  Leib  ist  gut/*  wie  die  Spieß- 
bürger sagen. 

Ich  habe  in  dieser  letzten  Zeit  langweilige  theo- 
logische Sachen  gelesen,  die  ich  mit  etwas  Plutarch 
und  Spinoza  untermischt  habe.  Ich  habe  Ihnen  weiter 
nichts  zu  sagen. 

Der  arme  Edmond  de  Goncourt  ist  bei  seinen  Eltern 
in  der  Champagne.  Er  hat  mir  versprochen,  Ende 
des  Monats  zu  kommen.  Ich  glaube  nicht,  daß  die 
Hoffnung,  seinen  Bruder  in  einer  besseren  Welt 
wiederzusehen,  ihn  darüber  tröstet,  daß  er  ihn  in  dieser 
verloren  hat. 

Man  betrügt  sich  in  dieser  Unsterblichkeitsfrage 
mit  Worten,  denn  die  Frage  ist,  zu  wissen,  ob  das 
Ich  fortbesteht.  Die  Bejahung  erscheint  mir  als  ein 
Übermut  unseres  Stolzes,  ein  Protest  unserer  Schwäche 
gegen  die  ewige  Ordnung.  Der  Tod  hat  uns  vielleicht 
nicht  mehr  Geheimnisse  zu  enthüllen  als  das  Leben. 

Welch  ein  Jahr  des  Unheils !  Ich  habe  das  Gefühl, 
als  wenn  ich  in  der  Wüste  verirrt  bin,  und  ich  versichere 
Ihnen,  teurer  Meister,  daß  ich  trotzdem  tapfer  bin  und 
große  Anstrengungen  mache,  gleichmütig  zu  sein. 
Aber  das  arme  Gehirn  ist  zuweilen  geschwächt.  Ich 
habe  nur  eines  nötig  (und  das  kann  man  sich  nicht 
geben),   nämlich    irgendeine  Begeisterung  zu  haben! 

96 


Ihr  vorletzter  Brief  war  sehr  traurig.  Auch  Sie 
heroisches  Wesen  fühlen  sich  müde!  Was  soll  nur 
aus  uns  werden! 

Ich  habe  eben  wieder  die  Gespräche  Goethes  mit 
Eckermann  gelesen.  Das  ist  ein  Mensch,  dieser 
Goethe!  Aber  er  hatte  den  andern  ganz,  ganz  für 
sich. 

Croisset,  Mittwoch  abend,  . . .  iSyo 

Was  machen  Sie,  teurer  Meister,  Sie  und  die 
Ihren? 

Die  Dummheit  meiner  Landsleute  widert  mich 
an,  zerreißt  mich.  Die  unheilbare  Barbarei  der  Mensch- 
heit erfüllt  mich  mit  düsterer  Traurigkeit.  Diese 
Begeisterung,  die  nicht  durch  eine  Idee  angefacht 
wird,  erzeugt  in  mir  den  Wunsch  zu  sterben,  um  sie 
nicht  mehr  zu  sehen. 

Der  gute  Franzose  will  sich  schlagen:  1.  weil  er 
sich  von  Preußen  herausgefordert  glaubt;  2.  weil 
der  natürliche  Zustand  des  Menschen  die  Wildheit 
ist;  3.  weil  der  Krieg  ein  mystisches  Element  birgt, 
das  die  Massen  hinreißt. 

Sind  wir  wieder  bei  den  Rassenkriegen  angelangt? 
Ich  fürchte  es.  Das  schreckliche  Gemetzel,  das  sich 
vorbereitet,  hat  nicht  einmal  einen  Vorwand.  Es 
ist  das  Gelüst  zu  kämpfen,  um  zu  kämpfen. 

'  97 


Ich  beweine  die  gesprengten  Brücken,  die  zerstörten 
Tunnel,  all  diese  verlorene  menschliche  Arbeit,  und 
überhaupt  eine  so  radikale  Verneinung. 

Der  Friedenskongreß  hat  augenblicklich  unrecht. 
Die  Zivilisation  erscheint  mir  fern.  Hobbes  hatte 
recht.  Homo  homini  lupus. 

Ich  habe  den  Heiligen  Antonius  angefangen,  und  es 
würde  vielleicht  recht  gut  gehen,  wenn  ich  nicht 
an  den  Krieg  dächte.    Und  Sie? 

Der  Bürger  kann  es  nicht  mehr  aushalten.  Er 
findet,  daß  Preußen  zu  unverschämt  war  und  will 
„sich  rächen".  Sie  haben  gehört,  daß  ein  Herr  der 
Kammer  die  Plünderung  des  Großherzogtums  Baden 
vorgeschlagen  hat.  Ah!  Warum  kann  ich  nicht  bei 
den  Beduinen  leben! 


Croisset,  Mittwoch,  3.  August  i8yo 

Wie,  teurer  Meister,  auch  Sie  sind  mutlos,  betrübt? 
Was  soll  da  mit  den  Schwachen  werden? 

Mir  ist  das  Herz  in  einem  Maße  bedrückt,  daß  ich 
darüber  erstaunt  bin  und  ich  wälze  mich  in  einer 
bodenlosen  Melancholie,  trotz  der  Arbeit,  trotz  dem 
guten  Heiligen  Antonius,  der  mich  zerstreuen  sollte. 
Ist  das  die  Folge  meiner  vielen  Kümmernisse?  Es 
ist  möglich.    Aber  der  Krieg  tut  auch  sein  Teil.    Ich 

98 


habe  das  Gefühl,  daß  uns  die  Finsternis  verschlingen 
will. 

Das  ist  also  der  natürliche  Mensch.  Jetzt  können 
Sie  Theorien  aufstellen.  Rühmen  Sie  den  Fortschritt, 
die  Einsicht  und  den  gesunden  Menschenverstand 
der  Massen  und  die  Sanftheit  des  französischen 
Volkes.  Ich  versichere  Ihnen,  daß  man  halb  tot- 
geschlagen würde,  wenn  man  sich  einfallen  ließe,  den 
Frieden  zu  predigen.  Was  auch  geschehen  mag,  wir 
sind   ein    großes   Stück   zurückgeschleudert. 

Vielleicht  fangen  jetzt  die  Rassenkriege  wieder  an. 
Man  wird,  ehe  ein  Jahrhundert  um  ist,  sehen,  wie 
mehrere  Millionen  Menschen  sich  gegenseitig  töten. 
Der  ganze  Orient  gegen  ganz  Europa,  die  alte  Welt 
gegen  die  neue!  Warum  nicht?  Die  großen  gemein- 
samen Arbeiten  wie  der  Suezkanal  sind  vielleicht, 
in  anderer  Form,  Pläne  und  Vorbereitungen  zu  diesen 
ungeheuren  Konflikten,  von  denen  wir  uns  keinen 
Begriff  machen  können. 

Vielleicht  bekommt  auch  Preußen  eine  tüchtige 
Tracht  Prügel,  weil  es  in  den  Absichten  der  Vorsehung 
liegt,  das  europäische  Gleichgewicht  wiederherzu- 
stellen. Dies  Land  neigt  zu  einer  Vergrößerungs- 
sucht, wie  Frankreich  unter  Ludwig  XIV.  und  Na- 
poleon. Die  andern  Organe  fühlen  sich  dadurch 
behindert.     Daraus    schreibt    sich    eine    allgemeine 

7*  99 


Verwirrung  her.   Würde  ein  furchtbarer  Aderlaß  von 
Nutzen  sein? 

Ach,  wir  gebildeten  Menschen!  Die  Menschheit 
ist  weit  von  ihrem  Ideal!  Und  unser  ungeheurer 
Irrtum,  unser  trauriger  Irrtum  ist,  daß  wir  sie  uns 
ähnlich  glauben  und  sie  dementsprechend  behandeln 
wollen. 

Der  Respekt,  der  Fetischismus,  den  man  dem  all- 
gemeinen Wahlrecht  entgegenbringt,  empört  mich 
mehr  als  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes,  (die,  in  Paren- 
these, soeben  sehr  versagt  hat).  Glauben  Sie,  daß  wir, 
wenn  Frankreich,  statt  von  der  Masse  im  ganzen 
beherrscht  zu  werden,  in  der  Macht  von  Mandarinen 
wäre,  auf  diesem  Punkte  ständen?  Hätte  man  sich, 
statt  die  Aufklärung  der  niederen  Klassen  zu  er- 
streben, mit  der  Unterweisung  der  oberen  Klassen 
befaßt,  so  hätte  man  den  Vorschlag  Keratrys  nicht 
erlebt,  das  Großherzogtum  Baden  zu  plündern, 
eine  Maßnahme,   die    das  Volk  sehr  gerecht   findet. 

Studieren  Sie  Prudhomme  in  diesen  Zeiten?  Er 
ist  gigantisch!  Er  bewundert  Mussets  Rhein  und 
fragt,  ob  Musset  sonst  noch  etwas  geschrieben  hat? 
Musset  als  Nationaldichter,  der  Beranger  verdrängt! 
Welch  eine  ungeheure  Komödie  ist  das  ganze!  Aber 
eine  wenig  heitere  Komödie. 

100 


Das  Elend  kündigt  sich  schon  an.  Jeder  Mensch 
ist  in  Geldverlegenheiten,  bei  mir  angefangen!  Aber 
wir  waren  vielleicht  zu  sehr  an  die  BequcTilichkeit 
und  die  Ruhe  gewöhnt.  Wir  waren  tief  In  das  Materi- 
elle versunken.  Man  muß  zur  großen  Tradition  zurück- 
kehren, nicht  mehr  am  Leben,  am  Glück,  am  Geld, 
an  nichts  mehr  hängen;  sein,  was  unsere  Großväter 
waren,  leichte,  sprühende  Menschen. 

Ehedem  verbrachte  man  sein  Dasein  mit  Ver- 
hungern. Die  gleiche  Perspektive  droht  am  Horizont. 
Was  Sie  mir  über  das  arme  Nohant  erzählen,  ist 
fürchterlich.  Hier  hat  das  Land  weniger  gelitten  als 
bei   Ihnen. 

Croisset,  Mittwoch,  i8yo 

Ich  bin  am  Montag  in  Paris  angekommen  und  Mitt- 
woch wieder  abgereist.  Ich  kenne  jetzt  die  Seele  des 
Parisers  und  habe  in  meinem  Herzen  den  wildesten 
Politikern  von  1793  abgebeten.  Jetzt  verstehe  ich 
sie.  Welche  Dummheit,  welche  Unwissenheit,  welche 
Vorurteile!  Meine  Landsleute  erregen  mir  Übelkeit. 
Man  muß  sie  mit  Isidor  in  einen  Sack  tun. 

Dies  Volk  verdient  vielleicht,  gezüchtigt  zu  werden, 
und  ich  fürchte,  daß  es  geschieht. 

Es  ist  mir  unmöglich,  irgend  etwas  zu  lesen,  und 
noch  viel  weniger  zu  schreiben.    Ich  verbringe  meine 

101 


Zeit  wie  alle  Leute  mit  dem  Warten  auf  Nachrichten. 
Ach,  wenn  ich  meine  Mutter  nicht  hätte,  wäre  ich 
schon  längst  abgereist. 

Sonnabend,  . . .  1870 
Teurer  Meister! 

Nun  sind  wir  also  in  der  Tiefe  des  Abgrundes  an- 
gelangt! Ein  schmachvoller  Friede  wird  vielleicht 
nicht  angenommen  werden!  Die  Preußen  wollen 
Paris  zerstören!    Das  ist  ihr  Traum. 

Ich  glaube  nicht,  daß  die  Belagerung  von  Paris 
sehr  nahe  bevorsteht.  Aber  um  Paris  zum  Nachgeben 
zu  zwingen,  wird  man  es  1 .  durch  den  Anblick  von 
Kanonen  erschrecken  und  2.  die  umliegenden  Pro- 
vinzen verheeren. 

In  Ronen  machen  wir  uns  auf  den  Besuch  dieser 
Herren  gefaßt  und  da  ich  (seit  Sonnabend)  Leutnant 
meiner  Kompanie  bin,  exerziere  ich  meine  Leute 
ein  und  werde  in  Ronen  strategischen  Unterricht 
nehmen. 

Das  Bedauerliche  ist,  daß  die  Meinungen  geteilt 
sind,  daß  die  einen  für  die  Verteidigung  bis  zum 
äußersten  sind,  die  andern  für  den  Frieden  um 
jeden  Preis. 

Ich  sterbe  vor  Kummer.  Was  habe  ich  für  ein 
Haus!    Vierzehn   Personen,   die  seufzen   und   einen 

102 


nervös  machen.  Ich  verwünsche  die  Frauen  I  Durch 
sie  gehen  wir  zugrunde. 

Ich  mache  mich  darauf  gefaßt,  daß  Paris  das  Schick- 
sal Warschaus  haben  wird,  und  Sie  mit  Ihrer  Be- 
geisterung für  die  Republik  stimmen  mich  traurig. 
Wie  können  Sie  in  dem  Augenblick,  wo  wir  durch  den 
unumwundensten  Positivismus  besiegt  sind,  noch 
an  Phantome  glauben?  Was  auch  komme,  die  Per- 
sonen, die  jetzt  die  Macht  haben,  werden  geopfert 
werden  und  die  Republik  wird  ihrem  Schicksal  ent- 
gegengehen. Beachten  Sie,  daß  ich  die  arme  Republik 
verteidige;  aber  ich  glaube  nicht  an  sie. 

Das  ist  alles,  was  ich  Ihnen  zu  sagen  habe.  Jetzt 
hätte  ich  sehr  viele  andere  Dinge  zu  tun,  aber  ich 
habe  den  Kopf  nicht  frei.  Es  bricht  wie  Wasserfälle, 
wie  Ströme,  wie  Ozeane  von  Betrübnis  über  mich 
herein.  Es  ist  nicht  möglich,  noch  mehr  zu  leiden. 
Bisweilen  fürchte  ich,  verrückt  zu  werden.  Das 
Gesicht  meiner  Mutter  nimmt  mir,  wenn  ich  es 
ansehe,  alle  Energie. 

Dahin  hat  uns  die  Leidenschaft  geführt,  die  Wahr- 
heit nicht  sehen  zu  wollen.  Die  Liebe  zum  Un- 
natürlichen und  zur  Prahlerei.  Wir  werden  ein  Polen 
werden  und  dann  ein  Spanien.  Dann  wird  Preußen 
an  die  Reihe  kommen,  das  von  Rußland  gefressen 
werden  wird. 


103 


Was  mich  betrifft,  so  betrachte  ich  mich  als  einen 
erledigten  Menschen.  Mein  Gehirn  wird  sich  nicht 
wieder  erholen.  Man  kann  nicht  mehr  schreiben, 
wenn  man  sich  nicht  mehr  achtet.  Ich  wünsche  nur 
eins:  nämHch  zu  sterben,  um  ruhig  zu  werden. 


Mittwoch,  . . .  tSjo 
Ich  bin  nicht  traurig.  Ich  habe  gestern  meinen 
Heiligen  Antonius  wieder  aufgenommen.  Leider 
Gittes  muß  man  sich  damit  abfinden!  Man  muß 
sich  an  das  gewöhnen,  was  der  natürliche  Zustand 
des  Menschen  ist,  das   heißt   ans   Übel. 

Die  Griechen  zur  Zeit  des  Perikles  schufen  Kunst, 
ohne  zu  wissen,  ob  sie  am  andern  Tage  zu  essen  haben 
würden.  Seien  wir  Griechen.  Ich  gestehe  Ihnen  aber, 
teurer  Meister,  daß  ich  mich  viel  eher  als  Wilder 
fühle.  Das  Blut  meiner  Ahnen,  der  Natchez  oder 
der  Huronen,  kocht  in  meinen  Gelehrten -Adern,  und 
ich  habe  ernsthaft,  dummdreist,  tierisch,  Lust,  mich 
zu  schlagen. 

Erklären  Sie  mir  das!  Der  Gedanke,  jetzt  Frieden 
zu  schließen,  erbittert  mich,  und  ich  sähe  lieber, 
daß  man  Paris  in  Brand  steckte  (wie  Moskau),  als  daß 
die  Preußen  einziehen.  Aber  soweit  sind  wir  noch 
nicht;  ich  glaube,  der  Wind  dreht  sich. 

104 


Ich  habe  ein  paar  Soldatenbriefe  gelesen,  die  Muster 
sind.  Man  verschlingt  ein  Land  nicht,  in  welchem 
solche  Dinge  geschrieben  werden.  Frankreich  ist 
eine  Mähre,  die  etwas  zuzusetzen  hat  und  sich  wieder 
erheben  wird. 

Was  auch  immer  geschieht,  jedenfalls  beginnt  eine 
neue  Welt,  und  ich  fühle  mich  zu  alt,  um  mich  in 
neue  Sitten  zu  schicken. 

0  wie  Sie  mir  fehlen,  wie  großes  Verlangen  ich 
habe,  Sie  zu  sehen. 

Wir  sind  hier  alle  entschlossen,  auf  Paris  zu  mar- 
schieren, wenn  die  Landsleute  Hegels  es  belagern. 
Versuchen  Sie,  Ihren  Berryanem  Mut  zu  machen. 
Rufen  Sie  ihnen  zu:  ,, Kommen  Sie  zu  mir,  um  zu 
verhindern,  daß  der  Feind  in  einem  Lande  ißt  und 
trinkt,  das  ihm  fremd  ist." 

Der  Krieg  (hoffe  ich)  wird  den  „Autoritäten** 
einen  starken  Schlag  versetzen.  Wird  das  von  der 
modernen  Welt  geleugnete,  vernichtete  Individuum 
noch  einmal  wieder  zur  Geltung  kommen?  Wir 
wollen  es  wünschen. 

Dienstag,  ii.  Oktober  i8yo 
Teurer  Meister! 

Leben   Sie  noch?    Wo   sind   Sie,   Maurice  und  die 
andern  ? 

105 


Ich  begreife  nicht,  daß  ich  noch  nicht  tot  bin,  wo  ich 
seit  sechs  Wochen  so  furchtbar  leide. 

Meine  Mutter  ist  nach  Rouen  geflüchtet.  Meine 
Nichte  ist  in  London.  Mein  Bruder  befaßt  sich  mit 
Stadtgeschäften  und  ich  bin  hier  allein  und  verzehre 
mich  vor  Ungeduld  und  Kummer!  Ich  versichere 
Ihnen,  daß  ich  das  Gute  habe  tun  wollen;  unmöglich! 

Welch  ein  Unglück!  Ich  habe  heute  zweihundert- 
einundsiebzig  Arme  vor  meiner  Tür  gehabt,  und 
sie  haben  alle  etwas  bekommen!  Was  wird  diesen 
Winter  werden? 

Die  Preußen  sind  jetzt  zwölf  Stunden  von  Rouen 
und  wir  haben  keine  Befehle,  keine  Order,  keine 
Disziplin,  nichts,  nichts.  Man  vertröstet  uns  immer 
mit  der  Loirearmee.  Wo  ist  sie?  Wissen  Sie  etwas 
darüber?     Was    tut    man    im    Herzen    Frankreichs? 

Paris  wird  schließlich  ausgehungert  werden,  und 
man  bringt  ihm  keine  Hilfe! 

Die  Dummheiten  der  Republik  übertreffen  die  des 
Kaiserreiches.  Spielt  man  insgeheim  irgendeine 
furchtbare    Komödie?     Warum    soviel    Untätigkeit? 

0,  wie  traurig  ich  bin!  Ich  fühle,  daß  es  mit  der 
romanischen  Welt  zu  Ende  ist! 


106 


Sonntag  abend,  . . .  i8yo 

Ich  lebe  noch,  teurer  Meister,  aber  ich  lege  kaum 
noch  Werl  darauf,  so  iraurig  bin  ich !  Wenn  ich  Ihnen 
nicht  eher  geschrieben  habe,  liegt  es  daran,  daß  ich 
von  Ihnen  Nachricht  erwartete.  Ich  wußte  nicht, 
wo  Sie  waren. 

Seit  sechs  Wochen  erwarten  wir  von  Tag  zu  Tag 
den  Besuch  der  Preußen.  Man  spitzt  die  Ohren  und 
glaubt  in  der  Ferne  das  Getöse  der  Kanonen  zu 
hören.  Sie  umgeben  die  untere  Seine  in  einem  Um- 
kreis von  vierzehn  bis  zwanzig  Meilen.  Sie  sind  sogar 
noch  näher,  da  sie  das  vollständig  zerstörte  Vexin 
besetzt  haben.  Welch  ein  Entsetzen!  Man  muß 
erröten,  Mensch  zu  sein. 

Falls  wir  einen  Erfolg  an  der  Loire  haben,  wird 
ihr  Vordringen  verzögert  werden.  Aber  werden  wir 
ihn  haben?  So  oft  ich  Hoffnung  bekomme,  versuche 
ich  sie  zurückzustoßen,  und  doch  kann  ich  tief  in  mir 
trotz  allem  mich  nicht  eines  ganz  kleinen  Restes  von 
Hoffnung  erwehren. 

Ich  glaube  nicht,  daß  es  in  Frankreich  einen  be- 
trübteren  Menschen  gibt  als  mich!  (Alles  hängt  von 
der  Empfindsamkeit  der  Leute  ab.)  Ich  sterbe  vor 
Kummer.  Das  ist  die  Wahrheit  und  jeder  Trost 
reizt  mich.  Was  mich  betrübt,  ist  I.  die  Wildheit 
der  Menschen;  2.  die  Überzeugung,  daß  wir  in  eine 

107 


stupide  Ära  eintreten.  Man  wird  utilitaristisch,  mili- 
taristisch, amerikanisch  und  katholisch  sein!  Sehr 
katholisch!  Sie  werden  es  sehen!  Der  Krieg  mit 
Preußen  beendet  die  französische  Revolution  und 
zerstört  sie. 

Aber  wenn  wir  S  sger  wären,  sagen  Sie?  Diese 
Hypothese  steht  im  Gegensatz  zu  allen  Erfahrungen 
der  Geschichte.  Wo  haben  Sie  gesehen,  daß  der 
Süden  den  Norden  schlägt  und  die  Katholiken  über 
die  Protestanten  herrschen?  Die  romanische  Rasse 
liegt  im  Sterben.  Frankreich  wird  Spanien  und 
Italien  folgen,  und  die  Zeit  der  Bauernlümmel  kommt. 

Welch  ein  Zusammensturz!  Welch  eine  Kata- 
strophe !  Welch  ein  Elend !  Welche  Scheußlichkeiten ! 
Kann  man  angesichts  all  dessen,  was  geschieht, 
an  den  Fortschritt  und  an  die  Zivilisation  glauben? 
Was  nützt  die  Wissenschaft,  wenn  dies  Volk,  das  von 
Gelehrten  wimmelt,  Greueltaten  begeht,  die  der 
Hunnen  würdig,  ja  noch  schlimmer  sind,  denn  sie 
sind  systematisch,  kalt,  gewollt,  und  haben  weder 
die  Leidenschaft  noch  den  Hunger  als  Entschuldigung. 

Warum  verabscheuen  sie  uns  so  sehr?  Fühlen 
Sie  sich  nicht  zermalmt  von  dem  Haß  von  vierzig 
Millionen  Menschen?  Dieser  ungeheure  Höllen- 
schlund macht  mich  schwindelig. 

108 


Es  fehlt  nicht  an  abgedroschenen  Redensarten: 
Frankreich  wird  sich  wieder  aufrichten!  Man  muß 
nicht  verzweifeln!  Es  ist  eine  heilsame  Züchtigung! 
Wir  waren  wirklich  zu  unmoralisch!  usw.  0  ewiges 
Geschwätz!  Nein,  man  richtet  sich  nach  einem 
solchen  Schlage  nicht  wieder  auf!  Ich  fühle  mich 
ins  Mark  getroffen! 

Wenn  ich  zwanzig  Jahre  jünger  wäre,  würde  ich 
vielleicht  an  dies  alles  nicht  denken,  und  wenn  ich 
zwanzig  Jahre  älter  wäre,  würde  ich  mich  damit 
abfinden. 

Armes  Paris!  Ich  finde  es  heroisch.  Aber  wenn 
wir  es  wiedersehen,  wird  es  nicht  mehr  unser  Paris 
sein!  Alle  Freunde,  die  ich  dort  hatte,  sind  tot  oder 
verschwunden.  Ich  habe  kein  Zentrum  mehr.  Die 
Literatur  erscheint  mir  als  eine  vergebliche  und  un- 
nütze Sache  I  Werde  ich  jemals  imstande  sein,  wieder 
zu  schaffen? 

0,  wenn  ich  in  ein  Land  fliehen  könnte,  wo  man 
keine  Uniformen  mehr  sieht,  wo  man  keine  Trommel 
hört  und  wo  man  nicht  von  Metzeleien  spricht,  wo 
man  nicht  verpflichtet  ist,  Staatsbürger  zu  sein! 
Aber  die  Erde  ist  für  die  armen  Mandarinen  nicht 
mehr  bewohnbar. 


109 


Dieppe,  ii.  März  i8ji 
Teurer  Meister! 

Wann  wird  man  sich  wiedersehen?  Paris  scheint 
mir  nicht  sehr  lustig  zu  sein.  0,  in  was  für  eine  Welt 
werden  wir  eintreten?  Heidentum,  Christentum, 
Dummkopftum,  das  sind  die  drei  großen  Evolutionen 
der  Menschheit!  Es  ist  traurig,  sich  am  Anfang  der 
dritten  zu  finden. 

Ich  will  Ihnen  nicht  sagen,  was  ich  seit  dem  Sep- 
tember gelitten  habe.  Wie  kommt  es,  daß  ich  nicht 
daran  gestorben  bin?  Das  ist  es,  was  mich  in  Er- 
staunen setzt !  Kein  Mensch  ist  verzweifelter  gewesen 
als  ich.  Warum  das?  Ich  habe  schlimme  Augenblicke 
in  meinem  Leben  gehabt,  ich  habe  große  Verluste 
erlitten,  ich  haf)e  viel  geweint,  ich  habe  manche 
Bangigkeit  hinuntergeschluckt.  Nun,  all  diese  ge- 
sammelten Schmerzen  sind  nichts  im  Vergleich 
mit  diesem.  Und  ich  erhole  mich  nicht  davon!  Ich 
tröste  mich  nicht!    Ich  habe  keine  Hoffnung! 

Ich  hielt  mich  nicht  für  einen  Fortschrittler  und 
Verfechter  der  Menschheitsinteressen.  Und  doch 
hatte  ich  Illusionen!  Welche  Barbarei!  Welch  ein 
Rückschritt!  Ich  zürne  meinen  Zeitgenossen,  daß 
sie  mir  die  Gefühle  eines  Wilden  aus  dem  zwölften 
Jahrhundert  gegeben  haben.  Die  Galle  erstickt  mich! 
Diese  Offiziere,   die  Fensterscheiben  einschlagen   in 

110 


weißen  Handschuhen,  die  Sanskrit  können  und  über 
den  Champagner  herfallen,  die  einem  die  Taschen- 
uhr stehlen  und  dann  die  Visitenkarte  schicken,  dieser 
Krieg  um  des  Geldes  willen,  diese  zivilisierten  Wilden 
sind  mir  entsetzlicher  als  die  Kannibalen.  Und  die 
ganze  Welt  wird  sie  imitieren,  wird  Soldat  werden! 
Rußland  hat  jetzt  vier  Millionen.  Ganz  Europa  wird 
Uniform  tragen.  Wenn  wir  Revanche  nehmen,  wird 
sie  an  Wildheit  unerhört  sein,  und  bedenken  Sie, 
daß  man  nur  diesen  einen  Gedanken  haben  wird, 
sich  an  Deutschland  zu  rächen!  Die  Regierung,  wie 
immer  sie  auch  sei,  wird  sich  nur  halten  können,  wenn 
sie  mit  dieser  Leidenschaft  rechnet.  Der  Mord  im 
großen  wird  das  Ziel  aller  unserer  Anstrengungen 
sein,  das  Ideal  Frankreichs. 

Ich  spiele  mit  dem  einen  Traum:  in  einem  ruhigen 
Lande  in  der  Sonne  leben! 

Machen  wir  uns  auf  neue  Heucheleien  gefaßt: 
Lobpreisung  der  Tugend,  Schmähschriften  auf  die 
Korruption,  Strenge  der  Sitten  usw.  Vollständige 
Pedanterie. 

Ich  habe  augenblicklich  in  Croisset  zwölf  Preußen. 
Sobald  meine  arme  Wohnung  (vor  der  ich  jetzt  ein 
Grauen  habe),  wieder  leer  und  rein  ist,  werde  ich  dort- 
hin zurückkehren;  dann  werde  ich  sicher  nach  Paris 


gellen,   trotz   der   UngesundKeit !    Aber   das   ist    mir 
in  tiefster  Seele  gleichgültig. 

Neuville  bei  Dieppe,  Freitag  31.  März  1871 

Teurer  Meister! 
Morgen  endlich  will  ich  es  auf  mich  nehmen,  nach 
Croisset  zurückzukehren!  Es  ist  hart!  Aber  es  muß 
sein!  Ich  will  versuchen,  meinen  armen  Heiligen 
Antonius  wiederaufzunehmen  und  Frankreich  zu 
vergessen. 

Meine  Mutter  bleibt  hier  bei  ihrer  Enkelin,  bis  man 
weiß,  wo  man  hingehen  kann,  ohne  vor  Preußen  und 
Aufstand  Angst  haben  zu   müssen. 

Vor  einigen  Tagen  bin  ich  mit  Dumas  von  hier 
nach  Brüssel  gefahren,  von  wo  ich  direkt  nach  Paris 
zurückzukehren  gedachte.  Aber  „das  neue  Athen** 
scheint  mir  die  Dahome  an  Wildheit  und  Roheit  zu 
übertreffen. 

Ist  dies  das  Ende  des  Geschwätzes?  Macht  man 
nun  Schluß  mit  der  hohlen  Metaphysik  und  den  über- 
nommenen Ideen?  Alles  Unheil  rührt  aus  unserer 
riesenhaften  Unwissenheit  her.  Was  man  studieren 
müßte,  wird  ohne  Diskussion  geglaubt.  Statt  zu 
erwägen,  bestätigt  man! 

Die  französische  Revolution  muß  aufhören  ein 
Dogma  zu  sein  und  muß  wie  alle  übrigen  menschlichen 

112 


Dinge  zur  Wissenschaft  zurückkehren.  Wenn  man 
weiser  gewesen  wäre,  hätte  man  nicht  geglaubt,  daß 
eine  mystische  Formel  imstande  ist,  Armeen  zu  bilden, 
und  daß  das  Wort  Republik  genügt,  eine  Million 
gut  disziplinierter  Männer  zu  besiegen.  Wenn  man 
weiser  gewesen  wäre,  hätte  man  gewußt,  was  die 
Freiwilligen  von  92  gewesen  sind  und  der  braun- 
schweigische  Rückzug,  der  von  Danton  und  Wester- 
mann durch  Geld  erzielt  wurde.  Aber  nein!  Immer 
das  alte  Lied,  immer  Gerede!  Zum  Beispiel  jetzt 
die  Pariser  Kommune,  die  zum  reinen  Mittelalter 
zurückkehrt!  Das  ist  starrköpfig!  Die  Frage  der 
Mieten  beispielsweise  ist  prachtvoll!  Die  Regierung 
mischt  sich  jetzt  in  das  natürliche  Recht;  sie  redet 
in  Verträge  zwischen  Privatleuten  hinein.  Die  Kom- 
mune behauptet,  daß  man  nicht  schuldig  ist,  was  man 
schuldig  ist,  und  daß  ein  Dienst  nicht  durch  einen 
andern  Dienst  bezahlt  wird.  Das  ist  eine  ungeheure 
Albernheit  und  Ungerechtigkeit. 

Viele  von  den  Konservativen,  die  aus  Liebe  zur 
Ordnung  die  Republik  erhalten  wollten,  werden  sich 
nach  Badinguet  sehnen  und  rufen  in  ihrem  Herzen 
nach  den  Preußen.  Die  Leute  im  Rathause  haben  den 
Haß  abgelenkt.  Deshalb  grolle  ich  ihnen.  Ich  habe 
das  Empfinden,  daß  man  niemals  tiefer  gestanden  hat. 

»  113 


Wir  werden  zwischen  der  Gesellschaft  Saint  Vincent 
de  Pauls  und  der  Internationale  hin  und  hergeschleu- 
dert. Aber  die  letztere  macht  zuviele  Dummheiten, 
um  ein  langes  Leben  zu  haben.  Angenommen,  daß 
sie  die  Truppen  in  Versailles  schlägt  und  die  Regie- 
rung wieder  einsetzt,  so  werden  die  Preußen  in  Paris 
einziehen  und  „es  wird  Ordnung  in  Warschau" 
herrschen.  Wenn  sie  aber  besiegt  wird,  so  wird  die 
Reaktion  furchtbar  sein  und  jede  Freiheit  erdrosselt 
werden. 

Was  soll  man  von  den  Sozialisten  sagen,  die  die 
Methode  Badinguets  und  Wilhelms  nachmachen, 
Requisitionen,  Verbot  von  Zeitungen,  Hinrichtungen 
ohne  Prozeß  usw.?  0,  welch  ein  unmoralisches  Tier 
ist  die  Massel  Und  wie  demütigend  ist  es,  Mensch 
zu  sein! 

Ich  umarme  Sie. 

Croisset,  Montag  abend,  2  Uhr,  i8yj 
Teurer  Meister! 
Warum  keine  Briefe?  Sie  haben  also  die  meinen 
aus  Dieppe  nicht  bekommen?  Sind  Sie  krank? 
Leben  Sie  noch?  Was  soll  das  bedeuten?  Ich  hoffe 
sehr,  daß  Sie  (und  die  Ihren)  nicht  in  Paris  sind, 
dem  Sitz  der  Künste,  dem  Herd  der  Zivilisation, 
dem  Zentrum  der  guten  Manieren  und  der  Höflichkeit? 

114 


Wissen  Sie,  was  das  schlimmste  von  all  dem  ist? 
Daß  man  sich  daran  gewöhnt.  Ja,  man  findet  sich 
damit  ab.  Es  wird  einem  zur  Gewohnheit,  Paris  zu 
entbehren,  sich  nicht  mehr  darum  zu  sorgen  und  fast 
zu  glauben,  daß  es  nicht  mehr  existiert. 

Ich  für  mein  Teil  bin  nicht  wie  die  Spießbürger; 
ich  finde,  daß  es  nach  der  Eroberung  kein  Unglück 
mehr  gibt.  Der  preußische  Krieg  hat  auf  mich  den 
Eindruck  einer  großen  Umwälzung  in  der  Natur 
gemacht,  einer  dieser  Umwälzungen,  wie  sie  alle 
sechstausend  Jahre  einmal  vorkommen;  aber  der 
Pariser  Aufstand  ist  in  meinen  Augen  eine  sehr  klare 
und  eigentlich  ganz  einfache  Sache. 

Welche  Rückschritte!  Welche  Bosheiten!  Wie 
sie  den  Leuten  von  der  Liga  und  den  Maillotins 
ähneln!  Armes  Frankreich,  das  sich  niemals  vom 
Mittelalter  frei  machen  wird!  Das  noch  immer  an 
dem  gotischen  Begriff  von  der  Kommune  schleppt, 
die  nichts  anderes  ist  als  die  römische  Stadt. 

Ach,  mir  ist  das  Herz  schwer,  das  versichere  ich 
Ihnen! 

Und  die  kleine  Reaktion,  die  nachher  kommen  wird? 
Wie  die  guten  Geistlichen  aufblühen  werden! 

Ich  habe  mich  wieder  an  den  Heiligen  Antonius 
gemacht,  und  ich  arbeite  heftig. 


115 


...  I8^I 

Ich  antworte  sofort  auf  Ihre  Fragen,  soweit  sie  mich 
persönlich  betreffen.  Nein!  Die  Preußen  haben 
meine  Wohnung  nicht  verwüstet.  Sie  haben  ein  paar 
kleine  unwichtige  Dinge  stibitzt,  ein  Toiletten- 
necessaire, einen  Karton,  Pfeifen,  aber  alles  in  allem 
haben  sie  kein  Unheil  angerichtet.  Was  mein  Arbeits- 
zimmer betrifft,  so  ist  es  respektiert  worden.  Ich 
hatte  einen  großen  Kasten  voller  Briefe  eingegraben 
und  meine  umfänglichen  Notizen  für  den  Heiligen 
Antonius  versteckt.  Ich  habe  das  alles  unversehrt 
wiedergefunden. 

Das  schlimmste  an  dieser  Invasion  ist  für  mich, 
daß  sie  meine  arme  gute  Mutter  um  zehn  Jahre 
gealtert  hat  I  Ist  das  eine  Veränderung !  Sie  kann  nicht 
mehr  allein  gehen  und  ist  von  erschütternder  Schwäche. 
Wie  traurig  ist  es,  die  Wesen,  die  man  liebt,  allmählich 
hinschwinden  zu  sehen. 

