Full text of "Hermes"
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HERMES
ZEITSCHRIFT FUß CLASSISCHE PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN
VON
CARL ROBERT und GEORG WISSOWA
DREIUNDFÜNFZIGSTER BAND
i
lif/
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1918.
HS
INHALT.
Seite
M. BANG, die Grabschrift des Philosophen lulianus 211
H. DESSAU, über die Abfassungszeit einiger Schriften Senecas . 188
H. DIELS, Hippokra tische Forschungen. V. Eine neue Fassung des
XIX. Hippokratesbriefes 57
F. JACOBY, Studien zu deu älteren griechischen Elegikern.
I. Zu Tjrrtaios 1
II. Zu Miranermos 262
U. KAHRSTEDT, zur Geschichte Großgriechenlands im 5. Jahr-
hundert 180
A. KÖRTE. Bacchylidea 113
t G. KÖRTE, zu Xenophons KYNEFETIKO^. Ein Fragment ... 317
L. MALTEN, ein neues Bruchstück aus den Aitia des Kallimachos 148
E. MEYER, die Rhapsoden und die homerischen Epen 330
B. A. MÜLLER, zu Stephanos Byzantios . 337
J. MUSSEHL, über eine Aporie in der Lehre von den Aggregat-
zuständen bei Lukrez (II 444 — 477) 197
t H. MÜTSCHMANN, die älteste Definition der Rhetorik ... 440
R. PHILIPPSON, Nachträgliches zur Epikureischen Götterlehre . 358
M. POHLENZ, das zwanzigste Kapitel von Hippokrates de prisca
medicina 396
A. ROSENBERG, die Parteistellung des Themistokles 308
K. SCHERLING, Gemmen mit der Inschrift MNHIGH .... 88
0. SCHROEDER, PY6M0S 324
A. STEIN, Ser. Sulpicius Similis 422
H SWOBODA, 2KYTAÄISM02: 94
0, WEINREICH, die Heimat des Epigrammatikers Poseidippos . 434
H. WERNER, zum AOYKIOi: H ONOS 225
W. ZILLES, Hippias aus Elis 45
IV INHALT
Seite
MISCELLEN.
E. BETHE, die Zeit Nikanders 110
der Schluß der Odyssee und Apollonios von Rhodos . 444
0. CUNTZ, zum Ehreudekret von Lete in Makedonien für M.Annius
(Dittenberger, Syll. 2 i 3I8) 102
H. DESSAU, das Alter der römischen Municipalbeamten (Nachtrag
zu Bd. LI 1916 S. 65) 221
W. GEMOLL, Xenophon bei Clemens Alexandrinus 105
0. KERN, ein Soloncitat bei Lysias 220
J. H. LIPSIUS, zum attischen Volksbeschluß über Chalkis ... 107
C. ROBERT, Nysius? 224
Zu Senecas Hercules 446
A. STEIN, Drusus Castor . 217
REGISTER 447
STUDIEN ZU DEN ÄLTEREN GRIECHISCHEN
ELEGIKERN.
I. Zu Tyrtaios.
Die durch Eduard Schwartzens tiefgreifende Ausführungen (d. Z.
XXXIV 1899 S. 427 ff.) wieder in Fluß gebrachte Tyrtaiosfrage ist
durch den Exkurs in Wilamowitz' Textgeschichte d. griech. Lyriker
1900 S. 96ff.^) im Princip und auch in den meisten Einzelheiten
endgültig gelöst. An die Stelle der Gesamtathetese, die sich doch
nur daraus erklärt, daß man nicht von den Gedichten, sondern vom
Dichter und der Tradition über ihn ausgingt), oder der Gesamt-
1) Angedeutet hatte er den Weg zur Lösung schon Herakles I
(1889) 69, 32. Dann hatte Reitzenstein, Epigr. u. Skol. 46 das Richtige
kurz gesagt, aber die einzelnen Elegien, die er analysirte. nicht gerade
glücklich beurteilt.
2) Als Verrall, Class. Rev. X 1896, 269 ff', auf Grund einer tollen Be-
handlung von Lykurg, in Leoer. 104 — 107 Tyrtaios ins 5. Jahrh. herab-
rückte — das einzige Verdienst des Aufsatzes ist, daß er wohl Schwartz
zu seiner Untersuchung veranlaßte — , hat Macan ebd. XI 10 sofort ver-
langt, daß eine solche Behauptung durch eine 'Studie über die Echtheit
der Gedichte' begründet werden müsse, deren voraussichtliches Resultat
er auch schon richtig dahin angab, daß Jüngeres mit unter den alten
Namen getreten ist. Verrall, ebd. XI 185 ff. begnügte sich daraufhin mit
allgemeinen Redensarten und einer Wiederholung seiner Interpretation.
Aber auch Schwartz ist noch methodisch falsch vorgegangen, als er zu-
erst die Geschichtlichkeit eines grofsen messenischen Aufstandes im
7. Jahrh. bestritt und aus den Gedichten zunächst nur den für die Da-
tierung bedeutsamen Vers 5, 6 herausgriff. Was er am Schlüsse über
die Gedichte sagt (S. 464 fi".), ist wenig und geht bezeichnenderweise
fast ausschließlich auf die tatsächlich jungen Stücke 10 A und 12. Von
dem wirklich Alten spricht er gar nicht näher. Ein Schritt weiter
hätte die Unmöglichkeit der Athetese erwiesen. Dabei führt noch die
zu scharf gezogene Parallele mit Solons politischen Gedichten in die
Irre. Für die Methodik im Gercke-Nordenschen Handbuch wäre die
Tyrtaiosfrage ein sehr instruktives Beispiel, schon weil es sich hier
nicht um ein äszsioov handelt.
Hermes LUX. 1
2 F. JACOBY
Verteidigung^) ist die Erkenntnis getreten, daß wir es mit einem
allmählich gewachsenen Buch zu tun haben. In ihm standen einige
zweifellos altspartanische Stücke aus der Zeit des großen Messenier-
aufstandes; so die sog. Eunomie, die keine 'Gedichtgruppe' war, wie
man immer wieder sagt, sondern ein Einzelgedicht, das nicht ein-
mal den Umfang der Solonischen Salamiselegie mit ihren 100
Stichen erreicht zu haben braucht. Die Gitate Aristot. Pol. V 6, 2
E>c Tfjg TvQxaiov Tioiyoecog xrjg xalov fA,evr]g Evvojuiag und Strab.
VIII 4,10 p. 362 ev jrii eXeyeim, i)v EJiiyod(povoiv Evvojuiav lassen
daran gar keinen Zweifel. Wenn Suidas eygaipE Tzohreiav Aaxeöai-
uovloig y.al v7io^r]y.ag di eXeyeiag sagt, so bedeutet das nicht mehr,
als die Sonderanführung der Salamiselegie s. 2!6X(joV Jtoü]jua di'
eXeyeicov, o 2aXafxlg ejiiyQdcpexaL • vnodr'jy.ag di ikeyeiag. Ferner
ein Gedicht, das durch den Hinweis auf die langwierige Eroberung
Messeniens unter König Theopomp zum Ausharren auch im gegen-
wärtigen Kriege mahnte (Strab. VI 3, 3 p. 279 nach Ephoros ; Paus.
IV 15,2): djLi(p' t avTVjV d' ijnd](ovT' evvsay.aiSsx' et}]. In dieses
gehörte vermutlich die Schilderung des Zustandes der Unterworfenen
(Paus. IV 14, 4 = 6. 7 Bgk.), deren paraenetische und paradigmatische
Abzweckung nicht zu verkennen ist. Vielleicht war es auch diese
Elegie, in der der Dichter sich als 'Stratege' bezeichnet hatte: Strab.
VIII 4, 10 p. 362 rjviy.a q^ijolv avrbg orgar^^yrioai xbv tioXe/jlov xölg
AaxEÖaijuovioig. Die Verse selbst gibt Strabon leider nicht ^); und viel-
leicht ist das Ganze doch nichts weiter als ein Schluß aus dem Ihr-
Typus der paraenetischen Gedichte. So wird ja die lakonische Herkunft
des Dichters der Eunomie einzig und allein aus dem 'wir' von
frg. 1 oloiv äjua jrgoXiTiovxEg 'Eqiveov fjVEjiioEvxa EVQElav IlEXoTrog
vTjoov ä(piy.6iu£&a erschlossen (Strab. a. 0.); Verse, die schließlich
der Eingebürgerte genau so schreiben konnte, wie der gebürtige
1) Weil, Journal des Savants 1899 = Etudes sur l'antiq. Gr. 193 ff.,
der principiell den ganz richtigen Standpunkt hat 'on peut croire enfin,
que de vieux recueils . . resterent longtemps ouverts et fi'enrichirent de Cou-
plets plus recents et meine d'elcgics compVetes', aber praktisch davon keinen
Gebrauch macht.
2) Will man ihn ganz scharf interpretiren , so hat es auch in den
Gedichten keinen Beleg für diese Tatsache gegeben, sondern nur den
für die dorische Herkunft: rjviy.a cprjoiv avioq ozQazr^yfjoai xov ji6).e[iov Aa-
xedaii-iovLOig • y.ai yuQ elvai (pt]oiv iy.sTdev xrL Aber ich zweifle, ob die
Stelle solche scharfe Interpretation verträgt.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 3
Spartiate ^). War es mehr, so wird man sich doch nicht den Kopf
zerbrechen über den Rang, den der Dichter bekleidete'^). Auch
1) Die 'berühmte' Fragestellung Apollodors (Strab, VIII 4, 10 p. 362)
— die in Wahrheit etwas flüchtig ist; denn z. B. jtazsgcov t'jfXEzsQOiv jiazKQsg
tut dieselben Dienste, wie die von ihm citirte Versreihe Avzdi; yuQ Kqo-
rccov — hat diese Eventualität nicht erwogen. Wilamowitz (Herakl.
a. 0.) hat das getan und sie wenigstens nicht a limine abgelehnt. Der
'Stolz auf die Herkunft aus der dorischen Tetrapolis' fällt minder
schwer ins Gewicht, wenn man aus dem Vergleich mit Mimn. 9 er-
kennt, daß wir hier die tyi^ische Gestaltung eines Gedankens der poli-
tischen Elegie vor uns haben. Ich zweifle überhaupt, ob wir das Recht
haben, in dem Distichon olaiv äiia jTQoXtJiörzFg den Ton persönlichen
Stolzes zu hören. Es dient doch nur dem Zwecke, den Unzufriedenen
einzuschärfen, daß Zeus nicht ihnen, sondern den Herakliden die Stadt
gegeben hat und daß sie sich den deozqirjzoi ßaodfjeg, oTai fisXei üxcägzi^g
ffiEQÖeaaa nöhg fügen sollen. Die Sjjartaner scheinen in älterer Zeit
nicht so exklusiv mit dem Bürgerrecht gewesen zu sein (vgl. Nilsson,
Klio XII 329). Andererseits zwingt auch nichts, die Existenz eines spar-
tanischen Dichters zu leugnen. Im Gegenteil; manches spricht dafür,
daß der Dichter der Eunomie ein Mann von autoritativer Stellung war.
kein Neubürger (Wilamowitz, Textgesch. 107). Man muß eben nur an-
nehmen, daß er die Form vom ionischen Rhapsoden gelernt hat, eine
Möglichkeit, die jetzt nach Wilamowitz, Textgesch. 117 niemand mehr
leugnen wird.
2) Ganz unglücklich ist hier Schwartz' Argumentation (S. 465), aber
auch Wilamowitz' Polemik, Textgesch. 110, verfehlt meines Erachteus das
Ziel. Er wirtschaftet mit dem doch ganz nichtssagenden ozQazrjyfjaai Stra-
bons {diu xi]v Tvqtcu'ov ozgaztjyiav auch Philochoros Athen. XIV 680 F), als
ob das Wort in den Gedichten gestanden habe. Er behauptet, daß die
Gedichte 'den letzten schwachen Rest concreten Lebens veilieren, wenn
sie einem Befehlshaber niederen Ranges in den Mund gelegt werden'.
Als ob die eigentliche 'Paraenese des Feldherrn' — von Ausnahmefällen
ganz besonderer Art abgesehen — jemals in poetischer Form gehalten
sei! Die paraenetische Elegie kann nie bei officiellen Gelegenheiten an
Stelle der Rede verwendet worden sein, auch nicht, wenn ihre Dichter
Könige oder Archonten oder sonstige officielle Persönlichkeiten waren.
Sie ging stets neben ihr her an anderem Orte, vor anderem, weiterem
Publikum. Solons Salamiselegie, seine Poesie überhaupt kann das lehren;
und die Alten haben das immer richtig beurteilt: avzeijcEv o Zölcov äva-
Gtäg xal jioXXa öie^fjk&ev ö^oia zovxoig oig 8tä zcöv Jtoit]/j,dzcov yeyQaepsr.
Der Dichter der echten Elegien (lOB. 11) spricht zu den vsoi mit der
Autorität des Alters. Mehr geben die Gedichte jetzt nicht. Es scheint
mir ganz zwecklos, danach über die militärische Stellung des Dichters
zu streiten. Aber man soll daran denken, daß auch Selon zum Strategen
gegen die Megarer geworden ist, weil er io/uev ig SaXafiiva sagte. Dieses
1*
4 F. JACOBY
seinen Namen hat er natürlich weder in dieser noch in einer
anderen Elegie genannt ^). Man mag den Dichter der Eunomie
imd der anderen aus der Zeit des Messenierkrieges stammenden
Stücke Tyrtaios nennen, wenn man sich bewußt bleibt, daß es eine
bequeme Bezeichnung ist und daß der Name gerade für diese Ge-
dichte keine Gewähr hat, falls ihr Verfasser ein gebürtiger Dorier
gewesen sein muß 2).
paraenetische 'wir' mag sich auch in den Elegien des Tyrtaios gefunden
haben ; spricht er doch fr. 5 von 'unseren Großvätern'. Das konnte dazu
führen, in ihm den axQatrjyög zu sehen (vgl. S. 13 A. 1). Schließlich
kann Deutlicheres sogar in einem Gedicht gestanden haben, das gerade
nicht dem alten Lakonen gehörte. "Wie sich Apollodor (oder schon
Kallisthenes) die Stellung 'neben den Königen' dachte, wissen wir nicht.
Aber eine Analogie gibt die Geschichte von Tisamenos, dem die Pythia
sagt, 'er werde fünf große Siege gewinnen', und den die Spartaner ä/xd
'Hga/iXetÖEcov roToi ßaai/.evoi tjyeiiöva rcbv :n.o).hioiv machen wollen (Herod.
IX 33, 2 — 3). Mit ihnen ovyy.aTaiQESL die fünf Siege. Er selbst hat ge-
wiß von 'seinen' Siegen gesprochen.
1) Die Zuversicht, mit der Wilamowitz, Textgesch. 109f, erklärt:
'man kaim nach der Art der atten Elegie nicht anders annehmen, als
daß Tyrtaios sich genannt hatte, wie Solon und Phokylides', erscheint
mir unberechtigt. Das Gegenteil ließe sich leichter behaupten. Pho-
kylides und die didaktisch-gnomische Poesie überhaupt, die auf Hesiod
auch in der Namennennung zurückweist, ist nicht vergleichbar. In der
Elegie finden wir den Namen des Dichters " sowenig genannt wie den
des Redners in der Prosarede. Ainog y.rjqv'^ 7}).dov sagt Solon (1, 1) und
rai'Tu öidd^m dvfiog 'A&rjvaiov; fie xsXsvsi (4, 3). Wer der avtög war.
wußte jeder Athener. Wohl nennt er sich oder läßt sich nennen m
den Trochäen an Phokos ovx e(pv 2ö?.cov ßa&i-cpgcov (33, 1). Aber das
ist eben auch ein Beweis, daß zwischen lambos und Elegie ein Unter-
schied im Ton wie in der Sprache besteht. Selbst in den dürftigen
Resten der elegischen Poesie des Archilochos ist das deutlich. Bei Solon
ist der Unterschied sogar stärker und offenbar mit Bewußtsein inne-
gehalten.
2) Reitzenstein erklärte es für selbstverständlich, daß 'der Tyrtaios,
aus der Fremde eingewandert sei. Vielleicht nicht nur 'der Tyrtaios"
sondern ganz einfach 'Tyrtaios'. Nicht weil Suidas ihn Ady.cov i) Mdrj-
acog nennt, so vertrauenerweckend das klingt, zumal der AdrjvaTog fehlt.
Aber wir kennen die Quelle nicht: und auf die Kameenliste wird man
nicht raten. Aber der Name, der, wie Wilamowitz sagte, 'nicht attisch
klingt', klingt noch weniger lakonisch. Er selbst erinnert an Tvgxaiiog.
Der Musiker Tyrtaios von Mantinea aus dem 4. Jahrhundert kann un-
möglich auch nur für peloponnesische Herkunft des Namens beweisen:
er beweist ganz allein für die Tyrtaiosmode seiner Zeit, die wir ja
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKEKN 5
Wann und wie diese altspartanischen Gediclile über ihren Enl-
stehungsort hinaus verbreitet worden sind, lasse ich dahingestellt. Die
evidente Nachahmung eines alten Stückes in den Theognidea (881
o5 fr. 5, 1 Bgk.) hilft da nicht weiter. Für die Annahme, daß
Solon sie gekannt hat, wie er die Elegien des Mimnermos und
die ionische Poesie s. VII überhaupt kannte, ist die Übereinstim-
mung in einer Floskel (Tyrt. 11, 10 cö vtoi, uju(poTeQü)v eg hoqov
tjkdoere oa Solon 'Ad. tt. 5,3 o'i nolkan' äyadxhv ig xoqov rj?Ao£Te)
doch eine etwas unsichere Grundlage; und für seine politischen
Dichtungen, die man nicht EvvojLiia überschreiben sollte, hat er die
Anregungen doch wohl eher aus lonien bezogen. Daß wir —
wenigstens in den elegischen Resten — nichts unmittelbar Ver-
gleichbares besitzen, ist bei dem fast vollständigen Verlust der
iilteren ionischen Elegie kein ausschlaggebender Grund. In Archi-
lochos' lamben und Epoden finden sich Analogien genug; und wer
die typologische Übereinstimmung des sicheren Fragments der Tyr-
taiischen Eunomie (1 Bgk. Amög ydg Kqoviojv) mit Mimnerm. 9 Bgk.
'Ejiei TS IIv?Mi' beachtet, wird geneigt sein, die Prototypa nicht nur
der kriegerischen, sondern auch der politischen Paraenese in lonien
zu suchen, wo die Entwicklung beider el'dr] aus den Reden des
homerischen Epos mit Händen zu greifen ist; womit nicht gesagt
sein soll, daß nicht daneben noch eine andere nicht literarische
Anregung wirksam gewesen ist, der enthusiastische Aufruf zum
Kampfe. Auch die Feldherrnreden des Epos entsprechen ja leben-
digem Brauche. Doch das gehört nicht hierher. In der Text-
geschichte der Tyrtaioselegien berührt jedenfalls eine Tatsache sehr
auffällig und erklärt die wiederholten Versuche der Athetese; daß
nämlich die Gedichte in Sparta selbst ganz vergessen worden sind.
kennen. Die, soweit sie alt sind und von Menschen, nicht Heroen ge-
tragen werden, ganz seltenen Namen auf -cuog fehlen in Sparta über-
haupt, Dagegen haben wir in Lesbos einerseits Tigraiiog, andererseits
W.y.oLog; beides vornehme Namen. In Milet 'lonaTog. Alle verständ-
lich bis auf TvQzaTog und TvQzafwg. Diese machen den Eindruck von
Kurznamen. Aber die Wurzel klingt ungriechisch (s. den Nachtrag
S. 43 f.). Also wird die lakonische Kriegspoesie, mindestens die Elegie,
unter den Namen des eingewanderten Berufssä,ngers getreten sein.
Suidas nennt auch einen Vatersnamen 'Ag/efißgorog, über den wir natür-
lich ebensowenig urteilen können. Die Frage steht in mancher Be-
ziehung ähnlich wie bei Alkman. Sehr möglich, dafs hier Sosibios vor-
liegt, der die athenische Herkunft nicht anerkannt haben wird.
6 F. JACOBY
Zwar setzt Piaton Leg. I 629 B voraus, daß sein Spartaner diaxo-
Qr)g avxcöv eotiv, und Philochoros (Athen. XIV 630 F) weiß von
einer spartanischen Kriegssitte, äv öeiTcvojionjocovrai xal naiav'i-
ocooiv, äideiv xad^' eva (rd) TvQxaiov ' xQiveiv de xöv JioMjuaQ/or
xal äiV.ov öidovai rcöi vixcövu xgeag. Der Redner Lykurg (in Leoer.
107) kennt ein Gesetz, özav ev joig önXoig E^eor^aTSvjueroi cbo(,
xaXeTv em rijv rov ßaoiXewg oy.i]vi]v dxovoofiEvovg rcov Tvgraiov
7ioct]fidTcov äjimnag. Endhch berichtet eine vereinzelte Notiz —
nicht Aristoxenos ^) — bei Athen, a. 0. davon, daß avrol ol Ad-
xcoveg er xoTg noXsfxoig xd TvQxaiov 7iou)iiiaxa djiopvijjLiovsvov-
xeg EQQV&fxov xivrjoir Tioiovvxai. Aber die Zeugen sind durch -
1) Quellenmäßig liegt die Sache so: in eine Abhandlung über die
.ivQQiyj] (6oOE. 631 AB), an deren Anfang Aristoxenos für die lakonische
Herkunft citirt wird und die ihm ganz gehören wird, sind Notizen ein-
geschoben über kriegerische Poesie der Lakonen (630 F): :ioIei.uxoi ö'
dolv Ol Aüxcovsg knüpft das an die dgpjaig nolsiux}) und beweist zugleich,
daß die zweite Notiz ^ü.öyoQog 8s (pi]oiv agarijoaviag Äay.EÖaiiiovlovg Mso-
orjviojv 8ia ri]v TvQxaiov azQaztjyiav iv raTg argaTeiaig sdog aou)oaoßai xr)..
(s. o.) sich wirklich nur auf einen Kriegsbrauch bezieht (gegen Reitzen-
stein a. 0. 45, 1). Ob der Brauch auch sonst galt, können wir aus dieser
Stelle nicht entnehmen, wissen es auch sonst nicht. Das anonyme Stück
aber, das zwischen den Citaten aus Aristoxenos und Philochoros steht
und das Tyrtaios nennt (an die Nennung dieses Namens hängt sich das
Philochoroscitat) — 7coAe[.uxoi <5' etolv ol Aäxmvsg, wv xal oi viol zä I,«-
ßazi'jQia f^ieh] ava/.afj,ßävovoiv, ujisq xal ivojzha xaXsTzai. xal avzol ol Ääxoi-
vsg xzl. (s.o.) — , ist deutlich aus zwei Angaben verschiedener Herkunft
zusammengeschoben, wodurch der Gegensatz zwischen den Ädy.mvEg und
ihren vlol entstanden ist. Daß dieser Gegensatz so Unsinn ist, bedarf
keines Beweises. Die iußaz/jQia gehören nicht den Knaben, sondern vor
allem den Kriegern. In diesem Zusammenhang muß man zu Tvgzaior
auf die Elegien beziehen, wie es Wilamowitz, Textgesch. 96 tut, der
das alles fälschlich als Aristoxenisch gibt. Sachlich wird Reitzenstein
recht haben, der es auf die ifißazrjgia bezieht. Zum Marsch gehört der
Marschvers, nicht der Hinkvers. Der Autor der Notiz hat also auch die
ffißazrjQia für Tyrtaiisch gehalten. Diese Ansicht war verbreitet. Die
iiih] cio'/.eiuazrjoia stehen bei Suidas in der Bücherliste des Tyrtaios; und
bei Pausan. IV 15,6 heißt es, daß Tyrtaios xal zä ileyEia xal zä s'-ii/
acpiai zä dvdjiatoza i)i8ev (Wilamowitz 96 hat die Stellen übersehen). Wo
sie für anonym gelten, wie bei Plut. Lyk. 21, erhöht das ihr Alter. Daß
die gesamte lakonische Kriegspoesie unter einen Namen trat oder ge-
stellt wurde, ist doch nicht w^eiter wunderbar. Wir kennen weder die
Vertreter der Zuweisung an Tyrtaios, noch die der Hinaufschiebung in
Lykurgische oder vor -Lykurgische Zeit. Die erstere Auffassung mag
jünger sein; hellenistisch sind beide.
zu DEN Äl.TEREN GRIECH. ELEGIKERN 7
weg Athener, die alle auch die atlische Herkunft des Dichters an-
nehmen. Keine der Angaben ist älter als die 60 er Jahre des
4. Jahrhunderts. Ihnen gegenüber steht Xenophon, der von ach^xal
beim Heere erzählt und überhaupt eine teilweise sehr ins einzelne
gehende Beschreibung gibt über die kriegerischen Einrichtungen
und wie es beim Auszuge des spartanischen Heerbannes zugehl
{Aax. noX. \l — \^). Er weiß von keinem jener Bräuche^), was
man doch nicht damit erklären wird, dafs er nur 'Lykurgische' Be-
stimmungen anführt, die freilich von Kriegsliedern des Tyrtaios
noch nichts wußten. Auch Herodot hat in Sparta nichts von
einem spartanischen Dichter Tyrtaios gehört. Seine Gewährs-
männer haben ihm gegenüber sogar ausdrücklich abgeleugnet, daß
die Lykurgische Verfassung vom delphischen Gott gegeben oder
bestätigt sei: etwas anderes bedeutet es ja nicht, wenn er auf ein
delphisches Lykurgorakel die Worte folgen läßt : ol /ikv d/j xivec;
JiQog TOVxoioL Xeyovoi xai (pQdoat avTCOi rrji' UvOirjv zöv vvv
xad^eoreana xoo/uov SjiaQTUjrrjLOi " (hg (5' avrol AaKedaißOvioi
Xeyovoi, Avxovgyov . . ex Kq/jti]? äyayeo&ai xavTa. Und doch
standen in der Eunomie — nicht nur in der tendenziösen Umfor-
mung des Gedichtes, die Ephoros anführt (Diod. VII 12, 6), sondern
auch in der zugrunde liegenden echten Fassung, die Aristoteles
hat (Plut. Lyk. 6) 2) — die Verse 0oißov äxovoarxeg Ilvßoovodev
1) Bei Thukyd. V 70 gehen die Lakedaimoniev zum Angriff vor
ßgadscog xal vjto avXijiöiv vö/liwv iyxadsazdiTcov . . . Tra 6/j,a?MS fZEiä Qvdfiov
jigosldoiEV >cal /ui/ öiaojiaa&eit] avioTg rj rü^ig. Die Felclmusik der avXol
{avXol i/ißar>'/otoi Pollux IV 82) wird oft ervfähnt. Aber Tyrtaios (!) heißt
auch Erfinder der tuba (Porph. Horat. Ars 4()3), was keine Corruptel ist, da
auch Die Chrys. II 29 vom Jtgog oälniyya mdsod^ai spricht. Von Liedern
beim Marsch oder Angrilf sagt Thukydides nichts. Die Worte V 69, 2
— vor der Schlacht, während bei den Gegnern die Feldherrn zu ihren
Soldaten reden — ^iaxedaifwvtoi 8s xad^' exäoTOvg xai fxszä rcöv nols/iuxwr
vö/ioiv y.zX. deuten die Schollen auf rä cuof-iaia amq i]ibov ol ÄuxeSaif^ö-
vioi /ns/dovTsg ßä'/Eoßai ' yv ät- jTooTQEJiTixä, ixäXovv 8s if(ßaii]oia. Ich be-
zweifle die Richtigkeit der Deutung. Die Lakedaimonier brauchen keine
Paraenese {?Mycüv öi' oXiyov xalwg Qt]{)sTaav jingaivsaiv) wie ihre Gegner.
weil sie die sgycov ix jioXXov fisXJrt] haben. Das schließt auch aus, daß
etwa die Verlesung von Texten gemeint ist, von der Lykurg erzählt.
Die vö/:ioi sind nicht Lieder, sondern Bräuche, die bekannten Vorberei-
tungen in Kleidung und Frisur, bei deren Vornahme sie sich gegen-
seitig von ihren tüchtigen Leistungen erzählen.