Um  nicht  mehr  an  das  allgemeine  und  an  mein 
eigenes  Elend  zu  denken,  habe  ich  mich  wieder  mit 
Wut  auf  den  Heiligen  Antonius  gestürzt,  und  wenn 
mich  nichts  stört  und  ich  in  diesem  Tempo  fortfahre, 
so  werde  ich  ihn  im  nächsten  Winter  vollenden.  Ich 
hätte  rechte  Lust,  Ihnen  die  sechzig  Seiten  vorzulesen, 
die  fertig  sind.  Besuchen  Sie  mich  doch  für  eine 
Weile,  wenn  man  erst  wieder  die  Elisenbahnen  benutzen 

116 


kann.  Ihr  alter  Troubadour  wartet  schon  so  lange 
auf  Sie.  Ihr  Brief  von  heute  früh  hat  mich  gerührt. 
Was  sind  Sie  für  ein  stolzer  Kerl,  und  was  haben  Sie 
für  ein  ungeheures  Herz! 

Ich  bin  nicht  wie  viele  Leute,  die  ich  über  die 
Kämpfe  in  Paris  jammern  höre.  Ich  finde  sie  er- 
träglicher als  die  Invasion.  Denn  nach  der  Invasion 
gibt  es  keine  Verzweiflung  mehr,  und  das  beweist 
wieder  einmal  unsere  Erniedrigung.  ,,Ah,  Gott  sei 
Dank,  die  Preußen  sind  da,"  ist  der  allgemeine  Schrei 
der  Bürger.  Ich  stecke  die  Herren  Arbeiter  in  den- 
selben Sack  und  dann  soll  man  das  ganze  Gesindel 
in  den  Fluß  schm !  Dann  wird  die  Ruhe  wieder- 
kehren. Wir  werden  ein  großes  flaches  Industrie- 
land werden  wie  Belgien.  Das  Verschwinden  von 
Paris  (als  Sitz  der  Regierung)  wird  Frankreich  farblos 
und  schwerfällig  machen.  Es  wird  kein  Herz,  keinen 
Mittelpunkt  und,  glaube  ich,  keinen  Geist  mehr 
haben. 

Was  die  Kommune  betrifft,  die  im  Verröcheln 
ist,  so  ist  sie  die  letzte  Manifestation  des  Mittelalters. 
Die  letzte,  wollen  wir  hoffen! 

Ich  hasse  die  Demokratie  (wenigstens  wie  man  sie 
in  Frankreich  auffaßt),  das  heißt  die  Erhöhung  der 
Gnade  über  die  Gerechtigkeit,  die  Ableugnung  des 
Rechtes,  mit  einem  Wort  die  Anti-Gesellschaftlichkeit. 

117 


Die  Kommune  rehabilitiert  die  Meuchelmörcler, 
gleich  wie  Jesus  den  Schachern  am  Kreuz  verzieh, 
und  man  plündert  die  Häuser  der  Reichen,  weil  man 
gelernt  hat,  Lazarus  zu  verfluchen,  nicht  weil  er  ein 
böser  Reicher,  nur  weil  er  überhaupt  ein  reicher  Mann 
war.  „Die  Republik  ist  über  jede  Diskussion 
erhaben**  entspricht  dem  Glauben  „Der  Papst  ist 
unfehlbar!**   Immer  Formeln!  Immer  Götter! 

Der  verletzte  Gott,  das  allgemeine  Wahlrecht, 
hat  soeben  seinen  Anbetern  einen  furchtbaren  Streich 
gespielt,  indem  er  die  „Mörder  von  Versailles**  er- 
nannte. Woran  soll  man  also  glauben?  An  nichts! 
Das  ist  der  Anfang  der  Weisheit.  Es  wäre  Zeit,  sich 
von  „Prinzipien**  loszumachen  und  sich  der  Wissen- 
schaft, der  Prüfung  zu  v/idmen.  Das  einzig  Ver- 
nünftige (ich  komme  immer  wieder  darauf  zurück) 
ist  eine  Regierung  von  Mandarinen,  vorausgesetzt, 
daß  die  Mandarinen  etwas  können  und  sogar,  daß 
sie  viel  können.  Das  Volk  ist  unmündig  und  es  wird 
(in  der  Rangordnung  der  sozialen  Elemente)  an 
letzter  Stelle  stehen,  weil  es  die  Zahl,  die  Masse, 
das  unbeschränkte  ist.  Es  ist  sehr  unbeträchtlich, 
ob  viele  Bauern  lesen  können  und  ihrem  Pfarrer  nicht 
mehr  gehorchen,  aber  es  ist  von  unendlicher  Bedeu- 
tung, daß  viele  Männer  wie  Renan  oder  Littre  leben 
können  und  gehört  werden.    Unser  Heil  liegt  jetzt 

118 


einzig  in  einer  legitimen  Aristokratie,  ich  verstehe 
darunter  eine  Mehrheit,  die  sich  anders  als  aus  Zahlen 
zusammensetzt. 

Wenn  man  aufgeklärter  gewesen  wäre,  wenn  es  in 
Paris  mehr  Leute  gegeben  hätte,  die  die  Geschichte 
kennen,  so  hätten  wir  weder  Gambetta,  noch  Preußen, 
noch  die  Kommune  erlebt.  Was  taten  die  Katholiken, 
um  eine  große  Gefahr  abzuwenden?  Sie  bekreuzigten 
sich  und  empfahlen  sich  Gott  und  den  Heiligen. 
Wir  Vorgeschrittenen  aber  rufen:  „Es  lebe  die 
Republik!**  Und  beschwören  die  Erinnerung  an  92 
herauf;  und  man  verzweifelte  nicht  an  der  Wirksam- 
keit, bedenken  Sie  das!  Der  Preuße  war  nicht  mehr 
vorhanden,  man  umarmte  sich  vor  Freude  und  mußte 
sich  Zwang  antun,  um  nicht  in  die  Hohlwege  der 
Argonnen  zu  laufen,  wo  es  keine  Hohlwege  mehr 
gibt;  einerlei,  es  ist  Tradition.  Ich  habe  einen  Freund 
in  Rouen,  der  einem  Klub  die  Fabrikation  von  Piken 
vorgeschlagen  hat,  um  gegen  Chassepots  zu  kämpfen! 

0,  wieviel  praktischer  wäre  es  gewesen,  Badinguet 
festzuhalten,  um  ihn  gleich  nach  Friedensschluß 
ins  Gefängnis  zu  stecken.  Österreich  hat  nach  König- 
grätz  keine  Revolution  gemacht,  Italien  nicht  nach 
Novara  und  Rußland  nicht  nach  Sebastopol.  Aber 
die  guten  Franzosen  beeilen  sich,  ihr  Haus  zu  zer- 
stören, sobald  ihr  Schornstein  Feuer  fängt. 

119 


Nun  muß  ich  Ihnen  aber  einen  entsetzlichen  Ge- 
danken anvertrauen:  ich  fürchte,  daß  die  Zerstörung 
der  Vendomesäule  den  Keim  zu  einem  dritten  Kaiser- 
reich legt!  Wer  weiß,  ob  in  zwanzig  oder  in  vierzig 
Jahren  nicht  ein  Enkel  Jeromes  unser  Herr  ist? 

Augenblicklich  ist  Paris  vollkommen  epileptisch. 
Das  ist  das  Ergebnis  des  Blutandrangs  infolge  der 
Belagerung.  Frankreich  lebte  übrigens  seit  einigen 
Jahren  in  einem  außergewöhnlichen  Geisteszustand. 
Der  Erfolg  der  Laterne  und  Troppman  sind  sehr 
deutliche  Symptome  dessen  gewesen.  Dieser  Wahn- 
sinn ist  die  Folge  zu  großer  Dummheit,  und  diese 
Dummheit  rührt  aus  einem  Übermaß  von  Prahlsucht 
her,  denn  durch  das  Lügen  war  man  idiotisch  ge- 
worden. Man  hatte  jedes  Gefühl  für  Gut  und  Böse, 
für  Schön  und  Häßlich  verloren.  Erinnern  Sie  sich 
der  Kritik  in  diesen  letzten  Jahren.  Was  für  einen 
Unterschied  machte  sie  zwischen  dem  Erhabenen 
und  dem  Lächerlichen?  Welche  Rechtlosigkeit! 
Welche  Unwissenheit!  Welch  ein  Durcheinander! 
„Gekocht  oder  gebraten  war  ganz  einerlei"  und  zu 
gleicher  Zeit  diese  Unterwürfigkeit  gegenüber  der 
Meinung  des  Tags. 

Alles  war  falsch!  Falscher  Realismus,  falsche 
Armee,  falscher  Kredit  und  sogar  falsche  Dirnen. 
Man  nannte  sie  „Marquisen",  so  wie  die  vornehmen 

120 


Damen  sich  unter  sich  „Schweinchen**  schimpften. 
Die  Mädchen,  die  in  der  Tradition  der  Sophie  Arnould 
blieben,  wie  die  Lagier,  erregten  Entsetzen.  Sie 
haben  die  Respektsbezeigungen  Saint-Viktors  vor  der 
Paiva  nicht  gesehen.  Und  diese  Falschheit  (die  vielleicht 
eine  Folge  der  Romantik  ist,  der  Herrschaft  der  Lei- 
denschaft über  die  Form  und  der  Inspiration  über  die 
Regel)  zeigte  sich  besonders  in  der  Art  des  Urteilens. 
Man  rühmte  eine  Schauspielerin  nicht  als  Schau- 
spielerin, sondern  als  gute  Mutter!  Man  verlangte 
von  der  Kunst,  daß  sie  moralisch,  von  der  Philo- 
sophie, daß  sie  klar,  vom  Laster,  daß  es  anständig  sei 
und  von  der  Wissenschaft,  daß  sie  sich  dem  Auf- 
fassungsvermögen des  Volkes  anpasse. 

Aber  das  ist  ein  sehr  langer  Brief  geworden.  Wenn 
ich  auf  meine  Zeitgenossen  zu  schimpfen  anfange, 
finde  ich  kein  Ende  mehr. 

Croisset,  Sonntag  abend,  lo.  Juni  1871 

Teurer  Meister! 

Nie  habe  ich  heftiger  das  Bedürfnis  und  stärkeres 
Verlangen  gehabt.  Sie  zu  sehen  als  jetzt.  Ich  komme 
aus  Paris,  und  ich  weiß  nicht,  mit  wem  ich  sprechen 
soll.  Ich  ersticke.  Ich  bin  überwältigt  oder  vielmehr 
angewidert. 

121 


Der  Gestank  der  Kadaver  ekelt  mich  weniger  als 
die  Miasmen  des  Egoismus,  die  jedem  Munde  ent- 
strömen. Der  Anblick  der  Trümmerhaufen  ist  nichts 
neben  der  ungeheuren  Pariser  Dummheit.  Von  sehr 
wenigen  Ausnahmen  abgesehen  scheint  mir  die  ganze 
Welt  reif  fürs  Irrenhaus. 

Die  eine  Hälfte  der  Bevölkerung  möchte  die  andere, 
die  ihr  die  gleichen  Gefühle  entgegenbringt,  am 
liebsten  erwürgen.  Das  liest  man  deutlich  in  den 
Augen  der  Leute. 

Und  die  Preußen  sind  nicht  mehr  vorhanden! 
Man  entschuldigt  und  bewundert  sie!  Die  „ver- 
nünftigen Leute"  wollen  deutsche  Staatsangehörigkeit 
erwerben.  Ich  kann  Ihnen  sagen,  es  ist,  um  an  der 
menschlichen  Rasse  zu  verzweifeln. 

Ich  war  Donnerstag  in  Versailles.  Die  Rechte  ist 
beängstigend  durch  ihre  Übergriffe.  Die  Abstimmung 
über  die  Orleans  ist  ein  Zugeständnis,  das  man  ihr 
gemacht  hat,  um  sie  nicht  zu  reizen  und  Zeit  zu  haben. 
sich  gegen  sie  zu  wappnen. 

Ich  nehme  Renan  von  der  allgemeinen  Torheit  aus, 
er  ist  mir  im  Gegenteil  sehr  philosophisch  erschienen, 
und  ebenso  den  guten  Soulier,  der  mich  beauftragt 
hat,  Ihnen  tausend  zärtliche  Dinge  zu  sagen. 

122 


Ich  habe  eine  Menge  entsetzlicher  und  nicht  öffent- 
lich bekannter  Einzelheiten  gesammelt,  mit  denen  ich 
Sie  verschone. 

Meine  kleine  Reise  nach  Paris  hat  mich  sehr  gestört, 
und  es  wird  mir  schwer  fallen,  mich  wieder  ans 
Schuften  zu  machen  . . . 

Wenn  die  Geschichte  die  Feuersbrunst  von  Paris 
entwirren  wird,  wird  sie  sehr  viele  Elemente  darin 
finden,  unter  denen  ohne  jeden  Zweifel  Preußen  an 
erster  Stelle  steht  und  an  zweiter  Badinguets  Leute; 
man  hat  keinen  geschriebenen  Beweis  mehr  gegen  das 
Kaiserreich,  und  Haußmann  wird  sich  kühn  bei  den 
Wahlen  in  Paris  präsentieren. 

Haben  Sie  unter  den  Dokumenten,  die  im  letzten 
September  in  den  Tullerien  gefunden  wurden,  einen 
Entwurf  zu  einem  Roman  von  Isidore  gelesen?  Ist 
das  ein  Aufbau  I 

25.  Juli  1871 

Ich  finde  Paris  etwas  weniger  närrisch  als  im  Juni, 
wenigstens  an  der  Oberfläche.  Man  beginnt  Preußen 
auf  eine  natürliche  Art  zu  hassen,  das  heißt,  man 
kehrt  zur  französischen  Tradition  zurück.  Man  macht 
keine  Redensarten  mehr  zum  Lobe  seiner  Zivilisation. 
Was  die  Kommune  betrifft,  so  macht  man  sich  darauf 
gefaßt,  sie  später  wiedererstehen  zu  sehen,  und  die 

123 


Leute  der  Ordnung  tun  absolut  nichts,  um  ihre  Rück- 
kehr zu  verhindern.  Gegen  neue  Leiden  wendet  man 
alte  Mittel  an,  die  noch  nie  das  kleinste  Leiden  geheilt 
(oder  verhindert)  haben. 

Ich  glaube  wie  Sie,  daß  die  bürgerliche  Republik 
festen  Fuß  fassen  kann.  Ihr  Mangel  an  Erhabenheit 
ist  vielleicht  eine  Gewähr  für  ihre  Dauerhaftigkeit. 
Es  ist  das  erste  Mal,  daß  wir  unter  einer  Regierung 
leben,  die  keine  Prinzipien  hat.  Die  Ära  des  Positi- 
vismus in  der  Politik  will  beginnen. 

Der  ungeheure  Widerwille,  den  mir  meine  Zeit- 
genossen einflößen,  verweist  mich  in  die  Vergangen- 
heit, und  ich  arbeite  mit  aller  Kraft  an  meinem  guten 
Heiligen  Antonius.  Ich  bin  einzig  seinetwegen  nach 
Paris  gekommen,  denn  es  ist  mir  unmöglich,  mir  in 
Rouen  die  Bücher  zu  beschaffen,  die  ich  augenblicklich 
brauche;  ich  bin  in  die  Religionen  Persiens  unter- 
getaucht. Ich  versuche  mir  eine  deutliche  Vor- 
stellung von  dem  Gotte  Hom  zu  machen,  was  nicht 
leicht  ist.  Ich  habe  den  ganzen  Juni  mit  dem  Studium 
des  Buddhismus  verbracht,  über  den  ich  schon  viele 
Notizen  hatte.  Aber  ich  wollte  den  Stoff  möglichst 
erschöpfen.  Ich  habe  danach  einen  kleinen  Buddha 
gemacht,  den  ich  reizend  finde.  Wie  gern  würde  ich 
Ihnen  diesen  (meinen  I)  Schmöker  vorlesen. 

124 


Ich  komme  nicht  nach  Nohant,  weil  ich  mich  jetzt 
nicht  mehr  von  meiner  Mutter  zu  entfernen  wage. 
Ihre  Gesellschaft  betrübt  und  entnervt  mich,  meine 
Nichte  Karoline  hilft  mir  diese  teure  und  schwere 
Last  tragen. 

In  vierzehn  Tagen  werde  ich  wieder  in  Croisset 
sein.  Vom  15.  bis  20.  August  erwarte  ich  dort  den 
guten  Turgenjeff .  Es  wäre  sehr  reizend,  wenn  Sie  dann 
nach  ihm  kämen,  teure  Meisterin.  Ich  sage  nach 
ihm,  denn  wir  haben  seit  der  Anwesenheit  der  Preußen 
nur  ein  Zimmer  in  Ordnung.  Das  wäre  eine  gute 
Abwechselung.    Kommen  Sie  im  September. 

Haben  Sie  vom  Odeon  etwas  gehört?  Es  ist  mir 
unmöglich,  von  Herrn  von  Chilly  irgendeine  Antwort 
zu  bekommen.  Ich  bin  mehrmals  bei  ihm  gewesen 
und  habe  ihm  drei  Briefe  geschrieben:  kein  Wort! 
Diese  Leute  haben  Grandseigneurmanieren,  die  ent- 
zückend sind.  Ich  weiß  nicht,  ob  er  noch  Direktor 
ist  oder  ob  die  Direktion  der  Gesellschaft  Berton, 
Laurent,  Bernhard  übertragen  ist. 

Berton  hat  mir  geschrieben,  ich  solle  ihn  (und 
sie  alle)  d'Osmey  empfehlen,  dem  Präsidenten  der 
dramatischen  Kommission,  aber  seitdem  habe  ich 
überhaupt  nichts  mehr  gehört. 


125 


Croisset,  Mittwoch  abend,  6.  September 
Nun,  teurer  Meister,  mir  scheint,  man  vergißt  seinen 
Troubadour?  Sie  sind  also  sehr  mit  Arbeit  überhäuft! 
Wie  lange  ist  es  her,  daß  ich  Ihre  liebe,  große  Schrift 
nicht  gesehen  habe!  Wie  lange  ist  es  her,  daß  wir 
nicht  zusammen  geplaudert  haben!  Wie  schade,  daß 
wir  so  fern  voneinander  wohnen.  Ich  habe  großes 
Verlangen  nach  Ihnen. 

Ich  wage  meine  arme  Mutter  nicht  mehr  zu  ver- 
lassen !  Wenn  ich  fortzugehen  gezwungen  bin,  nimmt 
Karoline  meine  Stelle  ein.  Sonst  würde  ich  nach 
Nohant  kommen.  Werden  Sie  auf  unbestimmte  Zeit 
dort  bleiben?  Müssen  wir  bis  Mitte  des  Winters  war- 
ten, bevor  man  sich  umarmen  kann? 

Ich  möchte  Ihnen  gern  den  Heiligen  Antonius  vor- 
lesen, der  in  seiner  ersten  Hälfte  fertig  ist,  dann 
Ihnen  mein  Herz  ausschütten  und  schimpfen.  Jemand, 
der  weiß,  daß  ich  Sie  liebe,  und  der  Sie  bewundert, 
hat  mir  eine  Nummer  des  Gaulois  gebracht,  in  der 
Bruchstücke  Ihres  Artikels  über  die  Arbeiter  stehen, 
den  Sie  im  Temps  veröffentlicht  hatten.  Wie  das 
stimmt!  Wie  richtig  und  gut  das  gesagt  ist!  Traurig! 
Traurig!  Armes  Frankreich!  Und  man  beschuldigt 
mich,  skeptisch  zu  sein. 

Was  sagen  Sie  zu  Fräulein  Papavoine,  einer  Mord- 
brennerin, die  auf  einer  Barrikade  den  Ansturm  von 

126 


achtzehn  Bürgern  ausgehalten  hat?  Das  stellt  den 
Schluß  der  Schule  der  Empfindsamkeit  in  den  Schatten, 
wo  man  sich  darauf  beschränkt,  Blumen  anzubieten. 

Aber  was  jetzt  alles  übersteigt,  das  ist  die  konser- 
vative Partei,  die  nicht  einmal  mehr  wählen  will  und 
und  die  nicht  aufhört  zu  zittern!  Sie  machen  sich 
keine  Vorstellung  von  der  Angst  der  Pariser.  „In 
sechs  Monaten,  mein  Herr,  wird  überall  die  Kommune 
errichtet  sein",  ist  die  allgemeine  Antwort,  oder  viel- 
mehr das  allgemeine  Zittern. 

Ich  glaube  nicht  an  eine  nahe  Umwälzung,  weil 
nichts  von  dem  Vorausgesagten  eintrifft.  Die  Inter- 
nationale wird  vielleicht  schließlich  triumphieren, 
aber  nicht  so,  wie  sie  es  hofft,  nicht,  wie  man  es 
fürchtet.  0!  Wie  überdrüssig  bin  ich  des  unvor- 
nehmen Arbeiters,  des  albernen  Bürgers,  des  stumpf- 
sinnigen   Bauern    und    des    verhaßten    Geistlichen. 

Deshalb  vergrabe  ich  mich,  soviel  ich  kann,  ins 
Altertum.  Augenblicklich  lasse  ich  alle  Götter  im 
Moment  des  Todeskampfes  reden.  Der  Untertitel 
meines  Schmökers  könnte  sein:  „Der  Gipfel  des 
Wahnsinns." Und  die  Veröffentlichung  tritt  in  meinem 
Geist  immer  weiter  zurück.  Wozu  etwas  veröffent- 
lichen? Wer  kümmert  sich  denn  jetzt  um  Kunst? 
Ich  mache  für  mich  Literatur,  wie  ein  Bürger  in  seiner 
Bude  mit  dem  Serviettenring  spielt.   Sie  werden  mir 

127 


sagen,  daß  es  besser  sei,  sich  nützlich  zu  machen. 
Aber  auf  welche  Weise?  Wie  soll  man  sich  Gehör 
verschaffen  ? 

Turgenjeff  hat  mir  geschrieben,  daß  er  sich  vom 
Oktober  ab  den  ganzen  Winter  in  Paris  festsetzen 
werde.  Das  ist  ein  Mensch,  mit  dem  man  sprechen 
kann.  Denn  ich  kann  absolut  nichts  mit  absolut 
niemandem  mehr  reden. 

Ich  bin  heute  am  Grabe  meines  armen  Bouilhet 
gewesen;  daher  bin  ich  heute  abend  doppelt  bitter. 

Croissei,  8.  September  1871 

O  wie  reizend  sie  sind!  Diese  Engelchen!  Was 
für  liebe,  ernste  und  sanfte  Köpfchen !  Meine  Mutter 
ist  ganz  gerührt  darüber  und  ich  auch.  Das  nennt 
man  eine  zarte  Aufmerksamkeit,  teurer  Meister,  und 
ich  danke  Ihnen  sehr.  Ich  beneide  Maurice,  sein 
Leben  ist  nicht  leer  wie  meins. 

Unsere  beiden  Briefe  haben  sich  wieder  einmal 
gekreuzt.  Das  beweist  zweifellos,  daß  wir  die  gleichen 
Dinge  zu  gleicher  Zeit  und  im  gleichen  Maße  fühlen. 

Warum  sind  Sie  so  traurig?  Die  Menschheit  bietet 
nichts  Neues.  Ihr  unheilbares  Elend  hat  mich  seit 
meiner  Jugend  mit  Bitterkeit  erfüllt.  Daher  erlebe 
ich  jetzt  auch  keine  Enttäuschung.  Ich  glaube,  daß 
die  Masse,   der  Haufe   stets   hassenswert  sein   wird. 

128 


Es  gibt  nichts  Wichtiges  außer  einer  kleinen  Gruppe 
von  geistvollen  Köpfen,  die  immer  die  gleichen  sind. 
Solange  man  sich  nicht  vor  den  Mandarinen  beugt, 
solange  die  Akademie  der  Wissenschaften  nicht 
an  die  Stelle  des  Papstes  tritt,  wird  die  gesamte  Politik 
und  die  Gesellschaft  bis  in  ihre  Wurzeln  nur  ein 
Haufen  von  widerlichem  Geschwätz  sein.  Wir  leben 
in  den  Nachwehen  der  Revolution,  die  eine  Fehl- 
geburt gewesen  ist,  eine  tote  Sache,  ein  Mißerfolg, 
was  man  auch  sage.  Und  zwar  deshalb,  weil  sie  dem 
Mittelalter  und  dem  Christentum  entsprang.  Der 
Gedanke  der  Gleichheit  (der  die  ganze  moderne 
Demokratie  ist),  ist  eine  im  wesentlichen  christliche 
Idee,  die  im  Gegensatz  zu  dem  Gedanken  der  Gerech- 
tigkeit steht.  Beachten  Sie,  wie  die  Gnade  jetzt  das 
Übergewicht  hat.  Das  Gefühl  ist  alles,  das  Recht 
nichts.  Man  ist  nicht  einmal  mehr  über  die  Mörder 
entrüstet;  die  Leute,  die  Paris  in  Brand  gesteckt  haben, 
sind  weniger  bestraft  worden  als  der  Verleumder 
Favres. 

Wenn  Frankreich  sich  wieder  erheben  soll,  muß  es 
von  der  Inspiration  zur  Wissenschaft  übergehen,  muß 
es  alles  Metaphysische  hinter  sich  lassen  und  mit  der 
Kritik  beginnen,  das  heißt  mit  der  Prüfung  der  Dinge. 

Ich  bin  überzeugt,  daß  wir  der  Nachwelt  äußerst 
dumm    erscheinen    werden.     Die    Worte    Republik 

'  129 


und  Monarchie  werden  sie  zum  Lachen  bringen, 
wie  wir  über  den  Realismus  und  den  Nominalismus 
lachen.  Denn  ich  wette,  daß  man  mir  keinen  wesent- 
lichen Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Aus- 
drücken zeigen  kann.  Eine  moderne  Republik  und 
eine  konstitutionelle  Monarchie  sind  identisch,  man 
prügelt  sich  darum,  man  schreit,  man  haut   sich! 

Was  das  gute  Volk  betrifft,  so  wird  die  obligatorische 
Freischule  der  letzte  Schritt  sein.  Wenn  alle  Leute 
das  Kleine  Journal  und  den  Figaro  lesen  können, 
wird  man  nichts  anderes  mehr  lesen,  da  ja  der  Spieß- 
bürger, der  reiche  Mann,  auch  nichts  weiter  liest. 
Die  Presse  ist  eine  Schule  der  Verdummung,  weil 
sie  vom  Denken  entbindet.  Sprechen  Sie  das  aus, 
das  wäre  eine  mutige  Tat,  und  wenn  Sie  mit  Ihrer 
Meinung  durchdringen,  so  haben  Sie  etwas  Großes 
geleistet. 

Das  erste  Heilmittel  wäre,  mit  dem  allgemeinen 
Wahlrecht  ein  Ende  zu  machen,  dieser  Schande  des 
menschlichen  Geistes.  Wie  es  aufgebaut  ist,  überwiegt 
ein  einzelnes  Element  zum  Schaden  aller  andern: 
die  Zahl  beherrscht  den  Geist,  die  Bildung,  die  Rasse 
und  sogar  das  Geld,  das  mehr  gilt  als  die  Zahl. 

Aber  eine  Gesellschaft  (die  stets  einen  guten  Gott, 
einen  Heiland  nötig  hat)  ist  vielleicht  nicht  imstande, 
sich  zu  verteidigen?   Die  konservative  Partei  hat  nicht 

130 


einmal  den  Instinkt  des  Tieres  (denn  das  Tier  kann 
wenigstens  für  seine  Höhle  und  seine  Lebensbedin- 
gungen kämpfen).  Sie  wird  von  den  Internationalen 
gesprengt  werden,  den  Jesuiten  der  Zukunft.  Aber 
die  Jesuiten  der  Vergangenheit,  die  auch  kein  Vater- 
land und  keine  Gerechtigkeit  hatten,  sind  nicht  durch- 
gedrungen, und  die  Internationale  wird  scheitern,  weil 
sie  auf  falschem  Wege  ist.  Keine  Ideen,  nichts  als 
Begehrlichkeit! 

Ach,  lieber,  guter  Meister,  wenn  Sie  hassen  könnten ! 
Das  hat  Ihnen  gefehlt,  der  Haß!  Trotz  Ihren  großen 
Sphinxaugen  haben  Sie  die  Welt  in  goldenem  Licht 
gesehen.  Dies  Licht  floß  aus  der  Sonne  ihres  Herzens; 
aber  es  sind  soviele  Finsternisse  hervorgequollen, 
daß  Sie  jetzt  die  Dinge  nicht  mehr  erkennen.  Vor- 
wärts doch!  schreien  Sie!  donnern  Sie!  Nehmen  Sie 
Ihre  große  Leier  und  schlagen  Sie  die  erzenen  Saiten : 
die  Ungeheuer  werden  entfliehen!  Besprengen  Sie 
uns  mit  den  Blutstropfen  der  verwundeten  Themis. 

Unsere  Unkenntnis  der  Geschichte  bringt  uns 
dazu,  unsere  Zeit  zu  verleumden.  Man  ist  immer 
genau  so  gewesen.  Einige  Jahre  der  Ruhe  haben  uns 
getäuscht.  Das  ist  alles.  Ich  habe  ebenfalls  an  die 
Besänftigung  der  Sitten  geglaubt.  Man  muß  diesen 
Irrtum  tilgen  und  sich  nicht  für  mehr  halten,  als 
wofür  man  sich  zur  Zeit  Shakespeares  oder  Perikles 

'•  131 


hielt,  grausamen  Zeiten,  wo  man  wundervolle  Dinge 
geschaffen  hat.  Sagen  Sie  mir,  daß  Sie  den  Kopf 
wieder  hochheben  und  daß  Sie  an  Ihren  alten  Trouba- 
dour denken,  der  Sie  lieb  hat. 

j^.  November 

Ah!  Ich  habe  soeben  meine  Götter  fertig,  das  heißt 
den  mythologischen  Teil  meines  Heiligen  Antonius, 
an  dem  ich  seit  Anfang  Juni  sitze.  Wie  gern  würde 
ich   Ihnen  das  vorlesen,  teurer  Meister. 

Warum  haben  Sie  Ihrer  guten  Regung  widerstan- 
den ?  Warum  sind  Sie  diesen  Herbst  nicht  gekommen  ? 
Man  darf  nicht  solange  ohne  Paris  sein.  Ich  werde 
übermorgen  dort  sein  und  habe  außer  mit  Aisse  mit 
der  Drucklegung  eines  Versbandes  zu  tun,  (ich  möchte 
Ihnen  wohl  das  Vorwort  zeigen),  und  was  sonst  noch 
alles.    Eine  Masse  wenig  amüsanter  Dinge. 

Ich  habe  das  angekündigte  zweite  Feuilleton  nicht 
bekommen.  Ihrem  alten  Troubadour  brummt  der 
Schädel.  Meine  längsten  Nächte  haben  seit  drei 
Monaten  nicht  länger  als  fünf  Stunden  gedauert. 
Ich  habe  geradezu  rasend  geschuftet.  Ich  glaube 
meinen  Schmöker  aber  auch  auf  einen  schönen  Grad 
von  Wahnsinn  gebracht  zu  haben.  Der  Gedanke  an 
die  dummen  Aussprüche,  zu  denen  er  den  Bürger 
veranlassen  wird,  hält  mich  aufrecht,  oder  eigentlich 

132 


brauche  ich  nicht  aufrecht  gehalten  zu  werden,  da 
ein  solches  Milieu  mir  natürlich  gefällt. 

Der  gute  Bürger  wird  immer  stumpfsinniger! 
Er  will  nicht  einmal  wählen! 

Das  dumme  Vieh  hat  mehr  Selbsterhaltungstrieb 
als  er.    Armes  Frankreich!    Wir  Armen! 

Wissen  Sie,  was  ich  jetzt  lese,  um  mich  zu  zer- 
streuen? Bichat  und  Cabanis,  und  sie  machen  mir 
ungeheuren  Spaß.  Damals  konnte  man  Bücher 
schreiben.  0,  wie  weit  sind  unsere  heutigen  Gelehrten 
von  diesen  Männern  entfernt! 

Wir  leiden  nur  an  einem:  an  Dummheit.  Aber 
sie  ist  furchtbar  und  allgemein.  Wenn  man  von  der 
Verdummung  des  gemeinen  Volkes  spricht,  so  ist 
das  eine  Ungerechtigkeit,  eine  Unvollständigkeit ! 
Schlußfolgerung:  man  muß  den  gebildeten  Klassen 
Bildung  geben.  Man  fange  mit  dem  Kopf  an,  das  ist 
der  kränkste  Teil,  das  übrige  kommt  später. 

Sie  sind  nicht  wie  ich!  Sie  sind  voll  Sanftmut. 
Mich  aber  erstickt  an  manchen  Tagen  der  Zorn. 
Ich  möchte  meine  Zeitgenossen  in  den  Latrinen  er- 
tränken oder  wenigstens  Ströme  von  Beleidigungen, 
Sturzbäche  von  Beschimpfungen  auf  ihre  Köpfe 
regnen  lassen.  Wozu?  Das  frage  ich  mich  selbst. 
Welche  Art  Archäologie  beschäftigtMaurice?  Umarmen 
Sie  Ihre  Enkelchen  in  meinem  Namen.      Ihr  Alter. 

133 


. . .   iS'ji 

Teurer  Meister! 
Ich  habe  gestern  Ihr  Feuilleton  bekommen  und  ich 
würde  mit  einem  langen  Brief  darauf  antworten, 
wenn  ich  nicht  mitten  in  den  Vorbereitungen  für 
meine  Reise  nach  Paris  wäre.  Ich  will  versuchen, 
mit  Aisse  zum  Ende  zu  kommen. 

Ihr  Brief  hat  mich  eine  Träne  vergießen  lassen, 
ohne  mich  aber  zu  bekehren.  Ich  bin  gerührt  ge- 
wesen, das  ist  alles,  aber  nicht  überzeugt. 

Ich  suche  bei  Ihnenf  ein  Wort,  das  ich  nirgends 
finde :  Gerechtigkeit,  und  unser  ganzes  Leiden  kommt 
daher,  daß  wir  diese  erste  Forderung  der  Moral, 
aus  der  sich  nach  meiner  Ansicht  die  ganze  Moral 
zusammensetzt,  vollkommen  vergessen  haben. 
Gnade,  Humanität,  Gefühl,  Ideal  haben  uns 
soviele  häßliche  Streiche  gespielt,  daß  man  es 
mit  dem  Recht  und  der  Wissenschaft  versuchen 
sollte. 

Wenn  Frankreich  nicht  in  einiger  Zeit  in  die  kri- 
tische Phase  eintritt,  halte  ich  es  für  unrettbar  verloren. 
Der  kostenlose  und  obligatorische  Schulunter- 
richt wird  nur  die  Zahl  der  Dummköpfe  vermehren. 
Renan  hat  das  glänzend  in  der  Einleitung  zu  seinen 
„Zeitgenössischen  Fragen"  gesagt.  Was  uns  vor  allem 
not  tut,   ist   eine  natürliche  Aristokratie,   das   heißt 

134 


eine  legitime.  Man  kann  nichts  ohne  Kopf  tun,  und 
das  allgemeine  Wahlrecht,  so  wie  es  jetzt  ist,  ist  stupider 
als  das  göttliche  Recht.  Sie  werden  schöne  Dinge 
erleben,  wenn  man  es  bestehen  läßt.  Die  Masse, 
die  Zahl  ist  immer  idiotisch.  Ich  habe  nicht  viele 
Überzeugungen,  aber  diese  eine  ist  sehr  stark.  Man 
muß  aber  die  Masse  respektieren,  so  dumm  sie  auch 
ist,  weil  sie  Keime  einer  unberechenbaren  Frucht- 
barkeit enthält.  Man  gebe  ihr  die  Freiheit,  aber  nicht 
die  Macht. 

Ich  glaube  ebensowenig  wie  Sic  an  den  Klassen- 
unterschied. Die  Kasten  gehören  der  Archäologie  an. 
Aber  ich  glaube,  daß  die  Armen  die  Reichen  hassen 
und  daß  die  Reichen  vor  den  Armen  Angst  haben. 
Das  wird  ewig  so  sein.  Den  einen  wie  den  andern 
Liebe  predigen,  ist  unnütz.  Das  Wichtigste  ist,  die 
Reichen  heranzubilden,  die  insgesamt  die  stärksten 
sind.  Man  muß  zuerst  den  Bürger  aufklären,  denn 
er  weiß  nichts,  absolut  nichts.  Der  ganze  Traum  der 
Demokratie  ist,  den  Proletarier  zum  Niveau  der  Dumm- 
heit des  Bürgers  zu  erheben.  Der  Traum  ist  zum  Teil 
erfüllt.  Er  liest  die  gleichen  Zeitungen  und  hat  die 
gleichen  Passionen. 

Die  drei  Grade  der  Bildung  haben  seit  einem  Jahre 
ihre  Wirkung  gezeigt:  1.  die  höhere  Bildung  hat 
Preußen  siegreich  sein  lassen ;  2.  die  mittlere  Bildung, 

135 


die  bürgerliche,  hat  die  Männer  des  4.  September 
hervorgebracht;  3.  die  Elementarbildung  hat  uns  die 
Kommune  gegeben.  Ihr  Unterrichtsminister  war  der 
große  Valles,  der  sich  rühmte,  Homer  zu  verachten! 

In  drei  Jahren  werden  alle  Franzosen  lesen  können. 
Glauben  Sie,  daß  wir  damit  weiter  sein  werden? 
Stellen  Sie  sich  stattdessen  vor,  daß  in  jeder  Stadt 
ein  Bürger  wäre,  ein  einziger,  der  Ba^tiat  gelesen 
hätte,  und  daß  dieser  Bürger  respektiert  würde; 
dann  erst  würden  die  Dinge  anders  werden. 

Dennoch  b:n  ich  nicht  entmutigt  wie  Sie,  und  die 
gegenwärtige  Regierung  gefällt  mir,  weil  sie  keine 
Prinzipien  hat,  keine  Metaphysik,  keinen  hohlen 
Schwindel  treibt.  Ich  drücke  mich  sehr  schlecht  aus. 
Sie  verdienen  wohl  eine  andere  Antwort,  aber  ich  habe 
es  sehr  eilig. 

Ich  hörte  heute,  daß  die  Masse  der  Pariser  nach 
Badinguet  verlangt.  Eine  Volksabstimmung  würde 
sich  für  ihn  aussprechen,  daran  zweifle  ich  nicht, 
insofern  ist  das  allgemeine  Wahlrecht  eine  gute 
Sache. 


. . .   1S71 
Nie  in  Ihrem  Leben,  lieber,  teurer  Meister,  haben  Sie 
einen   solchen   Beweis    Ihrer  unbegreiflichen   Offen - 


36 


Herzigkeit  gegcb.-n!  Wie,  im  Ernst,  Sie  glauben, 
mich  b.leicllgt  zu  h  ben!  Die  erste  Seite  sieht  fast 
aus  wie  eine  Entschuldigung.  Darüber  habe  ich  sehr 
lachen  müssen!  Sie  können  mir  übngens  alles  sagen, 
alles!    Ihre  Seh  äge  werden  mir  Liebkosungen  sein. 

Also  plaudern  wir  welter!  Ich  fange  wieder  von  der 
Gerechtigkeit  an!  Sjhen  Sie  ein,  daß  man  dazu  ge- 
kommen ist,  sie  vollkommen  zu  leugnen?  Hat  die 
moderne  Kritik  nicht  die  Kunst  um  der  Geschichte 
willen  aufgegeben?  Der  innere  Wert  eines  Buches 
bedeutet  nichts  in  der  Schule  Sainte-Beuve,  Taine. 
Man  zieht  dort  alles  in  Betracht  außer  dem  Talent. 
Daher  kommt  in  den  kleinen  Zeitungen  der  Mißbrauch 
der  Persönlichkeit,  die  Biographien,  die  Schmäh- 
schriften.    Folge:    Unehrerbietigkeit   des  Publikums. 

Beim  Theater  die  gleiche  Geschichte.  Man  küm- 
mert sich  nicht  um  das  Stück,  sondern  um  die  vor- 
getragene Idee.  Unser  Freund  Dumas  träumt  von 
dem  Ruhm  Lacordaires  oder  vielmehr  Ravignans! 
Wir  müssen  noch  wenig  fortgeschritten  sein,  da  die 
ganze  Moral  für  die  Frauen  darin  besteht,  sich 
des  Ehebruchs  zu  enthalten,  und  für  die  Männer, 
nicht  zu  stehlen.  Das  erste  Unrecht  hat  die 
Literatur  begangen,  als  sie  sich  nicht  um  die  Ästhetik 
kümmerte,  die  nur  eine  höhere  Gerechtigkeit  ist. 
Die    Romantiker    mit    ihrer    unmoralischen    Senti- 

137 


mentalitgt  tragen  die  Verantwortung.  Erinnern  Sie 
sich  eines  Stückes  von  Victor  Hugo  in  der  Legende 
des  Siecles,  wo  ein  Sultan  die  ewige  Seligkeit  gewinnt, 
weil  er  Mitleid  mit  einem  Schwein  gehabt  hat.  Es 
ist  immer  die  Geschichte  von  dem  guten  Schacher, 
der  gesegnet  wird,  weil  er  bereut.  Bereuen  ist  gut, 
aber  nichts  Böses  tun,  ist  besser.  Die  Schule  der 
Vergebung  hat  uns  dahin  geführt,  zwischen  einem 
Schurken  und  einem  ehrenhaften  Menschen  keinen 
Unterschied  zu  sehen.  Ich  habe  mich  einmal  vor  Zeu- 
gen gegen  Sainte-Beuve  ereifert,  und  habe  ihn  gebeten, 
ebensoviel  Nachsicht  für  Balzac  zu  haben,  wie  er  für 
Jules  Lecomte  hat.  Seine  Antwort  war,  daß  er  mich 
als  Dummkopf  behandelte!  Dahin  führt  die  Weit- 
herzigkeit ! 

Man  hat  so  gänzlich  jedes  Gefühl  für  Proportionen 
verloren,  daß  der  Kriegsrat  in  Versailles  Maroteau 
zum  Tode  verurteilte  ebenso  wie  Rössel !  Das  ist  Schwin- 
del. Diese  Herren  interessieren  mich  übrigens  sehr 
wenig.  Ich  finde,  man  hätte  die  ganze  Kommune 
zu  Zwangsarbeit  verurteilen  und  diese  blutigen  Dumm- 
köpfe zwingen  müssen,  als  Galeerensklaven  mit  der 
Kette  um  den  Hals  die  Trümmer  von  Paris  aufzu- 
räumen. Aber  das  hätte  die  Menschlichkeit  verletzt. 
Man  hat  Mitgefühl  mit  den  tollen  Hunden  und  nicht 
das  geringste  mit  den  Gebissenen. 

138 


Das  wird  sich  nicht  ändern,  solange  das  allgemeine 
Wahlrecht  bleibt,  wie  es  ist.  Jeder  Mensch  (meiner 
Ansicht  nach),  so  niedrig  er  auch  sei,  hat  Recht  auf 
eine  Stimme,  die  seine,  steht  aber  seinem  Nachbar 
nicht  gleich,  der  hundertmal  soviel  wert  sein  kann. 
In  einer  industriellen  Unternehmung  (Aktiengesell- 
schaft) stimmt  jeder  Aktionär  im  Verhältnis  seiner 
Beteiligung.  In  der  Regierung  einer  Nation  müßte 
es  ebenso  sein.  Ich  bin  wohl  soviel  wert  wie  zwanzig 
Wähler  von  Croisset.  Geld,  Geist  und  Rasse  sogar 
müssen  gezählt  werden,  kurz,  alle  Kräfte.  Nun  sehe 
ich  aber  bis  jetzt  nur  eins:  die  Zahl !  0  teurer  Meister! 
Sie,  die  Sie  soviel  Autorität  haben,  Sie  müßten  ins 
Feuer!  Man  liest  Ihre  Artikel  im  Temps,  die  einen 
großen  Erfolg  haben,  und  wer  weiß?  Sie  würden 
vielleicht  Frankreich  einen  ungeheuren  Dienst  leisten. 

Alsse  beschäftigt  mich  ungeheuer  oder  vielmehr 
greift  mich  an.  Ich  habe  Chllly  nicht  gesehen  und 
habe  also  mit  Duquesnel  zu  tun.  Man  nimmt  mir 
positiv  den  alten  Berton  und  schlägt  mir  seinen  Sohn 
vor.  Er  ist  sehr  reizend,  aber  gar  nicht  der  Typ,  den 
der  Verfasser  gewollt  hat.  Lieber  als  darauf  warten, 
daß  ein  literarischer  Wind  sich  erhebt,  wie  er  sich  zu 
meinen  Lebzeiten  nicht  erheben  wird,  will  ich  die 
Sache  sofort  wagen. 


139 


Diese  Thiiteraffären  stören  mich  sehr,  denn  ich 
war  gut  im  Zuge.  Sjit  einem  Monat  war  Ich  sogar  in 
einer  Erregung,  die  an  Wahnsinn  grenzte. 

Ich  h  hi  den  unvermeidlichen  Harrisse  getroffen, 
einen  Mjnschen,  der  die  ganze  Welt  kennt  und  sich 
auf  alles  versteht,  auf  Theater,  Romane,  Finanzen, 
Politik  usw.  Was  ist  doch  der  aufgeklärte  Mensch 
für  eine  Rasse!!!  Ich  habe  die  Plessy  gesehen,  reizend 
und  schön  wie  immer.  Sie  hat  mich  beauftragt,  Ihnen 
tausend  Empfehlungen  zu  übermitteln. 

Ich  für  meinen  Teil  sende  Ihnen  hunderttausend 
Grüße! 

Ihr  Alter. 

/.  Dezember. 
Teurer  Meister! 

Ihr  Brief,  der  mir  wieder  in  die  Hand  fällt,  verursacht 
mir  Gewissensbisse,  denn  ich  habe  Ihre  Bestellung 
an  die  Prinzessin  noch  nicht  ausgerichtet. 

Ich  habe  mehrere  Tage  lang  nicht  gewußt,  wo  die 
Prinzessin  war.  Sie  mußte  erst  in  Paris  ein  Unter- 
kommen suchen  und  mich  von  ihrer  Ankunft  benach- 
richtigen. Heute  endlich  erfahre  ich,  daß  sie  in  Saint- 
Gratien  wohnt,  und  ich  werde  wahrscheinlich  Sonntag 
abend  hingehen.  Auf  jeden  Fall  wird  Ihre  Bestellung 
in  der  nächsten  Woche  ausgerichtet  werden. 

140 


Ich  muß  mich  entschuldigen,  denn  ich  habe  seit 
vierzehn  Tagen  keine  freien  zehn  Minuten  gehabt. 
Ich  habe  mich  gegen  die  Wiederaufnahme  von  Ruy 
Blas  wehren  müssen,  das  vor  Aisse  kommen  wollte 
(die  Arbeit  war  hart).  Nun  endlich  fangen  die  Proben 
am  nächsten  Montag  an.  Ich  habe  heute  das  Stück 
den  Schauspielern  vorgelesen  und  morgen  werden  die 
Rollen  verteilt.  Ich  glaube,  daß  es  gut  gehen  wird. 
Ich  lasse  den  Versband  von  Bouilhet  drucken,  zu  dem 
ich  das  Vorwort  umgearbeitet  habe.  Kurz,  ich  bin 
außer   Atem!   Und   traurig!   Traurig  zum   Sterben! 

Wenn  ich  mich  in  eine  Tat  hineinstürzen  muß, 
tue  ich  es  mit  geschlossenen  Augen.  Aber  das  Herz 
zerspringt  mir  vor  Widerwillen.  Das  ist  die  Wahrheit. 

Ich  habe  noch  keinen  von  unsern  Freunden  gesehen, 
außer  Turgenjeff,  den  ich  entzückender  gefunden 
habe  als  je. 

Umarmen  Sie  Aurore  herzlich  um  ihres  reizenden 
Wortes  willen,  und  sie  soll  Ihnen  in  meinem  Namen 
das  gleiche  tun, 

Ihr  Alter. 

Montag  abend,  3.  Februar 
Teurer  Meister! 
Es  sieht  aus,  als  vergäße  ich  Sie  und  wolle  die  Reise 
nach  Nohant  nicht  machen?    Es  ist  nicht  so!    Aber 

141 


seit  einem  Monat  werde  ich  jedesmal,  wenn  ich  Luft 
schöpfe,  wieder  von  der  Grippe  gepackt,  die  bei 
jedem  Rückfall  stärker  wird.  Ich  huste  furchtbar 
und  verbrauche  unzählige  Taschentücher.  Wann 
wird  das  ein  Ende  nehmen? 

Ich  habe  den  Entschluß  gefaßt,  bis  zur  vollständigen 
Wiederherstellung  meine  Schwelle  nicht  mehr  zu 
überschreiten,  und  ich  warte  immer  noch  auf  den 
guten  Willen  der  Mitglieder  der  Kommission  für  das 
Bouilhetdenkmal.  Seit  bald  zwei  Monaten  ist  es  mir 
nicht  möglich,  in  Ronen  sechs  Einwohner  von  Ronen 
zusammenzubringen.  Das  sind  die  Freunde! 
Alles  ist  schwierig,  die  kleinste  Unternehmung  er- 
fordert große  Anstrengungen. 

Ich  studiere  jetzt  Chemie  (von  der  ich  keinen  Deut 
verstehe),  und  den  Mediziner  Raspail,  außerdem  den 
Modernen  Küchengarten  von  Gressent  und  Gasparins 
Ackerbau.  Es  wäre  übrigens  sehr  reizend  von  Mau- 
rice, wenn  er  seine  landwirtschaftlichen  Erinnerungen 
für  mich  sammelte,  damit  ich  weiß,  welche  Fehler 
er  gemacht  hat  und  aus  welchen  Gründen  er  sie  ge- 
macht hat. 

Welche  Auskünfte  habe  ich  für  das  Buch,  das  ich 
schreibe,  nicht  nötig?  Ich  bin  in  diesem  Winter  nach 
Paris  gegangen  in  der  Absicht,  dort  Material  zu 
sammeln;    aber    wenn    mein    entsetzlicher    Katarrh 

142 


nocK  lange  anhält,  wird  mein  Aufenthalt  hier  unnütz 
sein.  Werde  ich  wie  jener  Kanonikus  Poitiers  werden, 
von  dem  Montaigne  spricht,  der  seit  dreißig  Jahren 
sein  Zimmer  nicht  verlassen  hat  wegen  der  ,,Last 
seiner  Melancholie",  und  der  sich  trotzdem  sehr  wohl 
befand,  „abgesehen  von  einer  Erkältung,  die  ihm  auf 
den  Magen  geschlagen  war".  Ich  will  damit  sagen, 
daß  ich  sehr  wenige  Leute  sehe.  Wen  soll  ich  übrigens 
besuchen?     Der    Krieg    hat    Abgründe    aufgerissen. 

Ich  habe  mir  Ihren  Artikel  über  Badinguet  nicht 
verschaffen  können.  Ich  gedenke  ihn  bei  Ihnen  zu 
lesen. 

Was  die  Lektüre  betrifft,  so  habe  ich  soeben  den 
ganzen  widerwärtigen  Joseph  de  Maistre  verschlungen. 
Hat  man  uns  genug  mit  diesem  Mann  gegeißelt? 
Und  die  modernen  Sozialisten  haben  ihn  in  den 
Himmel  gehoben,  angefangen  bei  den  Saint-Simo- 
nisten,  bis  zu  A.  Comte.  Frankreich  ist  autoritäts- 
trunken, was  man  auch  sage.  Einen  guten  Gedanken 
finde  ich  bei  Raspail.  Die  Ärzte  müßten  Beamte 
sein,  damit  sie  die  Leute  zwingen  können  usw. 

Ihr  alter  romantischer  und  liberaler  Esel  umarmt 
Sie  zärtlich. 

Sonntag 
Endlich  habe  ich   einen  Tag  Ruhe,   und  ich  kann 
Ihnen  schreiben.     Aber  ich  habe  Ihnen  soviele  Dinge 

143 


zu  erzählen,  daß  ich  mich  nicht  mehr  zurechtfinde. 
1.  Ihr  Briefchen  vom  4.  Januar,  das  ich  gerade 
am  Morgen  der  Aissepremiere  bekam,  hat  mich  zu 
Tränen  gerührt,  teurer,  gehebter  Meister.  Nur  Sie 
können  solches  Feingefühl  haben. 

Die  Premiere  ist  wundervoll  gewesen,  und  das  war 
alles.  Am  andern  Tage  war  das  Theater  fast  leer. 
Die  Presse  hat  sich  im  allgemeinen  stupid  und  un- 
nobel gezeigt.  Man  hat  mich  beschuldigt,  ich  hätte 
Reklame  machen  wollen  durch  Einschaltung  einer 
Brandrede.  Ich  gelte  als  Roter  (sie!).  Sie  sehen, 
wie  weit  man  gekommen  ist. 

Die  Direktion  des  Odeon  hat  nichts  für  das  Stück 
getan!  Im  Gegenteil.  Am  Tage  der  Premiere  habe 
ich  mit  eigenen  Händen  die  Requisiten  des  ersten 
Aktes  herbeiholen  müssen !  Und  bei  der  dritten  Auf- 
führung habe  ich  die  Statisten  geführt. 

Während  der  ganzen  Zeit  der  Proben  haben  sie  in 
den  Zeitungen  die  Wiederaufnahme  von  Ruy  Blas 
angekündigt  usw.  usw.  Sie  haben  mich  gezwungen, 
„La  Baronne"  totzumachen,  genau  wie  Ruy  Blas 
Aisse  totmachen  wird.  Kurz,  der  Erbe  Bouilhets 
wird  wenig  Geld  verdienen.  Die  Ehre  ist  gerettet, 
das  ist  alles. 

Die  „Letzten  Lieder**  sind  gedruckt.  Sie  be- 
kommen   diesen   Band    gleichzeitig    mit  Aisse    und 

144 


einem  Brief  von  mir  an  den  Stadtrat  von  Rouen. 
Diese  kleine  Ausgeburt  ist  dem  Nouvelliste  in  Rouen 
so  kräftig  erschienen,  daß  er  sie  nicht  zu  drucken 
gewagt  hat,  aber  sie  wird  Mittwoch  im  Temps  er- 
scheinen und  dann  in  Rouen  als  Broschüre. 

Was  für  ein  närrisches  Leben  habe  ich  seit  zwei- 
einhalb Monaten  geführt!  Daß  ich  daran  nicht 
zugrunde  gegangen  bin!  Meine  längsten  Nächte 
haben  nicht  länger  als  fünf  Stunden  gedauert.  Was 
für  Laufereien!  Was  für  Briefe!  Und  wieviel  Wut  — 
zurückgedrängte,  unglücklicherweise.  Endlich  seit 
drei  Tagen  schlafe  ich  mich  satt,  und  ich  bin  ganz 
stumpfsinnig  davon! 

Ich  habe  mit  Dumas  der  Premiere  von  Roi  Carotte 
beigewohnt.  Man  kann  sich  einen  solchen  Dreck  nicht 
vorstellen!  Es  ist  dummer  und  hohler  als  die  schlech- 
teste von  Clairvilles  Zauberpossen.  Das  Publikum 
ist  vollkommen  meiner  Meinung  gewesen. 

Der  gute  Offenbach  hat  in  der  komischen  Oper 
mit  Phantasie  ein  zweites  Fiasko  gehabt.  Sollte  man 
anfangen,  das  Geschwätz  zu  hassen?  Das  wäre  ein 
hübscher  Fortschritt  auf  dem  Wege  des  Guten! 

Turgenjeff  ist  seit  Anfang  Dezember  in  Paris.  Jede 
Woche  verabreden  wir  ein  Zusammensein,  um  den 
Heiligen  Antonius  zu  lesen  und  zusammen  zu  essen. 
Aber  es  kommt  immer  etwas  dazwischen  und  wir 


10 


145 


sehen  uns  nicht.  Mich  macht  das  Dasein  mehr  als  je 
marode  und  ich  bin  angewidert  von  allem,  was  nicht 
ausschließt,  daß  ich  mich  niemals  gesunder  gefühlt 
habe.    Erklären  Sie  mir  das. 


Sie  bekommen  sehr  bald:  Letzte  Lieder,  Aiss6  und 
meinen  Brief  an  den  Stadtrat  von  Rouen,  der  morgen 
im  Temps  erscheinen  wird,  bevor  er  als  Broschüre 
herauskommt. 

Ich  habe  vergessen,  Sie  von  etwas  in  Kenntnis 
zu  setzen,  teurer  Meister.  Daß  ich  nämlich  Ihren 
Namen  mißbraucht  habe.  Ich  habe  Sie  kompro- 
mittiert, indem  ich  Sie  unter  den  Berühmtheiten 
genannt  habe,  die  für  das  Bouilhetdenkmal  subskri- 
biert haben.  Ich  fand,  es  machte  sich  gut.  Da  eine 
stilistische  Wirkung  etwas  Heiliges  ist,  werden  Sie 
es  nicht  dementieren. 

Heute  habe  ich  mich  wieder  an  meine  metaphy- 
sische Lektüre  für  den  Heiligen  Antonius  gemacht. 
Am  nächsten  Sonnabend  lese  ich  dreihundert  Seiten, 
alles  was  fertig  ist,  Turgenjeff  vor.  Warum  sind  Sie 
nicht  da! 

Ich  umarme  Sie.  Ihr  Alter. 

146 


Lieber,  teurer  Meister! 
Können  Sie  für  den  Temps  einen  Artikel  über  Letzte 
Lieder  schreiben?     Ich  würde   Ihnen  sehr  dankbar 
sein. 

Ich  bin  die  ganze  letzte  Woche  krank  gewesen. 
Mein  Hak  war  in  einem  schauerlichen  Zustand. 
Aber  ich  habe  viel  geschlafen  und  bin  jetzt  wieder 
in  Ordnung.  Ich  habe  meine  Studien  für  den  Heiligen 
Antonius  wieder  aufgenommen. 

Mir  scheint,  daß  die  Letzten  Lieder  Stoff  zu  einem 
feinen  Artikel  geben  können,  zu  einer  Leichenrede 
der  Poesie.  Sie  wird  nicht  zugrunde  gehen,  aber 
die  Verfinsterung  wird  lang  sein  und  Dunkelheit 
umgibt  uns. 

Fragen  Sie  Ihr  Herz  und  antworten  Sie  mir  mit 
einer  Zeile. 

...  i8y2 
Nein!  Teurer  Meister,  das  ist  nicht  wahr.  Bouilhet 
hat  niemals  die  Bürger  von  Rouen  verletzt;  kein 
Mensch  war  sanfter  gegen  sie,  ich  sage  sogar  zaghafter, 
um  die  ganze  Wahrheit  auszudrücken.  Was  mich 
betrifft,  so  habe  ich  mich  isoliert.  Das  ist  mein  ganzes 
Verbrechen. 

Ich  finde  gerade  heute  zufällig  in  den  „Memoiren 
des  Riesen"  von  Nadar  einen  Absatz  über  mich  und 


10* 


147 


die  Leute  von  Rouen,  der  äußerst  richtig  ist.  Da  Sie 
dies  Buch  ja  besitzen,  schlagen  Sie  bitte  Seite  100 
nach. 

Wenn  ich  geschwiegen  hätte,  so  hätte  man  mich 
einen  Feigling  genannt.  Ich  habe  unumwunden,  das 
heißt  brutal,  protestiert.  Und  ich  habe  recht  getan. 

Ich  glaube,  man  darf  nie  den  Angriff  eröffnen, 
pariert  man  aber,  so  muß  man  versuchen,  seinen 
Gegner  glatt  zu  töten.  Das  ist  mein  System.  Die 
Ehrlichkeit  ist  ein  Teil  der  Rechtschaffenheit;  weshalb 
sollte  sie  im  Tadel  weniger  absolut  sein  als  im  Lob? 

Wir  gehen  zugrunde  durch  die  Nachsicht,  die  Milde, 
die  Schlappheit  und  (ich  komme  auf  meinen  ewigen 
Refrain  zurück)  durch  den  Mangel  an  Gerechtigkeit. 

Ich  habe  übrigens  niemanden  beleidigt,  ich  habe 
mich  an  Allgemeinheiten  gehalten,  —  was  Herrn 
Decorde  betrifft,  so  kämpfe  ich  mit  ehrlichen  Mitteln  ; 
aber  genug  hiervon! 

Ich  habe  gestern  einen  hübschen  Tag  mit  Tur- 
genjeff  verbracht,  dem  ich  die  1 1 5  Seiten  vom  Heiligen 
Antonius,  die  geschrieben  sind,  vorgelesen  habe.  Dar- 
auf habe  ich  ihm  fast  die  Hälfte  von  den  Letzten 
Liedern  vorgelesen.  Welch  ein  Zuhörer!  Und  welch 
ein  Kritiker!  Er  hat  mich  durch  die  Tiefe  und  Klar- 
heit seines  Urteils  geblendet.  O,  wenn  doch  alle,  die 
sich  damit  befassen,  über  Bücher  zu  urteilen,  ihn 

148 


hätten  hören  können,  das  wäre  eine  Lehre  gewesen! 
Nichts  entgeht  ihm.  Am  Ende  eines  Gedichtes 
von  hundert  Zeilen  erinnert  er  sich  eines  schwachen 
Beiworts!  Er  hat  mir  für  den  Heiligen  Antonius 
zwei  oder  drei  ausgezeichnete  Ratschläge  in  bezug 
auf  Einzelheiten  gegeben. 

Sie  halten  mich  also  für  sehr  dumm,  da  Sie  glauben, 
daß  ich  Sie  wegen  Ihres  ABC-Buchs  tadeln  werde. 
Main  Geist  ist  philosophisch  genug,  um  zu  wissen, 
daß  eine  solche  Sache  ein  sehr  ernsthaftes  Werk  ist. 

Die  Methode  ist  das  Höchste  in  der  Kritik,  da  sie 
das  Mittel  zum  Schaffen  gibt. 

. . .  i8jz 
Wie  lange  ist  es  her,  daß  ich  Ihnen  nicht  geschrieben 
habe,  teurer  Meister?  Ich  habe  Ihnen  soviel  zu  er- 
zählen, daß  ich  nicht  weiß,  wo  anfangen.  Aber  wie 
töricht  ist  es,  so  getrennt  zu  leben,  wenn  man  sich 
liebt. 

Haben  Sie  Paris  auf  ewig  Lebewohl  gesagt?  Werde 
ich  Sie  nie  mehr  da  sehen?  Werden  Sie  diesen  Som- 
mer nach  Croisset  kommen,  um  den  Heiligen  Antonius 
zu  hören? 

Ich  kann  nicht  nach  Nohant  kommen,  weil  meine 
Zeit,  in  Anbetracht  der  Kleinheit  meines  Geldbeutels, 
bemessen  ist:  ich  habe  aber  noch  gut  einen  Monat 

149 


in  Paris  zu  lesen  und  zu  studieren.  Dann  gehe  ich  mit 
meiner  Mutter  fort.  Wir  sind  auf  der  Suche  nach 
einer  Gesellschaftsdame.  Sie  ist  nicht  leicht  zu 
finden.  Ich  werde  also  gegen  Ostern  wieder  in  Croisset 
sein  und  werde  mich  wieder  ans  Manuskript  setzen. 
Ich  bekomme  allmählich  Lust  zum  Schreiben. 

Augenblicklich  lese  ich  abends  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  von  Kant  in  Barnis  Übersetzung, 
und  ich  gehe  meinen  Spinoza  wieder  durch.  Am 
Tage  unterhalte  ich  mich  damit,  Schriften  über  Tier- 
bändigungen im  Mittelalter  durchzublättern;  in  den 
„Autoren"  das  Barockste  zu  suchen,  was  es  an  Tieren 
gab.   Ich  lebe  mitten  unter  phantastischen  Ungeheuern. 

Wenn  ich  den  Stoff  annähernd  erschöpft  habe, 
werde  ich  ins  Museum  gehen,  um  vor  den  wirklichen 
Ungeheuern  zu  verweilen,  und  dann  sind  die  Studien 
für    den    guten     Heiligen     Antonius    abgeschlossen. 

Sie  haben  in  Ihrem  vorletzten  Brief  mir  Ihre  Be- 
sorgnis wegen  meiner  Gesundheit  ausgesprochen 
beruhigen  Sie  sich!  Ich  bin  niemals  überzeugter 
gewesen,  daß  sie  robust  I^t.  Das  Leben,  das  ich  diesen 
Winter  geführt  habe,  war  angetan,  drei  Rhinozerosse 
zu  töten,  was  nicht  ausschließt,  daß  es  mir  gut  geht 
Die  Scheide  muß  gut  sein,  denn  die  Klinge  ist  sein 
scharf;  aber  alles  verkehrt  sich  in  Traurigkeit.  Jedes 
Handeln  macht  mir  das  Dasein  unerträglich !   Ich  habe 

150 


Ihren  Rat  befolgt,  ich  habe  mich  zerstreut!  Aber 
das  amüsiert  mich  nur  mittelmäßig.  Entschieden 
interessiert  mich  lediglich  die  hochheilige  Literatur. 

Mein  Vorwort  zu  den  Letzten  Liedern  hat  bei 
Frau  Colet  eine  pindarische  Wut  erregt.  Ich  habe 
einen  anonymen  Brief  in  Versen  von  ihr  bekommen, 
in  welchem  sie  mich  als  einen  Scharlatan  hinstellt, 
der  auf  dem  Grabe  seines  Freundes  die  große  Trommel 
schlägt,  als  einen  Plattfuß,  der  sich  der  Kritik  gegen- 
über schändlich  benimmt,  nachdem  er  „Cäsar  ge- 
schmeichelt" hat.  Trauriges  Beispiel  der  Leiden- 
schaften, wie  Prudhomme  sagen  würde. 

Bei  Cäsar  fällt  mir  ein:  ich  kann  nicht  an  seine 
bevorstehende  Rückkehr  glauben,  was  man  auch 
sagen  mag.  Soweit  sind  wir  noch  nicht,  trotz  meinem 
Pessimismus!  Freilich,  wenn  man  den  Gott,  genannt 
Allgemeines  Wahlrecht,  befragte,  wer  weiß?  . . .  Ach, 
wir  sind  sehr  herabgekommen,   sehr! 

Ich  habe  Ruy  Blas  in  elender  Darstellung  gesehen, 
abgesehen  von  Sarah.  Melingue  ist  ein  somnambuler 
Latrinenkehrer  und  die  andern  sind  auch  langweilig. 
Da  Victor  Hugo  sich  freundschaftlich  darüber  beklagt 
hat,  daß  ich  ihm  keinen  Besuch  gemacht  habe,  so  habe 
ich  geglaubt,  ihm  einen  machen  zu  müssen,  und  ich 
habe  ihn  . . .  reizend  gefunden !  Ich  wiederhole  das 
Wort,  ganz  und  gar  nicht  der  große  Mann,  ganz  und 

151 


gar  nicht  Papst!  Diese  Entdeckung,  die  mich  sehr 
überrascht,  hat  mir  sehr  wohl  getan.  Denn  ich  neige 
zur  Verehrung  und  ich  liebe  gern,  was  ich  bewundere. 
Das  ist  eine  persönliche  Anspielung  auf  Sie,  lieber, 
teurer  Meister! 

Ich  habe  Frau  Viardots  Bekanntschaft  gemacht; 
ich  finde,  sie  ist  eine  merkwürdige  Natur.  Turgenjeff 
hat  mich  bei  ihr  eingeführt. 

Umarmen  Sie  Ihre  Enkelinnen  in  meinem  Namen; 
Ihnen  selbst  meine  besten,  meine  innigsten  Grüße. 

Teurer  Meister! 

Ich  habe  die  phantastischen  Zeichnungen  bekommen, 
die  mich  belustigt  haben.  Vielleicht  ist  in  der  Zeich- 
nung von  Maurice  ein  tiefes  Symbol  verborgen? 
Aber  ich  habe  es  nicht  herausgefunden  . . .  Träume- 
rei I 

Zwei  der  Ungeheuer  sind  sehr  hübsch:  1.  ein 
Fötus  in  Ballonform  und  mit  vier  Beinen;  2.  ein 
Totenkopf  auf  einem  Bandwurm. 

Wir  haben  noch  keine  Gesellschaftsdame  gefunden. 
Es  erscheint  mir  schwierig.  Wir  brauchen  eine  Dame, 
die  vorlesen  kann  und  sehr  sanft  ist;  sie  müßte  sich 
auch  etwas  um  den  Haushalt  kümmern.  Diese  Dame 
hätte  mit  der  körperlichen  Pflege  meiner  Mutter  nicht 

152 


viel  zu  tun,  da  meine  Mutter  ihre  Kammerfrau  be- 
halten würde. 

Wir  brauchen  vor  allem  einen  sehr  liebenswürdigen 
und  vollkommen  rechtschaffenen  Menschen.  Religiöse 
Grundsätze  sind  nicht  erforderlich!  Das  übrige 
sei  Ihrem  Scharfblick  überlassen,  teurer  Meister. 
Das  wäre  alles. 

Ich  bin  um  Theo  besorgt.  Ich  finde,  daß  er  merk- 
würdig alt  wird. 

Er  muß  sehr  krank  sein,  zweifellos  ein  Herzleiden? 
Wieder  einer,  der  sich  anschickt,  mich  zu  verlassen. 

Nein!  Die  Literatur  ist  nicht  dasjenige,  was  ich 
in  der  Welt  am  meisten  liebe,  ich  habe  mich  schlecht 
ausgedrückt  (in  meinem  letzten  Brief).  Ich  sprach 
von  Zerstreuungen  und  von  nichts  weiter.  Ich  bin 
kein  solcher  Pedant,  daß  ich  Worte  lebenden  Wesen 
vorziehe.  Je  älter  ich  werde,  desto  größer  wird  meine 
Empfindsamkeit.  Aber  der  Kern  ist  solid  und  die 
Maschine  bleibt  im  Gang.  Und  dann  gibt  es  nach 
dem  preußischen  Krieg  ja  kaum  noch  etwas  Auf- 
regendes. 

Und  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  dem  be- 
sagten Kant,  die  von  Bami  übersetzt  ist,  ist  eine 
schwerere  Lektüre  als  das  ,, Pariser  Leben"  von 
Marcelin:  gleichviel!  Ich  werde  sie  schließlich  doch 
verstehen ! 

153 


Ich  habe  den  Entwurf  des  letzten  Teils  vom  Heiligen 
Antonius  fast  fertig.  Ich  habe  es  eilig,  wieder  ans 
Schreiben  zu  kommen.  Ich  habe  zu  lange  nicht 
geschrieben.    Der  Stil  langweilt  mich  jetzt. 

Und  Sie,  lieber,  teurer  Meister!  Geben  Sie  mir 
sofort  Nachricht  über  Maurice  und  sagen  Sie  mir, 
ob  Sie  denken,  daß  die  Ihnen  bekannte  Dame  für  uns 
paßt. 

Und  sonst  umarme  ich  Sie  alle  von  ganzem  Herzen. 

Ihr  alter  Troubadour,  der  stets  in  Aufregung,  stets 
in  Empörung  ist  wie  der  Heilige  Polycarp. 

...  1872 

Ich  bin  gestern  hier  angekommen,  lieber,  teurer 
Meister,  und  wenig  fröhlich;  meine  Mutter  macht 
mir  Sorge.  Ihr  Verfall  schreitet  von  Tag  zu  Tag 
und  fast  von  Stunde  zu  Stunde  fort.  Sie  wollte  wieder 
nach  Hause,  obwohl  die  Maler  noch  bei  der  Arbeit 
waren,  und  wir  sind  sehr  schlecht  untergebracht. 
Ende  der  nächsten  Woche  wird  sie  eine  Gesell- 
schafterin bekommen,  die  mir  meine  dummen  haus- 
lichen Beschäftigungen  erleichtern  v^rd. 

Ich  habe  vor  zehn  Tagen  eine  heftige  Auseinander- 
setzung mit  meinem  Verleger  gehabt. 

Es  war  gelegentlich  der  Letzten  Lieder.  Wissen 
Sie,  was  Aisse  und  die  Letzten  Lieder  dem  Erben 

154 


Bouilhets  eingebracht  haben?  Nun  die  Abrechnung 
vorHegt,  hat  er  vierhundert  Franken  zu  zahlen.  Ich 
will  Sie  mit  den  Einzelheiten  verschonen,  aber  es  ist 
so.  So  belohnt  sich  die  Tugend.  Wenn  sie  belohnt 
würde,  wäre  sie  nicht  die  Tugend. 

Jedenfalls  hat  mich  diese  letzte  Geschichte  mit- 
genommen wie  ein  zu  starker  Aderlaß.  Es  ist  demüti- 
gend zu  sehen,  daß  man  keinen  Erfolg  hat,  und  wenn 
man  sein  ganzes  Herz,  seinen  Geist,  seine  Nerven, 
seine  Muskeln  und  seine  Zeit  eingesetzt  hat,  fällt  man 
zerschmettert  zu  Boden. 

Mein  armer  Bouilhet  hat  gut  daran  getan,  zu  sterben, 
die  Zeit  ist  nicht  hold. 

Ich  meinerseits  bin  entschlossen,  von  jetzt  an 
jahrelang  die  Pressen  nicht  mehr  in  Bewegung  zu 
setzen,  einzig  aus  dem  Grunde,  um  nicht  solche 
„Affären**  zu  haben,  um  jede  Beziehung  zu  Buch- 
druckern, Verlegern  und  Zeitungen  zu  vermeiden, 
und  besonders,  um  nichts  von  Geld  zu  hören. 

Meine  Unfähigkeit  in  dieser  Richtung  nimmt 
erschreckende  Dimensionen  an.  Warum  versetzt 
mich  der  Anblick  einer  Rechnung  in  Wut?  Das  grenzt 
an  Wahnsinn.  Aisse  hat  kein  Geld  gebracht.  Die 
Letzten  Lieder  hätten  mir  beinah  einen  Prozeß  an 
den  Hals  geschafft.   Die  Geschichte  mit  dem  Denkmal 

155 


ist  nicht  zu  Ende.    Ich  bin  müde,  in  tiefster  Seele 
müde  all  dieser  Dinge. 

Vorausgesetzt,  daß  ich  nicht  auch  den  Heiligen 
Antonius  vernichte,  will  ich  mich  in  etwa  acht  Tagen 
wieder  daran  machen,  wenn  ich  mit  Kant  und  Hegel 
fertig  bin.  Diese  beiden  großen  Männer  tragen  dazu 
bei,  mich  zu  verdummen,  und  wenn  ich  ihre  Gesell- 
schaft verlasse,  stürze  ich  mich  mit  Heißhunger  auf 
meinen  alten  und  dreimal  großen  Spinoza.  Welch 
ein  Genie,  welch  ein  Werk  ist  die  Ethik! 