2) Das Verhältnis scheint mir noch klarer, seitdem Schwartz
RE V 678 in der Ephorischen Fassung das dritte Distichon jiQEaßvyEVEig
8 F. JACOBY
ol'y.aö' h'Eiy.av ^uarrtiag xe deov y.al te/Jevt' etieu. Mir scheint
das für das Wissen von Tyrtaios im Sparta des 5. und des begin-
nenden 4. Jahrhunderts entscheidend, weil es sich hier um eine
spartanische Quelle und bei Xenophon um einen — man kann
wohl sagen spartanischen Autor handelt. Dagegen lege ich gar
keinen Wert auf die in dieser Frage vielfach angeführte Geschichte
von dem lamiden Tisamenos und seinem Bruder (Herod. IX 33 ff.),
die jiiovvoi di] Tidvicov äv&oojTion' Eyerovro 2^7iaQrii]ri]ioi nohrjrai.
Sie stammt nicht aus spartanischer, sondern aus eleischer Tradi-
tion und beweist, wenn überhaupt etwas, nur. daß Herodot nichts
von der Herleitung des Tyrtaios aus Athen wufste. Ich würde
daraus nicht einmal schließen, daß diese Herleitung zu seiner Zeit
noch nicht existirte. Ich lasse es wieder dahingestellt, welcher
äußere Anlaß die kurze Tyrtaiosmode der Platonisch -Aristotehschen
Zeit hervorrieft); sicher scheint mir aber, daß, wenn jene atheni-
lU ysoorrag als Interpolation aus der Aristotelischen ausgeschieden hat.
In dieser sind die zwei entscheidenden Disticha sicher authentisch und
alt — das zeigt der lakonische Akkusativ drjixöziig und das Parti cipium
an Stelle eines Verbum finitum {avzanaueißousvovg vgl. Od, 6 231. Archiloch.
1, 2. Solen 13, 52; denn das Distichon nimmt sein Verbum nicht mehr
aus dem Vorhergehenden , sondern beginnt den Teil, der das ■/oi'ji.iaxa
HzrjGeo&ai ganz aus den Augen verliert). Aber auch das einleitende Di-
stichon kann man nur bezvreifeln, wenn man von Herod. I 65 einen Ge-
brauch macht, zu dem ich mich nicht entschließen kann. Gegenüber
dem einleitenden Distichon der Diodorischen Fassung mit den vier Epi-
theta für Apollon beweist das einfache ^'oi'ßov dnovoavtEg das Alter.
Auch i'veiy.av, zu dem wir das Subjekt nicht ergänzen können (ich
glaube, es waren die Könige), spricht für den Zusammenhang, den die
Verse in der Eunomie gehabt haben müssen.
1) Die Frage nach der Echtheit der Schrift des Königs Pausania.s
über die Lykurgische Gesetzgebung (E. Meyer, Forschungen I 215 ff'.
E. Schwartz, Index lect. Rostoch. 1893) lasse ich beiseite. Sollte sie
wirklich um 400 geschrieben sein und dem Ephoros seine Fassung der
Eunomieverse geliefert haben, was beides nicht unwahrscheinlich ist, so
beweist sie doch nichts für ein Leben des Tyrtaios in Sparta. Denn
Pausanias schrieb sie in der Verbannung, oder vielmehr, er ließ sie von
einem Journalisten schreiben. Spuren elegischer und selbst von Sko-
lienpoesie in Sparta (Wilamowitz, Textgesch. 118, 1) sind so gering, daß
man sie als Null bezeichnen kann. Ganz weniges in den Theognidea
hat lakonischen Inhalt; und man darf zweifeln, ob dieses wenige wirk-
lich in Sparta entstanden ist. Wenn 'der Chier Ion noch im 5. Jahr-
hundert für Archidamos dichtet', so beweist das eher, daß es in Sparta
selbst keine Dichter gab. Auch Lysander beschäftigt lonier. Was die
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN <>
sehen Angaben richtig sind (und ganz können sie der tatsächhchen
Grundlage doch nicht entbehren), wenn es, wie Reitzenstein das
ausdrückt, „für die 'Skohen" der Spartialen ein officielles Text-
buch gab, welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder ent-
nommen werden mußten, ra Tugraiov", dieses Textbuch oder
richtiger seine Einführung in Sparta nicht älter sein kann, als das
4. Jahrhundert. Auch hier hat Schwartz das Faktum richtig er-
kannt: das Sparta, 'das die Gedichte des Tyrtaios zur officiellen
Erziehungsliteratur bestimmte \ war das bei Leuktra geschlagene.
Wir werden aber deshalb nicht mit ihm zur Athetese schreiten,
sondern die Tatsache, daß Sparta seinen eigenen Dichter aus dem
Auslande zurückempfangen mußte, als einen Beweis mehr für die
allmähliche geistige Erstarrung dieses Staates betrachten, die im
5. Jahrhundert vollständig geworden war. Vielleicht konnte sich
auch die Legende von der athenischen Herkunft des Tyrtaios, die
in den Gedichten gar keinen Anhalt hat, deshalb so leicht bilden
und so vollständig durchsetzen, weil kein Gegenanspruch vorhanden
war. Die Legende setzt voraus, daß man in Athen ein Buch des
Tyrtaios besaß. Hier wird es in den lakonenfreundlichen Kreisen
im Gebrauch gewesen sein ^). Über diese hinaus hat es allgemei-
äußeren Zeugnisse lehren, wird bestätigt durch den Text. Es fehlt, wie
Wilamowitz selbst feststellt, jede Spur eines lakonischen Tyrtaios. Das
wäre, da es in frühhellenistischer Zeit spartanische Grammatiker gab,
unbegreiflich, wenn ein Text, der von unserem wesentlich verschieden
war, existirt hätte. Ich bezweifle also, daß 'im 4. Jahi-hundert ein La-
kone und ein Athener ihren Tyrtaios' überhaupt vergleichen konnten.
So natürlich die Annahme ist, daß die Gedichte des SjDartaners Tyrtaios
'ebendort in Ansehen und praktischem Gebrauch blieben', sie ist doch
falsch. Was übrigens die Sprache des echten Tyrtaios angeht, so kann
man doch kaum bezweifeln, daß es im wesentlichen die der ionischen
Elegie des 7. Jahrhunderts war, vermutlich mit einigen metrisch oder
aus anderen Gründen bequemen Dorismen. Sie mußte in Sparta so gut
verstanden werden, wie das homerische Epos.
1) Eine Lösung der Frage, wie man dazu kam. den Verfasser des
Elegienbuches zum Athener zu machen, ist mit voller Sicherheit nicht
zu geben, aber das oben Ausgeführte (s. besonders die vorige Anmerkung)
spricht doch dafür, die Diskussion ganz nach Athen zu verweisen und
sie nicht zwischen Sparta und Athen, sondern zwischen Lakonenfreunden
und -gegnern ausgefochten sein zu lassen. Maßgebend waren dann auch
nicht literarische Erwägungen, die viel eher auf den Gegensatz Milet-
Sparta geführt hätten, da das Buch doch nichts specifisch Athenisches
hatte, sondern politische. Ursprünglich galt das Buch, in dem die Eu-
10 F. JACOB Y
neres Interesse erregt nur im 4. Jahrhundert; und das wohl erst,
als es in Sparta selbst wieder aufgenommen war, Piatons Kennt-
nis ist vielleicht älter (ich persönlich glaube auch das nicht) : aber erst
nomie und das Messeniergedicht standen, gewiß als ein spartanisclies und
wird gerade als solches in bestimmten Kreisen geschätzt worden sein.
Machte man den Dichter zum Athener, so hatte das von vornherein eine
Sparta abträgliche Tendenz. Die Erfindung war leicht, einmal weil man
keine spartanischen Dichter kannte, wohl aber viele ausländische Dichter
und Propheten, die z.T. sogar in Sparta eingebürgert waren, wie Ter-
pander, Alkman, Thaletas und im 5. Jahrhundert den aufsehenerregenden
Fall des Tisamenos. Sodann weil spartanische Hilfsgesuche in Athen von
der Heraklidenzeit bis in die Gegenwart einen rn.^og athenischen Selbst-
lobes bildeten. Wann die Erfindung gemacht ist und welches ihr un-
mittelbarer Anlaß war, ist schwerer zu entscheiden. In Kimonische Zeit
würde ich sie ungern rücken, weil Tyrtaios erst in Platonischer in wei-
teren Kreisen interessirt hat. Die Tyrtaiosmode geht so schnell vorüber.
<laß ich fast glauben möchte, erst das Hilfsgesuch Spartas im J. 369.
bei dem die spartanischen Gesandten selbst die älteren von Athen ihrer
Heimat gewährten Wohltaten aufzählten, habe die ganze Frage ange-
regt. Kallisthenes, der dieses Hilfsgesuch Spartas in den 'Elhjvixa ent-
sprechend seiner ganzen antispartanischen Tendenz behandelt haben
wird (Comment. in Aristot. Gr, XX 189,13), war der älteste Zeuge, den
Apollodor für den 'Athener Tyrtaios' nannte. Der Erfinder war er ge-
Aviß nicht ; a'ier Piatons Compromiß (Leg. I 629 A) könnte sehr wohl
auf ihn Rücksicht nehmen. Gehört die Erfindung nicht erst in das Jahr
369, sondern 'schon in die Sophistenzeit' — eine etwas vage Zeitbestim-
mung — , so bleibt allerdings die Kimonische Expedition als Anlaß wahr-
scheinlich. Daß man sie nicht vergaß, lehrt ja Aristoph. Lys. 1137 ff.
eu w Adxcoveg, irgog yciQ vuäg xoixpoiiat,
ovx i'o&\ OT i?.&6jv ösL'QO IJsQiHXeidag Jiore
6 Aäncov 'Ad)jvaiojv ixsztjg Hads^sio . . .
axQaxiäv :^QoaaiTcör ; »; de Msaaijvr] tote
vfiTv ijiexeiro, yd) deog asicov äfia.
i?<.ß6)v 8s oi'v oTtXizaioi TETgaxioyih'oig
KifHov oh]v eocoae ttjv Aay.edai^iiova.
Aus der Rede Kimons, mit der er die Hilfeleistung empfahl, ist durch
Ion das Wort gut bezeugt, f^ijts rijv 'EXXäda x^Xijv firjzs rijv siöXiv szsqö-
^vya jiEQiidsiv yeysv7]fiiin]r (Flut. Kim. 16). Sollte damit die 'Lahmheit'
■des Tyrtaios zusammenhängen? Wenn es sich um eine antispartanische
Erfindung handelt, so wird auch die Ausmalung entsprechend gewesen
sein. An Parallelen für solche höhnischen Sendungen unbrauchbarer
Subjekte fehlt es nicht. Sie konnten neben Orakeln von der Art des
den Herakliden gegebenen {/jysfwri ygt'joaoßai zcöi zgio(pdd)./icoi) wohl An-
laß zur Ausmalung geben. Schwartz 466, 1 spricht zwar von 'echter
Überlieferung' im Gegensatz zu dem 'schlechten Witz von dem lahmen
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN H
nach der Wiederaufnahme in Sparta hegt die Anspielung im 'Archi-
damos' des Isokrates und die historische Verwertung durch KaUi-
sthenes, von dem Aristoteles wie Ephoros abhängen. Auch Lykurg
zeugt für das momentan gesteigerte Interesse. Später sind die
Spuren seines Lebens wieder so gering, wie sie es früher waren.
Der Gegensatz zu Solon oder Mimnermos ist deutlich.
Dies Buch nun, das im 4. Jahrhundert vielleicht gerade von Athen
nach Sparta zurückgewandert ist, sah recht wesentlich anders aus,
als was einst, sei es durch Rhapsoden, sei es sonstwie, von Sparta
ausgegangen war. Die 'alten Stücke waren teils nachweislich mit
starken hiterpolationen durchsetzt, teilweise wohl auch so über-
arbeitet, daß der alte Stock nur noch in einzelnen Versgruppen
erhalten war; und neben den alten standen jüngere, nicht mehr
spartanische Stücke. Das läßt sich alles auf Grund der von den
Historikern erhaltenen Fragmente und der drei oder vielmehr vier
größeren Gedichte, die wir besitzen, mit voller Sicherheit nach-
weisen; und Wilamowitz hat es bewiesen, wenn auch ohne großen
Beifall zu finden. Die Bursianschen 'Jahresberichte über die Fort-
schritte der klassischen Altertumswissenschaft' (GXXX 1907, 123)
sind ihrer Tradition getreu geblieben, die darin besteht, alle wirk-
lichen Fortschritte möglichst energisch abzuleugnen. Und in Über-
einstimmung damit gellen die großen Stücke 10 — 12 Bgk. sowohl
der neuesten Auflage von Christ-Schmid (Gesch. d. gr. Lit.^ I 1912,
171) wie der Ausgabe von Monti (Tirteo, Turin 1910), "^von ein-
zelnen Interpolationen abgesehen, als echt'. Nur Crusius RE V 2269
stimmt wenigstens im Princip Wilamowitz' Ergebnissen zu; aber was
Scliulmeister". Der Schulmeister, der nicht nur lahm, sondern auch
töricht ist {voin- 7Jy,ioza e'/jir Soy.iov), steht freilich erst bei Pausanias
(IV 15, 6. Suid. gl. 2); er hat den 'lahmen Dichter' der älteren Überlie-
ferung (lustin. HI 5, 5; vgl. Porph. Horat. Ars 403) verdrängt. Aber das
vovv tjy.ioia k'ysir doy.dn- ist weit älter: Herakleides Pontikos (Diog. Laert.
II 43) schalt die Athener, weil sie "0[xi]qov jierr7]y.ovTa ÖQa/jtaig cog f.iai-
vofiEvov s!^r}iA,i(x)oav xal TvQTaiov Jtagaxöjizsiv tlejov xzl. Davon steht auch
nichts in der 'echten Überlieferung'. Offenbar gab es eben mehr. Wenn
die Lakonengegner spöttisch von dem "^ verrückten nnd verkrüppelten
Dichter' erzählten, der den Spartanez'n ihren Krieg hätte gewinnen
müssen, so wendeten das andere gegen die Athener, deren Urteilslosig-
keit wahres Verdienst öfters verkannt habe. Was Kallisthenes, Epho-
ros, Philochoros Näheres von dem 'athenischen Dichter' erzählten, der
den Spartanern als ^ys/uhr {atgairiyog) s86&7], wissen wir gar nicht.
12 F. JACOBY
er über die einzelnen Gedichte sagt, ist wenig klar ^). Es gilt eben
nicht nur für Italien, was Pistelli in seiner gutgemeinten, aber
dürftigen Epikritik *^De recentiorum studiis in Tyrtaeum collatis"
(Studi it. di fil. class. IX 1901 S. 435 ff), die zu Unrecht überall
citirt wird ^), prophezeite: 'quamvis non sit duhium, quin tradita
potins quam nuper inventa Ifalis praesertim , quod pJerumque
fit, plncitura sint\ Ich beabsichtige nun nicht, Wilamowitzens
Beweis zu wiederholen — wozu sich mit einer Auffassung auf-
halten, die in vji' äomdog tiküoosiv eine 'Erklärung' für Toiot
.-lavojikotoi 7Th]oiov lordjiiEroi findet (11, 35 — 38) oder die Disti-
chen 10, 17-18; 11, 15-18; 11, 29-30 u. a. mit üblen Gonjec-
turen 'rettet"; wozu umgekehrt Athetesen, wie die von 10, 5 — 6;
25 — 26 bei Monti widerlegen? Das fällt alles von selbst weg, wenn
wir einmal eine erklärende Ausgabe bekommen, deren die alte
Elegie trotz ihrer 'leichten Verständlichkeit'' bedarf. Ich will die
Gedichte selbst besprechen , namentlich soweit sie mir von Wila-
mowitz, der die ganze Frage ja nur im Vorübergehen abtat, noch
nicht genügend oder unrichtig beurteilt zu sein scheinen.
10 A.
Den besten Beweis für das Eindringen junger Stücke in die
Sammlung liefert die Versreihe bei Lykurgos (in Leoer. 107 = fr. 10
Bgk.) Te&vdjusvai yaQ aaXbv ivl jiQO/idxoioi jreoövja. Hier hat
Heinrich zwei Gedichte erkannt, die ich als 10 A (die vv. 1—14)
und 10 B (15 — 32) bezeichne. Jeder neue Versuch, die Einheit-
lichkeit zu erweisen, zeigt nur, wie unmöglich das ist^). Aber die
1) Auch Bethe in Gereke- Nordens Emleitung I 289 benutzt zui-
Charakteristik des Tyrtaios gerade das junge Stück 10 A, während
Beloch, Gr. G.2 I 2 S. 262, 2 erklärt, Wilamowitz ginge in der Athetese
viel zu weit.
2) Der einzige neue Gedanke Pistellis ist die Ableugiiung des Kri-
terions der alten Bewaffnung. Die Form, in der sie erfolgt, zeigt, da&
er weder die El. 11 noch ihre Behandlung durch Wilamowitz verstanden
liat. Es kommt zudem nicht die Bewaffnung allein, sondern noch mehr
die Schlachtordnung in Betracht. Die großen Schilde sollen die Spar-
taner noch sehr lange geführt haben (Plut. Kleom. 11 ist dafür kaum
zu verwerten). Später war gerade ihre geschlossene Phalanx berühmt,
die in 10 B wie in 11 unbekannt ist.
3) Ganz toll ist Buchholz-Peppmüllers Nachweis von vv. 15/18 als
dem 'Mittelpunkt' eines 'organisch gegliederten Ganzen'. Aber auch
Reitzensteins frühere Zweiteilung (a. 0. 46, 2) in einen allgemeinen und
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 13
Gonstatirimg, daß 'nach 14 jeder Zusammenhang abreißt' und daß
10 A 'allein für einen schweren Verteidigungskrieg paßt', schlägt
allerdings nicht durch, sondern hat nur zu nutzlosen Redereien
geführt, ob der Messenische Krieg ein Verteidigungskrieg genannt
werden könne, und zu noch nutzloseren Versuchen, mit Umstellun-
gen zu helfen. Auch dem Columbusei von den 'beiden adhorta-
tiones, die sich gegenseitig bedingen und aus derselben Situation
herauswachsen', dem 'innerlich zusammengehörigen Elegienpaar',
der 'Gedichtgruppe, wie wir sie später bei Theognis oder Properz
beobachten können' (Grusius RE V 2269). kann ich keinen Ge-
schmack abgewinnen. Entscheidend sollte auch für die, welche die
Verschiedenheit der Situationen, der Voraussetzungen, des Tones,
der Gedankenführung — es ist wirklich alles verschieden in diesen
Gedichten — nicht sehen, die Verschiedenheit der äußeren Form
sein. Nebeneinander, wie in einem Schulbeispiel, haben wir hier
die beiden möglichen Typen der kriegerischen Paraenese und mu-
tatis mutandis der Paraenese überhaupt: den 'Wir- Typus', den Auf-
ruf, bei dem der Redner sich einschließt, sich auch wohl, was hier
nicht der Fall ist, als Führer anbietet^), und den 'Ihr-Typus', die
bekannte Aufforderung an die v^ot, d. h. die Felddienstfähigen, ihre
Pflicht zu tun ; jener z. R. in Solons Salamiselegie l'ouev eg Za/.a-
jiiTya, uayyjooueroi neoi vi]oov, dieser z. R. bei Kallinos 1, 1
fteyoig rev y.ardy.eioQs, .tot' äXy.iuov e^EJs dviior, o) reoi ; bei
Tyrtaios 11 d//' — "Hgay.bpg ydo äviy.i'jrov yerog eore — daooFÄTe.
Noch in Horazens politischen Epoden sind diese Typen kenntlich:
Quo quo sceJesfi rulfi.-^ und eamxs oninis cxccratu cicitas~): und
einen speciellen Teil mit 'etwas abschweifender Begründung in beiden
Teilen' ist wenig glücklich. Mit einer regelmäßigen Zweiteilung der
Elegie ist es überhaupt nichts.
1) II. Z 374 l'ouev ■ avTÜo iycov ?)yt]oouai xt/.. Horat. epod. XYI vate
me datur fuget. Man denke sich ein solches avräo iyoiv tjyi^oofiai in einer
Elegie des Tyrtaiosbuches, und man hat den Anlaß, der aus dem Sänger
den Strategen machte.
2) Füi" die Beurteilung der literarischen Form dieses Gedichtes und
ihrer Vorlagen genüge es hier, auf Reitzeustein. GGA 1904, 9-52 zu ver-
weisen. Es ist Rede, wie die Elegie (s. noch Siebourg, Neue Jahrb. 1910
I 274). Ob politische Rede oder kriegerische, macht keinen Unterschied,
Archilochos spricht die ao/Äzai an (fr. 50), wie Kallinos die vioi. Auch
Solon spricht zu den 'AdrjvaToc (4, 31) und hat die Anrede in dem sog.
Tyrannengedicht El ök ne:iöv§aTs h'yod (11 Bgk.) und in dem neuen
14 F. JACOBY
noch hier zeigt sich der im Wesen dieser Formen hegende Unter-
schied, daf3 die x\ufforderung an die veol oder an andere über-
haupt fast ohne Ausnahme das Gedicht eröffnet, während die Wir-
Form den emphatischen Schluß abgibt, woraus es sich denn auch
ohne weiteres erklärt, daß bei sich steigernder Erregung des Red-
ners der Übergang vom Ihr- zum Wir-Typus erfolgt, während der
umgekehrte Übergang von der erregten Form zu der kühleren bei-
spiellos ist ^). Die Vorbilder für beide Formen bietet wie immer
'Yi-uTs S" rjovydaavxsQ (Aristot. 'Aü. jio/.. 3,2); immer in sehr erregten
Stücken. Sonst hat er, wie es scheint, eine dritte mögliche Form, die
Betrachtung, bevorzugt (El. 4 'HfiEisga 8e nolig).
1) Der Übergang, der oft den Eindruck einer gewissen Höflichkeit
macht, vollzieht sich leicht, wenn die Rede mit einer rhetorischen Frage
beginnt. So in der Poseidonrede E 364/77 'AgysToi, xal 8' avze he&ietb
"ExTOOi vixrjv IlQia/Lu87]i; . . . älV äysd^', (og äv syoi euico, nEi&cöfis&a nävzeg,
dojii8£g ooaai äoiozac ivl oroarün '^Sk /.isyiozai saadjusvoi . . . lOfiEV' avzäg
sywv r]y7]ao/iiai. Vgl. noch E 464,69 cb visTg IJoidfwio . . . ig zi hi xzEi-
vEodai idosTE /.aov 'Ay^aioig ; . . . d?.?.' äyEz' ex qp/.oioßoio aadiooiiEv EodXöv
szaioov. Füi- den Übergang vom 'wir' zum 'ihr' bieten einen scheinbaren
Beleg die Worte Nestors Z 67/71 (5 (fü.oi tJQcoEg . . /it] zig vvv ivdgiov
E:;itßa?./.öfiErog /.iEz6n:io&£ fiifirszco . . d).V äv8oag xzEivco/UEV ' sjiEiza 8e xai
zu £xt]?.oi vEXQOvg äfi jteSiov avlrjOEZE zEdvrjMzag. Das ist nun zwar — um
vom Sinne gar nicht zu reden; es liegt in dem o?;/.»;o£r£ allerdings etwas
Besonderes, für den Moment sehr Angemessenes, ein ' meinetwegen mögt
ihr dann später . ., wenn euch an der Beute so viel liegt' — auch in
der Form anders, als der Übergang in der Elegie von drrjoxojuEv zu &
vEoi, dXXa fidxEode, schon weil die dritte Person //>/ ztg ßi/xvEzco voraufgeht.
Aber es ist immerhin interessant, daß Zenodot Anstoß nahm und schrieb
Tqwcov di-i jie8iov ovXr]ooi.iEV svzsa VExgovg, iva /nfj fwvov Eig ztjv TtgäEiv,
d)./.d xal Eig z6 xsgSog ovi.(JtEodafißdvoi kavzov d Neozcoo (Schol. T). Die
Schollen widerlegen ihn mit dem Eßog 'O/ntjoixdv. Was sie beibringen,
ist teilweise ganz unpassend. Einzelheiten, Inconcinnitäten entscheiden
nicht, es handelt sich um die Gesamtanlage. So geht es nicht an, aus
der großen Hektorrede 2" 285/809 nur die vv. 297 d?.r äyEd'\ cog äv iyut
EiTico, TiEißojfisßa :idvzEg. vvv /iiEv ddojiov eIeo-&e herauszugreifen. Die ganze
Rede, die überhaupt nicht paraenetisch ist, sondern die Absichten und
Ansichten des Feldherm ausspricht, zerfällt in zwei Teile. Die Ab-
rechnung mit Pulydamas' Vorschlag (285—296), sehr erregt, mit ent-
sprechender Inconcinnität nov/.v8dfia , ov [xiv ovxsz' ifioi wü.a zavz' dyo-
OEVEig . . ■ 287 i) ov 7i(o xexöqtjoÜe . . . 295 v^mE, fitjxhi zavza vorjfiaza
fpaiv' ivl öiqiMcoi, 'denn ich werde es nicht dulden, daß man dir folgt'.
Dann steht 297 der formelhafte Vers dV: äyE^\ der zum zweiten Teile
überleitet (298—309), der Anweisung an die Truppen 'eßt jetzt und
wacht; morgen wollen wir kämpfen und ich werde Achilleus entgegen-
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 15
das Epos. Den emphalisclien Abschluß zeigt beispielsweise ganz,
wie die Salamiselegie die Sarpedonrede il/'326,'8:
vvv d' e'jUTtrjg ydg x)~]Qeg e(peoTdaii' "d^avaroio
jLivQiai, äg ovK eoTt cpvydv ßgorov ovo' vjiakv^ai,
l'ojLiev, f]€ TOJi el'yog oqe^ojuev ije rig fjjjuv —
und ebenso die zweite Fassung der Poseidonrede JV 95 — 124:
115 äXX' äy.ea)^ueOa Odooov äxeorai toi cpgeveg eodXwv,
während die erste beginnt mit
95 aidojg, 'Agysioi, y.ocQoi veoi.
Denn diese Beobachtung, daß hier zwei Redetypen durcheinander-
gehen, spricht am entschiedensten für die Zerlegung der vielumstrit-
tenen Rede, wie sie jetzt Wilamowitz in seinem wundervollen Buche
'Die Ihas und Homer' S. 220 vornimmt, in 95/98. 115/124 und
99/114. Nur daß v. 115 eben nicht zur ersten Fassung gehören
kann, in der er zum mindesten unnötig, meines Erachtens auch ganz
unpassend ist, sondern als Schluß der zweiten, mit co ttojioi, y /ueya
&avjna beginnenden, unentbehrlich ist und auch gut, wenn man
nur keinen Hinweis auf die Airai darin findet. In diesem gleichen
Typus des kriegerischen Aufrufes zeigt sich die enge Zusammen-
gehörigkeit von 95/98 und 116/124, nicht in der von Wilamowitz
angeführten Verwendung des Stichwortes /ueß/joeze 97 jusdiere 116
jiieü')] jLioovvy 121. Denn mit fiedierai, diesem bekannten Terminus
der Paraenese, wirtschaftet auch die zweite Fassung — 108 jue&rj-
fxoovvrjioi T£ Xacbv 114 juei&iejuevai jioXejuoio — , die die erste vor-
aussetzt, wie eben auch das in v. 115 etwas überraschende eod^XoC
beweist. Die erste Fassung baut sich ganz auf dem Gedanken auf,
daß die angeredeten jidvreg uoioroi eovTeg ävd orgarov sind. Denn
das liegt schon in dem betonten v/ijuiv 95 und vjueig 97.
Für 10 A ist die Bedeutung des Wir-Typus besonders wichtig.
Denn dies ganze, auch in den Einzelheiten stark Homerische Ge-
dicht steht weniger dem TijLiijev re ydg eozi xal äyXaov dvögl
jud^eo^ai des Kallinos nahe, als daß es eine Paraphrase der Hektor-
rede0 486ff. ist:
treten'. Dieser Teil hat mit l'hods — iyeiQo/uev "Aorja — oi' /.iiv eycoys
(pev^o/iiai. die äußere Form der Poseidonrede im £", aber eben nur die
äußere Form. Ein wirkliclier Übergang in der Paraenese vom 'wir' zum
'ihr', und zwar nicht zum 'ihr' schlechthin, sondern nur zu einem Teile,
den vEoi, wie man ihn in El. 10 für möglich hält, kommt da nirgends vor.
Sollte er möglich sein, müßte der zweite Teil ganz anders gebaut sein.