Dienstag,  i6.  April  i8j2 

Lieber,  guter  Meister! 
Ich  hätte  sofort  auf  Ihren  ersten  so  lieben  Brief  ant- 
worten müssen!   Aber  ich  war  zu  traurig.   Mir  fehlte 
die  physische  Kraft.    [Die  Mutter  war  am  6.  April 
gestorben.] 

Heute  endlich  höre  ich  wieder  die  Vögel  singen 
und  sehe  die  Blätter  grün  werden.  Die  Sonne  stört 
mich  nicht  mehr,  was  ein  gutes  Zeichen  ist.  Wenn 
ich  wieder  Geschmack  an  der  Arbeit  finden  könnte, 
wäre  ich  gerettet. 

Ihr  zweiter  Brief  (der  von  gestern),  hat  mich  zu 
Tränen  gerührt!  Wie  sind  Sie  gut!  Was  für  ein 
wundervolles  Geschöpf  sind  Sie!  Ich  habe  augen- 
blicklich  kein   Geld   nötig,   danke.    Aber  wenn   ich 

156 


welches  brauchte,  würde  ich  es  wohl  von  Ihnen  er- 
bitten. 

Meine  Mutter  hat  Croisset  Caroline  vermacht, 
unter  der  Bedingung,  daß  ich  meine  Wohnung  dort 
behalte.  Also  bleibe  ich  bis  zur  völligen  Regelung 
des  Nachlasses  hier.  Bevor  ich  mich  wegen  der 
Zukunft  entscheide,  muß  ich  wissen,  was  ich  zu  leben 
haben  werde,  dann  werden  wir  sehen. 

Werde  ich  die  Kraft  haben,  so  ganz  allein  in  der 
Einsamkeit  zu  leben?  Ich  bezweifle  es.  Ich  werde 
alt.  Caroline  kann  jetzt  nicht  hier  wohnen.  Sie  hat 
schon  zwei  Wohnungen,  und  das  Haus  in  Croisset 
ist  kostspielig. 

Ich  glaube,  daß  ich  die  Wohnung  in  Paris  aufgeben 
werde.  Nichts  zieht  mich  mehr  nach  Paris.  Alle 
meine  Freunde  sind  tot,  und  der  letzte,  der  arme 
Th^o,  macht  es  nicht  mehr  lange,  fürchte  ich.  Ach, 
es  ist  hart,  mit  fünfzig  Jahren  eine  neue  Haut  anziehen 
zu  müssen! 

Ich  habe  in  diesen  vierzehn  Tagen  gemerkt,  daß 
meine  arme  gute  Mama  das  Wesen  war,  das  ich  am 
meisten  geliebt  habe.  Mir  ist,  als  hätte  man  mir 
einen  Teil  der  EÜngeweide  ausgerissen. 


157 


Welch  eine  gute  Nachricht,  teurer  Meister!  In 
einem  Monat  und  sogar  noch  früher  werde  ich  Sie 
endlich  sehen! 

Richten  Sie  es  so  ein,  daß  Sie  in  Paris  nicht  gar 
zu  beschäftigt  sind,  damit  wir  Zeit  zum  Plaudern 
haben.  Sehr  reizend  wäre  es,  wenn  Sie  auf  einige 
Tage  mit  mir  hierher  kämen.  Wir  würden  hier  mehr 
Ruhe  haben  als  dort.  Meine  arme  alte  Dame  hat  Sie 
sehr  geliebt.  Wie  gern  hätte  ich  Sie  zusammen  ge- 
sehen, und  sie  ist  erst  so  kurze  Zeit  fort.  | 

Ich  habe  mich  wieder  an  die  Arbeit  gemacht,  denn 
das  Dasein  ist  nur  erträglich,  wenn  man  seine  elende 
Persönlichkeit  vergißt. 

Es  wird  noch  lange  dauern,  bis  ich  weiß,  was  ich 
zum  Leben  haben  werde.  Das  ganze  Vermögen,  das 
wir  erben,  steckt  in  Grundstücken,  und  um  die  Teilung 
vornehmen    zu   können,    muß    man    alles   verkaufen. 

Wie  es  auch  kommt,  meine  Behausung  in  Croisset 
werde  ich  behalten.  Das  wird  meine  Zuflucht  sein, 
und  vielleicht  sogar  meine  einzige  Wohnung.  Paris 
lockt  mich  kaum  noch.  In  einiger  Zeit  werde  ich  dort 
keine  Freunde  mehr  haben.  Die  menschliche  Kreatur 
(einbegriffen  das  ewig  Weibliche),  amüsiert  mich 
immer  weniger  und  weniger. 

Wissen  Sie,  daß  mein  armer  Theo  sehr  krank  ist? 
Er  stirbt  vor  Langeweile  und  Elend!  Niemand  spricht 

158 


mehr  seine  Sprache  I  Wir  sind  wie  ein  paar  Fossilien, 
die  sich  in  eine  neue  Welt  verirrt  haben  und  ihr  Leben 
fristen. 

Teurer  Meister! 
Strohkopf  hätte  Ihnen  eher  für  die  Übersendung 
Ihres  letzten  Buches  danken  müssen,  aber  der  Ehr- 
würdige arbeitet  wie  18  000  Neger,  das  ist  seine  Ent- 
schuldigung. Was  ihn  nicht  hindert,  „Eindrücke  und 
Erinnerungen**  gelesen  zu  haben.  Ich  kannte  einen 
Teil  davon,  den  ich  im  Temps  gelesen  hatte. 

Das  folgende  war  für  mich  neu  und  hat  mich  er- 
staunt: 1.  das  erste  Fragment;  2.  das  zweite,  worin 
ein  entzückender  und  richtiger  Abschnitt  über  die 
Kaiserin  ist.  Wie  wahr  ist  das,  was  Sie  über  den 
Proletarier  sagen!  Hoffen  wir,  daß  seine  Herrschaft 
vorübergehen  wird  wie  die  des  Bürgers  und  aus  den 
gleichen  Gründen,  zur  Strafe  für  die  gleiche  Dummheit 
und  einen  ähnlichen  Egoismus. 

Die  , .Antwort  an  einen  Freund"  ist  mir  bekannt, 
da  sie  ja  an  mich  gerichtet  war. 

Das  „Gespräch  mit  Delacroix"  ist  lehrreich;  zwei 
merkwürdige  Abschnitte  über  das,  was  er  über  den 
alten  Ingres  dachte. 

Über  die  Interpunktion  bin  ich  nicht  ganz  Ihrer 
Meinung;    das    heißt    ich   huldige   darin    der    Über- 

159 


treibung,  die  Sie  ärgert;  und  es  fehlt  mir  natürlich 
nicht  an  guten  Gründen,  sie  zu  verteidigen. 

„Ich  zünde  den  Reisighaufen  an"  usw.,  dies  ganze 
lange  Stück  hat  mich  bezaubert. 

In  den  „Gedanken  eines  Schulmeisters"  bewundere 
ich  Ihren  pädagogischen  Geist,  teurer  Meister,  es 
stehen  sehr  hübsche  Fibelsätze  drin. 

Haben  Sie  Dank  für  das,  was  Sie  über  meinen  armen 
Bouilhet  sagen. 

Ihren  „Peter  Bonin"  finde  ich  anbetungswürdig. 
Ich  habe  solche  Menschen  gekannt,  und  da  diese 
Abschnitte  ja  Turgenjeff  gewidmet  sind,  so  will  ich 
Sie  bei  dieser  Gelegenheit  fragen:  Haben  Sie  „Die 
Verlassene"  gelesen.  Ich  finde  das  einfach  erhaben. 
Dieser  Scythe  ist  ein  ungeheurer  Mensch. 

Ich  lebe  augenblicklich  nicht  in  so  hoher  Literatur. 
Weit  gefehlt !  Ich  behaue  und  bearbeite  das  Schwache 
Geschlecht.  In  acht  Tagen  habe  ich  den  ersten  Akt 
geschrieben.  Meine  Tage  sind  allerdings  lang.  Ich 
habe  in  der  letzten  Woche  einen  achtzehnstündigen 
gehabt.und  Strohkopf  ist  frisch  wie  ein  jungesMädchen, 
gar  nicht  müde,  ohne  Kopfschmerz.  Kurz,  ich  glaube, 
daß  ich  in  drei  Wochen  diese  Arbeit  hinter  mir  haben 
werde!    Dann  wie  Gott  will! 

Es  wäre  amüsant,  wenn  Carvalhos  Bizarrerie  von 
Erfolg  gekrönt  wäre. 

160 


Ich  fürchte,  Maurice  wird  die  getrüffelte  Pute 
verlieren,  denn  ich  habe  Lust,  die  drei  christlichen 
Kardinaltugenden  durch  das  Antlitz  Christi  zu  er- 
setzen, das  in  der  Sonne  erscheint.  Was  meinen  Sie 
dazu?  Wenn  diese  Verbesserung  gemacht  ist  und  ich 
das  Blutbad  von  Alexandria  verstärkt  und  den  Symbo- 
lismus der  phantastischen  Tiere  deutlicher  gemacht 
habe,  ist  der  Heilige  Antonius  unwiderruflich  fertig 
und  ich  werde  mich  an  meine  beiden  Biedermänner 
[Bouvard  und  Pecuchet]  machen,  die  ich  wegen  der 
Komödie  beiseite  geschoben  habe. 

Wie  häßlich  ist  die  bühnenmäßige  Schreibart. 
An  Ellipsen,  Gedankenstrichen,  Fragen  und  Wieder- 
holungen darf  man  nicht  sparen,  wenn  man  will, 
daß  Bewegung  hineinkommt,  und  das  ist  an  sich  alles 
sehr  häßlich. 

Ich  täusche  mich  vielleicht,  aber  ich  glaube  jetzt 
etwas  sehr  Rasches  und  leicht  Spielbares  zu  machen. 
Wir  werden  sehen! 

Leben  Sie  wohl,  teurer  Meister,  umarmen  Sie  die 
Ihren  in  meinem  Namen. 

Ihr  alter  Strohkopf- Invalide,  Dudelsacks  Freund. 

Beachten  Sie  den  Namen.  Das  ist  eine  gigantische 
Geschichte,  bei  der  man  sich  aber,  wenn  man  sie 
ordentlich  erzählen  will,  rekeln  muß. 

161 


.  .  .     IH-J2 

Könnte   ich    Ihnen    viele   Stunden   schenken,   teurer 
Meister!    All  meine  Stunden,  jetzt,  bald  und  immer 

Ich  wollte  Ende  der  nächsten  Woche  nach  Paris 
gehen,  am  14.  oder  16.  Werden  Sie  dann  noch  dort 
sein?  Wenn  nicht,  werde  ich  meine  Abreise  beschleu- 
nigen. 

Aber  ich  möchte  viel  lieber,  daß  Sie  hierher  kämen. 
Wir  würden  mehr  Ruhe  haben,  ohne  Besuche  und 
Störungen !  Mehr  als  je  möchte  ich  Sie  jetzt  in  meinem 
armen  Croisset  haben. 

Ich  habe  das  Gefühl,  daß  wir  mindestens  vicrund- 
zwanzig  Stunden  lang  ununterbrochen  zu  reden  haben 
werden.  Dann  würde  ich  Ihnen  den  Heiligen  An- 
tonius vorlesen,  an  dem  nur  noch  etwa  fünfzehn  Seiten 
fehlen,  dann  ist  er  fertig.  Kommen  Sie  aber  nicht, 
wenn  Ihr  Husten  noch  anhält,  ich  fürchte,  daß  Ihnen 
die  Feuchtigkeit  schaden  könnte. 

Der  Bürgermeister  von  Vendome  hat  mich  eingela- 
den, die  Enthüllung  der  Statue  Ronsards,  die  am 
23.  dieses  Monats  stattfinden  wird,  mit  „meiner 
Gegenwart  zu  beehren";  ich  werde  hinfahren.  Und 
ich  möchte  dort  sogar  eine  Rede  halten,  die  ein  Protest 
gegen  dies  moderne  allgemeine  Dummkopftum  wäre 
Der  Vorwand  ist  gut.  Aber  um  einen  wirklich  guten 
Artikel  zu  schreiben,  fehlen  mir  Kraft  und  Stimmung 

162 


Auf  bald,  teurer  Meister.  Ihr  alter  Troubadour 
umarmt  Sie. 

Bagneres-de-Luchon,  12.  Juli 

Nun  bin  ich  seit  Sonntag  abend  hier,  teurer  Meiste^, 
und  bin  nicht  heiterer  als  in  Croisset,  etwas  weniger 
sogar,  denn  ich  bin  sehr  untätig.  Man  macht  soviel 
Lärm  in  dem  Hause,  in  dem  wir  wohnen,  daß  es  un- 
möglich ist,  da  zu  arbeiten.  Der  Anblick  der  Spieß- 
bürger, die  uns  umgeben,  ist  mir  übrigens  uner- 
träglich. Ich  bin  nicht  zum  Reisen  geschaffen.  Die 
geringste  Störung  ist  mir  lästig.  Ihr  alter  Troubadour 
ist  entschieden  recht  alt  geworden !  Doktor  Lambron, 
der  hiesige  Arzt,  schiebt  meine  nervöse  Reizbarkeit 
auf  übermäßigen  Tabakgenuß.  Aus  Folgsamkeit 
will  ich  weniger  rauchen;  aber  ich  bezweifle  sehr, 
daß  meine  Vernunft  mich  heilen  wird. 

Ich  habe  soeben  Dickens  Pickwickier  gelesen.  Ken- 
nen Sie  die?  Das  Buch  hat  prachtvolle  Stellen;  aber 
was  für  eine  mangelhafte  Komposition!  Das  ist  bei 
allen  englischen  Schriftstellern  so.  Walter  Scott  aus- 
genommen, fehlt  es  ihnen  an  Planmäßigkeit.  Das  ist 
unerträglich  für  uns  Romanen. 

Herr  ***  ist,  wie  es  scheint,  tatsächlich  ernannt. 
Alle  Leute,  die  mit  dem  Odeon  zu  tun  haben,  bei 
Ihnen  angefangen,  teurer  Meister,  werden  bereuen. 


IV 


163 


ihn  unterstützt  zu  haben.  Ich,  der  ich  Gott  sei  Dank 
nichts  mehr  mit  diesem  Institut  zu  tun  habe,  schere 
mich  den  Teufel  darum. 

Da  ich  einen  Schmöker  (Bouvard  und  Pecuchet) 
beginnen  will,  der  umfangreiche  Vorstudien  erfordert 
und  ich  mich  nicht  durch  Bücher  ruinieren  will,  so 
frage  ich  Sie,  ob  Sie  in  Paris  irgendeinen  Buchhändler 
Jcennen,  der  mir  alle  Bücher,  die  ich  ihm  bezeichne, 
leihweise  überlassen  würde? 

Was  machen  Sie  jetzt?  Wir  haben  uns  das  letzte 
Mal   wenig  und  flüchtig  gesehen. 

Dieser  Brief  ist  stumpfsinnig.  Aber  man  macht 
soviel  Lärm  über  meinem  Kopf,  daß  er  mir  brummt 
(der  Kopf). 

Trotz  meiner  Betäubung  umarme  ich  Sie,  ebenso 
die  Ihren.    Ihr  alter  Esel,  der  Sie  liebt. 


Croisset,  Donnerstag 
Teurer  Meister! 
In  dem  Brief,  den  ich  vor  einem  Monat  in  Luchon 
von  Ihnen  bekommen  habe,  sagten  Sie  mir,  daß  Sie 
Ihr  Bündel  schnürten,  und  das  war  alles.  Keine 
Nachrichten  weiter!  „Ich  habe  mir  erzählen  lassen", 
wie  der  gute  Brantome  sagen  würde,  daß  Sie  in  Ca- 
bourg  waren!    Wann  kommen  Sie  von  dort  zurück? 

164 


Wo   werden   Sie  dann   hingehen?    Nach  Paris   oder 
nach  Nohant?    Problem! 

Was  mich  betrifft,  so  verlasse  ich  Croisset  nicht 
vor  dem  20.  oder  25.  September.  Ich  muß  in  meinen 
Angelegenheiten  einige  Streif  züge  machen.  Ich 
komme  auch  durch  Paris.  Schreiben  Sie  mir  also 
nach  der  Rue  Murillo. 

Ich  möchte  Sie  so  gern  sehen :  I .  um  Sie  zu  sehen; 
2.  um  Ihnen  den  Heiligen  Antonius  vorzulesen,  dann 
um  Ihnen  von  einem  anderen  wichtigeren  Buche  zu 
sprechen  usw.  usw.  und  um  über  tausend  andere 
Dinge    eingehend    unter    vier    Augen    zu    plaudern. 

Montag  nacht,  Oktober  i8y2 
Sie  haben  erraten,  teurer  Meister,  daß  mein  Kummer 
sich  verdoppelt  hat,  und  Sie  haben  mir  einen  guten, 
zärtlichen  Brief   geschrieben,   ich   danke    Ihnen,   und 
ich  umarme  Sie  noch  inniger  als  gewöhnlich. 

Obgleich  ich  den  Tod  des  armen  Theo  voraus- 
gesehen habe,  hat  er  mich  erschüttert.  Nun  ist  der 
letzte  von  meinen  intimen  Freunden  dahingegangen. 
Er  schließt  die  Liste.  Wen  werde  ich  jetzt  sehen, 
wenn  ich  nach  Paris  komme?  Mit  wem  über  die 
Dinge  plaudern,  die  mich  interessieren?  Ich  kenne 
Denker  (wenigstens  Leute,  die  man  so  nennt),  aber 
wo  ist  ein  Künstler? 

«65 


Ich  sage  Ihnen,  daß  er  an  der  ,, modernen  Aas- 
wirtschaft" gestorben  ist.  Das  war  sein  Wort,  und  er 
hat  es  mir  diesen  Winter  mehrmals  wiederholt: 
,,Ich  krepiere  an  der  Kommune  usw.*' 

Der  4.  September  hat  eine  Ordnung  der  Dinge 
eingeführt,  nach  der  Menschen  wie  er  nichts  mehr 
in  der  Welt  zu  tun  haben.  Man  darf  von  Orangen- 
bäumen keine  Äpfel  verlangen.  Die  Luxusarbeiter 
sind  überflüssig  in  einer  Gesellschaft,  wo  die  Plebs 
die  Oberherrschaft  hat.  Wie  sehr  ich  ihn  vermisse! 
Er  und  Bouilhet  fehlen  mir  furchtbar  und  nichts 
kann  sie  ersetzen.  Er  war  außerdem  so  gut  und  was 
man  auch  sage,  so  einfach.  Man  wird  später  erkennen 
(wenn  man  sich  jemals  wieder  mit  Literatur 
beschäftigen  wird),  daß  er  ein  großer  Dichter  war. 
Einstweilen  ist  er  ein  völlig  unbekannter  Schrift- 
steller. 

Er  hat  zwei  Antipathien  gehabt:  den  Haß  auf  die 
Philister  in  seiner  Jugend,  der  hat  ihm  Talent  ge- 
geben ;  den  Haß  auf  den  Pöbel  in  seinem  reifen  Alter, 
der  hat  ihn  getötet.  Er  ist  an  unterdrücktem  Zorn 
gestorben  und  an  der  Wut  darüber,  nicht  sagen  zu 
können,  was  er  dachte.  Er  ist  von  Girardin,  Fould, 
Dalloz  und  der  gegenwärtigen  Republik  zu  Boden 
gedrückt  worden.  Ich  sage  Ihnen  das,  weil  ich  grauen- 
volle Dinge  gesehen  habe  und  weil  ich  vielleicht  der 

166 


einzige  Mensch  bin,  dem  er  sich  ganz  anvertraut  hat. 
Daß  er  ohne  die  Akademie  sein  mußte,  ist  ihm  ein 
schrecklicher  Kummer  gewesen.  Welche  Schwäche! 
Und  wie  wenig  muß  er  sich  achten !  Das  Jagen  nach 
irgendeiner  Ehrung  erscheint  mir,  nebenbei  bemerkt, 
als  ein  Akt  unbegreiflicher  Bescheidenheit. 

Ich  war  durch  die  Schuld  Catulle  Mendes,  der  mir 
zu  spät  ein  Telegramm  geschickt  hat,  nicht  bei  seiner 
Beerdigung.  Es  sind  eine  Masse  Leute  dagewesen. 
Ein  Haufe  von  Schuften  und  Hanswürsten  ist  hin- 
gekommen, um  Reklame  für  sich  zu  machen,  wie 
gewöhnlich.  Alles  in  allem  beklage  ich  ihn  nicht, 
ich  beneide  ihn.  Denn  offen  gesagt,  das  Leben  ist 
nicht  amüsant. 

Nein,  ich  halte  das  Glück  nicht  für  möglich,  wohl 
aber  die  Ruhe.  Deshalb  bleibe  ich  allem  fern,  was  mich 
aufregt.  Eine  Reise  nach  Paris  ist  für  mich  jetzt  eine 
große  Sache.  Sobald  ich  das  Gefäß  bewege,  steigt  die 
Hefe  empor  und  stört  alles.  Das  kleinste  Gespräch 
mit  irgendeinem  BeHebigen  greift  mich  an,  weil  ich 
alle  Menschen  idiotisch  finde.  Mein  Gerechtigkeits- 
gefühl ist  ständig  in  Aufruhr.  Man  spricht  nur  von 
Politik,  und  in  welcher  Weise!  Wo  gibt  es  eine  Spur 
von  Ideen?  Woran  soll  man  sich  klammem?  Wofür 
sich  begeistern? 

167 


Ich  halte  mich  dennoch  nicht  für  ein  Ungeheuer 
an  Egoismus.  Mein  Ich  verzettelt  sich  so  in  den 
Büchern,  daß  ich  ganze  Tage  verbringe,  ohne  es  zu 
fühlen.  Ich  habe  allerdings  schlimme  Augenblicke, 
aber  ich  richte  mich  an  der  Erwägung  v^eder  auf: 
„Mich  kann  wenigstens  niemand  dumm  machen." 
Worauf  ich  mein  Gleichgewicht  wiederfinde.  Ich 
habe  durchaus  das  Gefühl,  daß  ich  meinen  natürlichen 
Weg  gehe,  bin  ich  aber  auf  dem  richtigen? 

Das  Leben  mit  einer  Frau,  mich  zu  verheiraten, 
wie  Sie  mir  raten,  ist  ein  Horizont,  den  ich  phanta- 
stisch finde.  Warum?  Das  weiß  ich  nicht.  Aber 
CS  ist  so.  Erklären  Sie  dies  Problem!  Das  weibliche 
Wesen  ist  niemals  in  mein  Dasein  eingefügt  gewesen, 
und  dann  bin  ich  auch  nicht  reich  genug,  und  dann 
und  dann  . . .  ich  bin  zu  alt,  . . .  und  dann  zu  an- 
ständig, um  meine  Person  auf  immer  einer  andern  zur 
Last  zu  legen.  Ich  habe  einen  religiösen  Kern  in  mir, 
den  man  nicht  kennt.  Wir  werden  über  all  das  besser 
mündlich  reden  als  in  Briefen. 

Ich  werde  Sie  im  Dezember  in  Paris  sehen,  aber 
in  Paris  wird  man  von  den  andern  gestört.  Ich  wünsche 
Ihnen  dreihundert  Aufführungen  für  Mademoiselle 
de  la  Quintinie.  Aber  Sie  werden  viele  Argemisse 
mit  dem  Odeon  haben.  Das  ist  ein  Institut,  durch  das 
ich  im  vorigen  Winter  sehr  gelitten  habe. 

168 


Sooft  ich  aktiv  geworden  bin,  hat  man  mir  es  ver- 
leidet. Aber  genug,  genug!  , .Verbirg  dein  Leben!" 
Maxime  des  Epiktet.  Mein  ganzer  Ehrgeiz  ist  jetzt, 
die  Widerwärtigkeiten  zu  fliehen;  dadurch  bin  ich 
davor  sicher,  anderen  welche  zu  verursachen,  und  das 
ist  viel. 

Ich  arbeite  wie  ein  Wilder,  ich  studiere  Medizin, 
Metaphysik,  Politik,  alles.  Denn  ich  habe  ein  sehr 
umfassendes  Werk  unternommen,  das  viel  Zeit  er- 
fordern wird,  eine  Aussicht,  die  mir  angenehm  ist. 

Seit  einem  Monat  warte  ich  von  Woche  zu  Woche 
auf  Turgenjeff.    Die  Gicht  hält  ihn  immer  zurück. 

. . .   i8y2 

Der  Briefträger  hat  mir  um  fünf  Uhr  Ihre  beiden 
Bücher  gebracht.  Ich  will  Manon  sofort  anfangen, 
denn  ich  bin  sehr  neugierig  darauf. 

Beunruhigen  Sie  sich  nicht  mehr  um  Ihren  Trou- 
badour (der  einfach  ein  dummes  Tier  wird),  aber  ich 
hoffe  mich  wieder  zu  erholen.  Ich  habe  schon  häufiger 
düstere  Zeiten  gehabt  und  habe  sie  überwunden. 
Man  wird  alles  gewohnt,  die  Langeweile  und  alles 
übrige. 

Ich  hatte  mich  schlecht  ausgedrückt:  Ich  habe 
nicht  gesagt,  daß  ich  das  „weibliche  Gefühl**  ver- 
achte.  Sondern  daß  die  Frau,  materiell  ausgedrückt, 

169 


nie  zu  meinen  Gewohnheiten  gehört  hat,  was  etwas 
ganz  anderes  ist.  Ich  habe  mehr  als  sonst  jemand 
geliebt,  eine  anmaßende  Redensart,  die  bedeutet: 
„soviel  wie  ein  anderer"  und  vielleicht  sogar  mehr  als 
der  erste  beste.  Alle  Zärtlichkeiten  sind  mir  bekannt, 
die  „Gewitter  des  Herzens"  haben  mich  mit  „ihrem 
Regen  getränkt".  Und  dann  hat  sich  durch  Zufall, 
durch  die  Gewalt  der  Tatsachen,  die  Einsamkeit 
um  mich  allmählich  vergrößert,  und  jetzt  bin  ich  allein, 
ganz  allein. 

Mein  Einkommen  ist  nicht  groß  genug,  als  daß  ich 
mir  eine  Frau  nehmen  könnte,  nicht  einmal  groß  genug, 
um  sechs  Monate  des  Jahres  in  Paris  zu  leben:  es  ist 
mir  also  unmöglich,  mein  Leben  anders  einzurichten. 

Wie,  ich  hätte  Ihnen  nicht  gesagt,  daß  der  Heilige 
Antonius  seit  dem  vorigen  Juni  fertig  ist?  Was  mir 
augenblicklich  vorschwebt,  ist  eine  beträchtlichere 
Sache,  die  den  Ehrgeiz  hat,  komisch  zu  sein.  Es  würde 
zu  lang  sein,  Ihnen  das  brieflich  zu  erklären.  Wir 
werden  Aug  in  Aug  darüber  sprechen. 

Leben  Sie  wohl,  Sie  lieber,  guter,  anbetungswürdiger 
Meister,  nehmen  Sie  die  besten  Grüße 

Ihres  Alten, 

der  noch  immer  empört  ist  wie  der  Heilige  Pol> 
carp. 

170 


Kennen  Sie  in  der  Weltgeschichte  einschließlich 
der  Geschichte  der  Botokuden,  etwas  Alberneres  als 
die  Rechte  in  der  Nationalversammlung?  Diese 
Herren,  die  das  einfache  und  nichtssagende  Wort 
Republik  nicht  schätzen,  die  Thiers  zu  fortschrittlich 
finden!!!  0  Tiefe!  Rätsel!  Träume! 

Montag  abend,  ii  Uhr 

Teurer  Meister! 
Diese  Nacht  und  diesen  Tag  habe  ich  mit  Ihnen  ver- 
bracht. Ich  hatte  Nanon  um  vier  Uhr  morgens  aus- 
gelesen und  Francia  um  drei  Uhr  nachmittags.  Das 
tanzt  noch  alles  in  meinem  Kopf  herum.  Ich  will 
versuchen,  meine  Gedanken  zu  sammeln,  um  mit 
Ihnen  über  diese  beiden  ausgezeichneten  Bücher  zu 
sprechen.  Sie  haben  mir  wohl  getan.  Also  Dank, 
lieber,  guter  Meister.  Ja,  das  ist  wie  ein  starker 
Windstoß  und  nach  meiner  Bevvegtheit  fühle  ich  mich 
neu  belebt. 

In  Nanon  hat  mich  zunächst  der  Stil  bezaubert, 
durch  tausend  einfache  und  starke  Dinge,  die  in  das 
Gewebe  des  Werkes  verflochten  sind.  Und  dann 
habe  ich  auf  nichts  mehr  geachtet,  ich  bin  gepackt 
gewesen  wie  der  gewöhnliche  Leser.  (Ich  glaube 
aber  nicht,  daß  der  Gewöhnliche  so  bewundem  kann 
wie  ich.)    Das  Leben  der  Mönche,  die  ersten  Be- 

171 


Ziehungen  zwischen  Emilien  und  Nanon,  die  Furcht 
vor  den  Briganten  und  die  Verhaftung  Fructueux, 
die  kitschig  sein  könnte  und  es  doch  nicht  ist.  Und 
dann  Seite  113!  Und  wie  schwierig  es  war, 
im  Rhythmus  zu  bleiben!  „Von  diesem  Tage  an 
empfand  ich  Glück  in  allen  Dingen  und  es  war  mir 
Freude,  auf  der  Welt  zu  sein!" 

,,La  Roche  aux  Fades"  ist  eine  ausgezeichnete 
Idylle.  Man  möchte  das  Leben  dieser  drei  wackeren 
Leute  teilen. 

Ich  finde,  daß  das  Interesse  etwas  nachläßt,  als 
Nanon  sich  in  den  Kopf  setzt,  reich  zu  werden.  Sie 
wird  zu  stark,  zu  intelligent !  Ich  mag  auch  die  Diebes- 
episode nicht.  Die  Rückkehr  Emiliens  mit  seinem 
amputierten  Arm  hat  mich  wieder  erschüttert,  und 
ich  habe  auf  der  letzten  Seite  eine  Träne  vergossen, 
bei  dem  Porträt  der  Marquise  de  Franqueville,  der 
Greisin. 

Ich  möchte  die  folgenden  Zweifel  äußern:  Emilien 
scheint  in  politischer  Philosophie  sehr  stark  zu  sein. 
Gab  es  zu  jener  Zeit  Menschen,  die  von  so  hohen 
Standpunkten  herabsahen?  Der  gleiche  Einwand 
gegen  den  Prior,  den  ich  im  übrigen  bezaubernd  finde, 
besonders  in  der  Mitte  des  Buches.  Aber  wie  ist 
das  alles  gut  komponiert,  gepackt,  packend,  bezau' 

172 


bernd!    Was  sind  Sie  für  ein  Mensch!!!    Welch  eine 
Wucht! 

Ich  tätschele  Ihnen  die  Wangen  und  gehe  zu  Fran- 
cia  über.  Ein  anderer  Stil,  aber  nicht  weniger  gut. 
Und  im  Anfange  bewundere  ich  Ihren  Dodore  un- 
geheuer. Es  ist  das  erste  Mal,  daß  man  einen  echten 
Pariser  Strolch  gestaltet  hat;  er  ist  weder  zu  großmütig, 
noch  zu  wüst,  noch  zu  operettenhaft.  Das  Gespräch 
mit  seiner  Schwester,  als  er  einwilligt,  daß  sie  eine 
ausgehaltene  Frau  wird,  ist  eine  schöne  Kraftprobe. 
Ihre  Frau  de  Thievre  mit  ihrem  Kaschmirschal,  den 
sie  um  ihre  fetten  Schultern  legt,  ist  ganz  Restau- 
rationszeit 1  Und  der  Onkel,  der  dem  Neffen  sein 
Verhältnis  wegschnappen  will !  Und  Antoine,  der  gute 
dicke  Klempnermeister,  diese  feine  Bühnenfigur! 
Der  Russe  ist  ein  einfacher,  ein  natürlicher  Mensch, 
was  nicht  leicht  zu  erzielen  ist. 

Als  ich  sah,  wie  Francia  ihm  den  Dolch  ins  Herz 
stieß,  runzelte  ich  anfangs  die  Stirn  und  fürchtete, 
es  sei  eine  klassische  Rache,  die  den  entzückenden 
Charakter  dieses  wackeren  Mädchens  unnatürlich 
machte.  Aber  durchaus  nicht!  Ich  täuschte  mich, 
dieser  unbewußte  Mord  rundet  das  Bild  Ihrer  Heldin  ab. 
Was  mir  an  diesem  Buch  besonders  auffällt,  ist, 
daß  es  sehr  geistreich  und  sehr  gerecht  ist.  Man  steht 
vollkommen  in  der  damaligen  Zeit. 

173 


Ich  danke  Ihnen  aus  tiefstem  Herzen  für  diese 
doppelte  Lektüre.  Sie  hat  mich  erfrischt.  Es  ist  also 
noch  nicht  alles  tot!  Es  gibt  noch  Schönes  und  Gutes 
in  der  Welt. 

Mittwoch,  Dezember  i8y2 

Teurer  Meister! 
Ich  beanstande  einen  Satz  Ihres  letzten  Briefes: 
„Der  Verleger  würde  Geschmack  haben,  wenn  das 
Publikum  Geschmack  hätte,  oder  wenn  das  Publikum 
ihn  zwänge,  Geschmack  zu  haben."  Aber  das  heißt 
das  Unmögliche  verlangen.  Sie  haben  literarische 
Ideen,  glauben  Sie  mir,  genau  wie  die  Herren  Theater- 
direktoren. Die  einen  wie  die  andern  behaupten, 
sich  darauf  zu  verstehen,  und  da  ihre  Ästhetik  sich 
mit  ihrem  Merkantilismus  mischt,  so  ergibt  es  ein 
hübsches  Resultat. 

Nach  den  Verlegern  ist  Ihr  letztes  Buch  stets 
minderwertiger  als  das  vorhergehende!  Ich  lasse 
mich  hängen,  wenn  das  nicht  wahr  ist!  Warum  be- 
wundert Levy  wohl  Ponsard  und  Octave  Feuillet 
mehr  als  den  alten  Dumas  und  Sie?  Levy  ist  aka- 
demisch. An  mir  hat  er  mehr  Geld  verdient  als  an 
Cuvillier-Fleury,  nicht  wahr?  Nun  ziehen  Sie  einmal 
eine  Parallele  zwischen  uns  beiden,  was  die  Auf- 
nahme betrifft.   Sie  wissen  ja,  daß  er  von  den  Letzten 

174 


Liedern  nicht  mehr  als  zwölfhundert  Exemplare 
hat  verkaufen  wollen,  die  übrigen  achthundert  liegen 
bei  meiner  Nichte  in  der  Rue  de  Clichy  auf  dem 
Heuboden!  Es  ist  sehr  engherzig  von  mir,  das  gebe 
ich  zu.  Aber  ich  gestehe,  daß  dies  Vorgehen  mich 
einfach  rasend  gemacht  hat.  Mir  deucht,  meine 
Prosa  könnte  von  einem  Mann,  der  durch  mich 
etliche  Sou  verdient   hat,   mehr  respektiert   werden. 

Da  ich  mit  besagtem  Michel  nicht  wieder  reden 
will,  so  wird  mein  Neffe  an  meiner  Stelle  mit  ihm 
abrechnen.  Ich  werde  ihm  den  Druck  der  Letzten 
Lieder  bezahlen,  und  dann  werde  ich  jede  Beziehung 
zu  ihm  lösen. 

Warum  gibt  man  in  dieser  abscheulichen  Zeit 
etwas  heraus?  Um  Geld  zu  verdienen?  Welch  ein 
Hohn!  Als  wenn  Geld  ein  Lohn  für  Arbeit  wäre 
und  sein  könnte!  Das  kann  es  erst  sein,  wenn  man  die 
Spekulation  zerstört  hat.  Vorher  nicht.  Und  wie  soll 
man  die  Arbeit  messen,  wie  die  Anstrengung  ab- 
schätzen? Bleibt  also  der  kommerzielle  Wert  des 
Werkes.  Dafür  müßte  man  jeden  Zwischenhändler 
zwischen  Erzeuger  und  Käufer  ausschalten,  und  wenn 
das  geschähe,  so  wäre  diese  Frage  doch  an  sich  un- 
löslich. Denn  ich  schreibe  (ich  spreche  von  einem 
Autor,  der  Selbstachtung  hat)  nicht  für  den  Leser  von 

heute,  sondern  für  alle  Leser,  die  kommen  können 

> 

175 


so  lange  die  Sprache  lebt.  Meine  Ware  kann  also  nicht 
jetzt  aufgebraucht  werden,  denn  sie  ist  nicht  aus- 
schließlich für  meine  Zeitgenossen  hergestellt.  Meine 
Leistung  ist  mithin  unbestimmt  und  infolgedessen  nicht 
bezahlbar. 

Warum  also  veröffentlicht  man  etwas?  Um  ver- 
standen, umjubalt  zu  werden?  Aber  selbst  Sie, 
Sie  große  George  Sand,  geben   Ihre  Einsamkeit  zu. 