16 F. JACOBY
Tgcbsg xal Ävxioi xai Jagdavoi äy/ijuayt^rai,
ävegeg eoie, cpiXoi, juvijoaode de dovQiöog älyS]g,
denn Zeus liilft uns:
494 äXlä iidyeod' im vijvolv äokMeg' og de xev v/ueojv
ß?j]/iievog )]£ TVJielg d^dvazov y.al noxixov emont^,
reßvdrco ' ov ol äeixeg äjuwo/uevcoi tzsqI 7idTQ7]g
Teßvd/uev ' dXV (iloyog xe oot] xal nalöeg ömooco,
xal olxog xal xXfJQog äxrjQazog, ei' xev 'Ayaiol
499 olycovrai ovv vrjvol cpilrjv ig jiargida yaTav.
Schon Lykurg hat diese 6 Verse vor dem Excerpt aus Tyrtaios
angeführt. Er hat die Verwandtschaft gespürt. Wir aber haben
ein Recht, daraus die Situation und die Abzweckung der Elegie zu
erschheßen. Wenn anders man in dem lebendigen , kräftigen Ge-
dicht nicht nur allgemeine Phrasen und Stilübung sehen will, so
handelt es sich hier allerdings um einen "^schweren Verteidigungs-
krieg'. Nicht einfach zu mutigem Kampfe mahnt der Dichter, wie
in 10 B; nicht von Ruhm oder Schande nur ist die Rede. Zum
Verzweiflungskampf um Sein und Nichtsein, zur äjiovoia ruft er die
Bürger auf. Darum wendet er die Argumentation des Epikers
und stellt ihnen nicht, wie der siegesgewisse Hektor, den Lohn des
Sieges vor Augen, nicht wie Kallinos die Ehre des Todes oder des
Sieges fürs Vaterland, sondern die Folgen der Niederläge ^). Darum
umrahmt er seine Mahnung mit re&vdvai. das auch Hektor wuch-
tig verwendet: TEdvdjusvai ist sein erstes, i)vt']oxcojUfA' y'vyewr
ju)]xen (peiöojUEvoi sein letztes Wort. Darum setzt er den Ihr- in
den Wir-Typus um, der immer eindrucksvoller ist, schon weil da-
mit nicht nur die veoi, sondern alles, was Waffen tragen kann,
1) Schwartz 466, 2 sah sich gezwungen, die klare Situation zu miß-
deuten, weil er sie seiner Theorie zuliebe in einem Messenischen Kriege
unterbringen mußte. Gerade seine Argumentation zeigt, daß das eben
nicht möglich ist. Wenn Weil, Etudes 197 es wieder versucht und das
Bild der vv. 3/8 auf Zustände deutet, wie die Eunomie sie voraussetzt, so
ist das gezwungen und ohne jede überzeugende Kraft. Damit nicht aus
der richtigen Interpretation von El. 11 ein neues Argument für Tyr-
taios als Dichter von 10 A gewonnen werde, sei bemerkt, daß /hijxsti
V. 14 natürlich nicht auf fi-ühere Feigheit und demzufolge erlittene
Niederlagen deutet. Es bedeutet 'sterben wir als Leute, die ihr Leben
nicht mehr schonen, denen nichts mehr am Leben gelegen ist'. ävdQe^
/.irjxizi acoi'CoixEvoi sagt Theogn. 68 in anderem Zusammenhang, 'für die es
keine Rettung mehr gibt'.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN I7
aufgeboten wird. Es schwindet in ihm jede Spur von KäUe, die
die Paraenese leicht liat. Und zu der leidenschaftlich erregten
Stimmung paßt gut die starke Umordnung der Gedanken, mit der
er beginnt. Denn daran, daß das Distichon 13/14 -ßvjucdi. yTjg negl
xfjode /uaycüjiie&a xal tzsqI naidcov i&vtjoxojjuev ein Gedichtschluß ist,
kann man ernsthaft ja nicht zweifeln. Im Ausdruck erinnert daran
und ist vielleicht von 10 A beeinflußt der Abschluß von 12 xavzrig
vvv Tig dv)]Q ägsTr]? slg äxQOv Ixeo&ai Tieigdodcü ■dv/j-cbi, /ur] jue-
-ß^telg TtoUjiiov. Aber an dem ydg des Eingangs hat man Anstoß
genommen. Zu Unrecht; denn vergleichbar ist nicht nur das frei-
lich leichtere Hyperbaton des Gedankens in epischen Reden, wie
H 327 'Argsld)] je xal äXXoi dgiorTjeg IJavayaicbv
jioXXol ydg re&väoi xdgt] xojuöayvieg 'Ayaioi ....
331 TCO 0€ ygi] tiÖXsjuov fiev (ijii rjoi Jiavoai 'Ayaaov ....
P 220 K£x?.vze, juvgia (pvXa TiF.gixriovwv enixovgcDv '
ov ydg Eyd) nXrjd^vv di^rjjuevog ovde yari'Qcov
iv&dö' d(p' vf^iExegcov noXiojv ijyeiga h'xaaxor ....
227 xü) xig vvv Wvg xexga/iijiievog fj dnoXeo&co
)]e aacoßrjxcD . . .^).
Auch die ionische Prosarede erlaubt es sich in kritischen Augen-
blicken oder bei lebhafter Bewegung des Sprechenden. So beginnt
der Brief des Harpagos an Kyros (Herod. I 124) — Brief und Rede
sind ja nicht principiell verschieden — c5 Jidi Kajußvoeco ' oe ydg
d^eol EJiogwoi ' ov ydg äv xoxe ig xooovxo Tvyjig dnixov ' ov vvv
'Aoxvdyea xöv oecovxov cpovea xeToai; und so führt, in der Situation
unserer Elegie entsprechender, die Rede des Phokaiers Dionysios
von der Begründung über die Erörterung der Aussichten zur ab-
schließenden Aufforderung (Herod. VI 11, 2 — 3):
ejil ^vgov ydg dxfxrjg eysxai y/uTv xd Tcg/jyjuaxa, ävögsg "Icoveg,
7] elvai eXev&EgoLOi li] dovXoioi, xal xovxo c6g dgf]7iEXi]iot.
vvv 0)v v/u£ig fjv jUEV ßovXr]0'&£ xaXaincogiag ivÖEXEo&ac, x6 na-
gaygfjjua juev novog vjuTv kaxai, olo'i xe öe eoeo&e vjcEgßaXo-
juEvoi xovg Evavxiovg slvai sXEV&Egoi' ei Öe jnaXaxirji xe xal d-
xa^Lrji diaygr]0}]0&E, ovÖE/uiav vjuecov Eyco E?^mda fii] ov diboEiv
vjUEag dix)]v ßaoiXn xfjg dnooidoiog.
dXX^ Ejuoi XE TXEiÜEo&E xal Ejiwl vfiEag avxovg ijitxgEymxE . . . .
1) Schol. A vergleichen noch Od. ?c 190.
Hermes LIII.
18 F. JACOBY
Das ist im Grunde die unlogische Sprache des Lebens, die Kan-
daules (I 8) spricht: rvyii, ov ydg oe doxeoj neideodai jjloi li-
yovTi jiEQi lov Ei'ösog xrjg yvvatxog . . . Jioiei öxcog exeiv^v -ßErjoeai
yvjuvi'jv, die in der Rede zum Kunstmittel wird. Das hat der
Autor IJsqI vipovg 22 gesehen, der die Wirkung des Hyperbatons
gerade an der Dionysiosrede erläutert: k'ortv dt Xi^ecov i] vor}0£(ov
ly. Tov xax' äxoXovdiav y.ey.nnjjuev}] id^ig xat olovel xaqay.Ti^g
Ivayoiviov Tiddovg aXrjd^eoTaTog. ojg ydg ol rcöi ovri ögyiCofievoi
}] (foßovjiievoi Tj dyavay.Tovvxeg . . . äkla TcgoOeuevoi noXXdy.ig in'
äXXa jiieTan)]öü)oi . . . ovtco nagd Tolg dgioioig ovyygacpevoL öid
Tcov vnegßaxwv fj fdurjoig Inl xd xfjg q)voecog egya (pegexai. xoxe
ydg fj xEyvii xEXtiog, yriy' dv cfvoig Eivai öoy.rji, y «5' av cpvoig
EJiixv//]?> oxav Xavßdvovoav 7T£giEyj]i xi]v xr/ryi' ^).
Damit stellt sich die Elegie 10 A als ein vollständiges Gedicht
heraus. Die Möglichkeit, daß das überlieferte Elß' ovxog (11)^)
prosaische Überleitung ist und den Forlfall eines Stückes aus der
Mitte anzeigt, braucht man nicht lange 7ai erwägen. Die Schilde-
rung des Vertriebenen ist mit Tidoa ^' dxi/uii] y.al xaxoxyg ETiExai
(10) deutlich abgeschlossen; der Vers faßt die Stellung des Mannes
(er lebt in Unehren) und sein Wesen (es ist ein schlechter Mann,
kein uv^ig dyadog, wie v. 2), wie sie sich aus dem Vorhergehen-
den ergiiit, knapp zusammen. Dann ziehen 11 14 die Schlußfolge-
rung, und tun es, wie immer man die Eingangsworte gestaltet, wirk-
lich in "^sehr moderner Weise' — A'ergleichbar ist wieder El. 12. Diese
Einheitlichkeit nicht nur im Gedanken, sondern auch in seiner Formu-
lirung fehlt der Elegie des VII. Jahrhunderts, die noch wie die epische
Rede die einzelnen Argumente als in sich geschlossene Einheiten,
ohne Verbindung miteinander hinstellt^). Der Verfasser von EI. 10
1) Mit der Herodotischen vergleiche man die große Rede Xeno-
phons, Anab. 111 1, 35— 44, "wo der Satz 'denn wir bind in kritischer Lage'
in einer Parenthese ganz am Schluß steht: S y.al i\uäg 8sT vvv y.axaiia-
ßövTa; — iv zoiovion yag y.aioöJi Eonev — avzovg te ävdoag ayadovg eivai
y.al Toi'g a'/.'/.ovg Ttagayahir. Der Unterschied der Wirkung ist evident.
2) Daraus bat Francke sl Ö' ovrcog gemacht. Wilamowitz, der eine
dann allerdings einfache Umstellung ei 8e toi ovzwg uvögög vorschlägt,
übersieht, daß nicht sl 8\ sondern Eid'' überliefert ist. Die Apodosis des
Ganzen muß mit v. 11 beginnen. Wenn wir in ei&' ovroig Prosa sähen,
könnten wir kaum etwas anderes ergänzen, als (d/Äö) — j-iaydiiisda und
müßten dann avdoog — ykvEog als Parenthese formuliren , wie 11, 1 — 2.
3) Instruktiv ist auch hier ein Vergleich mit der Sarpedonrede des
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 19
hat freilicli überhaupt nur ein Argument, die wirksame Schilde-
rung dessen, der die Heimat verloren hat. Sie macht den Aufruf
zum Kampfe zur Elegie. Die bewußte Knappheit, die der wirk-
lichen oder vorausgesetzten Situation angemessen ist, steht in vollem
Gegensatz zu dem breiten Wortreichtum der El. 12. Daß dieses
Gedicht aus einer bestimmten Situation erwachsen ist, was für 12
schwerlich angenommen werden kann , wird man gern glauben.
Daß jedes Indicium fehlt, wie es etwa in 11 die Bezeichnung der
Angeredeten als Heraklessöhne gibt, macht zwar die Lokalisirung
des Gedichtes unmöglich, dieses selbst aber noch nicht zur allge-
meinen Paraenese. Die paraenetische Elegie hat, soweit sie nicht
an einzelne sich richtet, wie besonders häufig bei Archilochos,
dessen Neuerung das ist und der eben damit den Charakter der
allgemeinen Paraenese abstreift und dafür den Ausdruck individueller
Ansichten sich ermöglicht, naturgemäß meist nur ganz allgemeine
Anreden. Die Ephesier wissen ja, daß sie gemeint sind, wenn ihr
Landsmann Kallinos co veol sagt. Solons 'HjuEiegi] Jiohg, die ja
auch in der Form weniger Paraenese, als Betrachtung ist, steht
mit ihrem Nachwort lavia Öidd^ai 'ßv/udg "Adip'aiovg pji xelevei
wohl nicht nur zufällig unter den älteren Stücken allein.
10 B und 11.
Es bedarf nun wohl keines Wortes mehr, daß mit diesem in sich
geschlossenen Gedicht die zweite, mit der Aufforderung an die veoi
beginnende Reihe (10 B) nichts zu tun hat. Sie muß für sich be-
M, die schon einen hohen Grad von logischer Argumentation zeigt.
Aber die Argumente stehen nebeneinander. Das erste 'wir genießen die
Königsehren, darum müssen wir im Vorkampf stehen'. Dann, getrennt
durch die neue Anrede m ji£-tov, das zweite: ei /iisr "wenn wir dadurch-
daß wir uns dem Kampfe entzögen, unsterblich würden, so würde ich
nicht kämpfen, noch dich dazu veranlassen' — das steht dem Schluß,
unserer Elegie sehr nahe, gibt aber selbst den Schluß noch nicht. Der
erfolgt mit vvv d' sftjirjg yäg xfJQEg irpsaiäoiv ßaväroio fivgiai , äg ovx eoti
(fvysTv . . . i'oiiisv und berücksichtigt nur das zweite Argument. Nicht
viel anders noch Kallinos, wo die beiden Argumente 'die Zeit des Todes
bestimmt dem Menschen das Geschick' und 'dem Tode kann niemand
entfliehen' getrennt sind durch die Aufforderung d?2d ztg Wvg Izco, mit
der das Gedicht schließen könnte. Das weiterleitende yog, das das zweite
Argument anknüpft, hat die Erklärer irregeführt. Es handelt sich deut-
lich um ein neues Argument, nicht um eine Begründung für die Argu-
mentation 12/15, die in sich geschlossen ist.
2*
20 F. JACOBY
trachtet werden. Ich glaube nämhch nicht, daß Wilamowitz sie
richtig beurteilt hat, wenn er in ihr eine Bearbeitung des alten
echten Tyrtaios sieht. Ausschlaggebend war dabei für ihn wohl.
daß das letzte Distichon
ä?J>.a. xiQ ev öiaßäg juevhco noolv äfi(poTEQOioiv
orrjQiy^&Eig im yfjg, 'lukog ödovoi öaxcov
in der anerkannt alten El. 11 w^iederkehrt als Anfang des didakti-
schen Teiles — so muß man sagen — , der Anrede an die einzelnen
Waffen. Wilamowitz zieht daraus zunächst den meines Erachtens
unwidersprechlichen Schluß, daß 'in dem Exemplar des Lykurgos
noch mehr aus dieser folgte". Das Distichon kann in der Tat nicht
Anfang einer dritten Elegie sein; denn es ist kein Anfang. Und
wäre es ein Anfang, was hätte es für einen Sinn gehabt, nur
diesen auszuschreiben? Es kann auch kein 'späterer formelhafter
Zusatz' (Reitzenstein : Sitzler) sein — das scheint mir eine reine
Verlegenheitsausflucht — oder eine Interpolation (Brunck, Gaisford,
Francke u. a.). Nicht einmal als Beginn einer zweiten Fassung der
vv. 21/30 ist es denkbar, weil sich diese Verse von 20 nicht lösen
lassen. Am allerwenigsten ist es natürhch eine 'peroratio', als die
Bach und, wie es scheint, Bergk es bewunderten. Hinzu kommt,
daß ein alter Dichter schwerlich mit 30 geschlossen hätte ohne die
nochmalige Mahnung und Belehrung. Es bleibt also nur übrig,
anzunehmen, daß wirklich auch dieses Gedicht den ganzen didak-
tischen Abschnitt von 11, d. h. die allein echten Distichen 21 — 28;
35 — 36 enthielt. Wie das zu beurteilen ist, bleibe vorläufig da-
hingestellt. Die Tatsache einer Bearbeitung kann doch nur aus
den vv. 15 30 selbst erwiesen werden. Fragen wir also, was in
diesen auf eine solche weist.
Wilamowitz führt dafür dreierlei an: 1. Es sei 'gar nichts
darin, was einen individuellen Charakter zeige'. 2. Die Verse wiesen
'jene Homerumbildung' auf, die 'in den Zusätzen der echten Elegie^
— das geht wohl auf 11,29 — 34 — bemerkbar ist. 3. v. 18
(fulorpvyeTv sei 'ein Wort so junger Bildung, daß ich sie [die Bil-
dung oder die ganze Überarbeitung?] nicht für älter als das 5. Jahr-
hundert halten kann'.
Am schnellsten läßt sich der dritte Punkt erledigen. Denn
das einzelne Wort cfiloxpv/ßTv, das man nicht mit Gonjecturen
heimsuchen wird, um Wilamowitz zu widerlegen ^), kommt für das
1) ixr] (fsidd) xfvxijg SC. :zoieTa&£ Sitzler. Aber cpdoywxstv ist für
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 21
Gedicht überhaupt nicht in Frage, weil das ganze Distichon 17/18
eine evidente Interpolation ist. Ich befasse mich nicht mit den ver-
schiedenen Anstöfsen und den Versuchen, sie zu heben — noi-
do§ai dvfjLÖv, dvögaoi juaQvdjueroi [vgl. in dem gleichfalls inter-
polirlen Teile von 11 v. 33 dvögl jiiayjodco] — , es genügt die
Feststellung, daß äX?M einen falschen Gegensatz einleitet zu 16
ur]de cpvyyg aloxQdg äq^Exe ju}]de (poßov. Der wirkliche Gegen-
satz geht hier, wie in 11, 1—4. 21 — 28, vorauf. Und hier, wie
11, 29 — 30 ä?dd Tig eyyvg uov nach juijö' Ixxbg ßcXeoiv iordro)
domo' t'ycov, hat die Umordnung des Gedankens zur Interpola-
tion eines neuen Gegensatzes geführt, den die modernen Interpreten
festhalten , obwohl er offensichtlich stört. Das zeigt wenigstens,
warum interpolirt ist. Obwohl in 11 schon Francke, dann Weil
Rh. Mus. XVII, zuletzt Wilamowitz die vv. 29—34 gestrichen haben,
werden immer wieder Rettungsversuche wenigstens für 29/30 unter-
nommen^), "da man sonst nach iu)]d' exrog kxI. die positive An-
Euripides wie in dieser Elegie der Gegensatz zu /nüxEodai (Hec. 315 .-ro-
Tega fia)[ovfie&' y (piXoywxrjooiAEi', xov naz^avövx OQÖJvreg ov Tiiiwf.iEvov).
Der Begriff der Feigheit, den dieses 'das Leben lieb haben' ursprüng-
lich nicht hat — z. B. nicht bei Herodot. VI 29 6 '^laxiaiog üjit^cov ovx
ajioXeeo&ai vno ßaaüJog . . <fiXoy>vyirji> TOirjvds riva avaigiszai, bei Plat.
Apol. 37 C (aber Leg. XII 944 E ist es 'Feigheit') und Lysias Epitaph. 25 — ,
geht in diesem Zusammenhang leicht in den des 'feige sein', ja fast den
'fliehen' über, wie eben bei Eurip. a. 0. und Herakleid. 517 f. ti 8svo'
a.tpiy.saß-' Ikeoioioi ovv t<ld8oig, avrol rpiXoyivyovvzEg ;
1) Anlaf? dazu hat Wilamowitz selbst gegeben, weil er, wie schon
Francke. die interpolirten vv. 29/34 für 'unter sich nicht einheitlich' er-
klärte. Er berücksichtigt dabei nicht die in 37 38 ebenso hervortretende
Ungeschicklichkeit des Eindichters, der übrigens wohl sicher mit dem
Verfasser auch von 15/18 identisch ist. Auch 38 vereinigt sich mit 36
so schlecht, wie hier das Füllsel 34 mit 30. Das Distichon 31/32 ver-
liert nun überhaupt jeden Halt, wenn man es von 33/34 löst. Die Ver-
bindung beider zeigt, dafs in der ganzen Eindichtung geschildert werden
soll, was der Verfasser von El. 12 Hai ötjion' oyt-yoir' iyyvßer lazd/nEvog
nennt. Dazu hat der Interpolator die Schilderung der Phalanx 77 2l5ff.
(= iV 131 flf.) herangezogen, sie aber auf den Kampf zweier Gegner über-
tragen, ßsi'g, EQEiaag, jisjclrjiJEvog stehen offensichtlich parallell, dem
ävbgl fiaxEo&co untergeordnet. Das ist schlecht gemacht, weil es ein
unmögliches Bild gibt. Aber die Verse sind auch einzeln nicht besser.
Oder sollen sich in der Phalanx die Helmbüsche berühren? In der Vor-
lage steht das ganz anders. Der Eindichter wird noch stolz auf die
Formulirung nach dem Typus oyyj't] eti' oy/j'tji yyqäay.Ei gewesen sein.
22 F. JACOBY
gäbe vermißt'. In Wahrheit kommt auch in 10 B ein schöner und
vernünftiger Gedanke erst heraus, wenn man das Distichon aus-
sondert:
15 CO vioi, ä/J.ä i^ul'/^Eode tzüq' ä/M'iloioi jusvorreg,
jufjde (pvyfjq aio'/Qäg äg^sre juijde q:6ßov'^),
19 Tovg de TiaXaioTeoovg, d>v ovxezi yovvax llacpqä,
^11] xaTaXeiTTOvreg (pevysje TOvg yegaiovg.
Den zweiten Einwand verstehe ich nicht recht ^). Die Homer-
umbildung, d. h. hier vor allem die ihrer Bedeutung wegen viel-
umslrittene Versgruppe 21 — 30, die eine Paraphrase von II. X 66 bis
76 ist, beschränkt sich doch wahrlich nicht auf die 'Zusätze', son-
dern ist das tägliche Brot für den Elegiker, dessen Paraenesen teil-
weise überhaupt nichts anderes sind, als Paraphrasen der epischen
Reden. Gerade der echte Tyrtaios schließt sich sogar besonders
eng an Homer, wie das für den Lakonen, der das Epos bei seinem
Publikum voraussetzen kann, auch ganz begreiflich ist. Ganz wie
10,21 — 30 zu X66— 76 stehen die unbezweifelt echten Partien
von 11 zu Homer. Längst verglichen sind die Distichen 11—14
oX fjLsv ydg toXjuäJoiv Tzag' uXIyjJloioi juerovreg
eg t' avtoo'/eöh]v y.al Tzoojiid/ovg levai,
navQOTEQoi dtn'joy.ovoiv, oaovoi de labv ömooco'
TQSOodvTCOv ö' ävÖQÖJv zido dnöloile äger/]
mit II. 0 561 ff. (=£'529ff.; s. auch ^A^ 47-48):
'Q cplXoi, ävegeg ioze y.al atöco deoü^ evl &vjua)t,
äXhjXovg r' aldeXode yarä youTegäg vojuivag '
alöojuevcDv d' ävögcöv nXeoveg oooi fjh nefpavxai,
(pevyovTWv ö' ovx' ag' xAeog OQVvrai ovre rig älyJi,
wobei im Vorbeigehen bemerkt sein mag, daß auch näo' änoXcole
ägerrj sich aus dem Homerischen Gedanken ohne weiteres erklärt.
Selbst der 'spartanische Terminus' in diesen Versen steht im Hexa-
meteranfange £"522 uvÖQCJv xQEoouvxwv; und man könnte wohl
fragen, ob in diesem xQeooai = (pvyeZv pcexd öeovg (Schol. A zu
iV 515 u. ö.) wirklich die spartanische Heeressprache die alte Be-
1) Ein IV ^(« bvoiv. Das Homerische Wort fpößo; 'Flucht' wird durch
das voraufgell ende (fvyfjg erklärt, (ir^ös ^oßsTods 'flieht nicht' sagt auch
der Verfasser von 11, 3. An diesen Vers erinnert 12, 17.
2) Ob Wilamowitz jetzt anders urteilt, ist aus 'llias u. Hom.' 95, 1
nicht sicher zu erkennen.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 23
deutung bewahrt oder ob nicht die Poesie des Tyrtaios hier die
Heeressprache beeinflußt hat. Aber auch die eigenartige Didaxe
erst der HopHtcn, dann der yvfivrize>; liat ihr Homerisches Vorbild.
Der alte Nestor stellt im J 292 ff. sein Conlingent auf:
iTiTjfjag jLih' TtQcora ovv Innoion' xal öy^eocpi,
jiE^ovg d' i^orcide otTjoe)' noltag je y.nl toOkovg,
EQxog EfiEv TiolEf-ioio' KUHohg ö' ig uEooov e'Xuooev,
öcpga y.al ovx e&eI(X>v Jig avayy.ahji noXEfd'Qoi
— wobei wieder im Vorbeigehen an das berüchtigte fr. 9 Bgk. er-
innert sei, wonach auch Tyrtaios einmal von solcher gezwungenen
Tapferkeit sprach; da war es ein ttqo töjv Tdq^Qcov xal xcbv roiov-
Tcov TiaQardxTEiv (Arislot. Elh. Nie. III p. 111(5'' 1); ich meine, fr. 11
zeigt uns, wie das auch in der Elegie möglich war. Dann folgt
im A die Rede, die allerdings Anstölse bietet — der geringste ist
der Übergang aus der indirekten in die direkte Rede (ich verfolge
diese gar nicht so seltene Erscheinung ein andermal; sie tritt hier
durchaus passend ein); der größte, dafs von den jie'Qoi überhaupt
nicht gesprochen wird und daß der Schluß gerade auf die ange-
redeten iJiJiEig recht wenig zu passen scheint. Ausschneiden könnte
man nur die ganze Scene 292 — 325. Also:
InnEvoiv jUEv jiqöjt' etiexeXXexo ' Tovg yäq ärcoysi
o(f>ovg l'jiJiovg e^e/^iev iui]Ö£ xXovEEodai öjUiXcoi '
jU'i]dE rig Innoovvt^i rs xal )jroQ£)](pi jrEJioidcog
olog jiQÖod-' äXdcov /HEfidioj Tqojeooi j-idiEodai xtX.
Das Verhältnis ist überall das gleiche: Anpassung Homerischer
Reden an die Verhältnisse der eigenen Zeit und Umsetzung er-
zählter Scenen des Epos in die Form der Rede. Als Argument
für spätere Bearbeitung, Interpolationen und dergleichen ist es nur
zu verwerten, wenn die Interpolation schon aus anderen Gründen
feststeht — wie 11, 29—34 — und vielleicht einmal, wo die Über-
nahme besonders unpassend oder ungeschickt geschieht. Das trifft
auf 10 B nicht zu, wo das Alter der umgesetzten Partie ja noch
ganz besonders durch den ganz eigenartigen v, 25 gesichert wird').
1) Für Montis Kritik ist charakteristiscli , daß er das Distichon
25/26 streicht. Elier könnte man fragen, ob nicht 23,24 aus Homer inter-
polirt ist, um das unangenehme Distichon zu ersetzen, also in der Ab-
sicht der Interpolationen von El. 11. Daß 27 schleclit anschließt, wäre
kein Gegengrund. Was Conjecturen wie al/nazosvi'' srdiva (Fick) oder
EvzEQa d' aifiazÖEvia (Cobet) für Sinn haben, sehe ich nicht.
24 F. JACOBY
Dieser ganz seltene Zug, das aljuaioevia alöoia cpiXmg er
X^Qolv e/^eiv, wie immer es zu deuten ist ^), dürfte gleich auch
1) Geklärt ist die Frage auch durcli Wilamowitz a. 0. nicht, den
der berechtigte Zorn über Mülder hier die Gerechten mit den Ungerech-
ten verdammen läßt. Daß Homerparaphrase vorliegt, wie auch Dümmler
annahm, und daß die Pentameter 24. 28 Füllsel sind, hat er mit Recht
scharf betont. Nur gilt das eigentlich noch mehr für 26. Aber wer so
energisch ßvuov ojronvsiovza xtI. für Verbreiterung erklärt, der sollte nicht
fragen, ob die Feinde 'so dumm oder auch so grausam waren, diese Ver-
stümmelung an dem lebenden Feinde zu vollziehen', ganz abgesehen da-
von, daß diese Verstümmelung tatsächlich und nachweisbar auch an
Lebenden vollzogen wurde, was noch im letzten Kriege der Italiener
gegen die Abessinier vorgekommen ist. Das vgzeoov anörEoov alöota sv
XSQoi Eyovxa y.ai XQÖa yvinvcoßeria ist ganz unbedenklich. Das Schlimmste,
das der Pentameter hervorhebt, fällt zuerst in die Augen und wird so-
fort genannt. Es bleibt übrigens, wie immer wir 25 deuten. Sprach-
lich ist doch kein Zweifel, daß die Bach-Wilamowitzsche Auffassung
'wie er die blutige Scham mit den eigenen Händen bedeckt hält' viel
eher des Beleges bedarf, als die andere (11. y42() 'F lö2,'i . Übrigens wäre
zuerst zu fragen — ich bin zwar überzeugt, Wilamowitz wird die Be-
rechtigung dazu leugnen — , warum denn die Schamteile ahiazöevTa sind.
Aus Homer hat Tyrtaios das nicht. An Verwundung glaubt kein Mensch,
weil eine so specielle Sache in die allgemeine Mahnung nicht paßt.
Soll das also ein leeres Beiwort sein oder stammt das Blut aus einem
Bauchschuß? Sachlich ist der Gestus der Scham selbst bei dem alten
Manne um diese Zeit nicht mehr so selbstverständlich. Seit fa.st 100
•Jahren lief man in Olympia ohne Schurz. 720 fing es an, und wenn da
ein Lakone siegt, so wird man glauben dürfen, daß diese falsche Scham
in Sparta des längeren verschwunden war, wenn sie dort jemals bestand.
Wilamowitz verlangt Analogien. Er ist sonst der erste — gerade hier
beweist er es ja — , aus vereinzelten Stellen zu lernen. Und Analogien
wofür? Ich sehe nicht, wie man aus dem Wortlaut überhaupt entschei-
den will, ob es sich um eine .superstitiöse Handlung oder einfach um
einen Act der Roheit handelt. Ist das erstere der Fall, was ich nicht
glaube, so würde ich auf die Erklärung verzichten. Sie wäre vielleicht
nicht schwer (es genügt auch nach Benndorf und Wilamowitz zu Aischyl.
Choeph, 439 der Verweis auf Rohdes Ausführungen über den uaoyaXioiiög.
Psyche^ I 322 ff. ; der Brauch würde eine vollkommene Parallele bieten;
s. auch Dümmler, Kl. Sehr. II 219), aber unsicher. Ist das zweite rich-
tig, so genüge die Erinnerung daran, daß es ein Sklavenkrieg ist, in
dem die Spartaner kämpfen. Ich lege keinen Wert darauf, die Bücher
über Grausamkeit auszuschreiben, um zu beweisen, daß die Rache der
Geknechteten an ihren besiegten Herren sich mit Vorliebe in Roheits-
akten gerade dieser Art, die übrigens vielfach eines gewissen grimmigen
Humors nicht entbehren, entladen hat. Das Wesen dieser Paraenesen läßt
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 25
den dritten Einwand widerlegen. Die Forderung 'individuellen Cha-
rakters" ist a priori überhaupt nicht sehr berechtigt. Wir können
dem Dichter nicht vorschreiben, ob er mit allgemeinen Gedanken
oder mit besonderen Hinweisen auf die Verhältnisse den Kampf
empfehlen will. Gerade die älteste Elegie scheint die allgemeine
Mahnung durch die Gedanken, daß der Tod im Kriege ehrenvoll,
daß er unvermeidlich, daß seine Zeit unbestimmt, daß der wackere
aber auch die Möglichkeit oft'en, daß es .sich um eine einmalige Scheuß-
lichkeit handelt, die der Dichter benutzt, um den Kampfzorn der Leute
zu erregen. Wer die Berichte über Kämpfe der Engländer gegen die
afghanischen Grenzstämme oder über andere Kolonialkriege gelesen hat,
weiß, wie die barbarische Schändung der Gefangenen und der Leichen
der Gefallenen die Wut der Truppen erregt. Vereinzelte Roheiten der
Art zeigt auch die griechische Kriegsgeschichte, über die die Schrift-
steller schnell hinweggehen. Was bedeutet es z. B., daß bei Xenoph.
Anab. III 4, 5 roig u::io'&av6vrag avzoy.sXEVOTOi ot "EXXip'eg ■tjixiaavro, (og ort
rpoßeQonaTOV roTg :Jo?.e,uloig el'rj ögäv? Doch oiFenbar einen /.lacxo-hofiög, der
dem Griechen erträglicher erscheint, weil er an Barbaren verübt wird.
Mülder und anderen, die die Iliasstelle und Tyrtaios verglichen haben,
gegenüber bemerke ich noch, daß hier wie dort der Vergleich von
'/egcov und rhg ganz allgemein zu fassen und nicht in den Einzelheiten
so zu pressen ist, als ob der Dichter sagen wolle, es sähe schön aus,
wenn die Hunde eines jungen Mannes atdco aloyvvovai. Wer so arbeitet,
kommt naturgemäß dazu, in Tyrtaios den Vorgänger zu finden, in dem
Dichter des X den ungeschickten Imitator. Oder aber er interpolirt in
der llias einen Vers, um ein solches Mißverständnis auszuschließen.
Denn daß v. 73 y.sToOat, .-rävTa 6h y.ala davövri jtso ötti cfar/jijt diesem
Zwecke dient und eine Interpolation ist, ist mir ebenso unzweifelhaft,
wie daß Tyrtaios ihn nicht gelesen hat. Son.st hätte er wohl seinen
Flickpentameter 28 anders gestaltet, Sonst braucht man über die Rede
des Priamos und ihre Gedankenentwickluug nach Wilamowitz 94 f. kein
Wort mehr zu verlieren, außer daß es um der Nachahmung willen her-
vorgehoben zu werden verdient, daß der Gegensatz nicht nur zwischen
ysQcov und vtog ist, wie bei Tyrtaios. Der Jüngling in X ist dgijixrd-
fisvog, Ss8aiy/.i£vog 6'^ei yaly.öji — dazu braucht der Dichter mit Recht
einen ganzen Vers ; denn das gibt, worauf es ihm ankommt, den Unter-
schied gegen den Greis , der einfach erschlagen wird und TiQwzrjtai ßv-
07J101 liegt. Auch dies ein Beweis, daß v. 73 heraus muß; der Interpola-
tor hat den Sinn von 72 nicht begritfen. Dagegen Tyrtaios hat ganz
sachgemäß benutzt und den Gegensatz entsprechend der für ihn gülti-
gen Situation umgestaltet, wie er auch mit dem Distichon 29,30 das
übernommene veoiai 8s jiävx' kneoiy.Ev hübsch begrenzt oder bestimmt.
Der V. oO ist ähnlich formulirt wie Kallinos 1, 19. Aber der Gegensatz
Zcoög — ■&vriay.(ov wird in der alten Elegie häufig gewesen sein.
26 F. JACOBY
Krieger von allen geehrt wird u. a. m,, im Anschlufs an viele der-
artige epische Reden bevorzugt zu haben. So arbeitet Kallinos, dessen
Verhältnis zur Sarpedonrede J/ 310/28 für diese ganze Art und auch
für die Entstehung der kriegerischen Paraenese überhaupt instruktiv
ist, in der großen erhaltenen Elegie ganz mit solchen allgemeinen
Gedanken. Nur der Aufruf enthält, ganz wie bei Tyrtaios 11, einen
Hinweis auf die Situation aTUO noXe/iiog yaiav äjiaoav syei, dem
Hörer der Zeit ohne weiteres verständlich, für uns undeutbar. Da-
gegen ist es nicht nur willkürlich, in der Lücke vor v. 5 speciel-
lere Angaben zu erwarten (besonders gern hat man ja den Vers
vvv ö' im Kijujusgicov orgarog egysiai oßgijuoegyMv hier einge-
setzt), sondern geradezu falsch. Denn der erhaltene Schlußvers des
verlorenen Stückes, yMi rig ujioOvijoy.on' vorar^ äxomodTOJ, beweist,
daß nur eine allgemeine Mahnung zur Tapferkeit, ein Gegensatz zu
dem im Eingang gerügten y.aTay.Eiodai dagestanden haben kann
(s. u. S. 40). Derselbe Kallinos hat im Aoyog etg Aia, der der Form
nach keine Paraenese ist, sondern wie Solons Aoyog elg Movoag
zu beurteilen sein wird, aber wohl noch mehr wirkliches Gebet
war, Namen und Daten genug gegeben, um auch uns, wenn wir
das Gedicht hätten, die Feststellung der Situation zu ermöglichen.
Das Fehlen oder Vorhandensein 'individueller Züge' beweist für das
Alter eines Gedichtes also nichts. Es steht hier ähnlich wie mit
den literarischen Feldherrnreden. Aber am wenigsten berechtigt
ist die Forderung, wenn man allein solche Züge gelten läßt, die
uns die Situation verraten, in der die Elegie vorgetragen ist. Auch
in 11 gibt der Dichter ausdrücklich und absichtlich nichts Näheres
über Situation, Gegner und dergleichen. Allerdings kann man
hier — und Wilamowitz hat es getan — aus der Ausdrucksweise
die Situation ableiten und kommt hier etwas weiter, als bei Kalli-
nos 1, 4, der formell gleichsteht. Schon das dagoeiie der Anrede
statt des gewöhnlichen jiidyeode zeigt, daß der Dichter hier nicht
einfach anfeuert, sondern ein geschlagenes Heer ermutigt. Dieser
Gedanke beherrscht ihn so ausschließlich, daß er den einleitenden
Ruf qVm dagonxE zerreißt, um noch vor der Aufforderung ein Wort
des Trostes, der Ermutigung vorausschicken zu können:
äDJ — "Hgax/^fjog ydg ävix}jrov yh'og ioze —
dagoeZz — ovjiw Zevg avyeva Xo^ov eyei —
firjö' ävdgon> jrh]dvv detjuaivexe xtX.
Das paßt natürlich ausgezeichnet zu der Tradition über Tyrtaios;
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGJKERN 27
denn aus solchen Gedichten ist ja die Tradiliun erst abgeleitet, die
die Spartaner nach schweren Niederlagen — iyovrcov udvfxcog uexa
Trjv Jih]y)']v Pausan. IV 16, 6; luslin. III 5, 6 weiß von 'drei Schlach-
ten', in denen sie geschlagen sind — sich nach Delphi und Athen
wenden läfst. Selbst die Gegner kann man in diesen Versen indi-
rekt angedeutet finden. Den 'schiefen Nacken des Zeus' hat nach
einem längst verglichenen Distichon des Theognis (535,'6) erst Wila-
mowitz richtig gedeutet 'noch ist Zeus kein Sklave'. Man hat das
trotzdem nicht verstehen wollen. Aber vergleicht man 11. A 234:
'Agyeioi, juYj ncö ti jLieüieTE OovQiSog älySjg'
ov yuQ eni ipevdeooi Jiarijo Zeug eoosi' aQOjyog
(wo Aristarch xpevdeooi (bg oacpeooi schrieb, um die Bedeutung
ov yuQ ToTg xpevojaig TqcooI ßorjOei 6 Zevg zu gewinnen, wäh-
rend Hermapias sich mit nicht schlechten Gründen für ipEvdeooiv
(hg TEiyjooiv entschied) und denkt man an die Schilderung, die
Tyrtaios fr. 6. 7 von den durch Theopomp unterworfenen Messe-
niern gibt (ojotisq övoi jueyd^oig äyßeot leiQÖjuevoi und deoJiozag
olfxw'Qovreg), so wird allerdings wohl deutlich, daß eine Anspielung
auf die Gegner beabsichtigt ist: die Sklaven, zu denen Zeus nicht
gehört, sind die aufständigen Hörigen, und die Beziehung auf den
großen messenischen Aufstand ist damit gesichert.
Das ist gewiß individuell; aber es sind nur Andeutungen. In
einem anderen Gedicht stand dagegen auch Deutlicheres, sogar
Namen von Personen — sehr bezeichnend freilich, daß es der alte
König Theopomp ist, der mit seinen Mannen paradeigmatisch ver-
wendet ist; die Könige der Gegenwart hat Tyrtaios nicht genannt
(Pausan. IV 15, 2). Ithome kam vor und auch die Meooi'jvioc
waren in den sehr lebendigen Schilderungen sicher genannt. Aber
nichts berechtigt uns, die gleiche Art von allen Gedichten zu ver-
langen. Mir scheint es für eine einzelne Paraenese individuell
genug, was v. 25 sagt; noch individueller freilich die ganze Mah-
nung, die Alten nicht im Vorkampf allein zu lassen. Die kann
gar kein Bearbeiter hereingebracht haben, schon weil die Teilnahme
der jiaXaioreQoi am Kampfe in dieser Weise singulär ist. Das
weist auf alte Zeit ^). Und hübsch, des Dichters, der ja selbst zu
1) In dem altspartaiiisclien Kriegerstaate bat es gewiß ursprüng-
lich überhaupt keine Altersgrenzen gegeben. Später, als die feste Ho-
plitenphalanx besteht und man die WehrpflicLtigeu nach Jahrgängen
aufruft (aber wohl nicht nach einzelnen, sondern in Gruppen zu je fünf
28 F. JACOBY
den TiaXaiöregoi gehören mufs, würdig ist es, wie er es selbstver-
ständlich findet, daß die Alten nicht fliehen, sondern bis zum Tode
kämpfen. Sie bedürfen keiner Mahnung, die auch unpassend ge-
wesen wäre. Aber es wird wohl vorgekommen sein, was er schil-
dert und was ihn zu seiner Mahnung veranlaßt. Nichts hindert,
diese Elegie, so wie sie ist, für sehr alt zu halten. Und dann
wird sie auch dem 'Tyrtaios' gehören ^).
TOI dexa, jiBvrexaidexa ktI. aq^' i'ißiii), stehen die Alten nicht in den vor-
dersten Reihen, sondern gewissermaßen als Triarier: Thukyd. V 72, 3 in
der Schlacht bei Mantinea werfen die Gegner den linken Flügel der
Lakedaimonier xal i^scooar ig rag d/nd^ag xai r<ar :JosaßvTEQOiv xöiv i:rttsTay-
uEvoiv ajiexTeivä%' xivag. Zum Feldheer gehören sie auch damals noch
us/Qi rcöv TETragduorra ä(f' tjßijg (Xenoph. Hell. VI 4, 17) und werden im
Notfall zur Verstärkung der Moren hinausgeschickt. Erst mit 60 sind
sie vom Kriegsdienst im Ausland befreit. Im Epos kämiDfen naturgemäß
vor allem die veoi. Aber .la/.aioTEQog ist nicht nur Nestor, der als Führer
idcht unter die Altersgrenze fällt, auf die sich Agesilaos einmal auch
für die Könige beruft (Xenoph. Hell. V 4, 13). Aber wenn Poseidon im
i'lSß 7Ta?.auoi (fonl ioixcog dem Agamemnon Trost zuspricht, so hat
dieser Dichter mindestens auch keine Altersgi'enze gekannt. Zenodot
hat den alten Mann zwar durch Einschub eines Verses zum Edlen ge-
macht {ilrzidecoi fpoirixi ojiäovi IJi]?.ei'(orog aus W 360; der Vers paßt
keinesfalls hierher), aber Wilamowitz 231 hat gewiß recht, daß 'ein ge-
meiner Soldat' gemeint ist. Später kennen die Söldnerheere natürlich
keine Altersgrenzen. Überall, wo die Alten mitkämpfen, ist es ein
natürliches Gebot der Kriegerehre, sie nicht ohne Unterstützung im
Kampfe zu lassen. Das muß Tyrtaios den durch die vorhergegangeneu
Mißerfolge demoralisirten Lakedaimoniern hier einschärfen. Diomedes
(9 78 if. handelt danach und ruft Odysseus zu: 'fliehe nicht xaxog wg er
ouü.coi, dVÄ fiev', ocpga yegovzog anwoofiev ayoio%' ävdga, um dann, als dieser
nicht hört — die Controverse über ov8' iodxovos ist bekannt — , allein
Nestor zu helfen. Seine Worte sind ein Muster feinster ritterlicher Höf-
lichkeit : f'j ysQov, fj fidla öy as veoi reigovoi finx>]Tal xtX. Die Anschau-
ung, daß das 0 zur Vorschrift des Tyrtaios 'ein Musterbeispiel' geben
>oll, wäre grotesk, auch wenn die Situation bei Tyrtaios nicht so indi-
viduell wäre und wenn das Wesentliche der lliasscene nicht Nachbil-
dung der Rettung Nestors durch seinen Sohn Antilochos in einem
älteren Gedicht wäre. Die Jugend und 'Minderwertigkeit' des & tut
also gerade hier nichts zur Sache. Sonst würde es sich jetzt wohl
lohnen, einmal das Verhältnis der Elegie zum Epos neu zu untersuchen,
da ein Einfluß der ersteren auf die jüngere Epik a priori natürlich nicht
ausgeschlossen ist. ich bin freilich überzeugt, das Resultat wird ganz
negativ sein.
1) Für die Deutung auf den Messenierkrieg und spartanische Ver-
hältnisse s. die beiden voraufgehenden Anmerkungen.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 29
Denn die beiden Elegien 10 B und 11 sind einander in Ab-
•/weckung und Form recht ähnlich. Beide sind Paraenesen an die
veoi (10, 15. 11, 10), die in oflener Feldschlacht kämpfen sollen,
in einer Formation, die auch in 10 B noch die alle ist. Auch hier
führt nichts auf die später berühmte spartanische Phalanx. Beide
setzen kräftig mit dem Aufruf dVA judyeoif^e, äXXd OaooeTze ein.
dem der Gegensalz folgt. Auch dies ein vTrtgßarov, aber ein ein-
facheres als das, mit dem 10 A beginnt. Dieser Beginn der Par-
aenese macht einen formelhaften Eindruck gegenüber der im Epos
häufigen und danach von Kallinos verwendeten rhetorischen Frage
/lexQi? tsv xaidxeio&e, und einen älteren gegenüber dem Hervor-
treten des Sprechers in 12 Ovr dv fiv}]oaifU]v ovr' ev XoyoJi
ävdga nßei/iap', das man freilich schon dem Archilochos conce-
diren muß. Dieser formelhafte Charakter, den man gerade einem
lakonischen Dichter gern zutraut, verstärkt sich, wenn, wie wir nun
annehmen müssen, in beiden Gedichten die didaktische Anrede an
die Hopliten und Gymneten den Schluß bildete — denn daß mit
11, 35/36 das Gedicht zu Ende war, scheint mir ebenso sicher, wie
daß es mit dVA dagodre begann. Wir haben da eine kanon-
artige Didaxe, die der Lakone vielleicht schon von einem seiner
ionischen Vorgänger übernommen hat, dem der in seiner Heimat
nicht mehr gebräuchliche Riesenschild Anlaß zu den signifikanten
Versen bot. Diesen feststehenden Versen schickte er nach Bedarf
die aus der Situation geborene Paraenese vorauf. Diese ihrerseits
besteht aus dem allgemeinen Aufruf — 'kämpft tapfer, flieht nicht':
dieser Gedanke ist gegeben und wird nur im Ausdruck, kaum noch
in der Form variirt — und einer speciellen Mahnung, wie in 10 B.
oder einer speciellen Begründung, wie in 11. Nur in diesem Teile
liegt das eigenthch individuelle oder besser das aktuelle Element
der betreffenden Elegie. In dieser Partie hat in anderen Elegien
einst die paradeigmatische Berufung auf König Theopomp, die
Schilderung, wie völlig die tapferen Großväter die Messenier ge-
knechtet hatten, der Hinweis auf die eine Flucht hindernden Gräben
und vielleicht noch manches andere gestanden, wovon uns keine
Spur geblieben ist. Allzuviel war es schwerlich, wenn wir nach
der Überlieferung des messenischen Aufstandes urteilen dürfen.
Doch wissen wir nicht, wie genau Kallisthenes das Buch auf histo-
rische Judicien durchgearbeitet hat und ob er mehr nahm, als was
in die Augen sprang. Nach ihm hat es ja kaum noch jemand an-
30 F. JACOBY
gesehen. Natürlicli will ich nicht bestreiten, daß 10 B von einem
anderen Dichter stammen könnte als 11. Ein solches Stück ver-
trug eine Wiederholung, wälirend die Paraenese, solange sie lebendig
war. je nach den Umständen sich modelte. Aber für wahrschein-
lich halte ich es nicht, weil auch dieses Gedicht wegen des v, 25
keinesfalls auch nur ins 6. Jahrhundert hinabgedrückt werden kann.
Mir scheint vielmehr eine solche Übung der aus lonien oder viel-
mehr von einem ionischen Dichter in Sparta übernommenen Form
dem specifisch sparliatischen Wesen ganz angemessen. Diesem
Wesen schreibe ich auch — mit der gebührenden Vorsicht, da von
der ionischen Kriegspoesie ja nur ganz dürftige Reste erhalten sind
und aucli vom echten Tyrtaios nicht gerade viel da ist — die aus-
schließlich praktische Gestaltung der Paraenese zu. Dem lakoni-
schen Dichter fehlt, was doch schon die homerischen Mahnreden
zeigen, die Verwendung allgemeiner Gedanken, die den Mann zum
tapferen Kampfe bestimmen sollen: die Ehre als abstrakter Begriff,
wie sie doch schon in Kallinos rijuTjev xe ydg ion erscheint;
Argumente, die der lonier aus der Spekulation über die Ungewiß-
heit des menschlichen Lebens zieht — davarog Öe tot' eoGexat,
OTTTiöre y.ev ö)/ Moloai enixldbacooi und ov yoLQ y.u>g ^dvaiov
ye q^vysTv eijuagjiievov eoriv — , selbst die Erinnerung an den Nach-
ruhm. Er wirtschaftet ausschließlich mit Argumenten ad hominem
Ratschlägen oder Feststellungen, wie sie dem Krieger leicht ein-
gehen : es sieht nicht hübsch aus, wenn die alten Leute, die nicht
mehr so schnell laufen können, erschlagen daliegen; ihr seid kriegs-
erfahrene Leute, also müßt ihr wissen, daß die Flucht euch nur
schadet. Denn ein Fliehender ist leichter zu treffen ; der Zusammenhalt
sichert jeden einzelnen usf. Diese praktische Gestaltung der übri-
gens, soweit wir sehen, sehr aktuellen Paraenese scheint mir cha-
rakteristischer für Tyrtaios, als der gewöhnlich hervorgehobene
Mangel an Individualität. Ich bezweifle, daß diese Individuahtät in
der ionischen Kriegsparaenese gar so stark war. Sie wnrd da
durch die Bevorzugung allgemeiner Gedanken stark eingeschränkt.
Diese allgemeinen, meist schon aus den Reden des Epos stammen-
den Gedanken, die immer wieder erscheinen, verleihen der ionischen
Elegie, soweit wir sie kennen, jedenfalls einen viel weniger aktuellen
Charakter. Man hat bei ihnen vielmehr das Gefühl, daß sie überall
und zu jeder Zeit passen. Das gilt schon für Kallinos 1; aber es
gilt nicht für Tyrtaios 10 B und 11. Und ein Beispiel, wie sehr
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 31
diese ionische Kriegspoesie bestimmte schemalische Formen an-
genommen liat, liefert uns gerade die letzte große unter Tyrtaios'
Namen laufende Elegie.
12.
Auch über diese El, 12 Ovi' äy /(yi]oaii(7jr kann ich Wila-
mowitz' Auffassung nicht ganz teilen, ohne andrerseits die unüber-
legten Widerlegungsversuche Sitzlers und Montis auch nur in einem
Punkte mitzumachen, für die das Gedicht wieder Tyrtaios und
7. Jahrhundert ist. Alle Verleidiger des alten Ursprungs, von Weil
Etudes 199 angefangen, haben ihren Blick einseitig auf die lange
Reihe der nagadeiy/iara 3 — 10 gerichtet, die als solche natürlich
auch in einem alten Gedicht möglich ist ^), statt auf den ganzen
Aufbau des Gedichtes, der so überlegt, so bewußt symmetrisch ist,
daß Wilamowitz gewiß das Richtige getroffen liat, wenn er die
Elegie jetzt 'erst der Sophistenzeit' zutraut-). Ihr Dichter ist auch
nicht 'der Sänger, dessen Beruf es ist, yJJa avögcöv zu feiern'-"'),
sondern der ethische Denker, der auch in poetischer Form sich
geradezu ein Thema stellt und es in klarer Gliederung der Ge-
danken abhandelt. Ein Kritias oder ein Sophist, der sich, wie
Hippias, Euenos u. a., auf seine Beherrschung auch der poetischen
Form etwas zugute tat, könnte solche Elegie geschrieben haben;
nie und nimmer der Dichter von 10 B und 11, auch kein lonier
des 7. Jahrhunderts.
1) Man vergleicht gewöhnlich / 379 ff. und E Sil S.; vrarum ge-
rade diese beiden Stellen, ist nicht recht einzusehen, zumal die formale
Gestaltung anders ist. Die Aufzählung- wird da durch Wiederaufnahme
des Eingangs abgeschlossen. Legt man auf die Aufzählung besonderen
Wert, so kann man noch manches andere, wie die Reihe der jranaögiy-
iiura für T/.f]vo.i £" 382 ff., heranziehen. Will man den 'rhetorischen' Cha-
rakter der Partie beweisen, so kann man Dutzende von Stellen anführen,
schon aus sehr alten Teilen. Bewiesen wird mit den Analogien für
unsere Frage nichts.
2) Sappho u. Simon. 2.''i7, L Textgesch. 115 rühmte er die 'Leich-
tigkeit und Elcgjinz', so daß er 'nicht wagen würde, das Gedicht selbst
einem Selon zuzutrauen'. Das Lob würde ich nicht hoch werten. Man
kann gern zugeben, daß Selon allmählich Fortschritte in der für Athen
neuen Kunst gemacht hat, Gedanken poetisch auszudrücken. Aber Leich-
tigkeit und Eleganz sind die Eigenschaften, an die man bei seinen Ge-
dichten am letzten denkt.
•S) Reitzenstein , Epigr. u. Skol. 4ß, 2, der von den vv. 3 — 10 einen
kaum berechtigten Gebrauch macht.
32 F. JACOBY
Der erste Teil un:ifaf3t die vv. 1 — 14. Es ist die Propositio,
die Thernastellung. In der Form der ovyxQioig werden die Vor-
züge {aQetai) aufgezählt, die ein Mensch besitzen kann, und alle für
gering erklärt gegenüber der &ovQig älxrj. Deutlich schließt dieser
Teil mit der Behauptung, die der Dichter beweisen will:
13 ijd^ ägex/], Tod' äe§Xov iv äv&Qomoioiv ägiorov
xdVuoTO}' T£ (peqeiv yiyverai dvögl vecoi.
Und deutlich nimmt darauf der Schlufs des Gedichtes Bezug, nach-
dem der Beweis geführt ist:
43 Taj'r»;?' vv7' rig ävi]Q doeTfjg dg äxgov Ixeo&ai
Tieigdo'&a) -d^v/uwi, jur] jueß^islg noXifxov.
14—42 führen den Beweis für den Satz 'von allen dgerai ist krie-
gerische Tüchtigkeit für den Mann die beste". Er beginnt mit
der allgemeinen Aufstellung (15 — 22), daß ein Mann, der diese
dgeiTJ besitzt, ein Schatz für die ganze Stadt ist — v. 15 ist zu-
sammengesetzt aus 77 262 ^vvbv de xaxbv tioIeeogl Tc&ecoi und
r 50 Tiargi re ocbi jueya Jitj/ua noXrji rs Tidvxi ze d'^jucoi. Dabei
wird zuerst Wesen und Benehmen eines solchen Mannes ausführ-
lich im Relativsatz (16 — 19) geschildert, dann erst die Leistungen
angegeben (21 — 22), die ihn zu einem ivvöv dya&öv machen.
Mit dem Flickpentameter 20, der im Ausdruck mit 10 genau cor-
respondirt, hilft sich der Dichter auf das zurück, was er eigentlich
sagen wollte. Daran schließt, wie die Stadt sich zu einem solchen
Manne stellt (23 — 42), wieder zweigeteilt; wenn er selbst im
Kampfe fällt (23-34) und wenn er am Leben bleibt (35—42).
Den Eingang avTÖg ö' iv Jigofid^oioi Tieochv 23 hat Bergk mit
der leichten Änderung ög (5' am hergestellt. Wäre sie nicht
so leicht, würde ich diesem Dichter wohl die Gedankenlosigkeit
zutrauen, daß er im Stil und mit den Ausdrücken der Grab-
epigramme — diesen Stil erkannte schon Schwartz — den Tod
fürs Vaterland priese und dann doch die Möglichkeit eI de (pvytji
juev xfjga anschlösse. Die Grabepigramme können sie natürlich
nicht beachten; aber mindestens seit Kallinos, der auch darin dem
Epos folgt, ist die Aufstellung der beiden Eventualitäten in der
kriegerischen Paraenese üblich; und seit Kallinos — oder vielmehr
seit der Hektorrede im O — steht der Tod an erster Stelle in
breiterer Ausführung, wird die Möglichkeit des Überlebens gleich-
sam anhangsweise behandelt. Horaz trifft das Wesen dieser Par-
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 38
aenese, wenn er überhaupt nur den Tod fürs Vaterland nennt:
dulce et decorumst -pro patria mori.