Gibt  es  heute,  ich  sage  nicht  Bewunderung  oder 
Sympathie,  sondern  eine  Spur  von  etwas  Aufmerk- 
samkeit für  Kunstwerke?  Welcher  Kritiker  liest 
das  Buch,  das  er  zu  rezensieren  hat? 

In  zehn  Jahren  wird  man  vielleicht  kein  Paar  Schuhe 
mehr  machen  können,  so  entsetzlich  borniert  wird 
man.  Mit  dem  allen  will  ich  Ihnen  nur  sagen,  daß 
ich  bis  auf  bessere  Zeiten  (an  die  ich  nicht  glaube) 
den    Heiligen    Antonius   im   Schrank   behalte. 

Wenn  ich  ihn  erscheinen  lasse,  möchte  ich,  daß  er 
gleichzeitig  mit  einem  ganz  andersartigen  Buch  heraus- 
kommt. Ich  arbeite  jetzt  an  einem,  das  als  Gegen- 
stück dienen  könnte.  Schlußfolgerung:  das  klügste 
ist,  sich  ruhig  zu  verhalten. 

Warum  sucht  Duquesnel  nicht  den  General  Ladmi- 
rault,  Jules  Simon,  Thiers  auf?  Mir  scheint,  diese 
Maßnahme  geht  ihn  an.  Was  ist  die  Zensur  für  eine 
schöne   Sache!    Beruhigen   wir   uns,   sie  wird   stets 

176 


existieren,  weil  sie  stets  existiert  hat!  Hat  nicht 
unser  Freund  Alexandre  Dumas  Sohn,  um  ein  nettes 
Paradoxon  aufzustellen,  in  dem  Vorwort  zur  Kamelien- 
dame ihre  Wohltaten  gerühmt? 

Und  Sie  wollen,  ich  soll  nicht  traurig  sein!  Ich 
glaube,  daß  wir  bald  wieder  schauerliche  Dinge  er- 
leben werden,  dank  dem  albernen  Eigensinn  der 
Rechten.  Die  guten  Normannen,  die  konservativsten 
Leute  der  Welt,  neigen  sehr  stark  zur  Linken. 

Wenn  man  jetzt  die  Bourgeoisie  fragte,  so  würde 
sie  den  alten  Thiers  zum  König  von  Frankreich 
machen.  Würde  Thiers  beseitigt,  so  würde  sie  sich 
Gambetta  in  die  Arme  werfen,  und  ich  fürchte,  sie 
wirft  sich  bald  hinein. 

Ich  tröste  mich  mit  dem  Gedanken,  daß  ich  nächsten 
Donnerstag  51  Jahre  alt  werde. 

Wenn  Sie  im  Februar  nicht  nach  Paris  kommen 
sollten,  werde  ich  Sie  Ende  Januar  besuchen,  bevor 
ich  nach  Monceau  zurückkehre;  ich  nehme  es  mir  fest 
vor. 

Die  Prinzessin  hat  mir  geschrieben  und  mich 
gefragt,  ob  Sie  in  Nohant  seien.  Sie  will  Ihnen 
schreiben. 

Meine  Nichte  Caroline,  der  ich  Nanon  zu  lesen 
gegeben  habe,  ist  entzückt  davon.  Überrascht  hat  sie 
che  „Jugend"  des  Buches.    Das  Urteil  erscheint  mir 

177 


richtig.  Es  ist  ein  großes  Werk,  ebenso  wie  Francia, 
das,  obwohl  es  einfacher  ist,  vielleicht  als  Buch  noch 
gelungener,  noch  unantastbarer  ist. 

Ich  habe  in  dieser  Woche  den  „Berühmten  Doktor 
Mattheus'*  von  Erckmann-Chatrian  gelesen.  Das  ist 
eine  Lümmelei !  Das  sind  zwei  Kerle  mit  recht  plebe- 
jischer Seele. 

Leben  Sie  wohl,  lieber,  guter  Meister.  Ihr  alter 
Troubadour  umarmt  Sie. 

Ich  denke  immer  an  Theo,  über  diesen  Verlust 
kann  ich  mich  nicht  trösten. 

Mittwoch,  13.  Dezember  i8y2 

Werden  Sie  mir  mein  langes  Zögern  verzeihen,  teurer 
Meister?  Aber  ich  habe  das  Gefühl,  meine  ewigen 
Jeremiaden  müssen  Sie  langweilen.  Ich  käue  wied^ 
wie  ein  Scheik!  Ich  werde  zu  albern.  Ich  langweile 
alle  Leute.  Kurz,  Ihr  Strohkopf  ist  ein  unerträglicher 
Kerl  geworden,  weil  er  alles  unerträglich  findet.  Und 
da  ich  nichts  dabei  tun  kann,  muß  ich  aus  Rücksicht 
auf  die  andern  ihnen  die  Ausflüsse  meiner  Galle  er- 
sparen. 

Seit  sechs  Monaten  besonders  weiß  ich  nicht,  was  mir 
ist.  Aber  ich  fühle  mich  ernstlich  krank,  ohne  etwas 
genaues  sagen  zu  können,  und  ich  kenne  viele  Leute, 
die  in  dem  gleichen  Zustande  sind.    Warum?    Wir 

178 


leiden  vielleicht  an  der  Frankreichkrankheit;  hier  in 
Paris,  wo  Frankreichs  Herz  schlägt,  fühlt  man  es  besser 
als  in  den  andern  Teilen,  in  der  Provinz. 

Ich  versichere  Ihnen,  daß  augenblicklich  alle  Leute 
in  Unruhe  und  Erregung  sind.  Unser  Freund  Renan 
ist  einer  der  Verzweifeltsten  und  der  Prinz  Napoleon 
denkt  genau  wie  er.  Die  haben  aber  doch  solide 
Nerven.  Ich  dagegen  bin  von  einer  ausgeprägten 
Hypochondrie  befallen.  Man  müßte  sich  abfinden, 
und  ich  finde  mich  nicht  ab. 

Ich  arbeite  soviel  ich  kann,  um  nicht  an  mich 
denken  zu  müssen.  Aber  da  ich  ein  Buch  plane, 
das  durch  die  Schwierigkeiten  der  Ausführung  absurd 
ist,  so  kommt  das  Gefühl  meiner  Unfähigkeit  zu  mei- 
nem Kummer  hinzu. 

Sagen  Sie  mir  nicht  mehr,  daß  „die  Torheit  heilig 
ist  wie  alle  Kindereien",  denn  die  Torheit  birgt  keinen 
Keim.  Lassen  Sie  mich  glauben,  daß  die  Toten 
, .nicht  mehr  forschen"  und  daß  sie  Ruhe  haben. 
Man  wird  auf  der  Erde  soviel  gequält,  daß  man  Ruhe 
finden  müßte,  wenn  man  darunter  ist.  Ach,  wie  ich 
Sie  beneide,  wie  gern  ich  Ihre  Heiterkeit  besäße.  Ganz 
abgesehen  von  allem  übrigen,  und  von  Ihren  beiden 
lieben  Kleinen,  die  ich  zärtlich  umarme,  ebenso  wie 
Sie. 


12« 


179 


Dienstag,  12.  März  i8y3 

Teurer  Meister! 

Wenn  ich  nicht  bei  Ihnen  bin,  hat  der  große  Turgenjeff 
die  Schuld.  Ich  rüstete  mich,  nach  Nohant  zu  fahren, 
als  er  mir  sagte:  „Warten  Sie,  Anfang  April  komme 
ich  mit."  Das  war  vor  vierzehn  Tagen.  Morgen 
werde  ich  ihn  bei  Frau  Viardot  sehen,  und  ich  werde 
ihn  bitten,  einen  früheren  Zeitpunkt  emzusetzcn, 
denn  ich  beginne  ungeduldig  zu  werden.  Ich  empfinde 
das  Bedürfnis,  Sie  zu  sehen,  Sie  zu  umarmen,  und  mit 
Ihnen  zu  plaudern.    Das  ist  die  Wahrheit. 

Ich  komme  allmählich  wieder  ins  Gleichgewicht. 
Was  ist  seit  vier  Monaten  mit  mir  gewesen?  Welche 
Verwirrung  ging  in  den  Tiefen  meines  Ichs  vor  sich? 
Ich  weiß  es  nicht.  Sicher  ist  nur,  daß  ich  sehr  krank 
gewesen  bin.  Aber  jetzt  geht  es  mir  besser.  Seit  dem 
1 .  Januar  gehören  mir  Madame  Bovary  und  Salammbo 
und  ich  könnte  sie  verkaufen.  Ich  tue  nichts  in  der 
Sache,  denn  ich  will  lieber  Geld  entbehren,  als  meine 
Nerven   zerstören.     Das   ist    Ihr   alter   Troubadour. 

Ich  lese  alle  möglichen  Bücher  und  mache  mir 
Notizen  für  meinen  großen  Schmöker,  der  fünf  oder 
sechs  Jahre  erfordern  wird,  und  ich  plane  noch  zwei 
oder  drei  andere.  Das  sind  Ideen  auf  lange  hinaus, 
was  die  Hauptsache  ist. 

180 


Die  Kunst  leidet  weiter  „an  der  Auszehrung**, 
wie  Prudhomme  sagt,  und  für  Leute  von  Geschmack 
ist  kein  Platz  mehr  in  der  Welt.  Man  muß  sich  wie  das 
Rhinozeros  in  die  Einsamkeit  zurückziehen  und  seinen 
Tod  erwarten. 

Donnerstag,  20.  März  18^3 

Teurer  Meister! 
Der  große  Turgenjeff  verläßt  mich  soeben  und  wir 
haben  einen  feierlichen  Schwur  getan.   Am  12.  April, 
Ostersonnabend,    werden   Sie   uns   zum   Mittagessen 
bei  sich  sehen. 

Es  ist  keine  Kleinigkeit,  so  weit  zu  kommen.  Da 
er  schwer  zu  irgend  etwas  zu  bringen  ist. 

Was  mich  betrifft,  so  hätte  mich  nichts  gehindert, 
schon  morgen  abzureisen.  Aber  unser  Freund  scheint 
mir  wenig  Freiheit  zu  genießen,  und  ich  selbst  bin  in 
der  ersten  Woche  des  April  verhindert. 

Ich  gehe  heute  abend  auf  zwei  Kostümbälle.  Nun 
sagen  Sie  noch,  daß  ich  nicht  jung  bin. 

Tausend  Grüße  von  Ihrem  alten  Troubadour,  der 
Sie  umarmt. 

Lesen  Sie  als  Beispiel  des  modernen  Gestanks  in 
der  letzten  Nummer  des  Vie  Parisienne  den  Artikel 
über  Marion  Delorme.  Das  könnte  man  einrahmen, 
wenn  man  überhaupt  etwas  Stinkendes  einrahmen 
will.    Aber  augenblicklich  achtet  man  nicht  darauf. 

181 


...  i873 
EU  sind  erst  fünf  Tage  seit  unserer  Trennung  und  ich 
sehne  mich  wie  ein  Tier  nach  Ihnen.  Ich  sehne  mich 
nach  Aurora  und  dem  ganzen  Hause,  bis  zu  Fadet 
hinab.  Ja  wirklich,  man  hat  es  so  gut  bei  Ihnen! 
Sie  sind  so  gut  und  so  geistvoll! 

Warum  kann  man  nicht  zusammen  leben?  Warum 
ist  das  Leben  immer  schlecht  eingerichtet?  Maurice 
scheint  mir  der  Typ  des  menschlichen  Glücks  zu  sein. 
Was  mangelt  ihm?  Sicher  hat  er  keinen  größeren 
Neider  als  mich. 

Ihre  beiden  Freunde,  Turgenjeff  und  der  Stroh- 
kopf, haben  hierüber  philosophiert,  von  Nohant 
bis  Chateau-roux,  sehr  bequem  in  Ihrem  Wagen 
mit  den  zwei  guten  Pferden  sitzend.  Es  leben  die 
Postillone  von  La  Chatre!  Aber  der  Rest  der  Reise 
ist  sehr  unerfreulich  gewesen,  wegen  der  Gesellschaft 
in  unserm  Kupee.  Ich  habe  mich  durch  starke 
Schnäpse  darüber  getröstet,  denn  der  gute  Moskowit 
hatte  eine  Flasche  aasgezeichneten  Schnaps  mit. 
Uns  war  beiden  das  Herz  etwas  schwer.  Wir  sprachen 
nicht,  wir  schliefen  nicht. 

Wir  haben  hier  Blödsinn  in  voller  Blüte  vorgefunden . 
0  mein  Gott,  mein  Gott,  wie  angreifend  ist  es,  in  einer 
solchen  Zeit  zu  leben!  Sie  machen  sich  keine  Vor- 
stellung von  der  Flut  des  Wahnsinns,  in  der  man  sich 

182 


befindet.    Wie  gut  tun   Sie   daran,   fern   von  Paris 
zu  leben! 

Ich  habe  mich  wieder  an  meine  Lektüre  gemacht, 
und  in  etwa  acht  Tagen  werde  ich  meine  Ausflüge 
in  die  Umgegend  beginnen,  um  eine  Gegend  zu  ent- 
decken, die  meinen  beiden  Helden  als  Rahmen  dienen 
kann.  Darauf,  gegen  den  12.  oder  15.  werde  ich  in 
mein  Haus  am  Wasser  zurückkehren.  Ich  habe  große 
Lust,  diesen  Sommer  endlich  nach  Saint  Gervais 
zu  gehen,  um  mich  zu  erholen  und  meine  Nerven 
auf  zukräuseln.  Seit  zehn  Jahren  finde  ich  immer 
einen  Vorwand,  mich  dem  zu  entziehen.  Es  wäre  aber 
Zeit,  sich  zu  enthäßlichen,  nicht  weil  ich  den  Ehrgeiz 
hätte,  durch  meine  physischen  Reize  zu  gefallen  und 
zu  verführen,  sondern  weil  ich  mir  selber  zu  sehr 
mißfalle,  wenn  ich  mich  im  Spiegel  betrachte.  Je 
älter  man  wird,  desto  mehr  muß  man  sich  pflegen. 

Heute  abend  werde  ich  Frau  Viardot  sehen,  ich 
werde  rechtzeitig  hingehen,  und  wir  werden  von 
Ihnen  plaudern. 

Wann  werden  wir  uns  jetzt  wiedersehen?  Da  No- 
hant  weit  von  Croisset  ist? 

Ihnen,  lieber,  teurer  Meister,  meine  herzlichsten 
Grüße!  Gustave  Flaubert, 

alias  genannt  der  Strohkopf  der  Barnabiten, 
Beichtvater  der  enttäuschten  Frauen. 

183 


Croisset,  Freitag,  5.  September  iSyj 
Bei  meiner  Ankunft  gestern  habe  ich   Ihren  Brief 
vorgefunden,  lieber,  guter  Meister.    Bei  Ihnen  geht 
also  alles  gut,  Gott  sei  Dank. 

Ich  habe  den  ganzen  Mai  mit  Umherstreifen  ver- 
bracht, denn  ich  war  in  Dieppe,  in  Paris,  in  Saint 
Gratien,  in  la  Brie  und  la  Beauce,  um  eine  bestimmte 
Landschaft  zu  finden,  die  ich  im  Kopf  habe  und  die 
ich  endlich  in  der  Umgebung  von  Houdan  gefunden 
zu 'haben  glaube.  Aber  bevor  ich  mich  an  meinen 
erschreckenden  Schmöker  mache,  werde  ich  auf  dem 
Wege,  der  von  La  Loupe  nach  Laigle  führt,  noch 
eine  letzte  Nachforschung  anstellen.    Dann  aber  ade! 

Das  Vaudevilletheater  führt  sich  gut  ein.  Carvalho 
ist  bisher  entzückend.  Seine  Begeisterung  ist  sogar 
so  stark,  daß  ich  nicht  ohne  Besorgnis  bin.  Man  muß 
an  die  guten  Franzosen  denken,  die  „Nach  Berlin** 
riefen!    und  die  so  nette  Prügel  bekommen   haben. 

Besagter  Carvalho  ist  nicht  nur  von  dem  Schwachen 
Geschlecht  befriedigt,  sondern  er  will,  daß  ich  sofort 
eine  andere  Komödie  schreibe,  deren  Entwurf  ich  ihm 
gezeigt  habe  und  die  er  nächsten  Winter  spielen  möchte. 
Ich  finde  die  Sache  nicht  reif  genug,  um  sie  schon 
gestalten  zu  können.  Andrerseits  möchte  ich  sie  wohl 
von  der  Seele  haben,  bevor  ich  die  Geschichte  von 
meinen  beiden  Biedermännern  anfange.    Inzwischen 

184 


lese  ich  weiter  und  mache  mir  Notizen. 

Sie  wissen  sicher  nicht,  daß  man  das  Stück  von 
Coetlogon  ausdrücklich  verboten  hat,  weil  es  das 
Kaiserreich  kritisiert.  Das  ist  die  Antwort  der  Zensur. 
Da  ich  im  Schwachen  Geschlecht  einen  alten,  etwas 
lächerlichen  General  habe,  bin  ich  nicht  ohne  Be- 
sorgnis. Was  für  eine  schöne  Sache  ist  die  Zensur! 
Grundsatz :  alle  Regierungen  verabscheuen  die  Literatur, 
die  Macht  liebt  keine  andere  Macht. 

Wenn  man  verboten  hat,  Mademoiselle  de  la 
Quintinie  zu  spielen,  so  sind  Sie  zu  stoisch  gewesen, 
Heber  Meister,  oder  zu  gleichgültig.  Man  muß  immer 
gegen  die  Ungerechtigkeit  und  die  Dumrnheit  prote- 
stieren, schreien,  toben  und  schäumen,  wenn  man  es 
kann.  Ich  an  Ihrer  Stelle  und  mit  Ihrer  Autorität 
hätte  einen  Höllenlärm  gemacht.  Ich  finde  auch, 
der  alte  Hugo  hat  unrecht,  daß  er  wegen  des  Roi 
s'amuse  schweigt.  Er  setzt  seine  Persönlichkeit  oft 
bei  weniger  passenden  Gelegenheiten  ein. 

In  Rouen  hat  man  Umzüge  veranstaltet,  aber  die 
Wirkung  war  völlig  verfehlt,  und  das  Ergebnis  ist 
bedauerlich  für  die  Verschmelzung.  Welch  ein 
Unglück!  Unter  den  Torheiten  unserer  Zeit  ist  diese 
(die  Verschmelzung)  vielleicht  die  größte.  Ich  würde 
nicht  erstaunt  sein,  wenn  wir  den  kleinen  Thiers 
wiedersähen.     Anderseits  sind  viele  Rote  aus  Furcht 

185 


vor  der  klerikalen  Reaktion  zum  Bonapartismus  über- 
gegangen. Man  muß  eine  gute  Dosis  Naivität  haben, 
um  irgendeine  politische  Überzeugung  zu  behalten. 
Haben  Sie  den  Antichrist  gelesen?  Ich  finde,  es 
ist  ein  schönes  Buch,  abgesehen  von  einigen  Ge- 
•chmacksfehlern,  modernen  Ausdrücken,  die  auf 
antike  Dinge  angewendet  sind.  Renan  scheint 
übrigens  Fortschritte  zu  machen.  Ich  habe  kürzlich 
einen  ganzen  Abend  mit  ihm  verbracht  und  habe  ihn 
anbetungswürdig  gefunden. 

Sonntag,  Juli  iSys. 

Ich  bin  nicht  wie  Herr  von  Vigny,  ich  liebe  nicht 
„den  Klang  des  Hornes  in  den  Wäldern".  Seit  zwei 
Stunden  mordet  mich  ein  Esel,  der  auf  der  Insel 
mir  gegenüber  steht,  mit  seinem  Instrument.  Dieser 
Elende  verdirbt  mir  die  Sonne  und  raubt  mir  die 
Freude,  den  Sommer  zu  genießen.  Denn  es  ist  jetzt 
herrliches  Wetter,  ich  aber  platze  vor  Zorn.  Ich 
möchte  aber  doch  ein  wenig  mit  Ihnen  plaudern, 
lieber  Meister. 

Zunächst  meinen  Glückwunsch  zu  Ihren  siebzig 
Jahren,  die  mir  kraftvoller  erscheinen,  als  die  zwanzig 
Jahre  sehr  vieler  anderer.  Was  haben  Sie  für  ein 
herkulisches  Temperament!  In  einem  gefrorenen 
Fluß  baden  ist  eine  Kraftprobe,  die    mich  verblüfft 

186 


und  das  Zeichen  eines  Fonds  von  Gesundheit,  der  für 
Ihre  Freunde  beruhigend  ist.  Leben  Sie  lange! 
Pflegen  Sie  sich  für  Ihre  lieben  Enkelkinder,  für 
den  guten  Maurice,  auch  für  mich,  für  die  ganze 
Welt,  und  ich  würde  hinzufügen:  für  die  Literatur, 
wenn    ich   nicht    Ihre   stolze   Verachtung    fürchtete. 

Mein  Gott,  noch  immer  das  Waldhorn!  Es  ist 
zum  Wahnsinnigwerden!  Ich  möchte  den  Flur- 
schützen rufen. 

Ich  teile  Ihre  Verachtung  nicht,  und  ich  kenne 
„das  Vergnügen,  nichts  zu  tun",  wie  Sie  es  nennen, 
ganz  und  gar  nicht.  Sobald  ich  kein  Buch  mehr 
unter  der  Feder  habe  oder  davon  träume,  eins  zu 
schreiben,  fühle  ich  eine  Langeweile,  daß  ich  weinen 
könnte.  Das  Leben  erscheint  mir  wirklich  nur  er- 
träglich, wenn  man  es  beiseiteschiebt.  Oder  man 
müßte  sich  ausschweifenden  Genüssen  hingeben  . . . 
und  dennoch! 

Ich  habs  also  das  Schwache  Geschlecht  fertig,  das 
gespielt  werden  wird.  Und  zwar,  wie  Carvalho  ver- 
sprochen hat,  im  Januar,  wenn  die  Zensur  Sardous 
Oncle  Sam  freigibt.  Im  entgegengesetzten  Falle  im 
November. 

Da  ich  mich  in  den  sechs  Wochen  daran  gewöhnt 
habe,  die  Dinge  theatralisch  zu  sehen,  im  Dialog 
zu  denken,  so  habe  ich  mich  wahrhaftig  daran  gemacht, 

187 


den  Entwurf  zu  einem  neuen  Stück  aufzubauen,  das 
den  Titel  hat:  „Der  Kandidat'*.  Mein  geschriebener 
Plan  umfaßt  zwanzig  Seiten.  Aber  ich  habe  niemanden, 
dem  ich  ihn  zeigen  kann.  Ich  muß  ihn  also  leider 
Gottes  in  einer  Schublade  liegen  lassen  und  mich  wie- 
der an  meinen  Scbmöker  machen.  Ich  lese  die  Ge- 
schichte der  Medizin,  von  Daremberg,  die  mir  viel 
Spaß  macht,  und  habe  den  Essay  über  die  Verstandes- 
fähigkeiten von  Garnier,  den  ich  sehr  albern  finde, 
zu  Ende  gelesen.    Das  ist  meine  Beschäftigung. 

Es  scheint  sich  zu  beruhigen.    Ich  atme  auf. 

Ich  weiß  nicht,  ob  man  in  Nohant  soviel  vom 
Schah  spricht  wie  in  unserer  Gegend.  Die  Begeiste- 
rung war  groß.  Es  fehlte  nicht  viel,  so  hätte  man  ihn 
zum  Kaiser  ausgerufen.  Sein  Aufenthalt  in  Paris 
hat  auf  die  handeltreibende,  die  kaufmännische  und  die 
Arbeiterklasse  einen  monarchischen  Einfluß  ausgeübt, 
von  dem  Sie  sich  keinen  Begriff  machen,  und  den 
Herren  Geistlichen  geht  es  gut,  sehr  gut  sogar. 

Auf  der  andern  Seite  des  Horizonts  die  Greuel, 
die  in  Spanien  begangen  werden.  So  daß  das  Gesamt- 
bild der  Menschheit  weiter  sehr  reizend  ist. 

Croisset,  Donnerstag,  . . .   1872 

W^as  auch  geschehe,  der  Katholizismus  wird  einen 
furchtbaren  Schlag  bekommen,  und  wenn  ich  fromm 

188 


wäre,  würde  ich  meine  Zeit  damit  hinbringen,  vor 
einem  Kruzifix  unablässig  zu  wiederholen:  „Erhalte 
uns  die  Republik,  o  mein  Gott!** 

Aber  man  hat  Angst  vor  der  Monarchie.  Um  ihrer 
selbst  willen  und  wegen  der  Reaktion,  die  darauf 
folgen  würde.  Die  öffentliche  Meinung  ist  durchaus 
gegen  sie.  Die  Berichte  der  Herren  Präfekten  sind 
beunruhigend;  die  Armee  ist  in  Republikaner  und 
Bonapartisten  geteilt;  die  Handelswelt  von  Paris  hat 
sich  gegen  Heinrich  V.  ausgesprochen.  Das  sind  die 
Nachrichten,  die  ich  aus  Paris  mitbringe,  wo  ich  zehn 
Tage  gewesen  bin.  Kurz,  teurer  Meister,  ich  glaube, 
jetzt  werden  sie  den  kürzeren  ziehen!    Amen! 

Ich  rate  Ihnen,  die  Broschüre  von  Cathelineau  und 
Segur  zu  lesen.  Das  ist  sonderbar!  Man  sieht  deutlich 
die  Basis.  Diese  Leute  glauben  sich  im  12.  Jahrhun- 
dert. 

Was  Strohkopf  betrifft,  so  hat  Carvalho  ihm  Ände- 
rungen vorgeschlagen,  die  er  abgelehnt  hat  (Sie  wissen, 
Strohkopf  ist  zuweilen  nicht  sehr  bequem).  Besagter 
Carvalho  hat  schließlich  eingesehen,  daß  es  unmöglich 
ist,  ein  dem  Schwachen  Geschlecht  etwas  zu  ändern, 
ohne  die  ganze  Idee  des  Stückes  zu  verpfuschen. 
Aber  er  möchte  zuerst  den  Kandidaten  spielen,  der 
noch  nicht  geschrieben  ist  und  der  ihn  begeistert  — 

189 


natürlich.  Wenn  die  Sache  fertig,  durchgesehen  und 
korrigiert  ist,  will  er  ihn  vielleicht  nicht  mehr.  Kurz, 
nach  Onkel  Sam  wird  der  Kandidat  gespielt  werden, 
wenn  er  fertig  ist.  Wenn  nicht,  das  Schwache 
Geschlecht. 

Übrigens  lache  ich  darüber,  da  ich  Lust  habe,  mich 
an  meinen  Roman  zu  machen,  der  mich  mehrere 
Jahre  beschäftigen  wird.  Und  dann  fällt  mir  der  Theater- 
stil allmählich  auf  die  Nerven.  Diese  kurzen  Sätze, 
dies  dauernde  Sprühen  reizt  mich  wie  Selterwasser, 
das  anfangs  gut  schmeckt  und  einem  schließlich  doch 
faulig  vorkommt.  Bis  zum  Januar  werde  ich  also 
möglichst  guten  Dialog  schreiben,  dann  aber  adel 
Ich  kehre  zu  ernsten  Dingen  zurück. 

Ich  freue  mich,  daß  ich  Sie  mit  Strohkopfs  Bio- 
graphie etwas  belustigt  habe.  Aber  ich  finde  sie 
hybrid,  und  Strohkopfs  Charakter  hält  nicht  Stich. 
Ein  im  geistlichen  Rat  so  feiner  Mann  hat  nicht 
soviele  literarische  Vorurteile.  Die  Archäologie  ist 
überzählig.  Sie  gehört  zu  einer  andern  Art  von  Geist- 
lichkeit. Vielleicht  fehlt  ein  Übergang.  Das  ist  meine 
demütige  Kritik. 

In  einem  Theaterblatt  stand.  Sie  seien  in  Paris; 
es  war  eine  vergebliche  Freude,  lieber,  guter  Meister ; 
ich  bete  Sie  an  und  umarme  Sie. 


190 


12,  Dezember  1872 

Lieber,  guter  Meister! 
Beunruhigen  Sie  sich  nicht  über  Levy !  und  sprechen 
wir  nicht  mehr  davon!  Er  ist  nicht  wert,  unsere 
Gedanken  eine  Minute  zu  beschäftigen.  Er  hat  mich 
tief  verletzt  an  einer  empfindlichen  Stelle,  dem  An- 
denken meines  armen  Bouilhet!  Das  ist  nicht  wieder 
gutzumachen.  Ich  bin  kein  Christ,  und  die  Heuchelei 
der  Verzeihung  ist  mir  unmöglich.  Ich  habe  nur 
keinen  Grund  mehr,  ihn  aufzusuchen.  Das  ist  alles. 
Ich  möchte  ihn  sogar  nie  wiedersehen.    Amen! 

Nehmen  Sie  die  Übertreibungen  meines  Grimms 
nicht  zu  ernst.  Glauben  Sie  nicht,  daß  ich  „auf  die 
Nachwelt  rechne,  um  mich  für  die  Gleichgültigkeit 
meiner  Zeitgenossen  zu  rächen'*.  Ich  habe  nur  das 
eine  sagen  wollen:  Wenn  man  sich  nicht  an  die 
Menge  wendet,  ist  es  gerecht,  daß  die  Menge  einen 
nicht  bezahlt.  Das  ist  politische  Ökonomie.  Nun 
behaupte  ich,  man  kann  ein  Kunstwerk  (das  dieses 
Namens  würdig  und  nach  bestem  Gewissen  ge- 
geschaffen worden  ist),  nicht  abschätzen,  es  hat 
keinen  Handelswert,  es  kann  sich  nicht  bezahlt 
machen.  Schlußfolgerung:  wenn  der  Künstler  keine 
Renten  hat,  muß  er  Hungers  sterben!  Man  findet^ 
daß  der  Schriftsteller,  weil  er  kein  Jahresgehalt  mehr 
von  den  Großen  bekommt,  viel  freier,  viel  vornehmer 

191 


sei.  Seine  ganze  gesellschaftliche  Vornehmheit  besteht 
jetzt  darin,  daß  er  einem  Spießbürger  gleichsteht. 
Welch  ein  Fortschritt.  Was  mich  betrifft,  so  sagen 
Sie:  „Seien  wir  logisch!'*  Aber  das  ist  eben  die 
Schwierigkeit. 

Ich  bin  durchaus  nicht  überzeugt»  gute  Sachen  zu 
schreiben,  bin  auch  nicht  überzeugt,  daß  das  Buch,  das 
mir  jetzt  vorschwebt,  gelingt,  was  mich  nicht  hindertt 
es  zu  schreiben.  Ich  glaube,  daß  der  Gedanke  originell 
ist,  nichts  weiter.  Und  da  ich  außerdem  die  Galle, 
die  mich  erstickt,  hineinspritze,  das  heißt,  einige 
Wahrheiten  verzapfen  will,  so  hoffe  ich,  durch  dies 
Mittel  mich  zu  reinigen  und  dann  mehr  Olympier 
zu  sein,  eine  Eigenschaft,  die  mir  vollkommen  fehlt. 
0,  wie  gern  möchte  ich  mich  bewundern! 

Wieder  ein  Todesfall,  ich  habe  vorigen  Montag 
der  Beerdigung  des  alten  Pouchet  beigewohnt.  Das 
Leben  dieses  Mannes  ist  sehr  schön  gewesen,  und  ich 
habe  ihn  beweint. 

Ich  trete  heute  in  mein  zweiundfünfzigstes  Jahr; 
ich  möchte  Sie  heute  umarmen,  und  das  tue  ich 
zärtlich,  da  Sie  mich  so  sehr  lieben. 

Dezember  1873 

Da  ich  einen  Augenblick  Ruhe  habe,  benutze  ich 
ihn,  um  ein  wenig  mit   Ihnen  zu  plaudern,  lieber, 

192 


guter  Meister.  Umarmen  Sie  vor  allem  in  meinem 
Namen  all  die  Ihren  und  nehmen  Sie  meine  besten 
Wünsche  für  ein  gutes  neues  Jahr. 
Hören  Sie  also,  wie  es  Ihrem  Strohkopf  geht. 
Strohkopf  ist  sehr  beschäftigt,  aber  heiter  und  sehr 
ruhig,  was  jeden  Menschen  in  Erstaunen  setzt.  Ja, 
so  ist  es.  Keine  Empörung!  Kein  Aufschäumen! 
Die  Proben  zum  Kandidaten  haben  begonnen,  und 
die  Sache  wird  Anfang  Februar  auf  den  Brettern  er- 
scheinen. Carvalho  macht  einen  sehr  befriedigten 
Eindruck.  Trotzdem  hat  er  veranlaßt,  zwei  Akte 
in  einen  zusammenzuziehen,  wodurch  der  erste  Akt 
unermeßlich  lang  wird. 

Ich  habe  diese  Arbeit  in  zwei  Tagen  ausgeführt 
und  Strohkopf  war  auf  der  Höhe.  Er  hat  im  ganzen 
seit  Donnerstag  früh  (Weihnachtsabend)  bis  Sonn- 
abend sieben  Stunden  geschlafen,  und  es  geht  ihm  gut. 
Wissen  Sie,  was  ich  tun  will,  um  meinen  religiösen 
Charakter  zu  vervollständigen?  Ich  will  Pate  werden. 
Frau  Charpentier  ist  in  ihrer  Begeisterung  für  den 
Heiligen  Antonius  zu  mir  gekommen  und  hat  mich 
gebeten,  das  Kind,  das  sie  zur  Welt  bringt,  Antonius 
nennen  zu  dürfen.  Ich  lehnte  es  ab,  diesem  jungen 
Christen  den  Namen  eines  so  vielgeprüften  Mannes 
aufzuerlegen,  aber  ich  habe  die  Ehre,  die  man  mir 
antun  wollte,  annehmen  müssen. 

13  193 


Stellen  Sie  sich  meinen  alten  Zylinder  bei  dem 
Taufbecken,  neben  dem  Popen,  der  Amme  und  den 
Eltern  vor!  0  Zivilisation,  das  sind  deine  Schläge! 
Gute  Manieren,   das  sind  eure  Erfordernisse! 

Ich  bin  am  Sonntag  zum  Zivil-Begräbnis  von 
Francois- Victor  Hugo  gewesen,  welche  Menschen- 
masse! Und  nicht  ein  Schrei,  nicht  die  kleinste 
Unordnung !  Tage  wie  jener  sind  bös  für  den  Katholi- 
zismus. Der  arme  alte  Hugo  (ich  konnte  mir  nicht 
versagen,  ihn  zu  umarmen)  war  sehr  gebrochen, 
aber  stoisch. 

Was  sagen  Sie  zum  Figaro,  der  ihm  den  Vorvmrf 
macht,  er  habe  bei  der  Beerdigung  seines  Sohnes  einen 
weichen  Hut  aufgehabt! 

Was  die  Politik  betrifft,  so  wird  es  ruhig.  Der  Prozeß 
Bazaine  gehört  zur  alten  Geschichte.  Nichts  kann 
die  zeitgenössische  Demoralisation  besser  kenn- 
zeichnen als  die  Gnade,  die  diesem  Schuft  zuteil 
wird.  Übrigens  ist  das  Recht  der  Gnade  (  wenn  man 
von  der  Theologie  ausgeht)  eine  Ableugnung  der 
Gerechtigkeit.  Mit  welchem  Recht  kann  ein  Mensch 
die  Vollziehung  des  Gesetzes  verhindern? 

Die  Bonapartisten  hätten  ihn  laufen  lassen  sollen; 
aber  weit  gefehlt:  sie  haben  ihn  erbittert  verteidigt, 
voll  Haß  gegen  den  4.  September.  Warum  betrachten 
sich  alle  Parteien  als  Spießgesellen  der  Spitzbuben, 

194 


von  denen  sie  gerupft  werden?  Weil  alle  Parteien 
verrucht,  dumm,  ungerecht,  blind  sind! 

Was  übrigens  die  Kirche  betrifft:  Ich  habe,  was 
ich  nie  getan  habe,  den  Essai  über  die  Gleichgültigkeit 
von  Lamennais  ganz  gelesen.  Ich  kenne  jetzt,  und 
zwar  aus  dem  Grunde,  all  die  ungeheuren  Schwätzer, 
die  auf  das  19.  Jahrhundert  einen  unheilvollen  Ein- 
fluß gehabt  haben.  Behaupten,  daß  das  Kriterium 
des  Richtigen  im  gesunden  Menschenverstand  liegt, 
anders  ausgedrückt:  in  der  Mode  und  der  Gewohnheit, 
hieß  das  nicht  dem  allgemeinen  Wahlrecht  den  Weg 
bereiten,  das  nach  meiner  Ansicht  die  Schande  des 
menschlichen  Geistes  ist? 

Ich  habe  soeben  auch  die  Christin  von  Abbe  Bautain 
gelesen.  Sonderbares  Buch  für  einen  Romantiker. 
Man  spürt  seine  Zeit,  sein  modernes  Paris.  Um  mich 
zu  säubern,  habe  ich  ein  Buch  Garcin  de  Tassys  über 
die  hindostanische  Literatur  verschlungen.  Darin 
wenigstens  konnte  ich  aufatmen. 

Sie  sehen,  daß  Ihr  alter  Strohkopf  nicht  völlig  vom 
Theater  verdummt  ist.  Übrigens  kann  ich  mich  über 
das  Vaudevilletheater  nicht  beklagen.  Alle  Leute 
sind  höflich  und  pünktlich !  Wie  anders  als  beim  Odeon ! 