Auf den ersten Blick scheint dieser symmetrische Aufbau,
scheinen vor allem die auffällig angebrachten Correspondenzen
(10 o3 20; 13/14 OS 43/44) allerdings das Urteil zu bestätigen, dali
diese Elegie 'in ihrer Geschlossenheit und Vollendung keinen Ge-
danken an Überarbeitung gestattet'. Tatsächlich liegt die Sache
auch anders, als in 10 B oder 11, wo wir durch Absonderung der
jüngeren Parallelfassungen und durch Aussonderung von ein paar
törichten Interpolationen ohne große Mühe den alten Gontext wieder-
gewinnen. Das Verhältnis von alten und jungen Partien in dieser
Elegie ist complicirter und vielleicht überhaupt nicht nur auf eine
Weise zu erklären.
Beginnen wir mit dem Schlußteile 23 — 42, in dessen zweiter,
vielbehandelter Versgruppe 35—42 anerkanntermaßen nicht alles in
Ordnung ist. Über die Wiederherstellung des Ursprünglichen hat
man sich allerdings nicht einigen können^). Ich schreibe die Verse
so hin, daß die einfachste, meines Wissens bisher nicht beachtete
Möglichkeit heraustritt, die Annahme dreier Fassungen der Apodosis:
35 et de (pvyi]i [xhv xrJQa TavijXeyeog '&avdroio
vixrjoaq d' aixjurjg dykaov sv^og s'Xrji,
I 37 jcdvieg juiv rijucooiv öjucög veoi fjde naXaioi,
TioXld de xeQTivä jia&cov egy^erai elg 'Aidrjv.
II 39 y7]Qdoxcov [ö'] doxoloi [.lerangenei ovöe rig avxbv
ßkameiv ovx' alöovg ovre öixijg e&eXei.
III 41 jidvTeg [d'] iv ^coxoioiv ojucog veoi oi re xar' avxbv
eixovo' ex xcbQi]g ol re Tiakaioxegoi.
Die Fassung I benutzt einen Pentameterschluß des Mimnermos
(2, 14 IjueiQCOv xaxd yrjg eQyexai elg 'Aiöijv, danach Theogn. 726).
daneben vielleicht einen Vers des Archilochos (8, 2 ovöeig dv fxdXa
noll^ l/ueQoevxa nddoi), während der Hexameterschluß aus Homer
stammt (IL £"108. Od. a 395. ß 293. d 720. § 58). Daß sie dem
Sinne nach keine Fortführung erlaubt, ist ebenso klar, wie daß sie
1) Thiersch ordnete nm: 37/38. 41/42. 39/40. Francke sonderte
39/42 mit dem Schlußdistichon 4.3/44 zusammen aus. Schneidewin und
Wilamowitz strichen 37/38. Schwartz 464, 2 hielt die Stelle für 'stark
zerstört durch Dittographien' und gab versuchsweise nävtsg fuv zi/xwoiv
6fiü>g veoi Ol TS xaz' avzov X^^QV? ^' ei'xovatv roTg xe TiaXaiorsQoig yrjQäoxcor
dazoiot fiszayiQsjiEi ovös zig — s^eXei. Andere anderes.
Hermes LIII. 3
34 r. JACOBY
die älteste ist. Daß ihr veoi f]de naXaioi correspondirt mit dem
%>eoi rjde yeQOvreg v. 27, scheint noch besonders für Zugehörigkeit
zu der Elegie zu sprechen, die solche Gorrespondenzen liebt (10
OD 20. 16 rss 23). II. III setzen sie voraus, indem sie das knappe
xegjivä nad^eiv in den Einzelheiten ausführen. III ist zudem noch
im Wortlaut von ihr abhängig. Sinn, Ort und Zeit von II, in der
Schwartz 464, 2 einen spartanischen Zug findet — 'nach Aristo-
teles und Xenophon ist die Aufnahme in die Gerusie ädXov Trjq
aQETTJg, die Geronten sind ävev&vvoi" — , eröffnet die Klage der
Marathonomachen (Aristoph. Ach. 676 ff.):
Ol yeQOvreg oi nalmol juejU(p6jueo&a rrjt JioXei.
ov ydg ä^icog exeivcov u>v ivavjLia/jjoajuev
yy]QoßooHOVjueo&' vgp' vjucbv, dXXd deivd Jidoxojuev,
oi' Tiveg yeQOvrag ävdgag ijußd?,ovreg ig ygacpdg
vjid veavioHOJV eäre xazayeXdod^ai g^jJOQCov.
Ihnen gegenüber, die nichts mehr sehen ei ju)] xrjg dinf]g irjv
i]lvyy]v, läßt man es an der gebührenden Achtung fehlen, verküm-
mert ihnen ihr Recht. Aixr] und aldcbg gehören zusammen, wie
bei Hesiod. "'Egy. 192 ff. dixi'} (5' ev xegol, xal aiöwg ovx eozai'
ßXdxj'ei (5' 6 xay.og zöv dgeiova cpwxa juv&oioiv oxoXuolo' evencov,
ejii <5' oQxov djuehai (vgl. Plat. Leg. XII 943 D). Die Frage ist nun,
ob II und III zusammengehören. Legt man den strengsten Maß-
stab an, so schließen sie sich aus. Nicht nur, daß jede Fassung
— auch II im Lichte der Aristophanischen Klage — für sich
stehen kann, III gewinnt eigentlich erst rechten Sinn, wenn ganz
allgemein der tapfere Mann, nicht nur der y}]Qdoxcov diese Ehren
genießt. Besonders die TtaXaiöregoi sind neben oder nach dem.
yi]Qdoxcüv überflüssig. Auch daß beide Hexameter auf das gleiche
Wort ausgehen, macht bedenklich. Andrerseits sind beide Fassun-
gen mit de in den Text eingearbeitet, scheinen nicht bestimmt, die
Fassung I zu ersetzen, was der Zweck der jüngeren Fassungen
von EI. 11 ist, die die allen Verse den modernen Verhältnissen
oder die lakonischen Gedichte den Zuständen anderer Städte an-
passen wollen. Danach wäre es doch nicht unmöglich, daß wir
sie nicht als fälschlich in den Text geratene Parallelen oder als
Doppelfassungen zu betrachten haben, sondern als beabsichtigte
Erweiterung und Eindichtung in die berühmte Elegie. Der Inter-
polator war gerade kein Meisler, aber er machte immerhin sehr viel
bessere Verse, als die Rhapsoden, die in 10 B und 11 ihr Wesen
Zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 35
getrieben haben. Daß Theognis 933.8 zu keiner Entscheidung ver-
hilft, will ich ausdrücklich bemerken. Er hat die Elegie genau so
gelesen, wie Stobaeus sie gibt. Nur hat er die drei Distichen zu
zweien verkürzt, was für seinen Zweck mehr als ausreichend war,
indem er II ganz aufnahm, I und III zusammenarbeitete. Das hat
die Kritiker merkwürdigerweise irregeführt. Schließlich gibt es noch
eine dritte Möglichkeit, sich mit den drei Distichen abzufinden.
Aber dazu müssen wir erst weitergehen.
Eine Doppelfassung — um zunächst diesen bequemen Aus-
druck beizubehalten — liegt auch in der ersten Versgruppe des
Schlußleiles vor.
27 Tov <$' öXocpvQOvrai /uev oficog veoi i)de yegovTeg,
ägyalewi re Jiodcoi Jiäoa yJxijöe 7i6)dg '
I 29 y.al TVjiißog y.al Jialdeg ev ävdgcojioig äoio}]juoi
xal Jiaidcov Jialösg y.al yevog e^omoco.
II 31 ovde noze xXeog eod^Xöv äjiSllvrai ovo' övoju^ avzov,
dXX' vno yijg neg icav yiyvexai äd^dvarog,
33 övTiv' aQiOTEVovra juevovrd re jLiaQvdjiievov re
yfjg TiEQi y.al naidcov ß'ovQog "AQf]g dleorji.
Weil hatte früher 31 — 34 als Interpolation aus einer anderen
Elegie gestrichen. In der Tat ist I so vollständig und abge-
schlossen wie die Fassung I der eben besprochenen Gruppe. Ihr
Pentameter stammt hier aus Solon (13, 32 ?/ jialÖeg Tomcov fj
yevog e^omooi), der Hexameterschluß dort wie hier aus Homer
(II. B 789. 7 35. Od. jt 198). Der gleiche Dichter wie für 37/38
ist evident. Eine Fortführung erlaubt die Fassung im Grunde
sowenig wie das egyerat ig 'Aidtp. Es ist ja alles gesagt, was
dem Gefallenen bleibt: das sehnsüchtige Andenken bei den Mit-
bürgern, das ehrenvolle Grab, das Ansehen seines Geschlechtes,
dieser schon im Epos typisch gewordene Impuls zum tapferen
Kampfe. Die Form ist so knapp, wie die der anderen Even-
tualität, und inhaltlich macht das keinen ganz jungen Eindruck.
Was in II steht, schließt sich im Ausdruck ganz besonders eng
an Grabepigramme schon der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
an. Das zweite Distichon 33,34 sagt in diesen Ausdrücken noch
einmal, was schon 23/24 in dem ersten Distichon dieses ganzen
Abschnittes steht. Maßgebend ist offenbar der Wunsch, wie dort
vom Lebenden, so hier vom Toten mehr zu sagen. Es geschieht
mit dem bekannten Oxymoron der Grabepigramme und Leichen-
3*
36 F. JACOBT
reden, in dem eine jüngere Auffassung zutage tritt, als in dem
Tvjiißog: äQio)]/uog. Nun sieht das hier noch weniger als in der
Versgruppe 37 — 42 nach einer Parallelfassung aus, die vom Rande
in den Text gekommen ist. Aber auch eine Erweiterung des be-
rühmten Gedichtes, an die man bei den vv. 39 — 42 denken konnte,
bezweifle ich hier. Denn die in der Fassung II auffällig stark auf-
tretende Formelsprache der Grabepigramme auf gefallene Krieger
tritt auch in dem Distichon 23i24 zutage, das doch zum Grund-
stock der Elegie gehört:
og (3' am' ev jzgojudyoioi tteocov cpilov wkeoe ^v/xör
äoxv re y.al Xaovg y.al Tiareg' evxXeioaq.
Es genüge, für den Ausdruck £vx?.etoag auf Kaibel 21, 10. 26, 4
(a. 446 a. Chr.) hinzuweisen, und auch das nur, weil hier das
Homerische ye xev avrcöi öXeo&ai ivxXeiwg tiqo noXrjog (XllO)
die Entwicklung zeigt. Im übrigen läßt sich jede Formel dieses
Distichons wie der vv. 31/34 dutzendfach aus den Inschriften be-
legen. Gibt man zu, daß eigentlich weder 29/30 noch 37/38 eine
Fortsetzung zulassen, weil sie das letzte sagen, was überhaupt ge-
sagt werden kann — Nachkommen des gefallenen und Tod des
überlebenden Kriegers — , sieht man andrerseits, daß die Fort-
setzungen in der Ausdrucksweise (31/34) auf das 5. Jahrhundert, in
den Gedanken (39^40) auf dessen letztes Viertel führen, daß der Ver-
fasser wenigstens der ersten aus demselben Kreise von Gedanken
schöpft, wie der Verfasser der Elegie selbst, so tritt jene dritte Mög-
lichkeit ein, die ich oben erst andeuten konnte: nicht Erweiterungen
des berühmten Gedichtes liegen uns in den Versgruppen 31/34 und
39/42 vor, sondern der Verfasser von Ovx av juvtjoaijurjv hat für
seine Dichtung ältere Stücke benutzt, die er im Geiste seiner Zeit
und mit Formeln, die das Grabepigramm des 5. Jahrhunderts liebt,
erweitert.
Daß das wirklich der Fall war, wird uns nun der Eingang des
Gedichtes zeigen, den ich so abdrucke, daß das Resultat ohne wei-
teres herausspringt:
1 Oür' äv juvtjoaijurjv ovx' ev Xoyooi avöga ri&eijurjv
ov TE Jioöcbv aQerfjg ov te naXaijuoovvrjg,
3 ov8' et Kv)t).u)7iu)v f.iev k'yot fieys&og te ßüjv re,
vixcöit] 8k {Hcüv ÖQi]ixiov Bogsrjv,
5 ov8' El TidcovoZo (pv7]v yaQiEOXEQog eit],
nXovTolr} Se MiSeo) xal Kivvqeco fidXcov,
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 37
7 ov8' sl TavraUSeoi IJeXo:rog ßaaiXevreoog eI'tj,
yXojoaar 6' 'Jögi'jatoi' /UEi?.c/öyr]gvv i^oi,
9 ovo' et jiäaav e^^^ Sö^av nXrjv dovQi8og aXxfjg.
ov yag ävfjo dya&og yiyvszai iv jto?.eficoi,
11 El jid] zEjXah] juev oqcöv (povov al/uaxöevra
xal di]icov OQeyoir' iyyv^ev loiajuevog.
13 rj8' aoETt), x66' aE&Xov iv dvÜQCOJioiaiv ägioiov
xäXXiozöv TB cpEOEiv yiyvEzai dvdgl vecoi.
So wie das dasteht, schließt der erste Gedanke mit v. 9; und mit
V. 10 beginnt die Begründung, die freihch nur in den:i recht ba-
nalen Gedanken besteht, daß der kein wackerer Mann ist, der kein
Blut sehen kann. Wir müssen den zwar nicht unerhörten, aber
sehr seltenen — selbst v. 19/20 liegt es etwas anders — Satz-
und Gedankenschluß am Hexameterende in Kauf nehmen. Denn
weder ist v. 9 als Parenthese (Bach) möglich, noch kann man mit
Conjecturen (Härtung) oder Paraphrasen (Weil) helfen. Die Con-
struction ist ganz klar und in Ordnung^). So ungern man darauf
verzichtet, 11 — 12 als Apodosis zu 1 — 9 zu fassen, es ist das ja
schon durch nXy^v '&ovQidog äXxfjg v. 9 ausgeschlossen, Worte, die
den Inhalt von 11/12 vorwegnehmen. Nun fällt innerhalb des
ersten Satzes formell der Gonstructionswechsel auf, der Übergang
von den freien Genitiven v. 2 zu der Aufzählung weiterer Eigen-
schaften mit ovo' et. Ein solcher Wechsel ist nicht unmöglich.
Auch gegen die Aufzählung ist, zumal in einem jungen Gedicht,
nichts zu sagen. Hervorgehoben sein mag in ihr neben dem aller-
dings ganz unsicheren ionischen judhov^) das späte näoav do'^av
1) Wenn Weil, Rh. Mus. XVII erklärt, v. llfi". hingen zwar gram-
matisch, aber 'nicht dem Sinne' nach an v. 10; wenn Wilamowitz den
Vers in seiner allerdings ganz knappen Paraphrase überspringt, so be-
weist das eben, daß er stört. Wir erwarten einen Abschluß der Aufzäh-
lung, wie in den verglichenen Iliasstellen (S. 31 A. 1). Einen solchen Ab-
schluß bieten 11/12. Aber man kann nicht verbinden, weil 9/10 da-
zwischen stehen, die man auch nicht auswerfen kann. Für mich ist
dies der eigentlich entscheidende Grund, in 3— 10 Erweiterung des alten
Contextes zu sehen. Die Construction verrät das Verfahren. Für die
meisten wird das Verhältnis von 2 zu 3/4 überzeugender sein.
2) überliefert ist xivvqeoio /huXXmv. Camerarius' ßd&ior ist genau
so gut und. wird durch [xäXXov ebenso erklärt wie fzdXiov, das in diesem
modernen Gedicht befremdet. Für Monti beweist die ''recchia forma
dorica inäXiov' lakonischen Ursprung des Gedichts. Dabei hält er den
Vers, in dem sie steht, für interpolirt. Billigen wir ihm also einen
'Druckfehler' zu.
38 F. JACOBY
f^X^tv und die Wahl der Paradeigmala , die Midas neben Heroen
stellt und mit Kinyras (II. Ä 20 ff. Find. Nem. VIII 18) und Adrastos
(Plat. Phaidr. 269 A denkt sicher an unsere Elegie; Theogn. 714
hat den gewöhnlichen Vertreter der Rede, Nestor) nicht gerade Ge-
wöhnliches gibt. Es sind durchweg Namen, die dem lonier näher
liegen, als einem Dichter des Mutlerlandes. Sachlich aber bietet
die mit dem Constructionswechsel einsetzende Aufzählung den
starken und nun wohl entscheidenden Anstoß, daß die ovo' ei-
Reihe die athletische Tüchtigkeit zum zweiten Male bringt: viycoü]
&ecjüv V. 4 wiederholt geradezu jtoÖmv ägezif] v. 2. Das erste Di-
stichon und die folgenden sind nicht in einem Zuge geschrieben,
stammen nicht von demselben Dichter — der Schluß scheint mir
danach geboten. Wer sich dem damit entzieht — es ist wirklich
geschehen — , daß er die Kyklopen zur jiaXai/noovvi] in Beziehung
bringt als Muster der Ringkunst, der möge erklären, warum nur
diese beiden dgerai einmal einfach und einmal paradeigmatisch be-
legt genannt werden. Oder mit anderen Worten, warum dann
nicht nur die Athletik, sondern auch Schönheit, Reichtum, Bered-
samkeit aufgeführt werden ; warum der Dichter sich den Gegensatz
Athletik — kriegerische Tüchtigkeit, den viele hier finden wollten,
weil Xenophanes 2 einen analogen Gegensatz breit ausführt, selbst
durch dazu nicht Passendes verdirbt^).
Hier ist es nun ganz deutlich, daß von Interpolationen oder
Erweiterung der Elegie Ovx' äv fxvrjoaifxrjv, für die man etwa den
Verfasser von 31^34 und 39/42 verantwortlich machen könnte,
nicht die Rede sein kann. Denn an der langen Aufzählung hängt
das Distichon 13/14, das als Abschluß des ersten Teiles der großen
Elegie geschaffen ist; und an 13/14 hängt die aufnehmende Fort-
setzung 15/16 mit dem Beweis für diesen Satz und greift 43/44
der Schluß des zweiten Teiles zurück; d. h. die ganze Elegie hängt
daran. Wenn hier erweitert ist, dann ist eben der Dichter unserer
Elegie der Übeltäter. Es liegt vor Augen, daß er es war, der den
alten Zusammenhang der Distichen 1/2 und 11/12 durch die ovo'
««'-Reihe gesprengt hat. Wie schön und kräftig dieser Zusammen-
hang war mit der allen noboiv äQEXTq, dem T)S]vaL und dem cpovog
aijuaToeig und dem an die alte Weise des Kampfes erinnernden.
1) Eine halbrichtige Empfindung hatte Francke, der 5 10 strich.
Monti verschiebt das auf 3 — 8. Daß damit Tiäoat' dö^av 9 jeden Sinn
verliert, bemerkt er nicht.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 3!»
aber doch wohl nur Homerischen eyyvdev iorajuevog, bedarf keiner
Ausführung. Was ihm vorlag, war ein Gedicht, das gewiß nicht
von dem alten lakonischen Verfasser von 10 B imd 11 stammt —
das 'ich' des v. 1 paßt für den nicht — , das aber auch nicht ganz
jung war. Spätestens Simonideische Zeit und ionischer Ursprung
sind wahrscheinlich. Xenophanes kann es schon gekannt haben,
als er den Gegensatz q(6/x}] — oocpirj einführte und den schönen
Eingang zur Polemik gegen die sportliche Athletik umbog. Er
hat in verschwenderischer Fülle die unnachahmliche knappe Aus-
drucksweise des ersten Distichons erweitert zu dem Vollbild aller
sportlichen Betätigungen, denen er seine oocpirj gegenüberstellt. Da-
gegen bleibt es zweifelhaft, ob der Tlieognideer 699/718 in Be-
ziehung zu unserer Elegie steht. Seine ovo' £t-Reihe brauchte er
nicht hieraus zu nehmen; die Beispiele sind andere und das eine
von ihnen ist nach einem bekannten Princip breit ausgeführt, wäh-
rend unser Dichter, seinem Streben nach Symmetrie folgend, jedem
Beispiel einen Vers widmet, wie es in dieser Form auch in den
epischen Aufzählungen nicht üblich ist.
Dadurch, daß der Dichter den Eingang eines alten Gedichtes
benutzt und durch die Aufzählung erweitert hat, sah er sich zu
dem Abschluß in v. 9 veranlaßt, und dieser Abschluß zwang ihn
wieder zu dem neuen, begründenden Anheben in v. 10. Nötig und
geschickt ist dieser Abschluß nicht. Es hat seinen guten Grund,
daß an dem Distichon 9/10 so oft Anstoß genommen worden ist.
Man hätte es sicher ohne weiteres entfernt, wenn nicht der corre-
spondirende v. 20 den Pentameter gesichert hätte. Naturgemäß
aber wird man, nachdem das Sachverhältnis für den Eingang fest-
gestellt ist, fragen, ob das Gedicht, aus dem 1/2 und 3/4 stammen,
im folgenden weiter benutzt ist. Ich möchte das bejahen. Viel-
leicht ist es mehr subjektiver Eindruck; aber ich empfinde die
Schilderung des Mannes, der
16 diaßdg ev jiQOjudxoioi jUEVt]i
vcüXejLiecog, aio^gäg de (pvyf]g im ndyyy Xddt]rai,
ipvxi]v y-OLi dvfiov rXijjuova Ttag&ejuevog,
19 '&aQOvv7]i ö' EJieoiv xdv nlrjolov ävöga Ttageozcog
im Ausdruck wie in der Vorstellung von den Pflichten des guten
Kriegers als archaisch. vcoXejuecog und öiaßaivEiv braucht der
echte Tyrtaios nach dem Epos (5, 5. 11, 21) — namentlich das
erste Wort kommt überhaupt nur im Epos und bei ihm vor; an
40 F. JACOBY
ihn (10 B 15 — 16; ll,llff.) erinnern Inhalt und Ausdruck, der
hier entscheidet. Denn die ngöjuaxoi kommen auch im Grab-
epigramm vor; der Roltenkamerad , der jiaQaordTrjg aji äv oioi-
X^oco, im attischen Soldateneid; und das ^agovveiv hat natürlich
auch in der festen Schlachtordnung seinen Wert nicht verloren
(Xenoph. Anab. III 1, 44). Wieder hat die Aufnahme der altertüm-
lichen Verse, wenn auch in etwas anderer Weise, zum Abschluß
des Gedankens am Hexameterende geführt; denn erst dadurch, daß
unser Dichter die alte Partie, die das Benehmen des tapferen Mannes
schilderte, in seine Elegie aufnahm, wird der Abschluß des Ge-
dankens durch V. 20 zwar nicht unbedingt nötig, aber hier doch
wünschenswert. Das Verfahren ist ganz das gleiche wie in der
Partie 1 — 14. Nun ist es gewiß möglich, daß der Verfasser von
Ovt' äv juvrjoaijufjv, der Solon (v. 30), Mimnermos und Archi-
lochos (v. 38) zu benutzen schien, der die Distichen 1/2 und 11/12
einem älteren ionischen Gedicht entnimmt, auch ein Stück des echten
Tyrtaios benutzt hat. Näher liegt es aber meines Erachtens, alles dies
auf seine Vorlage zu schieben. Das ionische Mahngedicht, das im
Anfang benutzt ist, liefert die Schilderung, wie der schätzenswerte
Mann, der rezXair] ögcöv cpovov aljuaröevTa, sich im Kampfe be-
nimmt, wie er selbst kämpft und den anderen den Mut stärkt.
Eine solche Schilderung konnte nach einem Anfang, wie ihn 1/2.
11|12 geben, kaum fehlen. Ob es diese Schilderung mit den
Farben des Tyrtaios gab, ob es vielmehr abhängig ist von den
alten Gedichten, die auch Tyrtaios' Kunst erzeugt haben, das läßt
sich nicht sicher entscheiden. Wir besitzen ja von der alten krie-
gerischen Elegie nichts als Kallinos 1 ; und da ist gerade der Teil,
den wir hier suchen, ausgefallen. Daß er dagestanden hat, zeigt
der Pentameter xai ng äjzo^v/joy.cov vozar äxovxiodxoi. Wir
können den Inhalt der Lücke jetzt näher bestimmen. Dieser Penta-
meter kann nur eine solche Schilderung abgeschlossen haben. So
glaube ich, werden wir uns für die zweite Möglichkeit entscheiden.
Und dann dürfen wir auch weitergehen. Auf die Schilderung des
tapferen Mannes und seines Verhaltens im Kampfe folgt bei Kal-
linos erst die Begründung, was zu diesem tapferen Kampfe treiben
soll — die Ehre, die Ungewißheit der Todesstunde, die Unentrinn-
barkeit des Todes — ; dann der Lohn des Tapferen, wenn er fällt
und wenn er überlebt. Die Argumentation konnte der Verfasser
des älteren Gedichtes Ovz' äv ixvYioaifxrjv nicht brauchen. Er hatte
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 41
sie vorweggenommen in der subjektiv gestalteten Erklärung, mit der
er beginnt. Aber den Lohn des Tapferen stellt auch er dar, in den
Gedanken nicht viel anders als Kallinos, aber ausführlicher und in
einer mehr symmetrischen Ausführung, die der alte Dichter noch
nicht versteht. Es sind die Distichen 23 — 28 und 35 — 38, denen
wir die sicheren Erweiterungen schon abgestreift haben, die für sich
einen schönen und wirksamen Zusammenhang ergeben. Es war
der Schiufa des alten Gedichtes, den der Verfasser unserer Elegie
in seinen beiden Teilen verbreitert hat, wie er den Anfang durch
die Aufzählung der doerai verbreiterte. Gewiß wird er auch hier
im einzelnen noch manches geändert haben, vor allem in den Über-
gangsdistichen. So zeigte v. 24 die Terminologie des Grabepigramms,
ohne daß man behaupten mochte, daß der Vers in der zweiten
Hälfte des 6. Jahrhunderts nicht hätte geschrieben sein können ;
und 25/26 kann neben dem für sich Genügenden ev jiQojuaxoioi
Tieocüv Erweiterung unseres Dichters sein. Immerhin scheinen
Schluß und Anfang des ionischen Gedichtes, wenn auch mit einem
verschiedenen Grade von Sicherheit, herstellbar. Aus der Mitte ist
nur eine Versgruppe erhalten. Hier hat die vor allem durch die
Erweiterung des Einganges bedingte Arbeit unseres Dichters ein-
gesetzt, dessen Wesen und Ziel jetzt klar wird.
So stellt sich gerade die El. 12 wirklich als Bearbeitung eines
älteren Gedichtes heraus, aber nicht einer Elegie des lakonischen
Dichters, sondern eines vermutlich ionischen, dessen Art noch gut
kenntlich ist. Er ist ein Nachfolger der kriegerischen Elegie des
Kallinos, dessen Schema er mit Freiheit behandelt hat. Er kennt
auch Atchilochos, Mimnermos, Solon. Was er gab, stand künstle-
risch recht hoch, macht aber schon den Eindruck einer allgemeinen
Paraenese. Ich gebe, um das zu beweisen, im Zusammenhang,
was diesem alten Gedicht wenigstens dem Gedanken nach ange-
hört, und bitte, das mit Kallinos zu vergleichen. Die Unterschiede
wie die Übereinstimmungen ergeben sich dann von selbst.
1 Ovt' av /i7'r]oaijnrjv ovt iv Xoycoi uvdga Ti&eif.ir]v
ov re Jioöwv äQeTrjg ov re JiaXaijuoovp}]^,
11 ei juij rerXahj juev oqwv (povov aljuaxöevTa
xal d7]i(ov OQeyoiT iyyvß'ev lorajuevog.