Unser  Freund  Chennevieres  ist  jetzt  unser  Ober- 
herr, da  ja  die  Theater  zu  seinem  Ressort  gehören. 
Die  Artisten  sind  bezaubert. 


195 


Ich  sehe  den  Moskowiter  jeden  Sonntag.  Es  geht 
ihm  sehr  gut,  und  ich  liebe  ihn  immer  mehr. 

Der  Heilige  Antonius  wird  Ende  Januar  in  Fahnen 
gesetzt  werden. 

Leben  Sie  wohl,  teurer  Meister!  Wann  werden 
wir  uns  wiedersehen?  Nohant  ist  sehr  fem,  und  ich 
werde  diesen  ganzen   Winter  sehr  beschäftigt  sein. 

Sonntag  abend,  7.  Februar  1874 
Ich  habe  endlich  einen  Augenblick  für  mich,  teurer 
Meister;  also  plaudern  wir  ein  wenig. 

Ich  habe  von  Turgenjeff  erfahren,  daß  es  Ihnen 
jetzt  sehr  gut  geht.  Das  ist  das  Wichtigste.  Nun  will  ich 
Ihnen    von  dem  ausgezeichneten  Strohkopf  erzählen. 

Ich  habe  gestern  das  letzte  Imprimatur  für  den 
Heiligen  Antonius  gegeben.  Aber  besagter  Schmöker 
wird  nicht  vor  dem  1.  April  erscheinen  (als  April- 
scherz?) wegen  der  Übersetzungen.  Es  ist  fertig, 
ich  denke  nicht  mehr  daran.  Der  Heilige  Antonius 
gehört  für  mein  Teil  der  Erinnerung  an.  Aber  ich 
verhehle  Ihnen  durchaus  nicht,  daß  ich  eine  Viertel- 
stunde lang  sehr  traurig  gewesen  bin,  als  ich  die  erste 
Korrektur  betrachtet  habe.  Es  fällt  doch  schwer, 
sich  von  einem  alten  Gefährten  zu  trennen! 

Was  den  Kandidaten  betrifft,  so  wird  er,  denke  ich, 
zwischen  dem  20.  und  25.  dieses  Monats  gespielt 
werden.    Da  dieses   Stück   mich   sehr  geringe   An- 

196 


strengungen  gekostet  hat  und  ich  ihm  keine  große 
Bedeutung  beilege,  bin  ich  wegen  des  Ergebnisses 
ziemlich  ruhig. 

Carvalhos  Abschied  ist  mir  einige  Tage  lang  sehr 
unangenehm  und  aufregend  gewesen.  Aber  sein 
Nachfolger  Cormon  ist  voll  Eifer.  Ich  kann  ihn  bis 
jetzt  nur  rühmen,  wie  übrigens  auch  alle  andern. 
Die  Leute  vom  Vaudevilletheater  sind  reizend.  Ihr 
alter  Troubadour,  den  Sie  sich  aufgeregt  und  in 
ständiger  Wut  vorstellen,  ist  sanft  wie  ein  Lamm  und 
sogar  gutmütig!  Ich  habe  zuerst  alle  Änderungen 
gemacht,  die  man  verlangt  hat,  dann  hat  man  den 
ursprünglichen  Text  wiederhergestellt.  Aber  ich 
habe  dann  von  selbst  gestrichen,  was  mir  zu  lang 
erschien,  und  es  geht  gut,  sehr  gut.  Delannoy  und 
Saint  Germain  haben  ausgezeichnete  Gesichter  und 
spielen  wie  Götter.    Ich  glaube,  es  wird  gehen. 

Eines  ärgert  mich.  Die  Zensur  hat  die  Rolle  des 
kleinen  Legitimisten  gestrichen,  so  daß  das  Stück, 
das  in  einem  Geist  völliger  Unparteilichkeit  gehalten 
war,  jetzt  den  Reaktionären  zu  Munde  redet:  eine 
Wirkung,  die  mich  kränkt.  Denn  ich  will  den  politi- 
schen Leidenschaften  keines  Menschen  dienen,  wer 
es  auch  sei,  da  ich  ja,  wie  Sie  wissen,  jeden  Dogmatis- 
mus, jedes  Parteiwesen  hasse. 

197 


Der  gute  Alexandre  Dumas  hat  also  den  Sprung 
gemacht.  Er  gehört  nunmehr  zur  Akademie.  Ich 
finde  ihn  sehr  bescheiden.  Man  muß  es  sein,  wenn 
man  sich  durch  diese  Ehrungen  geehrt  fühlt. 

Sonntag  abend,  März  i8y4 
Lieber  Meister! 

Die  Premiere  des  Kandidaten  ist  auf  nächsten  Freitag 
festgesetzt,  falls  es  nicht  Sonnabend  oder  Montag 
der  9.  wird.  Sie  ist  durch  die  Erkrankung  Delannoys 
und  durch  den  Onkel  Säm  verzögert  worden,  denn  man 
mußte  warten,  bis  der  Onkel  Sam  weniger  als  fünfzehn- 
hundert Franken  einbrachte. 

Ich  glaube,  daß  mein  Stück  sehr  gut  gespielt  werden 
wird,  das  ist  alles,  denn  über  alles  andere  mache  ich 
mir  keine  Gedanken,  und  wegen  des  Ergebnisses  bin 
ich  sehr  ruhig,  eine  Gleichgültigkeit,  die  mich  sehr 
erstaunt.  Wenn  ich  nicht  von  Leuten  belästigt  würde, 
die  mich  um  Billette  bitten,  würde  ich  vollkommen 
vergessen,  daß  ich  bald  auf  den  Brettern  erscheinen 
und  mich  trotz  meinem  Alter  dem  Hohngelächter  der 
Menge  aussetzen  werde.  Ist  es  Stoizismus  oder 
Müdigkeit? 

Ich  habe  einen  Katarrh  gehabt  und  habe  ihn  noch, 
er  hat  bei  Ihrem  Strohkopf  eine  allgemeine  Ab- 
spannung hervorgerufen,  begleitet  von  einer  heftigen 

198 


(oder  vielmehr  tiefen)  Melancholie.  Ich  huste  und 
spucke  hinter  meinem  Ofen  und  brüte  über  meiner 
Jugend.  Ich  denke  an  all  meine  Toten,  ich  wälze 
mich  im  Dunkel.  Ist  das  die  Folge  von  zuviel  Ge- 
schäftigkeit seit  acht  Monaten,  oder  das  völlige  Fehlen 
des  weiblichen  Elements  in  meinem  Leben?  Aber 
ich  habe  mich  nie  verlassener,  leerer  und  zerschlagener 
gefühlt.  Was  Sie  mir  in  Ihrem  letzten  Brief  von  Ihren 
lieben  Kleinen  erzählen,  hat  mich  bis  in  den  Grund 
meiner  Seelegerührt.  Warum  ist  mir  das  nicht  vergönnt? 
Ich  war  doch  mit  allen  Zärtlichkeiten  geboren!  Aber 
mein  schafft  sein  Schicksal  nicht,  man  erliegt  ihm. 
Ich  bin  in  meiner  Jugend  feige  gewesen,  ich  habe 
Angst  vor  dem  Leben  gehabt.   Alles  rächt  sich. 

Reden  wir  von  etwas  anderem,  das  wird  erbaulicher 
sein. 

Se.  Majestät  der  Zar  aller  Russen  liebt  die  Musen 
nicht.  Die  Zensur  der  „Autokratie  des  Nordens** 
hat  die  Übersetzung  des  Heiligen  Antonius  offiziell 
verboten,  und  am  letzten  Sonntag  habe  ich  die  Druck- 
bogen aus  Petersburg  zurückbekommen ;  ebenfalls  wird 
die  französische  Ausgabe  dort  verboten  werden.  Das 
ist  für  mich  ein  ziemlich  schwerer  pekuniärer  Verlust. 

Es  hätte  wenig  gefehlt,  so  hätte  die  französische 
Zensur  mein  Stück  verboten,  Freund  Chennevieres 
hat  mir  kräftig  unter  die  Arme  gegriffen.    Ohne  ihn 

199 


würde  ich  nicht  gespielt.  Strohkopf  mißfällt  der 
Obrigkeit.  Wie  amüsant  ist  dieser  naive  Haß  der 
Autorität,  jeder  Regierung,  welche  es  auch  sei,  gegen 
die  Kunst! 

Ich  lese  jetzt  hygienische  Bücher.  0,  wie  komisch 
ist  das !  Was  geben  sich  diese  Ärzte  für  einen  Anstrich ! 
Diese  Aufmachung!  Was  für  Esel  die  meisten  sind. 
Ich  habe  soeben  das  „Dichterische  Gallien"  von 
Marchangy  (dem  Feinde  Berangers)  zu  Ende  gelesen. 
Dieser   Schmöker    hat    mir    Lachanfälle   verursacht. 

Um  mich  an  irgend  etwas  Starkem  zu  erquicken, 
habe  ich  wieder  einmal  den  ungeheuren,  den  sakro- 
sankten, den  unvergleichlichen  Aristophanes  gelesen! 
Das  ist  ein  Mensch !  War  das  eine  Welt,  in  der  solche 
Werke  geschaffen  wurden. 

Donnerstag,  i  Uhr,  März  1874 
JJas  war  doch  wenigstens  ein  Durchfall!  die  mir 
schmeicheln  wollen,  behaupten,  daß  das  Stück  bei 
dem  wahren  Publikum  sich  durchsetzen  wird,  aber 
ich  glaube  es  nicht.  Besser  als  irgend  jemand  kenne 
ich  die  Fehler  meines  Stücks.  Wenn  mir  Carvalho 
nicht  einen  Monat  lang  mit  Änderungen  in  den  Ohren 
gelegen  hätte,  hätte  ich  wohl  Korrekturen  vorgenom- 
men, die  den  Ausgang  vielleicht  anders  gestaltet 
hätten.    Aber  ich  war  so  angewidert,  daß  ich  nicht 

200    ' 


um  eine  Million  noch  eine  Zeile  geändert  hätte.  Kurz, 
ich  bin  durchgefallen. 

Man  muß  freilich  sagen,  daß  das  Publikum  abscheu- 
lich war,  lauter  Gecken  und  Börsianer,  die  den  wirk- 
Hchen  Sinn  der  Worte  nicht  verstanden.  Man  hat 
poetische  Dinge  als  Witz  genommen. 

Und  dann  habe  ich  das  Publikum  durch  den  Titel 
irregeführt.  Es  erwartete  einen  neuen  Rabagas.  Die 
Konservativen  sind  wütend  gewesen,  daß  ich  die 
Republikaner  nicht  angegriffen  habe.  Ebenso  hätten 
die  Kommunisten  einige  Schmähungen  der  Legiti- 
misten  gewünscht. 

Meine  Schauspieler  haben  vollendet  gespielt,  unter 
anderm  Saint-Germain.  Delannoy,  der  das  ganze  Stück 
trägt,  ist  verzweifelt,  und  ich  weiß  nicht,  was  ich 
machen  soll,  um  seinen  Schmerz  zu  lindem.  Stroh- 
kopf selbst  ist  ruhig,  sehr  ruhig!  Er  hat  vor  der 
Aufführung  sehr  gut  zu  Mittag  gegessen  und  hinter- 
her noch  besser  zu  Abend ;  Menü :  zwei  Dutzend  Ost- 
ender,  eine  Flasche  eisgekühlten  Sekt,  drei  Scheiben 
Roastbeef,  Trüffelsalat,  Kaffee  und  Likör.  Die 
Religion   und  der  Magen  halten  Strohkopf  aufrecht. 

Ich  gestehe,  daß  es  mir  angenehm  gewesen  wäre, 
etwas  Geld  zu  verdienen,  aber  da  mein  Durchfall 
weder  eine  Kunst-  noch  eine  Gefühlsangelegenheit 
jst,  läßt  er  mich  kalt. 


201 


Ich  sage  mir :  Endlich  ist  das  vorbei  und  ich  empfinde 
etwas  wie  Befreiung. 

Das  schlimmste  von  allem  ist  der  Ärger  über  die 
Billette.  Bedenken  Sie,  daß  ich  zwölf  Parkettplätze 
und  eine  Loge  gehabt  habe!  (Der  Figaro  hatte  acht- 
zehn Parkettplätze  und  drei  Logen).  Ich  habe  den 
Chef  der  Claque  nicht  einmal  gesehen.  Man  könnte 
meinen,  die  Verwaltung  des  Vaudevilles  habe  sich 
verabredet,  mich  zu  Fall  zu  bringen.  Dieser  Traum 
ist  erfüllt. 

Ich  habe  nicht  ein  Viertel  von  den  Plätzen  vergeben, 
die  ich  brauchte,  und  ich  habe  viele  Plätze  gekauft  für 
Leute,  die  mich  in  den  Gängen  beredt  heruntermach- 
ten. Die  Bravorufe  einiger  Getreuen  wurden  sofort 
durch  Zischen  erstickt.  Als  man  am  Schluß  meinen 
Namen  rief,  gab  es  Beifall  (für  den  Menschen,  aber 
nicht  für  das  Werk),  begleitet  von  zwei  hübschen 
Zischorgien,  die  vom  Olymp  kamen.  Das  ist  die 
Wahrheit. 

Die  „Kleine  Presse**  heute  früh  ist  höflich.  Ich  kann 
nicht  mehr  von  ihr  verlangen. 

Leben  Sie  wohl,  lieber,  teurer  Meister,  bedauern 
Sie  mich  nicht,  denn  ich  finde  mich  nicht  bedauerns- 
wert. 

PS.  Ein  hübsches  Wort  meines  Dieners,  als  er  mir 
heute  früh  Ihren  Brief  brachte.    Da  er  Ihre  Schrift 

202 


kennt,  sagte  er  seufzend:  Ach,  die  beste  ist  gestern 
abend  nicht  dagewesen!"  Was  durchaus  meine 
Meinung  ist. 

Mittwoch,  .  .  .  April  1874 

Vielen  Dank  für  Ihren  langen  Brief  über  den  Kandi- 
daten. Nachstehend  die  Kritiken,  die  ich  den  Ihren 
hinzufüge.  1.  den  Vorhang  fallen  lassen  nach  der 
Wahlversammlung  und  die  ganze  Hälfte  des  dritten 
an  den  Anfang  des  vierten  Aktes  stellen;  2.  den  ano- 
nymen Brief  streichen,  der  eine  unnütze  Wieder- 
holung ist,  da  ja  Arabelle  Rousselin  mitteilt,  daß  seine 
Frau  einen  Liebhaber  hat;  3.  die  Szenenfolge  im  vier- 
ten Akt  ändern,  das  heißt,  mit  der  Ankündigung  des 
Rendezvous  von  Frau  Rousselin  mit  Julien  anfangen 
und  Rousselin  etwas  eifersüchtiger  machen.  Seine 
Wahlsorgen  lenken  ihn  von  dem  Wunsch  ab,  seine 
Frau  abzufassen.  Die  Aussauger  sind  nicht  charakte- 
ristisch genug.  Es  müßten  zehn  statt  der  drei  da  sein. 
Dann  gibt  er  seine  Tochter.  Das  ist  der  Schluß, 
und  in  dem  Augenblick,  wo  er  die  Schurkerei  bemerkt, 
wird  er  gewählt.  Nun  ist  sein  Traum  erfüllt,  aber  er 
empfindet  keine  Freude.  Auf  diese  Weise  wäre  eine 
Entv/icklung  dagewesen. 

Ich  glaube,  was  Sie  auch  sagen  mögen,  daß  der  Stoff 
gut  war,  daß  ich  ihn  aber  verpfuscht  habe.    Keiner 

203 


der  Kritiker  hat  mir  gezeigt,  wodurch.  Ich  selber 
weiß  es,  und  das  tröstet  mich.  Was  sagen  Sie  zu 
La  Rounat,  der  mich  in  seinem  Feuilleton  im  Namen 
unserer  alten  Freundschaft  beschwört,  mein  Stück 
nicht  drucken  zu  lassen,  da  er  es  dumm  und  schlecht 
geschrieben  findet.  Folgt  ein  Vergleich  zwischen 
mir  und  Gondinet. 

Eins  der  komischsten  Dinge  dieser  Zeit  ist  das 
Geheimnis  des  Theaters.  Man  könnte  meinen,  daß 
die  Bühnenkunst  die  Grenzen  menschlichen  Ver- 
standes übersteigt  und  daß  sie  ein  Mysterium  ist, 
denen  vorbehalten,  die  wie  Droschkenkutscher  schrei- 
ben. Die  Frage  des  unmittelbaren  Erfolgs  steht  allen 
andern  voran.  Das  ist  die  Schule  der  Demoralisation. 
Wenn  mein  Stück  von  der  Direktion  gehalten  worden 
wäre,  hätte  es  Geld  machen  können  so  gut  wie  ein 
anderes.    Wäre  es  damit  besser  gewesen? 

Die  Versuchung  geht  nicht  schlecht.  Die  erste  Auf- 
lage von  zweitausend  Exemplaren  ist  vergriffen. 
Morgen  wird  die  zweite  Auflage  erscheinen.  Ich  bin 
von  den  kleinen  Zeitungen  heruntergerissen  worden 
und  von  zwei  oder  drei  Leuten  in  den  Himmel  gehoben. 
Alles  in  allem  ist  noch  nichts  Ernsthaftes  erschienen 
und  wird,  glaube  ich,  auch  nicht  erscheinen.  Renan 
schreibt  nicht  mehr  (sagt  er)  in  den  Debats,  und 
Taine  ist  mit  seiner  Ansiedelung  in  Annecy  beschäftigt. 

204 


Von  den  Herren  Villemessant  und  Buloz  werde 
ich  verflucht,  sie  tun  ihr  möglichstes,  um  sich  mir 
unangenehm  zu  machen.  Villemessant  macht  mir 
einen  Vorwurf  daraus,  daß  ich  mich  nicht  von  den 
Preußen  habe  töten  lassen.  Das  alles  ist  zum  Übel- 
werden ! 

Und  Sie  wollen,  daß  ich  die  menschliche  Albern- 
heit nicht  bemerke,  und  daß  ich  mir  das  Vergnügen 
versage,  sie  zu  schildern!  Die  Komik  ist  der  einzige 
Trost  für  die  Tugend.  Es  gibt  übrigens  eine  sehr 
vornehme  Art  der  Darstellung;  die  will  ich  bei  meinen 
beiden  Biedermännern  versuchen.  Fürchten  Sie 
nicht,  daß  es  zu  realistisch  wird !  Ich  habe  im  Gegen- 
teil die  Befürchtung,  daß  es  unmöglich  erscheinen 
wird,  da  ich  den  Gedanken  bis  zum  äußersten  durch- 
führen werde.  Diese  kleine  ^Arbeit,  die  ich  in  sechs 
Wochen  zu  beginnen  gedenke,  wird  mich  vier  oder 
fünf  Jahre  in  Anspruch  nehmen. 

.  .  .  April  1874 

Da  man  hätte  kämpfen  müssen  und  Strohkopf  das 
Handeln  verabscheut,  so  habe  ich  mein  Stück  gegen 
5000  Franken  Konventionalstrafe  zurückgezogen;  ich 
will  nicht,  daß  man  meine  Schauspieler  auspfeift! 
Als  ich  am  Abend  der  zweiten  Aufführung  Delannoy 
mit  feuchten  Augen  in  die  Kulisse  zurücktreten  sah, 

205 


kam  ich  mir  wie  ein  Verbrecher  vor  und  sagte  mir: 
„Genug!"  (Drei  Personen  rühren  mich:  Delannoy, 
Turgenjeff  und  mein  Diener!)  Kurz,  es  ist  zu  Ende. 
Ich  lasse  mein  Stück  drucken,  Sie  werden  es  Ende 
der  Woche  bekommen , 

Alle  Parteien  reißen  mich  herunter!  Der  „Figaro** 
und  der  „Rappel",  keiner  fehlt!  Leute,  die  ich 
mir  durch  meine  Börse  oder  meine  Dienstleistungen 
verpflichtet  habe,  behandeln  mich  als  Kretin.  Niemals 
habe  ich  weniger  Nerven  gehabt.  Mein  Stoizismus 
(oder  Stolz)  setzt  mich  selber  in  Erstaunen,  und  wenn 
ich  nach  der  Ursache  suche,  so  frage  ich  mich,  ob  Sie, 
teurer  Meister,  nicht  mit  daran  schuld  sind. 

Ich  erinnere  mich  der  Premiere  von  Villemer, 
die  ein  Triumph  wurde,  und  der  Premiere  des  Don 
Juan  vom  Dorf,  die  eine  Niederlage  war.  Sie  v^ssen 
nicht,  wie  ich  Sie  diese  beiden  Male  bewundert  habe ! 
Die  Größe  Ihres  Charakters  (etwas  noch  Selteneres 
als  das  Genie)  entzückte  mich,  und  ich  formulierte 
in  mir  das  eine  Gebet:  „0  könnte  ich  bei  solchen 
Gelegenheiten  sein  wie  sie."  Wer  weiß,  vielleicht 
hat  Ihr  Beispiel  mich  aufrechterhalten?  Verzeihen 
Sie  den  Vergleich!  Jedenfalls  schere  ich  mich  den 
Teufel  darum.    So  liegen  die  Dinge. 

Aber  ich  gestehe,  daß  es  mir  um  die  „Tausende" 
von  Franken  leid  tut,  die  ich  hätte  verdienen  können. 

20*6 


Mein  kleiner  Milchtopf  ist  zerbrochen.    Ich  wollte 
das  Mobiliar  in  Croisset  erneuem,  Essig! 

Meine  Generalprobe  war  trübselig.  Alle  Reporter 
von  Paris.  Man  hat  alles  als  Witz  genommen!  Ich 
werde  Ihnen  in  Ihrem  Exemplar  die  Stellen  anstreichen, 
die  man  angegriffen  hat,  vorgestern  und  gestern  hat 
man  sie  nicht  mehr  angegriffen.  Um  so  schlimmer! 
Es  ist  zu  spät.  Vielleicht  hat  Strohkopf  sich  von 
seinem  Stolz  hinreißen  lassen. 

Und  man  schreibt  Artikel  über  meine  Wohnungen, 
über  meine  Pantoffel  und  über  meinen  Hund.  Die 
Chronisten  haben  mein  Zimmer  beschrieben,  wo  sie 
an  den  Wänden  Bilder  und  Bronzen  gesehen  haben. 
An  meinen  Wänden  hängt  überhaupt  nichts.  Ich  weiß, 
daß  ein  Kritiker  empört  gewesen  ist,  weil  ich  ihm 
keinen  Besuch  gemacht  habe;  und  ein  Zwischen- 
träger ist  heute  früh  zu  mir  gekommen,  um  mir  das 
zu  sagen,  und  hat  hinzugefügt:  Was  soll  ich  ihm 
bestellen  ?  —  ...  Aber  die  Herren  Dumas,  Sardou 
und  sogar  Victor  Hugo  sind  nicht  wie  Sie."  —  „0,  das 
weiß  ich  wohl!"  —  „Dann  müssen  Sie  sich  nicht 
wundem  usw.** 

Leben  Sie  wohl,  lieber,  guter,  angebeteter  Meister, 
viele  Grüße  den  Ihren.  Einen  Kuß  den  lieben  Kleinen 
und  Ihnen  alle  meine  herzlichsten  Grüße. 


207 


PS.  Könnten  Sie  mir  eine  Abschrift  oder  das 
Original  der  Biographie  Strohkopfs  geben;  ich  habe 
keine  Abschrift  und  ich  möchte  sie  wieder  einmal 
lesen,  um  mich  an  meinem  Ideal  zu  erquicken. 

Freitag  abend,  i.  Mai  1874 
t-s  geht  gut,  teurer  Meister,  die  Schmähungen  häufen 
sich !  Es  ist  ein  Konzert,  eine  Symphonie,  in  der  alle 
begeistert  ihre  Instrumente  spielen.  Ich  bin  herunter- 
gerissen worden  vom  ,, Figaro"  bis  zur  „Revue 
des  Deux  Mondes",  über  die  „Gazette  de  France** 
bis  zum  „Constitutionnel".  Und  sie  hören  nicht  auf. 
Barbey  d'Aurevilly  hat  mich  persönlich  beschimpft, 
und  der  gute  Saint-Rene  Taillandier,  der  mich  für 
„unlesbar'*  erklärt,  schmäht  mich  mit  lächerlichen 
Worten.  Das  ist  das  Gedruckte.  Was  geredet  wird, 
entspricht  dem.  Saint-Victor  (ist  das  Unterwürfig- 
keit gegen  Michel  Levy?)  macht  mich  herunter  auf 
dem  Diner  bei  Brebant,  ebenso  dieser  ausgezeichnete 
Charles  Edmond  usw.  usw.  Dafür  werde  ich  von  den 
Professoren  der  theologischen  Fakultät  in  Straßburg, 
von  Renan  und  von  der  Kassiererin  meines  Schlächters 
und  noch  ein  paar  Leuten  bewundert.  So  liegen 
die  Dinge. 

Was  mich  erstaunt,  ist  die  Tatsache,  daß  bei  meh- 
reren   dieser    Kritiken    ein  Haß  gegen  mich  durch- 

208 


schimmert,  gegen  meine  Persönlichkeit,  ein  Wille 
zur  Verleumdung,  dessen  Ursache  ich  nicht  finden 
kann.  Ich  fühle  mich  nicht  verletzt,  aber  diese  Lawine 
von  Albernheiten  betrübt  mich.  Man  möchte  lieber 
gute  Gefühle  einflößen  als  schlechte.  Übrigens  denke 
ich  nicht  mehr  an  den  Heiligen  Antonius.    Ade! 

Ich  will  mich  diesen  Sommer  an  ein  anderes  Buch 
von  gleicher  Art  machen,  darauf  werde  ich  zum  reinen 
und  einfachen  Roman  zurückkehren.  Ich  habe  zwei 
oder  drei  im  Kopf,  die  ich  gern  schreiben  möchte, 
bevor  ich  sterbe.  Gegenwärtig  verbringe  ich  meine 
Tage  in  der  Bibliothek,  wo  ich  mir  Notizen  mache. 
In  vierzehn  Tagen  kehre  ich  in  mein  Landhaus  zu- 
rück. Im  Juli  gehe  ich  ins  Gebirge,  in  die  Schweiz, 
um  mich  von  meinem  Blutandrang  zu  heilen,  gemäß 
dem  Rat  des  Doktor  Hardy,  der  mich  „eine  hysterische 
Frau"  nennt,  ein  Wort,  das  ich  tief  finde. 

Der  gute  Turgenjeff  reist  nächste  Woche  nach 
Rußland,  die  Reise  wird  seine  Bilderwut  gezwungener- 
maßen unterbrechen,  denn  unser  Freund  kommt 
aus  dem  Auktionssaal  nicht  mehr  heraus.  Er  ist  em 
leidenschaftlicher  Mensch,  um  so  besser  für  ihn. 

Ich  habe  Sie  bei  Frau  Viardot  vor  vierzehn  Tagen 
sehr  vermißt.  Sie  hat  aus  der  Iphigenie  in  Aulis 
gesungen.  Ich  kann  Ihnen  nicht  sagen,  wie  schön, 
wie  hinreißend,  kurz,  wie  erhaben  es  war.    Was  ist 

209 


diese  Frau  für  eine  Künstlerin '  W  -^  (ür  ♦  ine  Kün^tl^- 
rln!  Derartige  Erregungen  versöhnen  mit  dem  Da- 
sein. 

Nun,  und  Sie,  lieber,  guter  Meister,  ist  das  Stück, 
von  dem  man  spricht,  fertig?  Sie  werden  wieder 
ins  Theater  hineingeraten !  Ich  beklage  Sie!  Nachdem 
man  Hunde  auf  die  Bühne  des  Odeon  gebracht  hat. 
wird  man  von  Ihnen  vielleicht  verlangen,  daß  Sie 
Pferde  bringen.    So  weit  sind   wir  gekommen! 

Und  wie  geht  es  dem  ganzen  Hause,  von  Maurice 
bis  Fadct? 

Umarmen  Sie  in  meinem  Namen  die  lieben  Kleinen 
und  lassen  Sie  sich  von  ihnen  wieder  umarmen. 

Ihr  Alter. 


Croisset,  Dienstag,  26.  Mai  1874 
Lieber,  guter  Meister! 
Ich  bin  also  wieder  in  meiner  Einsamkeit!  Aber  ich 
werde  nicht  lange  hier  bleiben,  denn  in  einem  kurzen 
Monat  gehe  ich  für  etwa  drei  Wochen  auf  den  Rigi, 
um  etwas  aufzuatmen,  mich  zu  erholen,  mich  zu 
entneurologisieren !  Ich  habe  zu  lange  nicht  frische 
Luft  geschnappt,  ich  fühle  mich  müde.  Ich  habe  das 
Bedürfnis  nach  etwas  Ruhe.  Worauf  ich  mich  an 
meinen  großen  Schmöker  machen  werde,  der  mich 


21.0 


mindestens  vier  Jahre  in  Anspruch  nehmen  wird. 
Das  Gute  hat  er. 

Das  Schwache  Geschlecht,  das  von  Carvalho  fürs 
Vaudevllle  angenommen  worden  war,  ist  mir  von  eben 
diesem  Vaudevllle  zurückgegeben,  und  zwar  durch 
Perrin.  der  das  Stück  anstößig  und  unpassend  findet. 
„Eine  Wiege  und  eine  Amme  auf  eine  französische 
Bühne  zu  bringen!"  Denken  Sie!  Also  habe  ich 
Duquesnel  die  Sache  gebracht,  der  mir  (natürlich!) 
noch  nicht  geantwortet  hat.  Wie  sich  die  Demorali- 
sation, die  das  Theater  verursacht,  ausbreitet!  Die 
Bürger  von  Rouen,  einschließlich  meines  Bruders, 
haben  über  den  Durchfall  des  Kandidaten  im  Flüster- 
ton (sie!)  und  mit  zerknirschter  Miene  mit  mir  ge- 
sprochen, als  hätte  ich  wegen  Betrugs  vor  Gericht 
gestanden.  Keinen  Erfolg  haben  ist  ein  Verbrechen, 
und  der  Erfolg  ist  der  Prüfstein  des  Guten.  Ich 
finde  das  im  höchsten  Grade  grotesk. 

Erklären  Sie  mir  auch,  warum  m£Ui  gewisse  Durch- 
fälle mit  Kissen  und  andere  mit  Domen  auspolstert? 
0  die  Welt  ist  komisch  und  sich  nach  ihrer  Meinung 
richten   zu   wollen,    erscheint   mir   phantastisch. 

Der  gute  Turgenjeff  muß  jetzt  in  Petersburg  sein; 
er  hat  mir  aus  Berlin  eine  günstige  Kritik  über  den 
Heiligen  Antonius  geschickt,  ich  habe  mich  nicht 
über  den  Artikel  gefreut,  sondern  über  ihn.    Ich  habe 


14* 


211 


ihn  in  diesem  Winter  oft  gesehen,  und  ich  liebe  ihn 
immer  mehr. 

Ich  habe  auch  mit  dem  alten  Hugo  verkehrt,  der 
(ohne  die  politische  Galerie)  ein  reizender  Mensch  ist. 

Ist  Ihnen  der  Sturz  des  Ministeriums  Broglie  nicht 
angenehm  gewesen?  Mir  außerordentlich!  Aber 
jetzt?  Ich  bin  noch  jung  genug,  um  zu  hoffen,  daß 
die  nächste  Kammer  uns  eine  Wendung  zum  Besseren 
bringen  wird.    Aber? 

Teufel  auch,  wie  gern  möchte  ich  Sie  sehen  und 
ausführlich  mit  Ihnen  plaudern.  In  dieser  Welt  ist 
alles  schlecht  eingerichtet.  Warum  lebt  man  nicht  mit 
denen,  die  man  liebt  ?  Die  Abtei  von  Theleme  ist  ein 
schöner  Traum,  aber  nichts  als  ein  Traum. 

Umarmen  Sie  in  meinem  Namen  Ihre  lieben  Kleinen 
sehr  herzlich.    Ganz  der  Ihre. 

Strohkopf. 

Mehr  Strohkopf  als  je.  Ich  fühle  mich  dienst- 
untauglich, schlaff,  marode,  Scheich,  zerfließend, 
kurz  ruhig  und  gemäßigt,  was  der  letzte  Grad  der 
Dekadenz  ist. 

Kaltbad- Righi,  Freitag,  3.  Juli  1874 
Ist  es  wahr,    teurer  Meister,  daß  Sie  in  der  letzten 
Woche  in  Paris  gewesen  sind?    Ich  war  dort,  um  nach 
der  Schweiz  zu  fahren  und  habe  in  einem  Blatt  gelesen, 

212 


daß  Sie  Les  deux  Orphelines  sich  angesehen,  einen 
Spaziergang  im  Bois  de  Boulogne  gemacht,  bei  Magny 
gespeist  haben  usw.  usw.,  was  beweist,  daß  man 
dank  der  Freiheit  der  Presse  nicht  Herr  seiner  Hand- 
lungen ist.  Die  Folge  ist,  daß  Strohkopf  Ihnen  grollt, 
weil  Sie  ihn  nicht  von  I^rer  Anwesenheit  im  „neuen 
Athen  *  benachrichtigt  haben.  Ich  hatte  das  Gefühl, 
daß  man  dort  dummer  und  flacher  war  als  gewöhnlich. 
Man  hat  mir  mit  der  Wiederkehr  des  Kaiserreichs 
die  Ohren  vollgeblasen.  Ich  glaube  nicht  daran! 
Indes!  ...  Dann  müßte  man  außer  Landes  gehen. 
Aber  wohin  und  wie? 

Eines  Stückes  wegen  sind  Sie  gekommen?  Ich 
bedaure  Sie,  daß  Sie  mit  D  . . .  zu  tun  haben!  Er 
hat  mir  das  Manuskript  vom  Schwachen  Geschlecht 
durch  Vermittlung  der  Theaterdirektion  zurückgegeben 
ohne  ein  Wort  der  Erklärung,  und  in  dem  Kuwert 
befand  sich  ein  Brief  eines  Unterdirektors,  der  ein 
Unikum  ist!  Ich  werde  Ihnen  den  Brief  zeigen.  Ein 
Meisterwerk  der  Unverschämtheit.  So  schreibt  man 
nicht  an  einen  Laufjungen,  der  ein  Vaudeville  ins 
Theater  Beaumarchais  bringt. 

Dieses  selbe  Schwache  Geschlecht  war  es,  das  im 
vorigen  Jahre  Carvalho  begeisterte.  Jetzt  will  es  nie- 
mand mehr,  denn  Perrin  findet,  daß  es  unschicklich 
ist,  „eine  Amme  und  eine  Wiege"  auf  eine  französische 

213 


Bühne  zu  bringen.  Da  ich  nicht  weiß,  was  ich  damit 
machen  soll,  habe  ich  es  dem  Clunytheater  gegeben. 

Ach,  wie  richtig  war  es  von  meinem  armen  Bouilbet, 
zu  sterben.  Aber  ich  finde,  das  Odeon  könnte  für 
seine  nachgelassenen  Werke  mehr  Interesse  bezeigen. 

Ohne  an  eine  Holbachische  Verschwörung  zu 
glauben,  finde  ich  auch,  daß  man  seit  einiger  Zeit 
etwas  zu  sehr  auf  mir  herumtrampelt,  und  gegen 
gewisse  andere  ist  man  so  nachsichtig. 

Der  Amerikaner  H.  hat  neulich  mir  gegenüber 
behauptet,  Saint-Simon  schreibe  schlecht.  Da  habe 
ich  ihn  angefahren  und  ihn  so  behandelt,  daß  er  in 
meiner  Gegenwart  nicht  wieder  mit  dem  Erbrechen 
seiner  Dummheit  anfangen  wird.  Es  war  bei  der 
Prinzessin  bei  Tisch,  meine  Heftigkeit  schuf  eine 
gewisse  Kühle. 

Sie  sehen,  daß  Ihr  Strohkopf  noch  immer  keinen 
Spaß  in  der  Religion  versteht!  Er  wird  nicht  ruhiger! 
Im  Gegenteil! 

Ich  habe  soeben  die  „Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte" von  Haeckel  gelesen,  ein  schönes  Buch, 
ein  wunderschönes  Buch!  Der  Darwinismus  ist 
klarer  darin  ausgedrückt  als  in  Darwins  Büchern 
selbst. 

Der  gute  Turgenjeff  hat  tief  aus  den  skythischen 
Wäldern  von  sich  hören  lassen.    Er  hat  die  Details 


214 


gefunden,  die  er  für  ein  Buch,  das  er  schreiben  will, 
suchte.  Der  Ton  seines  Briefes  ist  ausgelassen, 
woraus  ich  schließe,  daß  es  ihm  gut  geht.  Er  wird 
in  einem  Monat  nach  Paris  zurückkehren. 

Vor  vierzehn  Tagen  habe  ich  eine  kleine  Reise 
nach  der  nördlichen  Normandie  gemacht,  wo  ich 
endlich  einen  Ort  gefunden  habe,  der  für  meine  beiden 
Biedermänner  (Bouvard  und  Pecuchet)  paßt.  Er  liegt 
zwischen  Orne  und  Auge.  Ich  werde  häufiger  dorthin 
fahren  müssen. 

Im  September  werde  ich  also  diese  große  Arbeit 
beginnen !  sie  flößt  mir  Furcht  ein,  und  ich  bin  schon 
jetzt  erschöpft  davon. 

Da  Sie  die  Schweiz  kennen,  ist  es  unnötig,  daß 
ich  Ihnen  davon  spreche,  und  Sie  würden  mich  zu 
sehr  verachten,  wenn  ich  Ihnen  sagte,  daß  sie  mich 
zum  Sterben  langweilt.  Ich  bin  aus  Gehorsanv hierher- 
gekommen, weil  man  mich  hergeschickt  hat,  um  mein 
Gesicht  zu  entröten  und  meine  Nerven  zu  beruhigen! 
Ich  zweifle,  daß  das  Mittel  wirkt,  jedenfalls  werde  ich 
mich  sterblich  gelangweilt  haben.  Ich  bin  kein  Natur- 
mensch und  verstehe  Länder  nicht,  die  keine  Ge- 
schichte haben.  Ich  würde  alle  Gletscher  der  Schweiz 
für  das  vatikanische  Museum  geben.  Dort  kann  man 
träumen.   Nun,  in  drei  Wochen  werde  ich  wieder  an 

215 


meinem  grünen  Tisch  kleben  in  einem  bescheidenen 
Asyl,  das  Sie  anscheinend  nicht  mehr  besuchen  wollen. 

Righi,  14.  Juli  1874 
Wie?  Krank!  Armer,  lieber  Meister!  Wenn  es 
Rheumatismus  ist,  tun  Sie  doch,  was  mein  Bruder 
tat,  der  in  seiner  Eigenschaft  als  Arzt  kaum  noch 
an  die  Medizin  glaubt.  Er  ist  im  letzten  Jahr  in  Aix 
in  Savoyen  gewesen  und  in  vierzehn  Tagen  von 
Schmerzen  geheilt  worden,  die  ihn  seit  sechs  Jahren 
gequält  hatten.  Aber  dazu  müßten  Sie  reisen,  Ihre 
Gewohnheiten  aufgeben,  Nohant  und  die  lieben  Klei- 
nen verlassen.  Sie  werden  zu  Hause  bleiben  und  das 
ist  unrecht  von  Ihnen.  Man  muß  sich  pflegen,  für  die, 
die  einen  lieben. 

Und  bei  dieser  Gelegenheit  sagen  Sie  mir  in  Ihrem 
letzten  Brief  ein  böses  Wort.  Ich  hätte  Sie  im  Ver- 
dacht, Sie  vergäßen  Strohkopf!  Aber  nein!  Ich  bin 
erstens  zu  eitel,  und  zweitens  glaube  ich  zu  sehr  an  Sie. 

Sie  erzählen  mir  nicht,  was  es  mit  Ihrem  Stück  am 
Odeon  ist. 

Was  die  Stücke  betrifft,  so  will  ich  mich  von  neuem 
den  Beschimpfungen  des  Publikums  und  der  Zeitungs- 
schreiber aussetzen.  Der  Direktor  des  Clunytheatcrs, 
dem  ich  das  Schwache  Geschlecht  gebracht  habe, 
hat  mir  einen  bewundernden  Brief  geschrieben  und 

216 


erklärt  sich  bereit,  das  Stück  im  Oktober  zu  spielen. 
Er  rechnet  auf  einen  großen  Kassenerfolg.  Also  sei 
es!  Aber  ich  denke  an  Carvalhos  Begeisterung,  die 
in  völlige  Kühle  umschlug.  Und  das  alles  vergrößert 
meine  Verachtung  für  die  Halunken,  die  behaupten, 
sich  auf  die  Sache  zu  verstehen.  Denn  dies  ist  nun 
ein  dramatisches  Werk,  das  von  den  Direktoren 
des  Vaudeville-  und  des  Clunytheaters  für  vollendet 
erklärt  wird;  der  Direktor  des  Französischen  sagt, 
es  sei  „unspielbar**  und  der  des  Odeon:  es  müsse  von 
A  bis  Z  umgearbeitet  werden.  Ziehen  Sie  daraus 
einen  Schluß  und  handeln  Sie  danach!  Gleichviel, 
da  diese  vier  Herren  die  Herren  unseres  Schicksals 
sind,  weil  sie  Geld  haben  und  weil  sie  mehr  Geist 
haben  als  wir,  denn  sie  haben  nie  eine  Zeile  ge- 
schrieben, muß  man  ihnen  glauben  und  sich  ihnen 
unterwerfen. 

Es  ist  sonderbar,  was  für  eine  Freude  es  diesen 
Dummköpfen  macht,  in  dem  Stück  eines  andern 
herumzuwaten !  zu  kürzen,  zu  verbessern,  den  Inspizi- 
enten zu  spielen.  Habe  ich  Ihnen  erzählt,  daß  ich  die- 
serhalb  mit  dem  besagten  ***  sehr  kühl  stand?  Er 
hat  einen  Roman  umarbeiten  wollen,  den  ich  ihm 
empfohlen  hatte  und  der  nicht  sehr  gut  war,  dennoch  aber 
war  er  unfähig,  auch  nur  das  kleinste  Wort  daran  zu 
ändern.    Ich  habe  ihm  meine  Meinung  auch  nicht 

217 


vorenthalten;  inde  irae.  Es  ist  mir  aber  unmöglich, 
bescheiden  genug  zu  sein,  zu  glauben,  daß  dieser 
brave  Polacke  in  französischer  Prosa  stärker  ist  als 
ich.  Und  Sie  wollen,  ich  soll  ruhig  bleiben,  teurer 
Meister?  Ich  habe  nicht  Ihr  Temperament.  Ich 
schwebe  nicht  wie  Sie  stets  über  dem  Elend  dieser 
Welt.  Ihr  Strohkopf  ist  empfindlich,  als  hätte  er 
keine  Haut.  Und  die  Dummheit,  die  Bosheit,  die 
Ungerechtigkeit  greifen  ihn  immer  mehr  an.  So 
verdirbt  mir  die  Häßlichkeit  der  Deutschen,  die  mich 
umgeben,  den  Anblick  des  Righi.  Herr  des  Himmels! 
Was  für  Mäuler! 

Gott  sei  Dank  „verschone  ich  ihren  Staat  mit  mei- 
nem furchtbaren  Anblick'*. 


Sonnabend,  26.  September  1874 

Nachdem  ich  mich  auf  dem  Righi  wie  ein  Esel 
gclangweilt  habe,  bin  ich  Anfang  August  nach  Hause 
zurückgekehrt  und  habe  mich  an  meinen  Schmöker 
gemacht.  Der  Anfang  ist  nicht  leicht  gewesen,  er 
war  sogar  furchtbar,  und  ich  bin  fast  vor  Verzweiflung 
umgekommen,  aber  jetzt  geht  es,  jetzt  bin  ich  durch, 
komme  was  wolle.  Übrigens  muß  man  komplett 
verrückt  sein,  wenn  man  ein  solches  Buch  unter- 
nimmt.    Ich  fürchte,  daß  es  in  seiner  ganzen    Idee 

218 


vollkommen  unmöglich  ist.  Wir  werden  sehen.  0, 
wenn  ich  es  gut  durchführte  ...  welch  ein  Traum! 
Sie  wissen  sicher,  daß  ich  mich  wieder  einmal 
den  Ungewittern  der  Rampe  aussetzen  will  (hüb- 
sches Bild),  und  daß  ich.  der  Theaterwelt  Trotz 
bietend,  auf  der  Bühne  des  Clunytheaters  erscheinen 
werde,  wahrscheinlich  Ende  Dezember.  Der  Direktor 
dieser  Schmiere  ist  vom  Schwachen  Geschlecht  ent- 
zückt. Aber  Carvalho  war  es  auch,  und  das  hat 
nicht  verhindert  ...    Sie  wissen  das  übrige. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  alle  Leute  mich 
tadeln,  daß  ich  mich  in  einer  solchen  Schmiere  auf- 
führen lasse.    Aber  da  die  andern  dies  Stück  nicht 
wollen  und  mir  daran  liegt,  daß  es  aufgeführt  wird. 
damit  Bouilhets  Erbe  ein  paar  Sou  verdient,  bin  ich 
gezwungen,  es  dort  aufführen  zu  lassen.    Ich  werde 
Ihnen,  wenn  wir  uns  sehen,  zwei  oder  drei  hübsche 
Anekdoten  hierüber  erzählen.   Warum  ist  das  Theater 
8o  eine  wahnsinnige  Sache?   Wenn  man  einmal  diesen 
Boden  betreten  hat,  sind  die  gewöhnUchen  Lebens- 
bedingungen   verändert.     Wenn    man    das    (kleme) 
Unglück  gehabt  hat,  keinen  Erfolg  zu  haben,  wenden  sich 
die  Freunde  von  einem  ab.    Man  ist  sehr  mißachtet. 
Man  wird  nicht  mehr  gegrüßt!    Ich  schwöre  Ihnen 
auf  mein  Ehrenwort,  daß  mir  das  wegen  des  Kandi- 
daten geschehen  ist.   Ich  glaube  nicht  an  Holbachische 

219 


Verschwörungen,  aber  all  das,  was  man  mir  seit  dem 
März  angetan  hat,  setzt  mich  in  Erstaunen.  Übrigens 
mache  ich  mir  gar  nichts  daraus,  und  das  Schicksal 
des  Schwachen  Geschlechts  beunruhigt  mich  weniger 
als  der  kleinste  Satz  in  meinem  Roman. 

Der  allgemeine  Geist  scheint  mir  immer  niedriger 
zu  sinken.  In  welchen  Abgrund  der  Dummheit  werden 
wir  hinuntersteigen?  Das  letzte  Buch  Belots  ist  in 
vierzehn  Tagen  in  achttausend  Exemplaren  verkauft 
worden,  die  „Eroberung  von  Plassans"  von  Zola 
in  sechs  Monaten  in  siebzehnhundert,  und  er  hat 
nicht  eine  Besprechung  gehabt.  Alle  Montagsidioten 
fallen  über  Scribes  „Eine  Kette'*  in  Ohnmacht!  ... 
Frankreich  ist  krank,  sehr  krank,  was  man  auch  sagen 
mag,  und  meine  Gedanken  werden  immer  ebenholz- 
farbener. 

Es  gibt  aber  reizende  komische  Züge:  1 .  die  Flucht 
Bazaines  mit  der  Schildwachenepisode;  2.  die  Ge- 
schichte eines  Diamanten  von  Herrn  Paul  de  Musset 
(siehe  Revue  des  deux  Mondes  vom  1.  September); 
3.  das  Vestibül  des  alten  Etablissements  Nadar,  near 
old  England,  wo  man  die  lebensgroße  Photographie 
Alexander  Dumas  betrachten  kann. 

Ich  bin  überzeugt,  daß  Sie  mich  bissig  finden  und 
mir  antworten  werden:  Was  tut  das  alles?  Aber  es 
tut  alles  etwas  und  wir  gehen   zugrunde  durch  die 

220 


Prahlsucht,  durch  die  Ungewißheit,  durch  den  Eigen- 
dünkel, durch  die  Verachtung  der  Größe,  durch  die 
Liebe  zum  Banalen  und  die  dumme  Geschwätzigkeit. 
„Europa,  das  uns  haßt,  betrachtet  uns  lachend,** 
sagt  Ruy  Blas.    Weiß  Gott,  es  hat  recht  zu  lachen. 

Mittwoch,  2.  Dezember  1874 

Ich  habe  Gewissensbisse  in  bezug  auf  Sie.  Einen  Brief 
wie  Ihren  letzten  so  lange  ohne  Antwort  lassen  ist  ein 
Verbrechen.  Ich  wartete  mit  dem  Schreiben,  weil 
ich  Ihnen  etwas  Gewisses  über  das  Schwache  Geschecht 
mitteilen  wollte.  Das  Gewisse  ist  nun,  daß  ich  es  vor 
acht  Tagen  vom  Clunytheater  zurückgezogen  habe. 
Die  Besetzung,  die  Weinschenk  mir  vorschlug,  war 
widerlich  blöd,  und  die  Engagements,  die  er  mir  ver- 
sprochen hatte,  hat  er  nicht  verwirklicht.  Aber  Gott 
sei  Dank  habe  ich  mich  rechtzeitig  zurückgezogen. 
Augenblicklich  ist  mein  Stück  beim  Gymnase  ein- 
gereicht. Von  Herrn  Montigny  bis  jetzt  keine  Nach- 
richt. 

Ich  bin  von  fünfhundert  Teufeln  besessen  wegen 
meines  Schmökers  und  frage  mich  zuweilen,  ob  ich 
nicht  verrückt  bin,  daß  ich  ihn  angefangen  habe.  Aber 
wie  Thomas  Diafoirus  härte  ich  mich  gegen  die 
Schwierigkeiten  ab,  und  ich.  komme  vorwärts,  aller- 
dings auf  Umwegen.   Außer  den  Schwierigkeiten  der 

221 


Ausführung,  die  entsetzlich  sind,  muß  ich  einen  Haufen 
Dinge  lernen,  die  ich  nicht  weiß.  In  einem  Monat 
hoffe  ich  mit  dem  Ackerbau  und  dem  Gartenbau 
fertig  zu  werden,  aber  mein  erstes  Kapitel  werde  ich 
erst  zu  zwei  Dritteln  geschrieben  haben, 

WdS  Bücher  betrifft,  so  lesen  Sie  doch  von  meinem 
Freunde  Daudet  Fromont  und  Risler,  und  die  „Teuf- 
lischen von  meinem  Feinde  Barbey  d'Aurevilly. 
Man  kann  sich  vor  Lachen  krümmen.  Es  liegt  vielleicht 
an  der  Perversität  meines  Geistes,  der  die  ungesunden 
Dinge  Hebt,  aber  dies  Buch  ist  mir  außer- 
ordentlich amüsant  erschienen;  im  unfreiwillig 
Grotesken  kann  man  nicht  weiter  gehen. 

Sonst  ruhige  See,  Frankreich  sinkt  langsam  wie 
ein  morsches  Schiff,  und  die  Hoffnung  auf  Rettung 
erscheint  als  ein  Fantesiegebilde.  Man  muß  hier  in 
Paris  sein,  um  einen  Begriff  von  dem  allgemeinen 
Tiefstand  zu  bekommen,  von  der  Dummheit,  dem 
Schmutz,  in  dem  wir  herumwaten. 

Das  Gefühl  von  diesem  Todeskampf  durchdringt 
mich  und  ich  bin  zum  Sterben  traurig.  Wenn  ich 
mich  nicht  mit  meiner  Arbelt  zermartere,  dann  stöhne 
ich  über  mich  selbst.  So  liegen  die  Dinge.  In  meinen 
Mußestunden  denke  ich  nur  immer  an  die, 
die  tot  sind,  und  ich  will  Ihnen  ein  sehr 
anmaßendes   Wort   sagen.     Niemand    versteht    mich; 

222 


ich  gehöre  einer  andern  Welt  an.  Die  Leute  meines 
Fachs  sind  so  wenig  von  meinem  Fach.  Ich  kann 
eigentlich  nur  mit  Victor  Hugo  über  das  plaudern, 
was  mich  interessiert.  Vorgestern  hat  er  mir  aus 
Boileau  und  Tacitus  auswendig  vorgesprochen.  Das 
hat  auf  mich  wie  ein  Geschenk  gewirkt,  etwas  so 
Seltenes  ist  es.  Im  übrigen  ist  er  an  den  Tagen,  wo 
keine  Politiker  bei  ihm  sind,  ein  anbetungswürdiger 
Mensch. 

I  ans,  Sun. .tag  bcrn:  7  ihr  ... 
Teurer  Meister! 
Ich  verwünsche  wieder  einmal  die  Sensationsgier 
und  die  Freude,  die  gewisse  Leute  empfinden,  wenn 
sie  bedeutende  Neuigkeiten  verkünden  können!  Man 
hatte  mir  gesagt,  Sie  seien  sehr  krank.  Ihre  liebe 
Schrift  hat  mich  gestern  früh  beruhigt,  und  heute 
früh  habe  ich  den  Brief  von  Maurice  bekommen, 
also  Gott  sei  gelobt! 

Was  soll  ich  Ihnen  von  mir  sagen?  Ich  bin  nicht 
obenauf,  ich  habe  ...  ich  >yeiß  nicht  was.  Das  Brom- 
kalium hat  mich  beruhigt  und  mitten  auf  der  Stirn 
ein  Ekzem  hervorgerufen. 

In  meiner  Person  gehen  anormale  Dinge  vor.  Meine 
psychische  Erschlaffung  muß  wohl  eine  verborgene 
Ursache  haben.    Ich  fühle  mich  alt,  abgenutzt,  von 

223 


allem  angeekelt.  Und  die  andern  langweilen  mich,  wie 
ich  selbst  mich  langweile. 

Dennoch  arbeite  ich,  freilich  ohne  Enthusiasmus 
und  wie  man  ein  Pensum  erledigt,  und  vielleicht 
macht  die  Arbeit  mich  krank,  denn  ich  habe  ein  un- 
sinniges Buch  angefangen. 

Ich  verliere  mich  wie  ein  Greis  in  meine  Kindheits- 
erinnerungen . . .  ich  erwarte  nichts  mehr  vom  Leben 
als  eine  Reihe  von  Blättern  vollzuschmieren.  Ich  habe 
das  Gefühl,  daß  ich  durch  eine  endlose  Einsamkeit 
schreite,  und  ich  weiß  nicht,  wohin  ich  gehen  soll.  Und 
ich  selber  bin  Wüste,  Re'sender  und  Kamel  zugleich. 

Heute  habe  ich  meinen  Nachmittag  bei  der  Beerdi- 
gung Amedee  Achards  verbracht,  einer  protestanti- 
schen Leichenfeier,  die  ebenso  albern  war,  als  wenn 
sie  katholisch  gewesen  wäre.  Ganz  Paris  und  Reporter 
in  Masse. 

Ihr  Freund  Paul  Meurice  kam  vor  acht  Tagen  zu 
mir,  um  mir  vorzuschlagen,  ich  solle  im  Rappel  den 
„Salon**  übernehmen.  Ich  habe  die  Ehre  abgelehnt, 
denn  ich  bin  nicht  dafür,  eine  Kunst  zu  kritisieren, 
deren  Technik  man  nicht  kennt.  Und  dann,  wozu 
soviel   Kritik? 

Ich  bin  vernünftig.  Ich  gehe  alle  Tage  aus,  ich 
mache  mir  Bewegung,  und  ich  komme  müde  und  noch 
verblödeter  wieder  nach  Hause,  das  ist  mein  Gewinn 

224 


dabei.     Ihr   Troubadour  (der  wenig  troubadourhah 
ist)  ist  ein  trauriger  Gesell  geworden. 

Ich  schreibe  Ihnen  jetzt  so  sehen,  um  Sie  nicht  mit 
meinen  Klagen  zu  langweilen,  denn  niemand  kennt 
meine  Unerträglichkeit  besser  als  ich. 

Schicken  Sie  mir  Flamarande,  das  wird  mir  ein 
wenig  Luft  schaffen. 

Ich  umarme  Sie  alle,  und  Sie  besonders,  teurer 
Meister,  der  Sie  so  groß,  so  stark  und  so  sanft  sind. 
Ihr  Strohkopf,  der  immer  zerbrochener  wird,  wenn 
zerbrochen  das  richtige  Wort  ist,  denn  ich  fühle  den 
Inhalt  entströmen. 

Croisset,  lo.  Mai  1875 
Eine  fliegende  Gicht,  Schmerzen,  die  überall  sind, 
eine  unbesiegliche  Melancholie,  das  Gefühl  allgemei- 
ner Nutzlosigkeit  und  große  Zweifel  an  dem  Buch, 
das  ich  schreibe,  das  bin  ich.  lieber,  tapfrer  Meister. 
Denken  Sie  sich  Geldsorgen  hinzu  und  melancholisches 
Grübeln  über  die  Vergangenheit,  so  haben  Sie  memen 
Zustand,  und  ich  versichere   Ihnen,  daß  ich  große 
Anstrengungen  mache,  um  aus  ihm  herauszukommen. 
Aber  mein  Wille  ist  geschwächt.    Ich  kann  mich  zu 
nichts   Tatsächlichem   entschließen.    Ach,    ich    habe 
meine  gute  Zeit  hinter  mir,  und  das  Alter  kündigt 
sich  nicht  mit  lustigen  Schmerzen  an.    Seit  ich  aber 

15  225 


die  Wasserkur  mache,  fühle  ich  mich  etwas  weniger 
blöd,  und  heute  abend  werde  ich  mich  wieder  an  die 
Arbeit  machen,  ohne  hinter  mich  zu  blicken. 

Ich  habe  meine  Wohnung  in  der  Rue  Murillo  auf- 
gegeben und  mir  eine  geräumigere  gemietet,  in  der 
Nähe  der  Wohnung,  die  meine  Nichte  am  Boulevard 
Reine  Hortense  innehat.  Ich  werde  nächsten  Winter 
weniger  allein  sein,  denn  ich  kann  die  Einsamkeit 
nicht  mehr  ertragen. 

Turgenjeff  schien  von  den  ersten  beiden  Kapiteln 
meines  furchtbaren  Schmökers  sehr  befriedigt  zu 
sein.  Aber  Turgenjeff  liebt  mich  vielleicht  zu  sehr, 
um  mich  unparteiisch  beurteilen  zu  können. 

Ich  werde  jetzt  lange  nicht  ausgehen,  denn  ich 
will  in  meiner  Arbeit  weiterkommen,  die  mir  wie 
eine  Last  von  fünfhunderttausend  Kilogramm  auf 
der  Brust  liegt.  Meine  Nichte  wird  den  ganzen  Juni 
hier  verbringen.  Wenn  sie  wieder  fort  ist,  werde  ich 
eine  kleine  archäologische  und  geologische  Exkursion 
machen,  und  das  ist  alles. 

Nein,  ich  habe  mich  über  den  Tod  Michel  Levys 
nicht  gefreut,  und  ich  beneide  ihn  sogar  um  diesen 
sanften  Tod.  Abgesehen  davon,  dieser  Mann  hat  mir 
viel  Leid  getan.  Er  hat  mich  tief  verletzt.  Ich  bin 
freilich  mit  einer  absurden  Empfindlichkeit  begabt, 
was  die  andern  ritzt,  zerreißt  mich.    Warum  bin  ich 

226 


für  den  Genuß  nicht  eben  so  organisiert,  wie  ich  es 
für  den  Schmerz  bin? 

Was  Sie  mir  über  Aurore  schreiben,  die  Homer 
liest,  hat  mir  wohlgetan.  Das  fehlt  mir:  ein  kleines 
Mädchen  wie  sie.  Aber  man  gestaltet  sein  Schicksal 
nicht,  man  erliegt  ihm.  Ich  habe  immer  für  den  Tag 
gelebt,  ohne  Zukunftspläne,  und  habe  mein  Ziel 
verfolgt  (ein  einziges,  die  Literatur),  ohne  nach  rechts 
und  nach  links  zu  blicken.  Alles,  was  mich  umgab, 
ist  verschwunden,  und  jetzt  finde  ich  mich  in  der 
Wüste.     Kurz,  Zerstreuung  fehlt  mir  gänzlich. 

Wenn  man  gute  Sachen  schreiben  will,  braucht 
man  eine  gewisse  Munterkeit!  Was  soll  ich  tun,  um 
sie  wiederzubekommen?  Welches  Mittel  muß  man 
anwenden,  um  nicht  unaufhörlich  an  sein  elendes 
Ich  zu  denken?  Das  Kränkste  in  mir  ist  die  Stimmung, 
sonst  würde  alles  übrige  gut  gehen.  Sie  sehen,  lieber, 
guter  Meister,  daß  ich  recht  habe,  Sie  mit  meinen 
Briefen  zu  verschonen.  Nichts  ist  so  dumm  wie  ein 
Jammerlappen. 


Paris,  14.  Dezember  1875 

Es  geht  ein  wenig  besser  und  ich  benutze  das,  um 
Ihnen  zu  schreiben,  lieber,  guter,  anbetungswürdiger 
Meister. 

15*  227 


Sie  wissen,  daß  ich  meinen  großen  Roman  auf- 
gegeben habe,  um  eine  kleine  mittelaherliche  Bagatelle 
zu  schreiben,  die  nicht  mehr  als  dreißig  Seiten  haben 
wird.  Das  bringt  mich  in  ein  netteres  Milieu,  als  die 
moderne  Welt  ist,  und  tut  mir  wohl;  dann  plane  ich 
einen  zeitgenössischen  Roman,  aber  ich  schwanke 
zwischen  mehreren  Ideenembryos.  Ich  möchte  etwas 
Konzentriertes  und  Gewaltsames  machen.  Der  Faden 
der  Handlung  (das  heißt  die  Hauptsache)  fehlt  mir 
noch. 

Äußerlich  hat  sich  mein  Leben  kaum  verändert: 
ich  sehe  dieselben  Leute,  ich  empfange  die  gleichen 
Besuche.  Meine  Getreuen  am  Sonntag  sind  erstens 
der  große  Turgenjeff,  der  reizender  ist  als  je,  Zola, 
Alphonse  Daudet  und  Goncourt.  Sie  haben  niemals 
mit  mir  über  die  beiden  ersteren  gesprochen.  Was 
denken  Sie  über  ihre  Bücher? 

Ich  lese  überhaupt  nichts.  Außer  Shakespeare, 
den  ich  wieder  von  A  bis  Z  gelesen  habe.  Das  er- 
frischt einen  und  pumpt  einem  Luft  in  die  Lungen, 
als  wäre  man  auf  einem  hohen  Berge.  Alles  erscheint 
mittelmäßig  neben  diesem  gewaltigen  Manne. 

Da  ich  sehr  wenig  ausgehe,  habe  ich  Victor  Hugo 
noch  nicht  gesehen.  Heute  abend  aber  werde  ich  mich 
entschließen,    Stiefel    anzuziehen,    um    ihm    meine 

228 


Huldigung  darzubringen.    Seine  Persönlichkeit   sagt 
mir   unendlich   zu.   aber   sein   Hof!...     Erbarmen! 

Die  Senatorwahlen  sind  ein  Gegenstand  der  Be- 
lustigung für  die  Leute,  zu  deren  Partei  ich  gehöre. 
In  den  Korridoren  der  Assemblee  müssen  unerhört 
groteske  und  gemeine  Gespräche  geführt  worden 
sein.  Das  neunzehnte  Jahrhundert  ist  bestimmt,  alle 
Religionen  untergehen  zu  sehen.  Amen!  Ich  weine 
keiner  nach. 

Im  Odeon  wird  ein  lebender  Bär  auf  der  Bühne 
erscheinen.    Das  ist  alles,  was  ich  von  der  Literatur 

weiß. 

. . .  Dezember  i8js 

Ihr  guter,  so  herzlich  mütterlicher  Brief  vom  18.  hat 
mich  sehr  nachdenklich  gemacht.  Ich  habe  ihn  wohl 
zehnmal  gelesen,  und  ich  bekenne  Ihnen,  daß  ich  nicht 
sicher  bin,  ihn  zu  verstehen.  Mit  einem  Wort,  was  soll 
ich  nach  Ihrer  Meinung  tun?  Formulieren  Sie  Ihre 
Ratschläge  genauer! 

Ich  tue  dauernd  alles,  was  ich  kann,  um  mein  Gehirn 
zu  weiten,  und  ich  arbeite  mit  ehrlichem  Herzen. 
Das  übrige  hängt  nicht  von  mir  ab. 

Ich  markiere  nicht  aus  Vergnügen  „Trostlosigkeit", 
glauben  Sie  mir.  aber  ich  kann  meine  Augen  nicht 
ändern!  Was  meinen  Mangel  an  Überzeugung  be- 
trifft, so  kann  ich  Ihnen  leider  sagen,  daß  die  Über- 

229 


Zeugungen  mich  ersticken.  Ich  berste  vor  Zorn  und 
zurückgehaltener  Empörung.  Aber  in  seinem  Kunst- 
ideal darf  man,  glaube  ich,  nichts  davon  zeigen,  und 
der  Künstler  darf  in  seinem  Werk  nicht  sichtbarer 
sein  als  Gott  in  der  Natur.  Der  Mensch  ist  nichts, 
das  Werk  alles!  Diese  Disziplin,  die  vielleicht  von 
einem  falschen  Standpunkt  ausgeht,  ist  nicht  leicht 
zu  beobachten.  Für  mich  wenigstens  ist  es  eine  Art 
dauerndes  Opfer,  das  ich  dem  guten  Geschmack  bringe. 
Es  würde  mir  sehr  angenehm  sein,  zu  sagen,  was  ich 
denke,  und  Herrn  Gustave  Flaubert  durch  Worte 
Erleichterung  zu  verschaffen,  aber  was  für  eine  Be- 
deutung hat  besagter  Herr? 

Ich  denke  wie  Sie,  mein  Meister,  daß  die  Kunst 
nicht  nur  Kritik  und  Satire  ist;  daher  habe  ich  auch 
niemals,  in  voller  Absicht,  weder  mit  dem  einen  noch 
mit  dem  andern  einen  Versuch  gemacht.  Ich  habe 
mich  stets  bemüht,  in  die  Seele  der  Dinge  einzu- 
dringen und  mich  an  die  größten  Allgemeinheiten 
zu  halten,  und  ich  habe  mich  bewußt  vom  Zufälligen 
und  Dramatischen  abgewendet.  Keine  Ungeheuer 
und  keine  Helden! 

Sie  sagen;  ich  habe  dir  keine  literarischen  Rat- 
schläge zu  geben,  ich  habe  keine  Urteile  über  die 
dir  befreundeten  Schriftsteller  aufzustellen  usw. 
Ah,  das  wäre!    Ich  fordere  doch  einen  Rat,  und  ich 

230 


erwarte   Ihr  Urteil.    Wer  sollte  ihn  geben,  wer  ein 
Urteil  formulieren,  wenn  nicht  Sie? 

Was  meine  Freunde  betrifft,  fügen  Sie  hinzu: 
„Meine  Schule**.  Aber  ich  richte  mein  Temperament 
zugrunde  in  dem  Bestreben,  keine  Schule  zu  haben. 
Ich  stoße  sie  alle  a  priori  zurück.  All  die,  die  ich 
häufig  sehe  und  die  Sie  nennen,  wollen  alles,  was  ich 
verachte,  und  kümmern  sich  wenig  um  das,  was  mich 
quält.  Ich  halte  die  technische  Einzelheit,  das  lokale 
Wissen,  überhaupt  die  historische  und  exakte  Seite 
der  Dinge,  für  sehr  untergeordnet.  Ich  suche  vor 
allem  die  Schönheit,  um  die  meine  Gefährten  sich 
wenig  kümmern.  Ich  sehe  sie  unempfindlich,  wenn 
ich  vor  Bewunderung  oder  Abscheu  außer  mir  gerate. 
Worte,  die  ihnen  sehr  gewöhnlich  erscheinen,  bringen 
mich  in  Ekstase.  Goncourt  ist  sehr  glücklich,  wenn 
er  auf  der  Straße  ein  Wort  aufgefangen  hat,  das  er 
einem  Buch  einfügen  kann,  und  ich  sehr  befriedigt, 
wenn  ich  eine  Seite  ohne  Assonanzen  und  Wieder- 
holungen geschrieben  habe.  Ich  gäbe  alle  Legenden 
Gavamis  hin  für  gewisse  Ausdrücke  und  Zäsuren 
der  Meister  wie:  der  Schatten  war  hochzeitlich, 
erhaben  und  feierlich,  von  Victor  Hugo,  oder  wie 
das  Wort  Montesquieus  „Die  Laster  Alexanders 
waren  außerordentlich  wie  seine  Tugenden:  Er  war 
furchtbar  in  seiner  Wut.  Sie  machte  ihn  grausam** 

231 


Ich  versuche,  gut  zu  denken,  um  gut  zu  schreiben. 
Aber  das  gute  Schreiben  ist  mein  Ziel,  das  verhehle 
ich  nicht. 

Mir  fehlt  „ein  gefestigter  und  weiter  Blick  über 
das  Leben".  Sie  haben  tausendmal  recht,  aber  das 
Mittel,  daß  es  anders  wird?  Ich  erbitte  es  von  Ihnen. 
Sie  werden  meine  Verdüsterungen  nicht  mit  Metha- 
physik  erleuchten,  meine  nicht  und  die  der  andern 
auch  nicht.  Die  Worte  Religion  oder  Katholizismus 
einerseits;  Fortschritt,  Brüderlichkeit,  Demokratie 
anderseits  entsprechen  den  geistigen  Bedürfnissen 
des  Augenblicks  nicht.  Das  ganze  neue  Dogma  der 
Gleichheit,  das  der  Radikalismus  predigt,  ist  durch 
die  Physiologie  und  durch  die  Geschichte  widerlegt. 
Ich  sehe  keine  Möglichkeit,  heute  ein  neues  Prinzip 
aufzustellen,  ebensowenig  die  alten  zu  respektieren. 
Also  ich  suche  —  ohne  sie  zu  finden  —  die  Idee, 
von  der  alles  übrige  abhängen  muß. 

Inzwischen  halte  ich  mich  an  das  Wort,  das  Littre 
mir  einmal  gesagt  hat:  Ah,  mein  Freund,  der  Mensch 
ist  ein  unbeständiges  Kompositum  und  die  Erde  ein 
sehr  untergeordneter  Planet." 

Nichts  hält  mich  mehr  aufrecht,  als  die  Hoffnung, 
jhn  bald  zu  verlassen  und  nicht  auf  einen  andern  zu 
kommen,  der  noch  schlimmer  sein  könnte.    „Lieber 

232 


würde  ich  nicht  sterben/*  sagte  Marat.    Ach  nein, 
genug,  genug  der  Qual! 

Ich  schreibe  jetzt  eine  kleine  Bagatelle,  deren 
Lektüre  eine  Mutter  ihrer  Tochter  erlauben  kann. 
Das  ganze  wird  etwa  dreißig  Seiten  umfassen.  Ich  habe 
noch  zwei  Monate  damit  zu  tun.  Ich  bin  mit  großer 
Lust  dabei.  Ich  schicke  sie  Ihnen,  sobald  sie  er- 
schienen ist  (nicht  die  Lust,  sondern  die  kleine  Ge- 
schichte). 


Mittwoch,  187s 

Ein  ganzer  Erfolg,  lieber  Meister.  Man  hat  die  Schau- 
spieler nach  allen  Akten  gerufen  und  warmen  Beifall 
gespendet.  Man  war  zufrieden,  und  von  Zeit  zu  Zeit 
wurden  Zurufe  laut.  All  Ihre  Freunde,  die  dem  Ruf 
gefolgt  waren,  waren  betrübt,  daß  Sie  nicht  da  waren. 

Die  Rollen  Antolnes  und  Victorines  sind  wunder- 
bar gespielt  worden.  Die  kleine  Baretta  Ist  wirklich 
ein  Juwel. 

Wie  haben  Sie  VIctorlne  nach  dem  „Philosophen, 
ohne  es  zu  wissen*,  schreiben  können?  Das  fasse 
ich  nicht.  Ihr  Stück  hat  mich  bezaubert  und  zum 
Weinen  gebracht,  während  das  andere  mich  gelang- 
weilt hat,  tödlich  gelangweilt.  Mich  verlangte  nach 
dem  Ende.   Welch  eine  Sprache!  der  gute  Turgenjeff 

233 


und  Frau  Viardot  rissen  die  Augen  auf,  daß  es  komisch 
anzusehen  war. 

Was  in  Ihrem  Werk  die  größte  Wirkung  erzielt 
hat,  ist  im  letzten  Akt  die  Szene  zwischen  Antoine 
und  seiner  Tochter.  Maubant  ist  zu  majestätisch 
und  der  Schauspieler,  der  Fulgence  spielt,  unzu- 
reichend. Aber  alles  ist  sehr  gut  gegangen,  und  dies 
Stück  wird  ein  langes  Leben  haben. 

Der  gewaltige  Harrisse  hat  mir  gesagt,  er  werde 
Ihnen  unverzügUch  schreiben.  Also  wird  sein  Brief 
Sie  vor  dem  meinen  erreichen.  Ich  wollte  heute  früh 
nach  Pont  l'Eveque  und  Honfleur  fahren,  um  ein 
Stück  Landschaft  zu  sehen,  an  das  ich  mich  nicht 
mehr  deutlich  erinnere,  aber  die  Überschwemmungen 
hindern  mich. 

Lesen  Sie  doch  bitte  den  neuen  Roman  Zolas, 
Exzellenz  Rougon:  ich  möchte  gern  wissen,  wie  Sie 
ihn  finden. 

Nein,  ich  verachte  Sedaine  nicht,  weil  ich  nichts 
verachte,  was  ich  nicht  verstehe.  Er  hat  für  mich  etwas 
wie  Pindar  und  Milton,  die  mir  völlig  verschlossen 
sind,  trotzdem  fühle  ich  wohl,  daß  der  Bürger  Sedaine 
nicht  ganz  von  ihrem  Wuchs  ist. 