*
16 öiaßäg ev jroojudxoioi juevrji
17 vcoXejuecog, aloyqäg öe qivytjg Im Tidyy^v Xdd^rjTm,
42 F. JACOBY
y)vyj]v Hul dvjuöv Thjjuova ^lagde/uevog,
19 daQOVvfji ö' ETieoiv rov 7i?.ijoiov avöga nageoTchg
*
23 t avrdg ö' ev ngofid^ioioi neocov cp'ilov ojXeoe dvjuöv
äoxv T£ xal Xaovg xal TtaieQ' evxkeioag,
25 jio?dd öid oregroio xal äomdog o/ucpaXoeoorjg
xal öid 'dwQyxog Jigöodev ih]?i.ajiiEvog.
27 rov d' oXocpVQOvxai juev öjuöjg veoi rjöh yEQortEg,
dgyaXEcoi te tio&coi näoa xextjÖe noXig.
29 xal Tvjiißog xal jratdeg ev dvdocojioig dQio7]juoi
xal Jiaidoiv jzaTdEg xal yivog E^omom.
35 eI Öe qjvyrji juev xrjga Tav}]}.£y£og -davaroio,
vixijoag 6' alyjurjg dyXabv Evyog e?j]i,
37 TxdvjEg juiv Ti/iicöoiv öjiicög veoi fjök naXaioi,
jioXld dk TEQTivd jia'&ojv EQ/Eiai Eig ^Aidrjv.
Ich betone nochmals , daß wir nicht sicher sind , wieweit wir in
dieser Schlußpartie den Wortlaut des älteren Gedichtes besitzen.
Aber im ganzen zeigt der Zusammenhang, daß der Bearbeiter
seiner Weise, ganze Stücke zu übernehmen, treu geblieben ist.
Dieses ältere Gedicht ist für die Simonideische Zeit, auch für das
6. Jahrhundert gut möglich. Der Unterschied gegenüber dem echten
Tyrtaios ist kaum geringer als in der Bearbeitung. Es ändert sich
aber das Urteil über den Wert der uns erhaltenen Elegie. Die
Bewunderung für dieses wortreiche Gedicht habe ich nie so recht
verstanden. Sein Dichter ist formell nicht ungewandt; aber er ist
breit und redselig, und er übertreibt die Symmetrie des Aufbaues.
Das beste, was er hat, stammt aus dem älteren Gedicht; und wenn
er auch im ganzen die Einarbeitung in seinen Zusammenhang glück-
lich vollzogen hat, so sticht doch das alte Material immer noch
von seiner Umgebung ab; und der Dichter verunglückt natur-
gemäß da am meisten , wo er sich am engsten an diese Vorlage
anschließt. Sein Mittel, correspondirende Verse zu verwenden, ist
vielleicht beim flüchtigen Hören eindrucksvoll, erscheint aber bei
näherer Betrachtung als recht billig. Charakteristisch für ihn ist
der Gebrauch des Wortes dgEXi] und die Zuspitzung des Gedichtes
darauf, durch die die Paraenese noch allgemeiner wird. Ob er mit
den Schlußworten jui] juEßiEig noMi^iov eine aktuelle Bedeutung
seines Gedichtes hat vortäuschen wollen oder auch wirklich sein
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 43
Gedicht zu einer besonderen Gelegenheit geschrieben hat, lasse icli
dahingestellt.
[Nachtrag.] Über den Namen TugraTog schreibt mir mein
College Ernst Fränkel: „Über Tvgracog, Tvgrajuog, TvQoig habe
ich nachgedacht und halte die Namen ganz entschieden für un-
griechisch (kleinasiatisch). Zwar kommt das Suffix -aiog auch
sonst, wenn auch nicht gerade häufig, bei der Bildung von grie-
chischen Personennamen, mythischen und historischen, vor. Vgl.
Fick - Bechtel , Personennamen 2 25. 301, die als Kurznamen Ev-
q)Qaiog {Ev(pQayh7]g), Oealog {Oecxyevrjg), Tijuaiog (Tijuayevrjg)
und das ja schon als Heroenname belegte 'AXxalog {'AXxa-
fievrjg) und als von jeher einstämmige Namen die ursprünglichen
'Widmungsnamen' AvyaXog (zur Heroine Ävyr]), EiQi]va7og {El-
Qrjvrj), 'Exaraiog {'Exdrrj), 'EoriaTog CEoxia) und mehrere schon
mythische Namen derselben Kategorie auffülirlcn. Aber -ajuo- ist
sicher ausschließlich bei ungriechischen, größtenteils kleinasiatischen
Namen im Gebrauch; s. Kretschmer, Einleit. 322 ff, , der Beispiele
aus Lykien, Pamphylien, Pisidien, Lykaonien, Lydien, Troas gibt,
und besonders Fick, Vorgriech. Ortsnamen 100 ff. (namentlich 106),
der speciell TvQjajuog in eine Gruppe mit Ilglajuog, Tia/xog,
'Ajuiavög (Lydien), IIjjQa/uog, üiyQajuog (Lykien) stellt und -a/tio-
als 'pelasgisches' Suffix ansieht. Auch Tvgoig ist, wie er mit
Recht S. 100 angibt, ungriechisch, wohl kleinasiatisch und hängt
mit TvQ07]v6g (mit kleinasiatischem Suffix -avo-, -yvo-; vgl. de
Saussure, Mission de Chartre en Gappadoce, Paris 1898, citirt von
Meillet, Bull, de la societe de linguistique XVIII 174) zusammen.
Die Tyrsener wären demnach ursprünglich 'Burgbewohner' gewesen.
Es ist natürlich unrichtig, wenn Fick die Herkunft der Etrusker
aus Kleinasien leugnet und meint, bloß wegen des Anklanges von
Tursco an Tvqorjvog hätten die Griechen, als sie um 600 die
Etrusker kennenlernten, diese mit dem ihnen aus dem Osten des
Ägäischen Meeres und aus Kleinasien geläufigen Namen Tvgmjvof
bezeichnet. Demnach halte ich auch TvQraiog für kleinasiatischen
Ursprungs. Die literarischen Gonsequenzen daraus zu ziehen, ist
natürlich nicht meine Aufgabe. — Auch Teurajuog, Vater des
Larisaeers Arj&og {B 843 A})doio UeXaoyov Tsvrajuldao), Groß-
vater der Larisaeer 'Innödoog und Uvkaiog (ebd. 842) und sonst
Eigenname, enthält nach meiner Ansicht kleinasiatisches -a/xo-
44 F.JACOBY, ZU GRIECH. ELEGIKERN
(s. auch Fick, Vorgr. Ortsn. 106). Prellwitz, K. Z. XLV 159 stellt
Tevra/biog zusammen mit dem Namen des Eleers TevrianXog
Thukyd. III 29 zu osk.-umbr. tonto, lit. tmifä, got. p'mäa 'Volk',
indem er das zweite Element von TevTiaTiXog mit altnord. afl
'Kraft', 'Hilfe', vfjnehTv, ävi]jieh't] usw. identificirt und TevTianXog
als 'Volksbeherrscher' (Diefrich), Tevra/iog, Tevra^uiag als Tevza-
rafiiag usw. 'Volksverwalter' interpretirt. Doch sind das natürlich
sehr fragliche Combinationen, die, auch wenn sie richtig sind, nicht
für TvoTajuog usw. ins Gewicht fallen, da ja TEvrafiog, Tevrajuiag,
Tevrajuidiig in diesem Falle gar kein Suffix -duo- enthalten, son-
dern aus volleren Formen durch dissimilatorischen Silbenschwund
hervorgegangen sein würden."
Kiel -Kitzeberg (z. Z. Itzehoe). F. JAGOBY.
HIPPIAS AUS ELIS.
Die Darstellung der Lehre und Tätigkeit des Sophisten Hip-
pias, wie sie zuletzt Gomperz in seinem Buche über Sophistik und
Rhetorik gegeben hat, ist in mehreren Punkten der Ergänzung föhig.
I.
a) In den beiden Hippiasdialogen ist der Sophist bei der
Schilderung seiner Tätigkeit und seiner Erfolge recht wortreich,
bei der Erörterung abstrakter Dinge jedoch meistens sehr einsilbig
und beschränkt sich auf einfache Bejahung oder Verneinung der
Fragen seines Gegenübers. Die wenigen Abweichungen von dieser
Regel verdienen daher besondere Beachtung. Sie lassen sich in
zwei Gruppen zusammenfassen.
Zunächst äußert er Hipp. mai. 284 d und e seine Meinung über
den vojuog. Sie entspricht den im Protagoras und im Xenophon-
tischen Hippiasdialoge ihm in den Mund gelegten Ansichten und
ist hinlänglich gewürdigt. Weniger beachtet ist eine zweite Gruppe,
die indes nicht weniger bedeutsam erscheint. Hipp. mai. 301 b wirft
der Sophist Sokrates vor: d?dd. yag d)j ov, c5 ^cüxgnreg, ra fiev
öXa Tcov n^Qayjiidrcov ov oxojzeTg, ovo' exeTvot, oig ov el'co&a.;
diakeyeo&at, xgovere öe änoXafißdvorreg to xalbv xai exaotor
TCOV övrcov er roTg köyoig xararii.ivovxeg. did Tavra ovtcü /.isydXa
vfxäg Xavd'dvei xai biavexri odof.iaTa rijg ovoiag TiEcpvxdza. 304 a
heißt es: aXXd 07] y , c5 ZcbxQaiEg, rt ohi zavx' eivai ^vvdnavxa;
xvt'jOjiiaTd TOI eoTiv xal jieqit /.u] i.iara tcüv Xoyojv, otieq ägri
eXEyov, xaid ßgcix^' dii]gr]jiiEra. Einen ähnlichen Tadel spricht
Hippias in dem kleineren Dialoge gleichen Namens 369 b c aus :
(h SojxgazEg , d« ov rivag roiovrovg nXsxEig Xoyovg, xal ano-
Xa/nßdv(ov, o äv // övoyEgEorarov tov Xoyov, tovtov e/ei xarn
ojiuxgdv E(pa7zr6jUEVog, xal oi"/ öXcp dycovii^Ei reo jrgdy/iari, TiEg'i
orov äv 6 Xoyog fi-
Der Sinn der Äußerungen ist klar bis auf die öiavExi'j odo-
fiaxa T?}s ovoiag TrEq^^xora. Diese haben recht verschiedene Deu-
tungen erfahren, die hier nicht wiederholt werden sollen. Bei der
Entwicklung des Sinnes dieses Ausdruckes ist davon auszugehen.
46 W. ZILLES
daß Sokrates ihn 301 e aufnimmt mit den Worten: ov yaQ olov
le öiavexeT 'koyco xriq ovoiag xard 'Injiiav äXXoig e'xeiv. Den
öiaveySj ocüjuaTa entspricht also der diavexi]g koyog. Was aber
unter dem Xoyog jfjg ovoiag zu verstehen ist, zeigen verschiedene
Stellen anderer Dialoge. Lehrreich ist Leg. X 895 d: ev juev ovoiav,
£v de Tfjg ovoiag tov loyov, er de övojua. Der Xöyog Tijg ovoiag
ist also der Begriff des Daseins, der Wirklichkeit, des Wesens.
Was der Zusatz öiavexrjg besagt, zeigt Plutarchs Ausdruck (Mor.
679 c): 6 T>]g aixiag di')]veyJ]g ejidoyiojuög. diavextjg Xoyog Ttjg
ovoiag ist also das überall geltende, allüberallhin sich erstreckende,
durchgreifende Gesetz des Seins. Von hier aus ist der von Hippias
gewählte Ausdruck zu erklären. Das Bedeutungsverhältnis der Worte
Myog und ocüjuara kann nur das sein, daß loyog den abstrakten
Begrifl", oco^iaxa die concreten Erscheinungsformen bezeichnet. Dabei
mag uns die Terminologie der Stoiker daran erinnern, daß ocöjna
ganz allgemein das Wirkliche bezeichnet, nicht etwa nur Materielles
und Stoffliches. Der sonstige Gebrauch des Wortes bei Piaton kommt
hier nicht in Betracht, wo es sich offenbar um wörtliche Wiedergabe
einer fremden Ansicht handelt; ovro) fxeydXa xai öiavexfj ocojuara
xfjg ovoiag necpvxoxa heißt also: so wichtige und überall geltende
natürliche Erscheinungsformen (durchgreifende natürliche Zusammen-
hänge) des Seins.
b) Es fragt sich, ob ein Zusammenhang zwischen den beiden
Gruppen der von Hippias geäußerten Ansichten besteht. Er ist
unschwer zu finden. Der im Protagoras überlieferte Ausspruch,
mit dem die bei Xenophon und im größeren Hippias ihm zuge-
schriebenen Äußerungen übereinstimmen, betont den Vorzug der
cpvoig vor dem vo/xog, die oben angeführten Sätze den Wert der
Erkenntnis der jiieydXa xai diavexi] ocojuaxa xrjg ovoiag necpvxoxa
gegenüber dem Zerstückeln eines Gegenstandes: in beiden Fällen
wird das willkürliche Vorgehen der Menschen der cpvoig gegenüber-
gestellt. Vielleicht erscheint diese Verbindung auf den ersten Blick ge-
sucht; ein Zeugnis Piatons jedoch macht den Zusammenhang recht
wahrscheinlich. Im Lysis spricht Sokrates von den Schriften der
sehr weisen Männer, die sagten, das Gleiche sei notwendig dem
Gleichen immer freund; es seien aber die, die über die Natur und
das All sich besprächen und schrieben. Ein Vergleich dieser Stelle
mit der des Protagoras und des größeren Hippias macht es in hohem
Grade wahrscheinlich, daß kein anderer als Hippias gemeint ist.
HIPPIAS AUS ELIS 47
Prot. 337 d: tÖ ya.Q ö/.ioiov no
öjuoup cpvoEi ovyyeveg eoziv, 6
öe vojiiog, xvQavvog (ov rcov
avd^QMJicov, jioVA nagä tijv
(pvoiv ßia^ETai. fjf(ug ovv
aioxQov TYjv jUEv (pvoiv xGiv
7iQayjudTü)v siöevai, oofpwrd- Lys. 214b:
Tovg de ovrag tcüv 'E?JJ]- ovxovv xal rolg twv oocpmrd-
vcov, ... Tcov ovyyQajujuaoiv evxsrvxfJHag
Hipp. mai. 301b: rct jiih' oXa raDr' avxä Xeyovaiv, öxi ro
rcbv jTQay/iidx covov oxonsTg, . . . ofioiov reo öfioico dvdyxt]
did rtxvxa ovrco j^isydla vjuäg del q)ilov elvai; elol de tiov 01
?Mv^dvEi xal diavExy] oo\uaTa tieqI (pvoecog xe xal xov oXoi>
xfjg ovaiag jiEcpvxoxa. öiaXEyö/uEvot xal ygdcpovxsg.
Gerade diese Stelle des Lysis verbindet die des Protagoras und des
größeren Hippias: zunächst der Satz der Naturlehre, auf den im
Protagoras das Urteil über die Gesetze folgt; dann die Angabe,
dies sei die Ansicht derer, die über die Natur und das All sich ver-
breiten, auf welche Begriffe gerade die Salze des größeren Hippias
hinweisen. Wirklich hat auch K. Fr. Hermann die Stelle auf Hippias
bezogen: spätere Erklärer raten auf Anaxagoras, Empedokles, Demo-
krit. Anaxagoras und Demokrit kommen indes als Adressaten der
Stelle wohl kaum in Betracht. Unwesentlich sind dagegen die Be-
denken, die gegen die Möglichkeit einer Anspielung auf Empedokles
geltend gemacht worden sind: inhaltlich paßt die Stelle durchaus
auf seine Lehre. Die Form der Darstellung aber macht diese Mög-
lichkeit wenig wahrscheinlich. Schon Boeckh hat das empfunden,
wenn er meinte, es müsse auch hier ein populärer Denker gemeint
sein, den man aus mündHchen Mitteilungen kannte; nicht unbe-
dachtsam habe Piaton die Kenntnis der weisen Männer dem jungen
Lysis zugemutet, sondern gerade zu verstehen gegeben, daß keiner
jener wahren Weisen, sondern die spoltweise so genannten, die
Sophisten, gemeint seien. Sehr bedeutsam erscheint dabei der
Ausdruck xoTg rwv oo(pwxdxü)v ovyygdjujuaoiv neben dem stolzen
ooq)(joxdxovg övxag xcbv "EXXrjvcov des Hippias im Protagoras.
c) Wir haben damit eine in sich geschlossene philosophische
Ansicht des Sophisten. Es fragt sich, ob sie eigene oder von Frü-
heren übernommene Weisheit ist. Die ganze Art seines Charakters,
wie er uns überliefert ist, läßt von vornherein das zweite vermuten.
48 W. ZILLES
Wer aber war sein Vorbild? Unter den spärlichen uns erhaltenen
Resten des Empedokles enthält einer einen Anklang sowohl an das
Naturrecht als an die Physik des Hippias: {xovto ydo ov rtol fier
öixatov Tioi ö' ov dixaiov),
äXla To //£!' JtdvTCOv v6/iuinov did t evgvjueöovrog
ai&eQOc ip'execog rharai did t' djikhov avyrjg (Fr. 135 D.).
*Doch das allgemeine Gesetz ist lang und breit ausgespannt durch
den weithin herrschenden Feueräther und den unermeßlichen Him-
melsglanz' (Diels). Hier ist das Lob des allgemeinen natürlichen
Rechtes, dem das Lob der cpvoig im Protagoras und der Tadel des
wandelbaren positiven Rechtes im größeren Hippias und bei Xeno-
phon entspricht, hier auch ein Gegenstück zu den diavexfj oeojuaxa
T?}g ovoiag nefpvKOxa. Besonders beachtenswert erscheint dabei,
daß das seltene Wort (di)rjvsx}]g, das bei Piaton nur noch zweimal,
davon einmal in einem Homercitat, sich findet, in den wenigen
Fragmenten des Empedokles dreimal vorkommt, und zwar immer
im Zusammenhange physikalischer Erörterungen. Außer der oben
angeführten sind es folgende Stellen :
aAA' avT{d) eotiv xavra, di' dlXrjloov de ^eovxa
yiyvexai uXXoxe uXla xal yvexeg aVev öjuoTa (Fr. 17, 34 f. D.).
'Nein, nur diese (die Elemente) gibt es , und indem sie durchein-
anderlaufen, entsteht bald dies, bald jenes und so immerfort Ähn-
liches bis in alle Ewigkeit' (Diels).
avxdg stieI xaxd juelCov ejuioysxo öaifiovi öaificov,
xavxd ye ov/j,m7ix£oxov, dm] ovvexvqosv Exaoxa,
älXa XE jiQog xdig jrolXd di)]VExfj E^EyEvovxo (Fr. 59 D.).
'Doch als der eine Gott mit dem anderen in größerem Umfange
handgemein wurde, da fielen diese Glieder zusammen, wie gerade
die einzelnen sich trafen, und auch viel anderes außerdem entsproßte
da sich aneinander reihend' (Diels). Insofern also, als Hippias auf der
Empedokleischen Philosophie fußt, ist die Annahme, die erörterte
Lysisstelle deute auf Empedokles hin, nicht unrichtig; die Art der
Darstellung dagegen spricht dafür, daß ein Sophist, daß Hippias ge-
meint sei. Welche Umstände aber den Sophisten zur Beschäftigung
mit der Lehre gerade dieses Philosophen angeregt haben mögen, ist
unschwer zu erraten. Wird doch Empedokles als der erste Be-
gründer der Rhetorik bezeichnet; auch Gorgias soll sein Schüler in
dieser Kunst gewesen sein; vgl. Diels I''^ 150, 46f., 156, 11 — 23.
Ob seine JJoXixixd (Diog. : xa^oXov öe <pt]oi xal xgaycpöiag
HIPPIAS AUS ELIS 4P
avrov ygatpai xal noXniy.ovg Diels I ^ 151, 5) eine eigene Schrift
waren, steht zwar ebensowenig fest wie die Annahme, er habe
bereits ein System der Rhetorik ausgebildet und gelehrt sowie eine
Techne niedergeschrieben ; jedenfalls zeigt sich eine gewisse Ver-
wandtschaft mit den Sophisten vor allem in seiner politischen und
rednerischen Tätigkeit^).
IL
Von der Troischen Rede des Sophisten hören wir im grö-
ßeren Hippias und bei Philostratos, dessen Mitteilungen auf den
Angaben des genannten Dialoges beruhen, wie wohl mit Recht all-
gemein angenommen wird.
a) Was ergibt sich zunächst über die Kunstform der Rede?
Xeyei 6 Xoyog ort NeoTcroXejiiog Neoroga egoizo, . . . juerd ravxa
dt] Xeycüv eonv 6 Neorcog (H. mai. 286 a b). An die eine^)
Frage des Neoptolemos knüpft sich also die em'dei^ig des Nestor.
Auf diese Tatsache bezieht sich der von Philostratos gebrauchte
Ausdruck didXoyog (Vors. ^ II S. 282,17). Anstößig ist bei Philo-
stratos nur die Gegenüberstellung did?Myög ov X^-oyog, da doch bei
Piaton der Vortrag dreimal Äoyog genannt wird, Diels vermeidet
diesen Anstoß dadurch, daß er schreibt didloyog ov Xoyog.
b) Ist nun dieser Vortrag identisch mit dem, an den der klei-
nere Hippias anknüpft? Eine Reihe von Forschern hält dies für
selbstverständlich; nach den Angaben der beiden Dialoge über den
Inhalt des jedesmaligen Vortrages ist diese Annahme jedoch ganz
ausgeschlossen. Im kleineren Hippias hat der Sophist (Vjm jiok/id
xal jiavxodand xal Tieol non^rön' re äXkcov xal sregl 'Ofiiqoov
gesprochen (363 c). Der im größeren Hippias erwähnte Vortrag
enthielt jidi^inolka vojuijua xal Tidyxala Ttegl e.7iixt]dev fxdxcjüv
xak(bv ä ygi] xbv veov eTiirrjÖevEiv; dieser Inhalt wird in Form
eines Gespräches zwischen Neoptolemos und Nestor übermittelt.
Von Homer und anderen Dichtern ist keine Rede; wie könnte auch
Nestor in einer Antwort auf eine Frage des Neoptolemos — denn
nur dies und nichts anderes bezeichnet der größere Hippias als In-
halt der Troischen Rede — über Homer und andere Dichter
1) Zeller I * 678 Anm. 1; Blaß, Att. Beredsamk. I = 16 Anm. 1.
2) Wenn Norden (d. Z. XL 1905, .')23) sagt: „Wir werden also nicht
fehlgehen, wenn wir uns die formale Anlage der Schrift so vorstellen,
daß Hippias (mit Plat. Protag. 336c zu reden) fV' exdorr] igcori^asi
fjiax^ov Xöyov ajiexsivsv* , so ist das mindestens mißverständlich,
Hermes LIII. 4
50 W. ZILLE3
sprechen? Dem Sophisten eine solche Ungereimtheit ohne zwingen-
den Grund zuzuschreiben geht doch nicht an. Allerdings haut auf
dieser ohne Beweis angenommenen Voraussetzung eine Schrift über
den größeren Hippias ihren stärksten Beweis^) gegen die Echtheit
dieses Dialoges auf. Für die Vermutung, es handele sich in beiden
Dialogen um denselben Vortrag, spricht dagegen nicht die kleinste
Tatsache. Denn der Umstand, daß der Sophist den im größeren Hippias
erwähnten Vortrag auf die Bitte des Eudikos hin halten will, den im
kleineren Hippias vorausgesetzten im Beisein desselben Mannes ge-
halten hat, zeigt doch nur, daß dieser offenbar einer der vielen Be-
wunderer der Weisheit des Hippias war, die sich keine Gelegenheit
entgehen ließen, den Hippias zu hören lEyovxa o ri äv rig ßovXtjTai
cov äv eig emdei^iv jzageoxevaouevoi' f], y.al aTioxQivojuevov zcb
ßovXo/jLEVcp ö n äv rig egcorä (Hipp. min. 363 d).
c) Die wichtigste Frage ist die nach dem Inhalte des Tqcoi-
y,6g ?i.6yog. Er enthielt nd/xTiolla vofxifxa xai TzdyxaXa (286 b).
Diese Angabe veranlaßt offenbar Blaß (Att. Bereds. PS. 32) zu
der Annahme: 'Diese Rede zerfiel also in so viel Teile, wie Be-
schäftigungen anempfohlen wurden, und deren waren, wie es heißt,
sehr viele.' Ähnlich urteilen andere Forscher bis auf Gomperz und
weisen sogar auf Grund dieser Annahme dem Vortrage eine Reihe
von Fragmenten ethischen und historischen Inhaltes zu. Wenn
dieser aber z. B. mit unseren mittelalterlichen, ebenfalls Greisen in
den Mund gelegten Rilterspiegeln, wie der Winsbecke, Freidanks
Bescheidenheit u. a., verglichen wird, so ist dabei außer acht ge-
lassen, daß zwar für derartige Sammlungen 'eine bloß obenhin ge-
ordnete Zusammenreihung von Sprüchen' (Wackernagel) ausreichte,
daß aber für eine Imdei^ig im Sinne der antiken Rhetorik ein der-
1) E. Homeffer, De Hipp, mal., Göttingen 1895 p. 51. Seine Beweis-
führung möge eines methodiscli wichtigen Punktes wegen angedeutet
werden. Aus der oben erwähnten Annahme wird zunächst geschlossen,
die Stelle des größeren Hippias weise auf den kleineren Hippias hin.
Dann liege also die Scene des größeren Hippias zeitlich vor der des
kleineren Hippias. Es wird dann der Nachweis versucht, der größere
Hippias könne nicht vor dem kleineren Hippias geschrieben sein.
Daraus folge die Unechtheit des größeren Hippias. Als selbstver-
ständlich wird also vorausgesetzt, der Dialog müsse eher geschrieben sein,
dessen Scene zeitlich früher liegt. Diesen Grundsatz hat selbst Munk
(Die natürl. Ordnung d. plat. Sehr , Berlin 1857 S 27) nicht aufstellen wollen,
so sehr er seiner Auffassung von der Ordnung, in der die platonischen
Schriften vom Verfasser zum Lesen bestimmt seien, entsprochen hätte*.
HIPPIAS AUS ELIS 51
artiges Verfahren unerhört wäre. Für eine solche ist die Annahme
eines einheilliclien Themas, das nach festen Topen abgehandelt
wird, unerläßliche Voraussetzung: wenn als Thema der Rede der
Nachweis bezeichnet wird TioTa ijiiTijdevjuaja emT}]devoag veog
evdoxijuwxarog yeroiro (286b), so ist das nur so zu verstehen:
welche Art und Richtung der Studien verhilft dem Jünglinge zu
Ruhme? Die oben angeführten Worte aber zwingen keineswegs zur
Annahme, es seien eine ganze Reihe von Beschäftigungen, 'eine
Menge sehr schöner Gewohnheiten' (Steinhart) empfohlen worden:
ndiJLTioXXa vojuijua xal näyy.aXa mitteilen und anraten kann man
auch über eine einzige Beschäftigung und deren einzelne Äußerungen
oder Anwendungen. Welche Antwort aber auf die Frage des Jüng-
lings nach dem sicheren und untrüglichen Wege zu Ruhm und Ehre
wird der Sophist dem tönenden Redner von Pylos, dem von der
Zung' ein Laut wie des Honigs Süße daherfloß, in den Mund gelegt
haben? Mit der Frage ist die Antwort schon gej2;eben: das dem
Neoptolemos empfohlene Lebensideal muß übereinstimmen mit dem
eigenen Ideale des Sophisten. Dies zeichnet er aber selbst im
größeren Hippias recht bündig und klar, 296 a: Iv roTg nolniKÖlq re
xal rf] eavrov noXei zö jiiev dvvaröv elvai Jidvrcov xdXXiorov, t6
de ädvvarov ndvTCOV aioiiojov. 304a b: exeivo xal xaXbv xal
jioXXov ä^iov olov t' elvai ev xal xaXwg Xoyov xaraon]odjue-
vov EV öixaorrjQiq) fj sv ßovXevxfjQiq) f] eji' ciXXrj ni'l dg^fj,
jtQÖg rjv dv 6 Xoyog fj, JiEioavra oi'xeo'&ai cpegovra ov rct o/Jii-
xQorara dXXd rd jueyiara rcöv ä'&Xa>v, ooixrjQiav avxov xe xal
xcüv avxov ;f^>^/^<arcüv xal (ptXoiv. xovxmv ovv ^of} dvxexso'&ai.