Das  Publikum  vom  letzten  Dienstag  hat  übrigens 
meinen  Irrtum  geteilt,  und  Victorine  hat  dort,  unab- 
hängig von  ihrem  wirklichen  Wert,  durch  den  Kontrast 

234 


gesiegt.    Frau  Viardot,   die  einen   natürlich   großen 
Geschmack   hat,   sagte   gestern,    als    wir   von    Ihnen 
sprachen.  „Wie  hat  sie  das  eine  neben  dem  andern 
schreiben  können?"    Das  ist  auch  meine  Meinung. 
Sie   machen   mich   etwas  traurig,  teurer   Meister, 
indem    Sie    mir   ästhetische    Ansichten    zuschreiben, 
die  nicht  die  meinen  sind.    Ich  glaube,  daß  die  Ab- 
rundung  der  Phrase  nichts  ist,  daß  aber  gut  schreiben 
alles  ist,  weil  gut  schreiben  zugleich  gut  fühlen,  gut 
denken  und  gut  sagen  ist  (Buffon).    Der  endgültige 
Ausdruck  ist  also  von  den  beiden  andern  Dingen  ab- 
hängig, da  man  ja  stark  fühlen  muß,  um  denken  zu 
können  und  denken  muß,  um  etwas  ausdrücken  zu 
können. 

Alle  Spießbürger  können  viel  Herz  und  Zartgefühl 
haben,   voll   der   besten    Gefühle   und   der   größten 
Tugenden  sein,  ohne  deswegen  Künstler  zu  werden. 
Die   Sorge   um   die   Schönheit,   die   Sie   mir   vor- 
werfen, ist   für   mich   eine   Methode.     Wenn  ich  in 
einem   meiner  Sätze   eine   schlechte   Assonanz   oder 
eine  Wiederholung  entdecke,  bin  ich  sicher,  daß  ich 
in  etwas  Falsches  hineingeraten  bin;  durch  Suchen 
finde  ich  den   richtigen   Ausdruck,  der  der   einzige 
war  und  der  gleichzeitig  harmonisch  ist.    Das  Wort 
fehlt  niemals,  wenn  man  die  Idee  hat. 

235 


Bedenken  Sie  (um  wieder  auf  den  guten  Sedalne 
zu  kommen),  daß  ich  all  seine  Meinungen  und  seine 
Bestrebungen  anerkenne.  Vom  archäologischen 
Standpunkt  ist  es  sonderbar  und  vom  menschlichen 
Standpunkt  sehr  lobenswert,  das  gebe  ich  Ihnen  zu. 
Aber  was  soll  uns  das  heute?  Ist  das  ewige  Kunst, 
ich  frage  Sie. 

Schriftsteller  seiner  Zeit  haben  nützliche  Prinzipien 
aufgestellt,  aber  in  einem  unvergänglichen  Stil,  in 
zugleich  konkreterer  und  allgemeinerer  Art. 

Kurz,  die  Beharrlichkeit  der  Comedie  Fran^aise, 
uns  das  als  ein  „Meisterwerk"  hinzustellen,  hat  mich 
so  angegriffen,  daß  ich,  als  ich  wieder  zu  Hause  war 
(um  den  Geschmack  dieser  Milchsuppe  auszulöschen), 
vorm  Schlafengehen  die  Medea  des  Euripides  gelesen 
habe,  da  ich  sonst  nichts  Klassisches  zur  Hand  hatte, 
bis  Aurora  Strohkopf  bei  dieser  Beschäftigung  über- 
raschte. 

Ich  habe  Zola  geschrieben,  er  soll  Ihnen  sein  Buch 
schicken.  Ich  werde  auch  Daudet  sagen,  daß  er  Ihnen 
seinen  Jack  schickt,  da  ich  sehr  begierig  bin,  Ihre 
Meinung  über  diese  beiden  Bücher  zu  hören,  die  in 
Stil  und  Temperament  sehr  verschieden  sind,  aber 
beide  sehr  bemerkenswert. 

Die  Angst,  die  die  Wahlen  den  Spießbürgern  ein- 
gejagt haben,  ist  ergötzlich  gewesen. 

236 


Montag  abend,  i8y6 
Ich  habe  heute  früh  Ihr  Buch  bekommen,  teurer 
Meister;  ich  habe  noch  zwei  oder  drei  andere,  die  man 
mir  vor  langer  Zeit  gehehen  hat;  ich  will  sie  weg- 
schicken, und  ich  werde  das  Ihre  Ende  der  Woche 
lesen,  während  einer  kleinen  Reise  von  zwei  Tagen, 
die  ich  wegen  meiner  „Geschichte  eines  einfachen 
Herzens",  einer  Bagatelle,  die  momentan  im  Bau 
ist,  wie  Prudhomme  sagen  würde,  nach  Pont 
l'Eveque  und  Honfleur  machen   muß. 

Ich  bin  sehr  froh,  daß  „Jack"  Ihnen  gefallen  hat. 
Es  ist  ein  entzückendes  Buch,  nicht  wahr?  Wenn  Sie 
den  Verfasser  kennten,  würden  Sie  ihn  noch  mehr 
lieben  als  sein  Werk.  Ich  habe  ihm  gesagt,  er  soll 
Ihnen  Risler  und  Tartarin  schicken.  Sie  werden  mir 
danken,  wenn  Sie  diese  beiden  Bücher  gelesen  haben, 
dessen  bin  ich  von  vornherein  sicher. 

Ich  teile  die  Strenge  Targenjeffs  gegen  Jack  und 
die  Grenzenlosigkeit  seiner  Bewunderung  für  Rougon 
nicht.  Der  eine  hat  den  Zauber,  der  andere  die  Kraft. 
Aber  keins  von  beiden  befaßt  sich  vor  allem  mit  dem, 
was  für  mich  das  Ziel  der  Kunst  ist,  nämlich  mit  der 
Schönheit.  Ich  erinnere  mich,  Herzklopfen  gehabt, 
eine  heftige  Freude  empfunden  zu  haben,  als  ich  eine 
Mauer  der  Akropolis  betrachtete,  eine  ganz  nackte 
Mauer  (die  Mauer  an  der  linken  Seite,  wenn  man  zu 

237 


den  Propyläen  Hinaufsteigt).  Nun  frage  ich  mich, 
ob  ein  Buch,  unabhängig  von  dem,  was  es  sagt,  nicht 
die  gleiche  Wirkung  hervorrufen  kann?  Liegt  nicht 
in  der  Präzision  der  Werkzeuge,  in  der  Seltenheit  der 
Grundstoffe,  der  Glätte  der  Oberfläche,  der  Harmonie 
des  Ganzen  eine  innere  Tugend,  eine  Art  göttliche 
Kraft,  etwas  Ewiges  wie  ein  Prinzip?  (ich  spreche 
platonisch).  Warum  gibt  es  eine  notwendige  Beziehung 
zwischen  dem  richtigen  und  dem  musikalischen  Wort? 
Warum  kommt  man  immer  dazu,  einen  Vers  zu 
machen,  wenn  man  seinen  Gedanken  zu  sehr  kompri- 
miert? Das  Gesetz  der  Zahlen  beherrscht  also  die 
Gefühle  und  die  Bilder,  und  was  äußerlich  erscheint, 
ist  demnach  ganz  einfach  das  Innere?  Wenn  ich  lange 
in  diesem  Zuge  fortführe,  würde  ich  mir  sehr  schaden, 
denn  anderseits  muß  die  Kunst  rechtschaffen  sein; 
oder  vielmehr  die  Kunst  ist  so,  wie  man  sie  machen 
kann.  Wir  sind  nicht  frei.  Jeder  folgt  seinem  Wege, 
seinem  eigenen  Willen  zum  Trotz.  Kurz,  Ihr  Stroh- 
kopf hat  keinen  vernünftigen  Gedanken  mehr  in 
seinem  Schädel. 

Aber  wie  schwer  ist  es,  sich  zu  verständigen!  Da 
sind  zwei  Menschen,  die  ich  sehr  liebe  und  die  ich 
für  wahre  Künstler  halte,  Turgenjeff  und  Zola,  was 
nicht  hindert,  daß  sie  die  Prosa  Chat eaubri and s 
und  noch  weniger  die  Gautiers  keineswegs  bewundem. 

238 


Worte,  die  mich  entzücken,  erscheinen  ihnen  hohl. 
Wer  hat  unrecht?  Und  wie  soll  man  dem  Publikum 
gefallen,  wenn  die  Nächsten  einem  so  fern  sind? 
Das  alles  macht  mich  sehr  traurig.   Lachen  Sie  nicht. 

Sonntag  abend,  . . .  i8y6 

Sie  müssen  mich,  lieber  Meister,  innerlich  als  ein 
, .rechtes  Schwein"  ansehen,  denn  ich  habe  auf  Ihren 
letzten  Brief  nicht  geantwortet,  und  habe  Ihnen  nichts 
über  Ihre  beiden  Bücher  gesagt,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  ich  heute  früh  ein  drittes  von  Ihnen  bekommen 
habe.  Aber  ich  bin  seit  vierzehn  Tagen  völlig  von 
meiner  kleinen  Erzählung  in  Anspruch  genommen, 
die  bald  fertig  sein  wird.  Ich  habe  mehrere  Gänge 
zu  machen,  allerlei  Lektüre,  und,  was  ernsthafter  ist 
als  all  das,  die  Gesundheit  meiner  armen  Nichte  beun- 
ruhigt mich  außerordentlich  und  macht  mir  den  Kopf 
so  wirr,  daß  ich  nicht  weiß,  was  ich  tue.  Sie  sehen, 
daß  ich  Hartes  zu  überstehen  habe.  Dies  junge  Wesen 
ist  im  höchsten  Grade  anämisch.  Sie  geht  zugrunde. 
Sie  hat  die  Malerei  aufgeben  müssen,  die  ihre  einzige 
Zerstreuung  ist.  Alle  gewöhnlichen  Stärkungsmittel 
richten  nichts  aus.  Seit  drei  Tagen  hat  sie  sich  auf 
Anordnung  eines  andern  Arztes,  den  ich  für  tüchtiger 
halte  als  die  übrigen,  der  Wasserkur  zugewandt. 
Wird  das  ihrer  Verdauung  und  ihrem  Schlaf  helfen 

239 


und  ihren  ganzen  Körper  stärken?  Ihr  armer  Stroh- 
kopf hat  immer  weniger  Freude  am  Leben,  er  hat 
zuviel  davon,  unendlich  zuviel.  Sprechen  wir  von 
Ihren  Büchern,  das  ist  besser. 

Sie  haben  mich  unterhalten,  der  Beweis  ist,  daß 
ich  Flamarande  und  Die  beiden  Brüder  in  einem  Zuge 
und  hintereinander  verschlungen  habe.  Was  ist  Frau 
von  Flamarande  für  eine  reizende  Frau  und  was  für  ein 
feiner  Mann  ist  Herr  von  Salcede.  Die  Erzählung  von 
dem  Kindesraub,  die  Wagenfahrt  und  die  Geschichte 
Zamoras  sind  vollendete  Stellen.  Dauernd  wird  das 
Interesse  wachgehalten  und  sogar  gesteigert.  Was  ich 
vor  allem  an  diesen  beiden  Romanen  bewundere 
(wie  übrigens  an  allen  Ihren  Werken),  das  ist  die  natür- 
liche Ordnung  der  Gedanken,  das  erzählerische  Talent 
oder  vielmehr  Genie.  Aber  was  für  ein  greulicher 
Kerl  ist  Ihr  Herr  von  Flamarande!  Was  den  Diener 
betrifft,  der  die  Geschichte  erzählt,  und  der  augen- 
scheinlich in  die  gnädige  Frau  verliebt  ist,  so  frage 
ich  mich,  warum  Sie  seine  persönliche  Eifersucht 
nicht  deutlicher  gezeigt  haben? 

Abgesehen  von  dem  Grafen  sind  alle  Leute  in  dieser 
Geschichte  tugendhaft  und  sogar  außerordentlich 
tugendhaft.  Aber  halten  Sie  sie  für  sehr  echt?  Gibt 
es  viele  von  ihrer  Sorte?  Solange  man  von  ihnen  liest. 

240 


glaubt  man  an  sie,  weil  sie  so  geschickt  dargestellt 
sind,  aber  hinterher? 

Endlich,  teurer  Meister,  und  das  ist  die  Antwort 
auf  Ihren  letzten  Brief,  will  ich  Ihnen  sagen,  was 
uns  hauptsächlich  trennt.  Sie  fliegen  in  allen  Dingen 
mit  dem  ersten  Sprung  zum  Himmel  empor  und  steigen 
von  da  auf  die  Erde  nieder.  Sie  gehen  von  dem  Apriori 
aus,  von  der  Theorie,  vom  Ideal.  Daraus  entspringt 
Ihre  Sanftmut  dem  Leben  gegenüber,  Ihre  Heiterkeit 
und,  um  das  rechte  Wort  zu  sagen,  Ihre  Größe.  — 
Ich  armer  Kerl  hafte  wie  mit  Bleisohlen  an  der  Erde; 
alles  erregt,  zerreißt,  zerstört  mich  und  ich  be- 
mühe mich,  emporzusteigen.  Wenn  ich  mir  Ihre 
Art,  die  ganze  Welt  anzusehen,  zu  eigen  machte,  würde 
ich  lächerlich  werden,  das  ist  alles.  Denn  Sie  haben 
gut  predigen,  ich  kann  kein  anderes  Temperament 
haben  als  das  meine,  auch  keine  andere  Ästhetik  als 
die  eine,  die  daraus  folgert.  Sie  beschuldigen  mich, 
daß  ich  mich  nicht  der  Natur  überlasse.  Gut,  und 
diese  Disziplin?  Diese  Tugend?^  Was  machen  wir 
damit?  Ich  bewundere  Herrn  von  Buffon,  der,  wenn 
er  schreiben  will,  Manschetten  anzieht.  Dieser  Luxus 
ist  ein  Symbol.  Nun,  ich  versuche  naiv  möglichst  ver- 
ständnisvoll zu  sein.   Was  kann  man  mehr  verlangen? 

Was  das  betrifft,  daß  ich  meine  persönliche  Meinung 
über  die  Leute  sagen  soll,  die  ich  gestalte,  nein,  nein, 

16  241 


tausendmal  nein!  Ich  maße  mir  das  Recht  dazu  nicht 
an.  Wenn  der  Leser  aus  einem  Buch  nicht  die  Moral 
zieht,  die  darin  liegen  muß,  so  ist  der  Leser  ein  Esel 
oder  das  Buch  ist  in  Punkto  Deutlichkeit  falsch.  Denn 
im  Augenblick,  wo  eine  Sache  wahr  ist,  ist  sie  gut. 
Die  obszönen  Bücher  sind  nur  deshalb  unmoralisch, 
weil  ihnen  die  Wahrheit  fehlt.  So  geht  es  im  Leben 
nicht  zu. 

Und  beachten  Sie,  daß  ich  das  verabscheue,  was  man 
Realismus  zu  nennen  übereingekommen  ist,  obwohl 
man  mich  zu  einem  seiner  Priester  macht;  erklären 
Sie  all  das! 

WdS  das  Publikum  betrifft,  so  vernichtet  sein  Ge- 
schmack mich  immer  mehr.  Gestern  zum  Beispiel 
habe  ich  der  Premiere  des  Prix  Martin  beigewohnt, 
einer  Posse,  die  ich  für  mein  Teil  sehr  geistvoll  finde. 
Kein  Wort  des  Stückes  hat  ein  Lachen  entzündet, 
und  der  Schluß,  der  mir  unvergleichlich  erscheint, 
ist  unbemerkt  geblieben.  Also  suchen,  was  gefallen 
kann,  scheint  mir  die  phantastischste  aller  Unterneh- 
mungen. Denn  ich  wette,  daß  niemand,  wer  es  auch 
sei,  mir  sagen  kann,  durch  welche  Mittel  man  gefällt. 
Der  Erfolg  ist  eine  Folge  und  darf  nicht  ein  Zweck 
sein.  Ich  habe  ihn  nie  gesucht  (obwohl  ich  ihn 
wünsche)  und  ich  suche  ihn  immer  weniger  und 
weniger. 

242 


Nach  meiner  kleinen.  Erzählung  werde  ich  eine 
andere  schreiben,  —  denn  ich  bin  zu  ausgepumpt, 
um  mich  an  ein  großes  Werk  zu  wagen.  Ich  hatte 
zuerst  daran  gedacht,  den  Heiligen  Julianus  in  einer 
Zeitschrift  zu  veröffentlichen,  aber  ich  habe  darauf 
verzichtet. 

Freitag  abend,  ...  1S76 
O,  haben  Sie  aus  Herzensgrunde  Dank,  lieber 
Meister!  Sie  haben  mir  einen  wundervollen  Tag 
bereitet,  denn  ich  habe  Ihr  letztes  Buch  gelesen, 
den  Tour  de  Percemont.  —  Marianne.  Heute  nur, 
da  ich  mehrere  Sachen  zu  beendigen  hatte,  unter 
anderm  meine  Erzählung  „Der  heilige  Julianus'*, 
habe  ich  besagtes  Buch  in  eine  Schublade  ein- 
geschlossen, um  der  Versuchung  nicht  zu  erliegen. 
Als  meine  kleine  Novelle  in  der  Nacht  fertig  war. 
habe  ich  mich  in  der  Frühe  auf  das  Werk  gestürzt 
und  es  verschlungen. 

Ich  finde  es  vollendet,  zwei  Juwelen.  Marianne 
hat  mich  tief  bewegt,  und  zwei-  oder  dreimal  habe 
ich  geweint.  Ich  habe  mich  in  ider  Person  Pierres 
wiedererkannt.  Gewisse  Stellen  erschienen  mir  wie 
Bruchstücke  aus  meinen  Memoiren,  wenn  ich  das 
Talent  hätte,  sie  so  zu  schreiben.  Wie  ist  das  alles 
entzückend,  poetisch  und  wahr!   Der  Tour  de  Perce- 

16*  243 


mont  hat  mir  außerordentlich  gefallen,  aber  Mari- 
anne hat  mich  literarisch  begeistert.  Die  Engländer 
sind  meiner  Meinung,  denn  in  der  letzten  Nummer 
des  Athenäums  hat  man  einen  sehr  schönen  Artikel 
über  Sie  veröffentHcht.  Wußten  Sie  das?  Also 
diesmal  bewundere  ich  Sie  vollkommen  und  ohne  den 
geringsten  Vorbehalt. 

Ich  bin  wirklich  sehr  zufrieden.  Sie  haben  mir  nur 
immer  Gutes  getan;  ich  liebe  Sie  zärtlich! 

Gustave    Flaubert 


244 


INDEX 

MIT  ANMERKUNGEN 


Seite 

Achard,  Amadee,  1814 — 
1874.  Schriftsteller  ....  225 

„Aissie",  Drama  vonBouil- 
het,  74  f..  80.  132,  134, 

139,  141.  144,  146 

Arago,  Emmanuel,  geb. 
1812.  Politiker;  1848  Ge- 
sandter in  Berlin    32 

Amould,  Sophie,  1774 — 
1803,  berühmte  Opem- 
sängerin    121 

Badinguet,  siehe  Napo- 
leon III. 

Balzac,  Honore  de,  1799— 
1850,  der  berühmte 
Schriftsteller    138 

Barbis.  Armand,  geb.  1810. 
Politiker  20.  32.  95 

Barbey  d'Aurevilly*,  Jules, 
geb.  1809,  Schriftsteller, 

80.  83.  208.  222 

*  Das  S.  222  erwähnte  Werk 
Barbey  d'Aurevillys  „Die  Teuf- 
lischen" ist  im  Verlag  Gustav 
Kiepenheuer,  Potsdam,  als  Band 
der  Liebhaberbibliothek  er- 
schienen. 


Seite 

Barni,  Jules,  geb.  1818, 
Philosoph :  als  Übersetzer 
bekannt 150.  153 

Bastiat,  Frederic.  1801  — 
1850.  berühmter  Natio- 
nalökonom     136 

Bautain,  Abbi.  geb.  17%. 
Philosoph  und  Theologe  195 

Bazaine,  Marschall,  geb. 
1811,  bekannt  aus  dem 
Kriege  1870/71  ...  194.  220 

Belot.  Adolphe,  dramati- 
scher Schriftsteller  ohne 
große  Bedeutung    220 

Beranger.  Jean  de.  geb. 
1780.  Dichter  ....  100.  200 

Berryer.  Antoine,  geb. 1790. 
berühmter  Advokat  und 
politischer  Redner   32 

Berton.  Montan,  geb.  1820, 
Schauspieler..  88.  125,  139 

Bichat.  Xavier.  1771-1802. 
berühmter  Arzt  und  Ana- 
tom      133 

Bismarck 26 

Boileau-Despreaux.  1636 — 
1711.    der    berühmte 
Dichter 223 


247 


Seite 

Bouilhet,  Louis,  1822 — 
1869,  Dichter  und  dra- 
matischer Schriftsteller, 
3,  6,  7  f..  11,  19.27,33, 
35,  71,  75.  76,  79.  85, 
90.92,  93,94.  128,  141, 
142. 144, 147, 154  f.,  160, 

166,  191.  214.  219 

„Bouvard  und  Pecuchet", 
satirischer  Roman  Flau- 
berts,   erschienen    1881, 

161.  164,  184,  215 

Buchez,  Benjamin,  1796 — 
1865,  Philosoph  und 
Politiker    40.  58 

Buloz,  Fran?ois,  geb.  1803, 
Publizist   205 

Cabanis.  Georges,  1757 — 
1808,  Schriftsteller,  Arzt 
Philosoph   133 

,,Cadio",  Drama  von 
George  Sand,  31,  44  f., 

50,  51,  54 

Giro,  Edme-Marie,  geb. 
1826,  Schriftsteller.  Pro- 
fessor der  Philosophie  .     93 

Carvalho,  Theaterdirektor. 
160,  161.  184.  187.  189. 
193.  197,  200,  211,  213,  217 

Champfleury,  Fleury,  geb. 
1821,  Romanschrift- 
steller  37f. 

Changarnier,     Nicolas- 
Aime-Th^odule.  geb.  1793. 
französischer  General  . .     30 

Chateaubriand,  Vicomte 
de.     1768—1848.     einer 


Seite 
der  größten  Schriftsteller 
des  19.  Jahrhunderts,  als 
PoHtiker  von  Bedeutung 

62,  238 

Chennevieres,  Pointel,  geb. 
1820,  Kunstschriftsteller 
und  Administrator  der 
Museen 195,   199 

Chilly,  Charles  Marie  de, 
geb.  1807,  Theaterdirek- 
tor.  51.   74.   79.    125.    139 

Clairville,    Nicolaie,     geb. 
1811,    dramatischer 
Schriftsteller    145 

Coetlogon,  Jean  -  Baptiste  - 
Felicite.    1773-1827. 
Schriftsteller    185 

Colet.  Frau,  geb.  1808, 
Schriftstellerin 151 

„Consuelo",  das  bedeu- 
tendste Werk  George 
Sands,  1842  erschienen, 

16  f..  25 

Cormon,  Eugine,  geb.181 1 . 
dramatischer  Schrift- 
steller     197 

Cornu,  Hortense  Lacroix, 
geb.  1812.  Schriftstelle- 
rin. Enkelin  der  Königin 
Hortense  und  Napoleons 
III 85f. 

Couture.  Thomas,  geb. 
1815.  Maler 6 

Cuvillier-FIeury,      Alfred- 
Auguste,    geb.    1802, 
Schriftsteller    174 

Dalloz,  Paul.  geb.  1829. 
Redakteur 67.  166 


248 


Seite 

Danton ^^^ 

Daremberg.Charles-Vicfor, 
geb.  1817,  Mediziner  und 

Schriftsteller    188 

Darwin.  Charles  Robert  .214 
Daudet,     Alphonse,     geb. 
1840,  der  bekannte 
Schriftsteller,  222,  228,  236 
Delacrolx,    Auguste,    geb. 

1 81 2,  der  berühmte  Maler  1 59 
Delannoy,   Emile,   geb. 
1817,   Schauspieler, 

197,  198,  201.  205  f. 
Delavigne,  Gisimir.  1793— 

1843,  berühmter  Dichter      2 
Delorme.      Marion»     geb. 
1612,   berühmte    Kurti- 
sane   •••   181 

Diafoirus,  Thomas,  Figur 
aus  Molieres  „Der  ein- 
gebildete Kranke"    221 

Dickens.  Charles.  1812— 
1870,  der  englische  Ro- 
manschriftsteller       163 

Doucet.  Camille,  geb. 
1812,    dramatischer 

Schriftsteller    31.  46 

Dubois,  Baron  Paul.  Chi- 
rurg      88 

Du  Camp,   Maxime,   geb. 

1822.  Schriftsteller  ....     35 
Dumaine,   Louis-Fran?ois, 

geb.   1831,  Schauspieler      5 
Dumas.  Alexandre.  Sohn, 
geb.  1824.  der  bekannte 
Schriftsteller,     15,     93, 
112,  137.  145.  174,  177. 

198,  220 


Seite 

Duquesnel.    Direktor    dea 

Odeonthcaters.  75.   139. 

176.  211 
Duveyrier,  Charles,  1803 — 

1866,  Literat H 

Eckermann,      1792-1894, 

der  Freund  Goethes    . .     90 
Erckmann-Chatrian,     geb. 

1822,  Romanschriftsteller  178 

Favre.  Jules,  geb.  1809.  der 

berühmte  Politiker 32 

Feuillet,  Octave,  geb.  1 821 , 

Schriftsteller    174 

Feydeau,  Ernest.  geb.  1821 , 

Schriftsteller    62 

Fould,Achille.  1800—1867. 

Staatsmann 166 

Gambetta,  L^on,  geb.  1838, 

Politiker    177 

Garcln   de   Tassy.   1794 — 

1878.   Orientalist    195 

Gasparin,  Pierre.  Comte  de. 

1783-1862 142 

Gautier,  Theophile,  181 1  — 
1872.  Schriftsteller. 
43.  82.  95.  153.  157. 
158  f..  165  f.,  178,  238 
Gavami,  Chevalier,  1801  — 
1866.  Maler  und  Schrift- 
steller   231 

..Geschichte  meines  Le- 
bens". Autobiographie 
von     George    Sand    in 

zwanzig  Bänden   62,  65 

Goncourt.  die  Brüder  Ed- 
mond  und  Jules  de, 
62,  63,  65.  95.  %.  228.  231 


249 


Seite 
Gondinet,    Edmond,    geb. 
1829,    dramatischer 

r  Schriftsteller    204 

Goethe,  Joh.  Wolf  gang  v.    90 
Gressent,  geb.  1818,  Land- 
wirtschaftler     1 42 

Haeckel,  Ernst,  geb.  1834, 
der  deutsche  Natur- 
wissenschaftler     214 

Hamel,  Emest,  geb.  1826, 
Publizist 70 

Harrisse,  Kritiker 140, 234 

Haussmann,  Georges- 
Eugene,     Baron,      geb. 
1809,  Finanzminister  ..   123 

Hegel,  1770—1831,  der 
deutsche  Philosoph 156 

„Herzogin  von  Rudol- 
stadt",  Roman  von 
George  Sand 25 

Holbach,  Thiry,  Baron  d*, 
1723-1789.  Philosoph 
und  Literat   10 

Houssaye,  Arsene,  geb. 
1815,  Literat 82 

Hugo,  Frangois  Victor, 
Sohn  des  Dichters 194 

— ,  Victor,  1802-1885, 
berühmter  Schriftsteller, 
29.  55,68.87,  138,  151, 
185,  194. 2 12, 223, 228  f. .231 

Ingres,  Dominique,  1780 — 
1867,  der  berühmteste 
französische  Maler  des 
vorigen  Jahrhunderts  ..   159 

250 


Seite 
Kandidat,  der,  politische« 
Schauspiel  von  Flaubert, 
184,  188.  189,  193, 
l%f..  198 ff.,  203.211,  219 
Kant,  Immanuel,  1724 — 
1804.  der  deutsche  Philo- 
soph        150,  153,  156 

Keratry,  Emile,  Comte  de, 
geb.  1832,  Politiker  und 
Publizist  100 

Ladmirault,  Paul  de,  geb. 
1808,  General,  der  sich 
im  Deutsch  -  französi  - 
sehen  Kriege  hervor- 
getan hat   1 76 

Lagier.  Suzanne,  geb.  1 833, 
Schauspielerin  und  SSn- 
gerin   121 

La  Harpe,  Jean  Fran^ois 
de,  1739-1803.  Schrift- 
steller       68  f 

Lamartine.    Alphonse    de. 
1790-1869,    berühmter 
französischer    Schrift- 
steller          2 

Lamennais.  Robert  de, 
1 782-1 854.Schriftstcller 
und  Philosoph 195 

La  Rounat,  Rouvenat  de, 
geb.  1819.  Literat   ....  204 

Latour  de  Saint- Ybars,  geb. 
1808,    dramatischer 
Schriftsteller    79  f. 

Lescure.  Marquis  de.  1766 
bis  1793,  Führer  der 
Vend6e-Armee 46 


Seite 
Levy,   Michel,   Begründer 
der   Pariser    Verlagsfirma, 
81.82,91  ff.,  174. 191  f.. 

208,  226 
LittnS,  Emile,  geb.   1801, 
Philosoph  und  Politiker, 

118.232 
Louis  Philipp   I..    1773— 

1850   6.  71 

Madame  Bovary.  Roman 
von  Flaubert,  erschienen 

1857   180 

Maistre,  Joseph,  Comte  de, 
1754— 1821,  Staatsmann, 
Schriftsteller  und  Philo- 
soph       143 

Marat,  Jean  Paul.   1743— 

1793 59.233 

Marchangy,    Fran?ois    de, 

Uterat 200 

Maroteau,    Gustave,    geb. 

1849,  Journalist 138 

Mathilde,  Prinzessin.  Toch- 
ter  Jerome   Bonapartes, 

geb.  1820 67  f. 

Maubant.  geb.  1821. 

Schauspieler •  •   234 

Melingue.    Etienne-Marie. 

geb.   1808.  Schauspieler  151 
Mendes.atulle.  geb.  1843, 
bekannter  Romanschrift- 
steller        167 

Meurice,  Paul.  geb.   1820, 
dramatischer  Schrift- 
steller    und     Journalist  224 
Milton.  John,  1608—1674. 
der  berühmte  englische 
Dichter 234 


Seite 

Montaigne.  1533-1592, 
Philosoph    und    Schrift- 
steller      H3 

Montesquieu,  1689 — 1755, 
der   berühmte  Publizist  231 

Nadar,   Tournachon,   geb. 
1820,  Schriftsteller  ....    147 

Napoleon  1 58 

—  III..  1808—1873.  der 
letzte  Kaiser  der  Fran- 
zosen. 55.  68.   113.   114. 

119.  123,  136,  151 
— ,   Prinz,    zweiter   Sohn 
Jerome  Bonapartes,  geb. 
1822   50.  179 

Noir.  Victor.  1848-1870, 
Journalist,  wurde  von 
dem  Prinzen  Pierre  Bona- 
parte durch  einen  Re- 
volverschuß getötet    ...     84 

Offenbach,  Jacques,  1819— 
1880,  der  bekannte  deut- 
sche Komponist    145 

Pasquier.  Herzog.  1767— 
1862.  Politiker 57 

Perrin.  Emile.  1815-1885. 
Theaterdirektor  . .  .21 1 ,  213 

Pindar.  der  griechische 
Dichter 234 

Ponsard.  Fran(;ois,  1814 — 
1867.  Dramatiker 174 

Pouchet.  Archimede,  1800 
bis  1879.  der  bekannte 
Naturwissenschaftler.der 
mehr  als  achtzig  Bände 
veröffentlicht  hat    192 

251 


Seite 
Proth,   Maria,   geb.    1832, 

Publizist  33 

Proudhon,  Pierre-Joseph, 
1809-1869.  Philosoph 
und  Publizist,  10,48.  53,59 

Raspail,  FrariQois-Vincent, 
geb.  1 794,  Chemiker  und 
Politiker    142.  143 

Ravignan,  Delacroix  de, 
1795—1858.  berühmter 
Jesuit  und  Prediger  ...    137 

Renan.  Ernest,  geb.  1823, 
Philologe  und  Philosoph, 
42,  43,  118,    122.    134. 

179.  186.  204.  208 

Robespierre,  geb.  1 758,  ent- 
hauptet 1794 70 

Ronsard.  Pierre  de.  1524 — 
1585.  berühmter  Dichter  162 

Rössel.  Nathaniel.  Oberst, 
geb.  1844.  wurde  1871 
in  Versailles  erschossen  138 

Sainte-Beuve.  1804—1869. 
Dichter  und  Kritiker, 
7.  17,20,26.27,31,37, 
42,  51,57.  63.  66,  67  ff., 

80,  137,  138 

Saint-Germain,  geb.  1833, 
Schauspieler 197,  201 

Saint-Simon.  1760 — 1825, 
einer  der  originalsten 
Denker  des  Jahrhunderts, 
in  dessen  Schriften  zuerst 
die  Idee  des  europäischen 
Staatenbundes  auftaucht  214 

Saint- Victor.  Paul  de.  geb. 
1823,  Kritiker,  82.  121,  208 


Seite 

Salammbo,    historisch- 
archäologischer    Roman 
von  Flaubert,  erschienen 
1862   22.  180 

Sarcey.  Francisque.  geb. 
1827.  Kritiker  U.Schrift- 
steller    80.  81,  83 

Sardou.  Victorien,  der  be- 
rühmte dramatische 
Schriftsteller    187 

..Schule  der  Empfindsam- 
keit", Roman  von  Flau- 
bert,   erschienen     1 869, 

21.  29,  70,  92 

,, Schwache  Geschlecht, 
Das",  eine  gemeinsam 
mit  Bouilhet  entworfene 
Komödie  von  Flaubert, 
80.94.  160.  184  f.,  187. 
189.  211.  213.  216.  219.  221 

Scott.  Walter.   1771-1832  163 

Scribe.  1791—1861.  der 
berühmte  Dramatiker  . .  220 

Sedaine,  Michel-Jean.  1719 
bis     1 797.     Dramatiker 

234.  236 

Simonisten,  philosophische 
Schule,  gegründet  1825, 
nach  dem  Tode  Saint- 
Simons  (siehe  dort)  ...    143 

Simon,  Jules,  geb.  1814, 
Staatsmann 176 

Spinoza,  1632—1677.  der 
Philosoph  93,  %,  150,  156 

Taillandier,  Saint-Rcn^, 
1817-1871,  ütcrat  ...  208 


252 


Seite 

Talleyrand.  Perlgord.  1754 
— 1838,  Staatsmann  und 
Politiker   6 

Taine,  Adolphe,  geb.  1828, 
Philosoph  und  Schrift- 
steller, 69.  91,  93.  137.  204 

Th^o.  gemeint  istTheophile 
Gautier,  siehe  dort 

Thiers,  der  berühmte  fran- 
zösische Historiker  und 
Staatsmann, 
30.  38  f..  41.  176.  177,  185 

Tillemont,  Nain  de.  1637 — 
1698.  Historiker 30 

Turgenjeff.  Iwan,  der  be- 
rühmte russische  Dich- 
ter. 1818-1883. 
17  f..  57.  65  f..  95.125. 
128.141,  145.  146.  148. 
152.  160.  169,  180,  181, 
182,  1%,  206. 21 1,214  f., 
226.    228,    234.    237,    238 

Turgot,  1727-1781.  be- 
rübmter  Nationalökonom    10 


Seite 

Valles.  Jules,  Literat,  Mit- 
glied der  Kommune  von 
1871 136 

Veuillot.  Louis  Fran(;ois, 
1813—1883,    Journalist. 

17.  48 

Viardot.    Frau.    Sängerin, 
aus  der  berühmten  ita- 
lienischen Sängerfamilie 
Garcia. 
152.  180.  183.  209.  134,  235 

Villemessant.  Delaunay  de, 
1812-1879.  Begründer 
des  Figaro  205 

Voltaire 51.  58 

Westermann.  berühmter 
französischer  General, 
geb.  1751,  enthauptet 
1794  als  Helfershelfer 
Dantons   113 

Zola.  Emile,  der  berühmte 
Romanschriftsteller, 

220,  228,  234.  237.  238. 


253 


Gustave   FlauDert 

ÄGYPTEN 

Einzige     autorisierte     deutsche     Ausgabe     besorgt     von 

E.    W.   Fiscker. 

Mit    16  Wiedergaben    nach    pbotogr.  Aufnabmen    von 
Lhl      Ciainp,      dem    Reisegefährten    Flauberts. 

Einbandentwurf  von    Emil  Orlik. 


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1  schein,  die  Ewigkeiten  der  Sphinx  und  der  Pyramiden  und  über  | 

E  allem  gipfelnd  die  sdimerzlich-süße  Kegev;nung  mit  Kutichuk-  | 

I  Hancm,  der  verbannten  Geliebten  Abbas-Paschas.    Das  Tage-  I 

I  buch  aus  Ägypten,  das  hier  im  Deutschen  lum  ersten  Male  voll-  | 

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I  Kenntnis  der  Seele  des  Dichters  der  „Bovary"u.der„Salammbo".  I 

Geheftet M      8.— 

In    handkoloriertem    Pappband    M    10. — 

Die    3  bändige  Gesamtausgabe  der 
Tagebücher    ist    in    Vorbereitung. 


Gustav    Kjepenheuer   Verlag    /    Potsdam 


254 


PQ      flaubert,  Gustave 

22^7      Briefe  an  George  Sand 

-3S3 


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