Nach dem Zeugnisse der Einleitung des größeren Hippias übte der
Sophist die hier empfohlene Tätigkeit auch selbst aus. Und wenn
wir aus Quintilian lernen, daß schon die antike Rhetorik in ihren
Vorschriften über die jigooMJiojtoua großes Gewicht darauf legte,
daß die einer Person in den Mund gelegten Äußerungen immer
ihrem Charakter angemessen seien, so ist beachtenswert, daß die
Persönlichkeit Nestors zu einem solchen Inhalte der Rede durchaus
paßt, ja daß keine zweite Person des homerischen Kreises ebenso-
gut dazu passen würde.
d) Ausdrücklich bestätigt wird diese Annahme durch eine Stelle
des größeren Hippias. Auf die gerade angeführten Worte des
Sophisten (304 a b) antwortet Sokrates : c5 'Ijima (piXe, ov jiiev juaxd-
Qiog Eij oxi XE olo&a d XQ^ EJiixrjÖEVELV äv&QOjnov, xal EJiiXEzrj-
4*
52 W. ZILLEvS
Sevxag ixavcbg, cbg q^rjg. Die sprachliche Form der Antwort weist
deuthch auf den Tgcoiy.ög koyog hin, da das Wort ejiixrjdeveiv,
das sowohl hier wie bei der Erwähnung des Vortrages zweimal
gebraucht wird, in den dazwischenliegenden Erörterungen nicht
vorkommt. Dann aber sagt Sokrates weiter: eTreidäv . . . Ae/o)
. . ., (bg Tiokv y.QdxiOTOv eoxiv oJov te slvai Xoyov ev xai
xaXcög xaTaorrjod/Lievov ri TTsgaiveiv ev öixaoxijQicp ij
F.v äX?.q) xivl ovXXoyq) (. . . Jidvxa xaxä äxovo) . . . tTieidäv ovr
F.loek&O) . . .), eQCOxa ei ovx aloyyvoixaL xoXix(bv jisqI xakcbv
^nixi^dev [xdxoiv diaXeyeo^ai. Nestors Antwort lautete dem-
nach: ijtixijösveiv XQV ^^^ veov olöv t' elvai Xöyov ev xal xakcög
xaxaox7]odjUEvöv xi jiEQaivEtv ev dixaoxrjQico fj ev ßov^evxrjQio) y
EV äXlo) xivi avXXdyo). Die Troische Rede ist also das Gegenstück
zum fieyag Xoyog des Protagoras, wie ihn Gomperz (S. 175, 277)
auffaßt: eine Begründung und Darlegung des sophistischen Unter-
richtszieles und Unterrichtsprogrammes, des formal -rhetorischen
Bildungsideales ^). Ihren Zweck, die Empfehlung der sophistischen
Bildung, erreichte die Rede in zweifacher Hinsicht: einmal legte sie
dar, warum jene erstrebenswert sei, dann aber bildete sie selbst
1) Raeder (Plat. philos. Entw. S. 106) findet es mit Homeffer (p. 35
auffällig, daß Hippias dem Sokrates empfiehlt, Sachwalter zu werden,
während vorher (285d) von ihm selbst erzählt wurde, daß er sich mit
ganz anderen Sachen, Genealogie und Antiquitäten, abgebe. Piaton
scheine die Tätigkeit der verschiedenen Sophisten nicht recht ausein-
andergehalten zu haben. Aber zunächst beschränkt sich doch Hippias
keineswegs in der oben angeführten Stelle (304 a b) auf eine Empfehlung
der Tätigkeit als Sachwalter {Iv dixaotrjQiqj i} ev ßov?.£vzrjoiqj i} eti ä/.h/
Tivl doyJi — vgl. des Sokrates Antwort: iv öi?iaart]giq} r/ ev älXw xivi
cvX'Aoyo); in einem Satze, der nach Gercke ungefähr so einer Ankündi-
gvmg des Gorgias entlehnt sein könnte, werden [Gorg. 452 e] genau in
gleicher Weise die Vorteile der sophistischen Kunst gepriesen: xo nei-
iJsiv olov t' eJvai xoTg ?.6yocg xal ev diyaarrjQico dixaazäg y.al iv ßovXEvrrjQiü)
ßovXsvrag xal iv ixxXriaia exxXtjoiaazäs xal iv ä?A<a ovXköyo) navxi, daxig av
:xohxix6g av/J.oyog yiyvt]xai). Hippias bezeichnet vielmehr ganz allgemein
die öeivöxTjg des ev Xeyeiv als das oberste Erfordernis zu der Laufbahn
des praktischen Staatsmannes. Daß aber diese dEivöit/g auch ihm selbst
zu Gebote steht, von seinen Mitbürgern in Elis anerkannt und gern im
Interesse ihrer Stadt in Anspruch genommen wird, das hebt Hippias
ausdrücklich gleich im Anfange des Dialoges hervor. Mit diesem rhe-
torischen Zentralinteresse (Gomperz S. 283) verbindet sich freilich bei
ihm persönlich das antiquarische Interesse des Polyhistors: was ist dara.n
auffällig?
HIPPIAS AUS ELIS
eine Probe für die durch jene Bildung erreichbare Fertigkeit. Die
Annahme liegt nahe, daß der Sophist mit ihr regelmäßig seino
unterrichtliche Tätigkeit in den verschiedenen Orten eröfTnete.
e) Vermutungsweise läßt sich vielleicht sogar noch Näheres über
den Gedankengang der Rede sagen. Zwei verschiedene Beobach-
tungen können dabei als Ausgangspunkt dienen. Zunächst läßt sich
auf Grund der vorangehenden Erörterungen die Rede mit noch
größerer Sicherheit zu den Anfängen der isagogischen Literatur
rechnen, als es Norden a. a. 0. tut. Vermutlich treffen sogar die
Gesichtspunkte, die er für die späteren isagogischen Schriften auf-
stellt, schon sämtlich für sie zu (ars: Alter, Erfinder, Vervoll-
kommner — Zweck: Nutzen oder Vergnügen oder beides — Teile:
(irtifex: Vorbildung; Verhältnis von Begabung und Studium; ^;er-
fectus artifcx — jiiaivojuevog). Während der Hinweis auf das Alter
der rhetorisch-sophistischen Kunst durch die Person Nestors gegeben
war, enthielt vielleicht ein erster Teil Ausführungen über ihren
Zweck , für deren Inhalt vorläufig die oben angeführten Stellen
(Hipp. mai. 296a. 304 ab) einen Anhaltspunkt geben können. Wie
ein zweiter Teil etwa Vorbildung, Verhältnis von natürlicher An-
lage und Studium behandelt haben mag, zeigen die Fragmente des
Anonymus lamblichi ^). Zum Schlüsse der wirkungsvolle Gegensat/,
des erfolgreichen Redners zum äv6i]Tog (Hipp. mai. 301 b c. 304 b).
Einen anderen Ausgangspunkt bieten die im zweiten Teile des
größeren Hippias von Sokrates vorgeschlagenen Definitionen. Schon
lange ist die Beobachtung ausgesprochen, daß diese nicht nur ver-
suchsweise oder ahnungsartig herbeigenommen werden, sondern
dem Verfasser des Gesprächs sichtlich sehr geläufig sind. Es fragt
sich, woher sie stammen. Sie zerfallen in zwei Gruppen: zunächst
bezeichnet Sokrates das Schöne nacheinander als x6 jiqejiov (293 e).
tÖ ')(^Qriaifiov (295 c), tö dxpeXifJiov (296 e), dann als x6 dt' äxofjg
T£ xal öyjEoyg fiöv (297 e) und als fjdovr] (hcpüu/biog (303e). Sie
entsprechen genau der von Norden als ein wesentlicher Punkt
der Isagoge bezeichneten Frage nach dem Zwecke der Kunst:
Nutzen oder Vergnügen oder beides. Zum Vergleiche lassen sicli
1) Ob die Weisheit des Tamblichos ganz oder teilvsreise dem Tqcoi-
y.bc. loyo? entstammt? Bei Gomperz fällt ein gewisser Widerspruch auf.
insofern als er S. 79 und besonders S. 89 f. auf Hippias als Qutdle ziem-
lich deutlich hinweist, während er Anm. 363 die Bruchstücke aus einer
Paraphrase des Protagoreischen iiiyaq Xöyo; stammen läßt.
54 W. ZILLES
auch die re?u>cd. xecpdXaia der späteren Rhetorik heranziehen, in
die das aristotehsche xalbv als Tekog der epideiktischen Beredsam-
keit (Rhet. I 3) aufgelöst ist. Anaximenes z. B. lehrt: enaivETU
fxev ovv iou Jigäy/uara rd dixaia xal rd vöjuijiia xal xd ovjU(pe-
Qovra y.ai rd xaXd xal xd i]de.a^) xal xd QÜdia Jigaxdrjvai'^)
(Kap. 3 S. 186 Spengel). Vielleicht deutet auch der oben bespro-
chene Ausdruck vjioxi&ejuevog avxco TidfAJioXXa vojuijua xal ndy-
xala (Hipp. mai. 286 b) auf Ähnliches hin.
f) Diese Vermutungen über die Gliederung der Rede sind frei-
lich unsicher. Sicher aber ist, daß die oben entwickelte Auffassung
von ihrem Inhalte einen Schlüssel zum Verständnisse des gesamten
Dialoges bietet, in dem sie erwähnt ist. Bruns (Lit. Portr. S. 349)
hält die Einleitungsscene des größeren Hippias aus zwei Gründen
für unplalonisch. Sie habe ihre ganz eigene, von dem übrigen
unabhängige Tendenz, während Plalons Scenerie zu dem Haupt-
zweck, zu dem wissenschaftlichen Inhalt, in einem organischen
und damit in dem Verhältnis der Unterordnung stünde. Zweitens
sei diese Tendenz rein historisch und in der Absicht geschrieben,
die Leser geschichtlich zu unterrichten. Versuchen wir das vermißte
organische Verhältnis zwischen Einleitung und Hauptteil aufzu-
weisen. Dem gleich im Anfange des Dialoges (281b c) gezeichneten
Lebens- und Bildungsideale der Sophisten gegenüber wird zunächst
darauf hingewiesen, daß die allgemein geachteten {wv ovdixaxa
fxeydla Xsyexai im oocpiq 281c) alten Weisen jenes Lebensideal
nicht mit den neuen Weisen teilten 3); dann muß Hippias selbst
1) Vielleicht fand sich auch schon die Bestimmung 8ia ztjg äxofjg
xal xfjg otfjsMQ rjdv (297 e) bei Hippias: vgl. Aristot. Rhet. III 2, Demetr.
jieqI sQfirjvsiag: wQioazo Ö' aiitä (sc. tÖc leyö/Lieva xaXa. övöiiaxa) QEocpqaoxog
ovTCog ' x<x}j.og dvöfiatög soti z6 ngog Jtjv dxotjv i] ngog zfjv oyjiv rj8v, rj zo
zfj öiavoia evzifxov (Spengel, Kh. Gr. III 300), Hermogenes jieqI iöeüjv: zavza
yag xal zrj oiyei jtQOoßä?J.ei rjdovip' OQo'j/.iera, xal zf] axofj oze e^ayyeXXei zig
(Sp. II 358).
2) Auch die nagoii^la am Schlüsse des größeren Hippias: yaXsna za
xa?.d würde durch die Beziehung auf einen entsprechenden Punkt der
Rede doppelt bedeutsam.
'S) Bruns bezeichnet es (S. 848) als einen merkwürdigen historischen
Fehler, daß der Verf. behauptet, Pittakos, Bias und Tliales hätten sich
nie mit Politik befaßt. Dieser Fehler ist entweder durch die An-
nahme erklärt worden, Sokrates spreche hier wider besseres Wissen, um
den dgxaiolöyog Hippias zu verspotten, der auf die erste beste geschicht-
liche Unwahrheit eingeht, sobald sie nur zu seinen und seiner Genossen
HIPPIAS AUS ELIS 55
gestehen , daß die vo/xijucoxaroi doxovvreg elvm Spartaner von
der sopliistisclien Bildung nichts wissen wollen. Der für Verfasser
und Leser selbstverständliche Zusammenhang zwischen den alten
Weisen und der spartanischen Erziehung ergibt sich aus Prot. 343 a:
ovToi Tidvieg (die Sieben Weisen) Ci]Xojxal xal ignorai y.al jufxßrjxai
fjoav rijg Aaxeöaifxoviiov jiaiösiag. Nachdem durch diese Auto-
ritätsbeweise für die Richtigkeit des sokratisch-platonischen Stand-
punktes und gegen die Berechtigung der sophistischen Anschauung,
die in die Form der ironischen Anerkennung und Bewunderung der
Weisheit des Hippias und seiner Genossen gekleidet sind, die Frage
nach dem Werte der sophistischen Ideale genügend begründet und
nahegelegt ist, wird sie durch die Erwähnung des Vortrages des
Sophisten über die Ideale eines jungen Mannes und die Mittel zu
deren Verwirklichung unmittelbar veranlaßt und in der Weise ge-
stellt, daß Sokrates nach dem Begriffe des xa?.öv fragt; als ein-
ziges positives, nicht widerlegtes Ergebnis wird dann im Hauptteile
der Satz aufgestellt und festgehalten, daß das xakoj' von dem sitt-
Gunsten zu sprechen scheint (Heindorf, Schleiermaclier, Stallbaum, Zeller),
oder aber durch die Voraussetzung, Sokrates oder vielmehr der Vei-fasser
des Dialoges rede in gutem Glauben, hier spiegele sich eine Phase der
Metamorphose wider, die jene alten Weisen allmählich als lichtscheue Ge-
lehrte und Theoretiker erscheinen lasse (Hirzel, E. Meyer). Ist aber die
Behauptung überhaupt unrichtig? Es kommt auf den Sinn des an sich
mehrdeutigen Ausdruckes: (paivoviai dnsxöfisvoi tmv jioXitixwv tiqü^ecüv
an. Das Verhalten der alten Weisen wird dem der Sophisten gegen-
übergestellt: der Satz muß also das Gegenteil der Tätigkeit der Sophi-
sten ausdrücken. Nun betrachteten aber die Sophisten die Kenntnis
und Ausübung der tex^r] noXiTix») als wesentliches Merkmal der oo(pia;
von den Alten soll demnach offenbar ausgesagt werden, ihrer Lebens-
aufgabe und eigentlichen Tätigkeit habe die jioXizixi] jigä^ig völlig fern-
gelegen (in derselben Bedeutung ist der Ausdruck z. B. Euthyd. 306 b
angewandt, wo (piXoaoq>ia und nokiTixi] jiQä^ig [, Staatskunst" Raeder] ein-
ander entgegengestellt sind). Das trifft durchaus für Bias, Thiiles, Ana-
xagoras zu; wenn aber von der Teilnahme des Pittakos am öffentlichen
Leben seiner Vaterstadt berichtet wird, so zeigt die Tatsache, daß er
freiwillig und gegen den Willen seiner Mitbürger die ihm übertragenen
Ämter niederlegte, wie weit er von den Anschauungen der Sophisten
entfernt war. Daß es dem Verfasser überhaupt nur um die Feststellung der
allgemeinen Richtung der älteren Philosophie, nicht um die gelegent-
liche, von keinem Staatsbürger des Altertums ganz zu vermeidende
öffentliche Tätigkeit zu tun war, zeigt der Zusatz: i) nävisg >; ol jiokXoi
avzcöv, der vereinzelte Ausnahmen von der allgemein aufgestellten Regel
ausdrücklich vorsieht.
56 W. ZILLES, HIPPIAS AUS ELIS
lieh Guten nicht zu trennen ist (297 cd. 304 a), daß also das Ideal
der Sophisten nicht deshalb berechtigt ist, weil es nützlich oder
angenehm ist, sondern vielmehr, wenn es ein vernünftiges Lebens-
ziel sein sollte, auch gut sein müßte, d. h. nicht darauf gerichtet,
Ehre und Macht, sondern Tugend im Sinne des Sokrates und Piaton
zu erwerben. Damit wird auch die Tatsache durchaus verständlich,
daß am Schlüsse des Dialoges keine positive Bestimmung des Begriffes
gegeben wird, da es eben zu Piatons Zwecke völlig ausreicht, wenn
er die wissenschaftliche und pädagogische Richtung der Sophisten
in ihrer Verkehrtheit darstellt. So erledigt sich auch der Vorwurf,
den Bruns (S. 347) dem Verfasser des Dialoges macht: Piaton habe
seinen Sokrates niemals mit Gegnern zusammengestellt, ohne ihn
in irgendeiner Weise triumphiren zu lassen. Gegen dieses Grund-
gesetz verstoße der größere Hippias. Der Sophist breche das Ge-
spräch ab, indem er Sokrates von oben herunter abkanzele ; er gehe
triumphirend davon. Kurz- vorher (S. 324) liest man freilich bei
Bruns: 'Gewiß sollen diese Dialoge überzeugen, aber nicht den
Vertreter der Gegenansicht im Personal des Dramas, sondern
den Leser. Jener soll nur aus dem Sattel gehoben und voll-
ständig diskreditirt werden.' Das ist zweifellos der richtige Stand-
punkt; dieser Bedingung entspricht aber unser Dialog in einem
Maße, daß andere Gelehrte wieder an dem Übermaß der Diskredi-
tirung Anstoß genommen haben. Ganz widersinnig und ungeschicht-
lich aber wäre der Gedanke, den Sophisten im Dialoge von seinen
Idealen zurückzubringen und zur richtigeren Ansicht zu bekehren,
vor allem aus dem Grunde gewesen, weil zur Zeit Piatons nach
dem Tode des Sokrates und Hippias die von diesem begründete
pädagogische Richtung noch bestand und sehr viele Anhänger hatte,
wovon jeder Leser Piatons sich täglich überzeugen konnte.
Wenn so Gedankengang und Bedeutung des größeren Hippias
durch die oben dargestellte Annahme über den Inhalt des Tgcüixög
löyoq verständlich wird, so darf wohl diese Tatsache wiederum als
Stütze jener Annahme bezeichnet werden.
Düsseldorf. W. ZILLES.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V.
(S. d. Z. XLV 126-150. 320: XLVI 260-285; XLVIII 378—407.)
Y. Eine neue Fassung des xix. Hipi'okratesbriefes.
Die Textgeschichte der griechischen Klassiiier hat gelehrt, daß
die meisten und schlimmsten Entstellungen der Originale im Großen
und Kleinen in der Regel auf die Zeit der Verfasser oder die un-
mittelbar folgende zurückgehen. Der Text ist eben gleichsam noch
in statu nasccndi. Die Autorität, die der Autor allmählich ge-
winnt, übt noch keine conservative Kraft aus, die Grammatiker
haben die Texte noch nicht in Pflege genommen. Wenn daher
meine Untersuchungen über die Überlieferung der Hippokratischen
Schriften gelehrt haben, daß die schlimmsten Schäden der Willkür
und Sorglosigkeit der ärztlichen Kreise des 4. Jahrhunderts zu ver-
danken sind, ehe die bibliothekarische und grammatische Methode
der Alexandriner sich auch dieser Literatur annahm, so gilt ein
gleiches auch von dem Nachhall Hippokratischer Weisheit, dem
Briefwechsel des Hippokrates, den im Anfang der Kaiserzeit ^), wie
es scheint, ein koischer Arzt und Literat verfaßt hat. Die Auf-
findung mehrerer Papyri 2) zeigt nun auch hier dieselbe Erschei-
nung. Schon bald nach der Entstehung dieses Briefromans muß
sich in weiteren Kreisen Interesse dafür gezeigt haben, was auf den
Geschmack dieser Kreise freilich kein günstiges Licht wirft. Auch
in der Folgezeit blieb dieses Interesse wach. Es zeigt sich darin,
daß die verschiedenen längeren und kürzeren, zum Teil formell
ganz abweichenden Fassungen des Briefromans sich bis in die
byzantinischen Exemplare hinein verfolgen lassen, ja daß sogar eine
1) S. darüber am Schlüsse S 81 ff.
2) Berol.6934 und 7091 (s. II/III her. von Kalbfleisch, Berl. Klassi-
kertexte III 5fF.) und Oxyrh. 1184 (s. I p. Chr. her. von Hunt, Oxyrh. Pap.
IX 195).
58 H. DIELS
Handschrift des 16. Jahrhunderts^) an einzelnen Stellen die voll-
ständigste Überlieferung gibt. Dies ist das Ergebnis der lichtvollen
Untersuchung von Pohlenz (d. Z. LH 1917 S. 348 ff.).
Ich war daher nicht überrascht, in einer bisher für die Briefe
noch ungenutzten Handschrift, Urbinas 68 s. XIV, die für die in-
direkte Erotianüberlieferung von Wichtigkeit ist, eine abweichende
Recension des 19. Briefes zu entdecken, welche den in allen son-
stigen Handschriften verstümmelten Text in ungeahnter Weise ver-
vollständigt. Während in den Briefen 1 — 18 diese urbinatische
Handschrift sich an die Vulgatüberlieferung in der Regel eng an-
schließt, markirt sie nach dem Schlüsse des 18. Briefes eine Lücke
von 1 ^2 Seilen ; die Briefe 20 ff. fehlen, von denen wiederum die
letzten 23. 24 auch in MUV und den andern Vulgathandschriften
fehlen. Sie sind nur in dem durch den Heidelberger Codex Palat.
398 s. X (b) repräsentirton besten Zweige der Überlieferung er-
halten. Aber auch diese vorzügliche Handschrift gibt den folgen-
den, in b als 20. gezählten Brief ArjjuöxQirog 'IjinoxQdxEi JJeQi
fxavifjg (so hier die Überschrift) nur in einem verstümmelten Ex-
cerpte. Der Anfang lautet nämlich jiiaivofievcoi de, cbg ecpi]v, ev
rcöi Tiegl IsQfjg vovoov, vno vyQOzrjTog rov iyxecpdXov, ev cbi
ioTi TO. Ti]g y'V'/j']g Egya. Man kann den Brief nicht mit de be-
ginnen lassen, die Änderung jiiaivojiisvoi des letzten Herausgebers^)
ist ebensowenig befriedigend wie die Interpolation Littres juaivo-
jxeßa ^). Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wer denn
eigentlich nach der Absicht des Romanschreibers der Verfasser
dieser Abhandlung sein soll. Man erwartet doch nach dem Ver-
sprechen der vorhergehenden Briefe*), sie rühre von Demokrit her.
Dieser kann ja nun freilich wohl nach der Voraussetzung des Ver-
1) Paris. 3052 {cp).
2) W. Putzger, Hippocr. q. f. Epistulae ad codd. fidem recensitae
<ProgT. Würzen 791) Lpz. 1914.
3) Aus Hipp, de morbo saec. 15 (VI 388, 6).
4) ep. 18 Schluß schreibt Demokrit : djiEozaXxa ds aoi röv :isqi /lavitjg
j.öyov. Er wird im vorhergehenden als in der Ausaibeitung begriifen er-
wähnt ep. 17 iS. 15, 4 Putzger) uDm ov, A^jLiöy.Qirs, t)]i xoFiaoovi fis ^evitji
<)sy£v [so ürb. 68]. xai jzgöJrov, ri i)v xovz' 6 ygäcpon' wy/dveic, (podC^ (so
nach bMV zu lesen, die ionische Psilose ist in der Lesung zovzo er-
halten) ■ o 8' Ei^iioyon' o'/.iyov yoövov ' Jisgi /uavhjg, eqpt] . . . dU.a zi nEQi
fiavlrjg yQÜcpsig; zi yäg, ei:iEv, ä?do jiXt)v fj [so emendiren UR: Ech MV] tig
ze Eirj xai oxcog dvd'QWTioig iyyivEzai xal ziva zqojtov dnoXcocpEOixo,
HIPPOKRA.TISCHE FORSCHUNGEN V 59
fassers die Schriften des Koers benutzen ^), aber er kann doch seine
Berufung auf die Schrift jiegi legrjg vovoov nicht mit den Worten
(hg eq}t]v einleiten. Er müfste doch £q}7]g sagen, wie später das
Gitat aus den Epidemien 23, 17 auch wirklich mit den Worten ir
de xü)i jiEixjixwi x(bv 'Ejiidrjjuuov loTogijoag (so accenluirt b rich-
tig) eingeführt wird. Freilich Lillre schreibt auch hier loioQYjoa,
da er sah, daß das Participium ioTOQ)'joag (so die Vulgala) in der
Luft schweben würde.
Nun hat Marcks^) versucht, Sinn in diese Überlieferung zu
bringen, indem er annimmt, Hippokrates habe die Schrift des De-
mokrit IJegl juavhjg (Br. 19) empfangen und ihm als Entgegnung
seine eigene Meinung über diesen Gegenstand mitgeteilt. Er hätte
diese sinnreiche Ausflucht vielleicht noch dadurch stützen können,
daß im Urb. 68 eine große Lücke nach Br. 18 gelassen ist, die in
Verbindung mit der offenbaren Verstümmelung des Br. 19 zu An-
fang den Ausfall eines Briefes oder wenigstens die Fassung des
verlorenen Anfangs des 19. Briefes in diesem Sinne anzunehmen
gestattete. Allein er hat den 20. Brief nicht sorgfältig gelesen.
Denn dieser Brief des Hippokrates an Demokrit setzt nicht etwa
einen ausgefallenen Brief des Hippokrates liegt juavi)]g voraus,
sondern bezieht sich auf den uns erhaltenen, zuletzt vorhergehen-
den Br. 18, den Hippokrates samt der Beilage des Demokrit Uegl
fxavir]g (n. 19) erhalten hat. Denn er sagt hier 20 {2A, 2) t) juer
ovv vjio oeo enioTaXeToa ejiioxoXi] xaiefjLe/JLCpexo jiegl xfjg (pagjua-
xeirjg xov eX/.eßogov. Und dies ist die Antwort auf den Anfang
des Demokritischen Briefes 18 (22, 4) ijifjX^eg •tjfuv cbg juejurjvö-
oiv, CO 'InnoxQareg, elXeßoQov öcoocov neiodeig a.vo)jxoig dvögäoi,
nag olg 6 novog xfjg ägexrig juavh] xgivexat. Und nun schreibt
er am Schluß, Demokrit solle ihm nur häufiger Schriften von sich
zusenden, äneoxaXxa de ooi xal avxög xov Ilegl xov eXXeßoQio-
fiov Xoyov. Und dieser Traktat folgt denn auch als Br. 21 genau
so auf diese Ankündigung, wie der Traktat Uegl juavü]g (Br. 19j
auf das äneoxalxa öe ooi xov Ilegl juavi7]g koyov (Br. 18) des
Demokrit folgt ^). Der Titel des 19. Briefes, den die beste Hand-
1) Demokrit sagt, als er seinen Namen erfährt, 17 (14, 18 P.) >} tmv
'AoxXt]Jiia8(üv svysvEia ;ToAr' ys oov xo xl.iog xfi^ iv ItjToiy.fji oocfhjg TTFcpoiTr/-
XEV xal ig i)[iEag acpixiai,
2) Symbola crit. ad Epistolographos gr. (Bonn 1883) S. 33.
3) Naiv war die Art, wie der treffliche Foesius sich aus der Ver-
60 H. DIELS
Schrift b bietet : ArjfxöxQvtog'lTinoxQdrEi jieqi juavirjg, ist demnach
ganz richtig^) und entspricht dem des 21. Briefes ITegl iXkeßoQiojuov
'l7inoxQUT}]g AijjuoxQizcoi.
Also es zeigt sich, daß in der Lücke, die der Urb. 68 nach 18
freiläßt, vielleicht der Schluß unserer Briefsammlung 20 — 24, den
die Handschrift nicht bietet, weggefallen ist, aber kein unbekannter
Brief und wohl auch nicht der vermißte und bis jetzt nicht wieder-
gefundene Anfang des verstümmelten Briefes 19. Denn auch ab-
gesehen von der offenbaren Verderbnis des Anfangs, dürfte man
nach der Weitschweifigkeit, mit der der Schriftsteller seinen Demo-
krit im 17. wie im 23. Briefe reden läßt, wohl annehmen, daß er
die drei Fragen seiner Vorankündigung //' Tig re eirj xal oxcog dv-
&QU)7ioig iyyivetai xal riva xqojiov änokcocpeoiTO etwas gründ-
licher beantwortet, als es hier ep. 19 mit den dürftigen Hippokrates-
citaten geschieht.
Ein ganz anderes Gesicht zeigt der 19. Brief in dem neuent-
deckten Stück der urbinatischen Handschrift. Die drei Fragen des
17. Briefes werden hier nach einer umfänglichen Einleitung (§^1
bis 23) wiederholt. Die Disposition wird § 24 gegeben: tL ioxt xal
oxoioiot öiayiyviüoxerat xal riva xqojiov djioXcocpEOixo. Mit der
ersten Frage wird sofort § 25 die Ätiologie verknüpft xi ioxi xal
dC oiag alxiag yiyvexai. Dieser Abschnitt wird weitläufig und mit
Heranziehung der erwähnten Hippokratescitate in § 25 — 60 durch-
geführt. Der zweite Abschnitt § 61 — 71 umfaßt programmäßig die
Symptomatologie, an die ein klimatologischer Anhang § 72— 75 an-
gefügt wird. Den Schluß bildet die Therapie xiva xqojiov djiokoi-
(peoixo § 76 — 80. Schon dieser Überblick der Disposition zeigt,
daß wir hier eine vollständige Abhandlung jisqI /iavh]g zu finden
erwarten dürfen, von der im bisherigen Hippokratestexte nur wenige
Paragraphen in z. T. abweichender Form bekannt waren.
legenheit half. Er übersetzt nämlich diese Worte so: Tuum aiiiem de
insania scriptum ad fe remisi. Das heißt die Grammatik töten, um den
elenden Schriftsteller zu retten. Ermerins Hippocr. Ill 603 sagt über
diesen mit Recht: videtnr auiem omnino ita fuisse ine^Jtiis, ut lihdhim
ciiationibus ex Hippocrateis refertum et in quo ipse scri2^tor ex suia scriptis
ipsius locos depromere se profileretiir, Democrito tribuere tarnen voluerit.
1) Sie läCst auch den in den Vulgathandschriften am Anfang von
Br. 19 interpolirten Zusatz top jieqi fiavitjg Xöyov avrwi yQa<pevTa Iv xcöi
TTEoi lenrjg rovaov aus.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 61
Doch ehe die Echtheit dieses Fundes geprüft wird, ist es Zeit,
den Text vorzulegen, der ohne Überschrift im Urbin. 68 f. 427''
(neue Zählung 429'') beginnt und lückenlos (abgesehen vielleicht
von einer kleinen Auslassung) bis Ende f. 428^ durchgeht. Damit
schließt zugleich die Handschrift. Die kritischen Noten geben bei
den wenigen von mir geänderten Stellen die handschriftliche Lesart
mit Ausnahme der Quisquilien^). Die Stilvorlagen des Verfassers
wie die inhaltlich benutzten direkten Quellen und die Parallelen,
soweit sie m.ir aufgefallen sind, merkt der obere Notenabschnitt
an. Zur Vergleichung schicke ich den kurzen Text der Vulgata
(S. 23, 1 — 21 Putzger) mit allen Abweichungen der Handschriften
(bMUV nach eigener Collation. die übrigen nach Littre) voraus.
I.
19. Brief. Kürzere Fassung der Vulgata
(Hss. bCDFGHIJKMVU).
ArjfioxQiTog 'InnoxQdrei TLeqI juavit]g.
*** juaivojuevcüi de, wg Ecprjv iv xmi UeqI lEQfjg vovoov, vno 1
vyQOxrjxog xov tyxsqmXov, iv oji eoxiv xd Tfjg ipv^fjg sgya. öxav
Briefnummer K bU: fehlt MVU, die ihn als Beigabe des 18. Briefes
betrachten (übr. Hss. unbek.) 1 Überschrift b : o .-regl fiavitjg /.6yog CD I KM :
fehlt FGHJ 2 Vor fiatrofisvon interpoliren (als Variante zu dem Schlüsse
des vorhergehenden Briefes 18 ansoxnlxa de ooi rov ttf.qI fiavhjg köyov):
xov nFQi fiavirjg Xöyov avzcii ygacpsvia iv rcöi jisqc IsQfjg vovoov CDFGIJKMV
(nicht b) fiaivoiXEvmi Hss. (s. oben S. 58) /naivofiEvoji . . . vovoov fehlt V
sq^rjv fehlt D; dafür fügt er nach vovoov zu s'rvxov siQtjxojg vjto
T^C Tov syxsq-, vyoözrjxog iv d) rä zijg yv^fj? diarfkei FQya D
1) Iota mutum fehlt in der Handschrift fast ausnahmslos. Accent-
fehler sind stillschweigend verbessert, ebenso die üblichen byzantinischen
Schreiberversehen, wie acpäXeo&ai, ixsXXov, aitocpsvEodm, 6/iioXoyi]fiF.va, dno-
Xotpiono, Xcoßoi, oi.iiyi.iaxi, or)^iEua. Dagegen habe ich das durchgehende
yiyvexai nicht ionisirt und Xvxxip' (statt Xvooav) § 7 nur im Consonantis-
mus entsprechend der anderweitigen Orthogra])hie mit oa regulirt. Wie
die später zu erwähnende Verwendung solöker Formen zeigt, war der
Verfasser kein grammatisch geschulter Schriftsteller. Pseudoionismen
wie Xvoorjv, fiirjv, avxerjg, airsoig und die distrahirten Formen naXesi u. dgl.
sind bei den ionisch schreibenden Autoren der Kaiserzeit nicht zu be-
anstanden, ebensowenig die stellenweise Vertretung von i longa durch ei,
wie sie damals üblich war.
62 H. DIELS
vyQoreQog T>)g (pvoiog fji, ävdyxr] xiveio&ai. xivov/nevov ök fxrjrs
T}]v öynv ärgejui^siv ju/jie Tijv äxoi]v, äXXa äXXore d'AA' ogriv xe
xal äxoveiv, ttjv xe yXöjooav xoiavxa ötaXeyso&ai, 61a äv ßXEnrji
TS xal äxov7]i ixdoxoxe. ooov dt äv äxQEjuiat]i 6 eyxECpaXog, xo-
aovxov xal cpQovEi iqovov 6 äv&gcoTiog. yivExai de. fj öiarp^ogä 5
2 rov eyxEfpdXov vno (pXey ^axog xal xoXriq. yvcooei dk ixdxEga
(höe • ol ixev yäq vnb cpXEyfiaxog juaivöjuEvoi yovxoi xe eIolv xal
ov ßo')]xal ovde 'dogvßcodeeg, ol ök vno xoXfjg ngrjxxai xal xa-
xovgyoi xal ovx fjgE^ualoi. i]v jukv ivve^tög juatvMvxai, avxai ai
Tigocpdoieg eloiv, 7]v ök de.if.iaxa xal cpoßoi, vno juExaoxdoiog yi- lo
rexai xov eyxecpdXov &egjuaivojuevov vno xoXfjg ög^uworig in avxov
xaxd xäg cpXeßag xäg aljuaxixidag ' oxav de dneX&rji f} %oAj) ndXiv
3 eg xäg cpXJßag xal x6 ocojua, nenavxai. dviijxai de xal dofjxai xal
eni?j]&Exai nagd xaigbv ipvyojuevov xov eyxe(pdXov vno cpXeyfia-
xog xal ^vvioxajiih'ov nagd xö e&og. oxav de e^amv7jg 6 eyxecpa- i^
Xog diadegiuaivi]xai vno ;^o/l>7s xaxd xdg (pXeßag xdg ngoeigrj [xe-
rag inil^eoavxog ai'juaxog, evvnvia ogevoi (poßegd xal Sg iygtjyo-
göxi xö ngooconov cpX.oyiäi, xal ol öqj&aXjiiol egevßovxai, xal fj
yv(ü/Lit] enivoel xi xaxbv egydCeo&ai. xovxo xal iv xcoi vnvoii \
ndox^t- oxav de x6 aijua oxedao&fji ndXiv eg xdg (pXeßag, nenav- 2»
4 xai. £v de ixbi nefxnxoji xcov 'Enid)]iuicov loxög}]oag, coi eyivexo
dcpwvirj, äyvoia, nagaX.ijg'ijoig, ovxval ^nl vnooxgocpai, fj de
yXwoaa oxXjjg^j, xal ei juij diaxX.voaixo, XaXelv ovx ^^^^ "^^ V'^>
1 vyQoxsQag U cpioEüng U draxivEia&ai H Von xcvsTo&at an feh-
len FGIJK 2 erstes t>)v fehlt U äigsfuCsiv bMV : ijQSßsTv D äUoze] äk-
Xou U ä?Ja ogi-jv Putzger: äUotrjv bCHM'U'V: aV.oleiv U': aUolaM."^:
äXlola nach ay.ovFivJ): aU.oTa oQfjv Littre: s S. 67, 19 3 xavza 8iaXsyso&ar.
KxdoTOTED ßUjzei — dxovsi JJ 4 s;<aor6jre U diQSfxtjarj GY^ 5 öiacpoQCi D
t) yvcooEi hM': yvüorji M' corr. : yvcoot] CHUV 7 elai viügo 8 d'O-
ovßa)8si5 VY TTQfjfczai hCHMÜV : nb^tizaiD d ovx ^ge/naToi Y avv-
EX&g bHÜ 10 JiQocfdoEig U fiEzaazäoEcog U yiyvEzai h 1'2 xazd
rdg bHV: zag fehlt CMU ^ (^or ;^o;./;) fehlt U 13 Eig bü tze-
navvzat b drirjzai 8e y.al datjzai b: driijzai 8.x. dofjzat CHMV : dviäzat
8. y.. äar}zai U 14 nach lyxEqpdXov wiedeiholt ■&£gfian'o/nEvov v. xok. 6g/x.
(11) V 15 ovviaza/nEvor) büH 16 JzgoEtgtjfiEvag bH: EigrijiiEvag CMÜV
17 rov ai'/.iazog H (?) ogiovoiv h: ogcoai U sygrjyogözog D (?) 18 igEV-
§ovTai b: igv&gaivovzai CHMUV^D?) 19 vjivcoi b: Ivvjiviwi CMÜV
(D?) 20 slg blJ 21 TÖJr] rov C taiögrjoag (bi b: lozogrjoag (bg
CDHMÜV: ioz6gr/aa verm. Littre (s. oben S. 59) iyiyvEzo h 22 :i:a-
ualrjot-joig, avyval CMV: jzagahjoi^oEig ovxval bU(DH?) 23 axXt]gä U
Tjv] i] V
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 63
xal oqdöÖQa nixQrj ' xä noXXä (pXeßoTOjuir] eXvoev, vögonooirj, /J,eXi-
xQTjTOV, eXleßoQOJV nooieg. omoq öXiyov ejii^rjoag ygovov eteIev-
TYjOEV. äXkog yv ov, oxe Ecg ttotov ögficon], (pößog rfjg avXrjTQidog
eXdjußavev, ei dxovoEiEV avXovot]g. i'jfiEQrjg dk äxovcov ovdkv
s EJiaox^-
1 TiiXQO. U vögoTToaia U f^isXixQarov U: (.ieXixquov M 2 «r£-
Xevt}]oe V: iTevT?]oev M, verb. M^ 8 öv oze bCV: 6? Sie (so) U ;rov-
rov H oQfKov U: oQ/uä.i} CV (pößov U 4 i'jfisQag U 5 Enao^sv UV
IL
Längere Fassung des Urbinas 68.
MEydXcog fxoi ÖoHeovol ocpdXXEodai xaxd Trjv XE^vip oi tiqÖ- 1 f. 427«"
Tgßov Ji£ßt yotiacüv ^vyygdxpavxEg, xaixot jidvxa OQ&cög ^vyys-
yQacpEvai doxEOvxEg, noXXä x(bv dvayxaiwv jiagaoiyEOvxEg. fjv 2
UEv ydg äyvcooxa eÖoxeev iovxa xal jurj övvaxbv dv%')Qcomvr]i
10 yvcüjLi7]i 7iEQiXi](pdrjvai, xaXcbg dv tieqI xojv eyvcoofiEvcov ogßcög
k'xovxa ixavcog ixjiovtjoavxEg , jieqI avxsojv ovo' EnEy^EiQrjoav
d}]Xa)oai' f]v dk (hfxoXoy'i]fj.Eva xal avxoZoi xdioiv tdidm]ioiv 3
eyrcoo/ÄEva, ovx ögäcog dv e^eiv öoxeoi jiiij jxeqI cjlvxecov ^uyygd-
■xpai. ijv öe xal yvcojiirji OQd^rji evioi tieqI avxEOiv ^vvEyQaxpav, 4
15 dXX' ovÖEig EyvM OQ&cög, xaßoxi dv avxoTg ^vyygajixEov. 6x6- 5
oa jUEV ovv ovx ög&djg vJio xcov tiqoxeqov Ei'gtjxai, ov)r ol6v xe
jui] äXXojg ejus ^vyygdxpavxa ögT&cög ^vyygdy)ai. 6x6oa dk jurj 6
£7i£XEig}]0£ jLi}]d£lg xcöv 7ig6xEgov örjXMoai, iycb EmÖEi^m xal
xavxa 6xoid eoxi. xal ngcbxov öt] dno xrjg xoivoxdr^jg äg^ojiiai 7
Quellen und Parallelen.
6 Vgl. Hipp. Epid. HI 16 (HI 102, 1 L.) fieya ocpdllsa&ai iv rfji rsxyt]i
10 Hipp, de victu I 1 (4G6, 1) eI fisv fwi zig twv jtqoteqov avyygayjdvrcov
jTEQi d(aiT7]g dv&QC0Jtiv7]g Tfjg Jigog vyistav OQßcög lyvMxcog ovvyEygaqpEvai
Jidvra 6id navzog, ö'oa dvvarov dv&gco^zivrji yvcofitji 7i£gi?,T](pßfjvai, Ixavöjg eI^ev
av f.wi dllcov exjTorrjodvTCOV yvövra to. og&cög E/_ovra [&: yi'Mvat ogßcög E/ovza
vulg.] Tovioioi xQ^soßai. 17 Hipp, de victu I 1 (VI 468, 2) Eym ovv . . .
zoTai fiEv ogdcög Eigijfiivoioi 7igoaoi^ioXoyi]oo3 , zu 8e f^itj og&cög iyvcoo/nEva [e/'o?;-
liiiva ß] drjXwaoi oxoid [noTa ■&] rtrd saziv • oxöaa 8s fiTjdk E7iEXElgy]aE /HTjÖEig
twv ngözEgov dtjXiooai, syoi Eizidsi^co xal xavza oxold \ola #] iaziv. q?r]fd öe xzX.
6 Titel fehlt MsydX^wg] sydXxog, Initiale nicht wie üblich rot aus-
gefüllt 8 Vgl. Hipp, de victu I 1 (s. Quellen) 10 Vielleicht jrsgl züv
tyvwaav \xev og-dwg ejorza 19 öe
64 H. DIELS
8 fiavitjg, r]v di] kvootiv xaXeofxev. avzt] yag f) vovoog Tiäoiv
igyedgsvei roToiv äv^Qconoioi xal Tiavrl k'&vei ^uncov xal 7)Xixir]ioi
9 {jidorjioi). (pi^jM de Tiegl amajg öxcog iyyiverac xoToi äv^gcoTioiot
10 xal xiva xqÖjiov änolccKpioixo. fjv juij yäg xrjv e^ ^QXV^ ^^~
axaoiv eJiiyvcooijxai xrjg vovoov öxoirj xig eoxi xal dt ol'ag alxiag 5
yiyvExai xal xälXa äxQißscog {Xeyco de xöv fxeXXovxa ÖQ^cög
anocpaiveo'&ai Jiegl avxh]g), ovi 616g t' av ei'r] xd ^v/i(psQOVxa
x(üt dXovxi TiQOOEveyxsiv.
11 1] jUEV ovv vovoog yaXEmj. lyco öe Öoxeco xal xavxtjv xoLvrjv
fikr slvai xal Jiäoi roToi ^diioig jUExadido/j.£V7]v, ovy^ r\xioxa dk lo
h' Aiyvmioioi xe xal 'IvdoToi xal xoToiv äXXoioi xcöv Tivgcodt]
xal ^7]Qoxdx7]v y/OQ7]v oixEorxcov ijiidijjUEOvoav cooxe xal '&£ir]v
12 vofii^EO'dai. öxoxav yag änxYjxai ndvxoiv t) vovoog e^'^g äxeg
(pavegrjg Jigocpdoiog, Ticog ovx av £7ztd7]juiog ?j 'äEU] vojui^oixo;
13 '&£h] jUEV ovv ovx av eXyj, öxoxav ol xaßagjuoi o(pEag otx (hcpe- is
14 Xeovoiv, dXXd xd sÖEO/uaxa xd Icojuevd xe xal xd ßXdnxovxa. ovx
äga 6 ■&£6g eoxiv aaiog ovöevog xcov xoiovxemv ovÖe TiEOiodoiotv
oJöev E^ofjLOiovo&ai xb dEiov.
15 dxdg [dX?J] ovök diaix7'jfiax(x)örjg, öxov ye cpaivovxai ndvxag
xgÖTiovg ol ävß^gcojioi diaixsij/XEvot, etzeix' dXioxovxai vnb rfjg 20
16 avxEYjg vovoov. xoivi] juev ovv öid xovxo eoxiv, öxi xal ev Aißviji
xal EV 'loovirji xal ev viqooig xal ev fjjiEigcoi öijyjuaoi fiExaöidoxai
17 1^ xoiavx7] vovoog. ETiiÖTjfuog Öe did xovxo {äv) XoyiCoixo, 6x1
xal EV 'Tvdi7]i xal ev Atyvjixmi axEg (favEgijg ngoqpdoiog ExpEÖgEVEi.
18. 19 dXXd TiEgl juev xovxmv öXiyov voxeoov dnotpavExv xdXXtov. vvv 25
3 (und S. 65, 11) Vgl. Epist. 17 (15, 9 Putzger) ä)J.ä zl .tegl fxavirjc
ygäqiEig; xl ydg, eimev, älko nXrjv rj rig [so R: vulgo ei] zs eXtj xal oxwg
dv&Qojjtoig iyyivEzai xal ziva zqötiov ujiokcoqjsoizo 7 Hipp, de victu I 2
(VI 468, 10) eI'te fXT] yvdiOEzat zd ijiixgazeov iv rwi ocbfiazi, ov-/i iy.a%'6g eazat
xä ^v/ii(pEQOvza ZMC dv&Qcöjicoi jiQOOEVEyxEiv 13 (und 24) Vgl. Hipp.
Progn. 18 (II 160, 6 L.) äxEQ cpavEQfjg nQO(päoiog l.öff. Vgl. de morbo
sacr. 1 (VI 358, 3 L.) ovx saziv äga 6 ^sog al'xiog ovderog ovdk 01 xaßagfio!
oxpEXiovoiv , dXXä zd idEo/uaza zd IcjfiEvd iazi xal ßXojizovza, xov dk ^siov
[dEOv i9] d<jpaviCEzai t) dvvafiig. ovzo)g ovv sfioi yE Soxiovoiv oixivEg reo« xq6-
jicoi zovzo)i lyxEiQEOvoiv läo&ai zavza zd voai^fxaxa ovxe Igd vo^iILeiv sivai
ovzE ■&£Ta 25 Vgl. de morb. IV 33 (VII 544, 12 L.) «AAa jtEQi zovxov 6X1-
yov voxEQOv dnocfavEco xä?Juor
1 XvzzTjv hier 3 jidotjioi fehlt 11 rwv steht nach x^QV 12 ^j/go-
zdxri x^QV 17 etwa jieqioSevovoiv ( Wanderürzten, Kurpfuschern) ? 19 dxdo
aAA'] vgl. zu S. 68, 3 20 etieix^ dUaxovxai (so!)
HIPPOK RATISCHE FORSCHUNGEN V 65
de. ed^eXüi äjioq^fp'ai jiqojtoi' tieqI aixi)^g tov Tid&eog avieov. vo- 20
fxiCco de Tfjv ahh]v rov vovoijjuarog /urjdev äXXo öoxeeiv r) djio-
yovöv TS xal exyovov tov icf&agjuevov vno ^rjgaoirjg Jivevjuarog
f.ovoav. did tovt ovv xal ovyl ToXg C<^coig toIoiv unaoiv, äXX' 21
5 e&vEL Tivl avTOjxaTOL al ToiavTai yiyvovTai vovooi. Xecov de 22
Tama {e'xei) xal Xvxog xal xvoiv vaivd te xal Ißig xal ßaaiXi-
oxog xal öoa er äXXoioiv äxg7]Tov l'ox^i £^ ecovxoioiv ^rjQOTijTa '
e^ avTÖJv de toToiv uXXoim 'Qdöioioiv l'xeXov Xoificoi TOig d/jyjuaoi 23
/ueTadidoxai.
10 'A?.X' ävaß)']oojiiai o&ev äneXinov. Xeyeo de rrjv loxoQhjv tüv- 24
Trj7' exdujyevjuevog, Xvooa i'i eon xal öxoioioi diayiyvcooxexai xal
Tiva TQOJiov anoXcocpeoiTo ' ene'i toi ye fioi doxeei avayxaiov elvai \ 25 f. 427 ▼
jiavTl IrjTQän negl exdoxov töjv vovoi]judTa)7' eldevai exaoxov, ti
eoTi xal dl oi'ag ahlag yiyveTat, xal ndvv ye ojiovdd^eiv, (hg
15 eloeTai' r/v ydg xig eideir} xrjv ahirjv tov vovorjfiaTog, woneg 26
yUOt necpgaoTai xal eTegco^i, olog t' äv euj rd ^vfxcpegovTa jigoo-
dyeiv TWi ocojuaTi ex tö)v evavTiwv (oxd/uevog tmi vovorj/xaTi.
amixa toivvv Xvooa eoxl ?iOijiia)di]g (pßogd rov eyxecpdXov, yiyve- 27
xai de xal vjio aijuaTog xal x^^^'^- yvojo}]i de exdrega wde- 28
20 öxorav jLiev 6 ä)]g jiXt]o&rii jitidojuaoiv , ä rcoi eyxeq)dXa)t jioXe-
jiiid eioi, tÖ vovo7]iiia xeivoi vooeovoiv. öxorav de vjiö rov 2ii
Xvooeovxog 6 fxrj Xvooewv d7]x&'>~]i, dno rcov uo&eveoregwv fj vov-
aog enl rd toy^vgörega f]xei xard diddooiv, xf]v juev ev vdgcoTii
rb diiyjua, vdgcoif, i]v d' er cpXeßicoi, aljua, ijv d' ev dgrrjgirji,
SS 7ivev/ua rö juiav^ev, xal JivevuaTt xal aijuan xal vdgojjit diadi-
dcooiv. exei de xal rode ovrcog ' coojieg fj xoüurj xevei] yevo- 30
1 Vgl. de inorb. IV S^-J (VI! 542, 18 L.) edikoy 8e djio(prjt'ai jiqöjzov.
s. 41 {^QJ, 6) 19 de morbo sacro (VI 388, 13) yvworji ök sxdrsga d)8s
(vgl. § 39. 53) 23 ä. Vgl de morbo IV 33 (VII 542, 18 L.) i{)üco ök
dnocpfjvai tzqcötov, jicog t] x'^^'-V ^'^'- ^"^ olfxa xal vöqcoxjj xal z6 (p?Jyfia n)Jovu
xai iläooova ylyvezai dno zcöv ßgcofiäzcov xal zcöv Ttofiätcov zqöjtcoi zoicbiöe '
rj xoüürj rcbi ocofiazi Jidvzcov Jit]yr} iozi jtXerj eovaa ' xsver] 8k yerofisrt] ijiav-
Qioxszai dno tov aco/iiazog z7]xofisvov ' slai ds xal ä)J.ai nrjyai zsooaQsg xz)..
26 Vgl. de morb. IV 35 (548, 23). 40 (560. 7) sx^i 8s xal z68s ovtoyg 18 ff',
vgl. iV 33 (zu Z. 23)
7 ev äXloiai] fehlt etwa yivEatv? zcöv d)l(x>v verm. Regenbogen
11 "kvzza W onov8dt,£L 18 Nebf-n der mit «ort beginnenden Zeile steht:
{e)v akXoi cp7]aiv Xoif.ifX)8r]g (pdoga zcöv ivegyeiöjv zov iyx£q?d?.ov (nicht Hippo-
krates, wohl Variante einer andern Hs. dieses Briefes) 21 etwa xsivo?
xoivov (vgl. §§ 11. 16) verm. Regenbogen 24 v8qu)ii) (i. e. vygöv) sc. yivs-
zai z6 fdav&ev
Hermes LIII. 5
66 H. DIELS
/<£)'?; eTiavgioy.exai änb rov OM/xarog njxoftEvov, ovroj y.al 6
EyxEcpaXog xai nl uXlai 7i}]yal äjio rov od)fiarog ejiavQcoxovxai.
31 l'Xy.ei ds y.al ro ocöjua, £7ii]v 6 £yye.q)al6g n e^V' ^^ eoovtcöi yai
32 rcov äXloav exaoxov. £7ii]v ovv y xaxi)] /coß)^o>;t eg rö ocöjua^
k'Xxei ami^v 6 eyxecpaXog öid rcöv cpXeßcov, xal imjv Xdßoi, oi- s
33 voiaro äv. xi]v juev ttoXM] er]i, iodooEiev ig rov eyxe(pa?MV
avrixa, Tjv de öXiyov, ovx äv amixa iodooeiev, iqovcüi de dia-
(p&ecQoixo xal e^co öioioei.
34 ev rovrcoi juev ovv icöi Xoycoi änojiecpavrai, oncog 6 eyxe-
35 q)a?Mg eXxei anb rov ocojuaTog. 7'uv de egeco negl rov ndß^eog^ lo
ojicog eoeiei eg rov eyxecpaXMV xal non)ooi.iai lorogiov negl avreov
36 rööe. djoneg et rig ev egUoi eregov vygov egiov eni^oTxo, jzgöj-
xov jiiev x6 6jiuX)]oav vygip'eie xö)i vygcöi xal e^ avreov ro juer'
ixelvo, [teigig dv ev oXcoi xö vygbv dcpixeoixo, ovxoj xal rbv tbv
Sei axoneeod^ai xcoi 6i]yßevxi roTg ödovoi xoXXeeod^ai xal jueraßdX- '•&
?,eiv avxb jrgbg ea>vxb xal avxeoji xd yeixvidCovxa xal di' avxemv
37 eg xbv eyxeq)aXov dcpixveeodai. Jtonjoojiiai de xal eregov loxö-
38 giov ev jivgl rode' dyg, äv rig egiov äXeg Xdßoi xal ev avrecoi
äv&gaxog ofxixgorarov ßdXoi, ovx dv exxaioiro ro egiov vjzb rov
3 Vgl. de morbo IV 36 (550, 23) elxsc fiky yÜQ zd ocö/Lia eg ecovxo xxl.
<j de morb. IV 35 (^'II 550, ^) xrjy /.isv Jiollov etji z6 (p?Jy/Lia, iodoosier
[soäosiev ohne äv Urb. 68 f. 116""] äv ig \ig tilgte v. d. Linden] rö acofiu
avztxa, i]v 8s oXiyov ovy. äv saäaoeiEv [sadasisv Urb.] . . . xQÖvoji 8s, tjv fisr
ezsoov Eniysvrjxai cpXsyfiu, atvoiazo äv. i]v 8s owfia ziji xvozei xal zfji xoMtji
Siaq;£QTji xai ravza s^co Sioiorji [8ioiaoi EH Urb. 68] 9 de morb. a. 0.
550, 13 SV zovzcoL [XEv ovv zwi löycoi äjiojisqpavzai 10 Vgl. de morb. IV 47
'574, 13) vvv 8e iosco
5 ?.äßoi] Vgl. zu S. 69, 1 oivoiaio] So nach de morb. IV 35 (550.
12) die handschriftl. Überlieferung statt olvoizo. Siehe über diesen alten
Solöcismus Kühner -Blaß I 2, § 214, 8Anm. Schneider zu Callim. fr. 521.
Vgl. de nat. mul. 39 (VII 382, 1) zä ijiifi^ria äTzoxsxQvqpazai.; de semin. 3
(VII 474, 11). 4 (476, 16). 10 (484, 20) ravza /liev sigsazai 7 iadaasisi'] statt
EoaioEisv (s. Parallele). Crönert, Rhein. Mus. LXV 462. Vgl. de morb.
mul. I 25 (VIII 68, 8) snatovoi {spüren) yäg ai f^irjzQui zov gsv/^iazog 8 Wohl
Sioiooi (vgl. Parall.) 11 eoeiei. Über die themati'fche Flexion von sl[.u vgl.
Baunaek, Curt. Stud. X 96 ff.; Rhein. Mus. XXXVII 472. Vgl. de morb. 46
(572, 17) ^lEdUi , ebenso dess. Verf. de semine 4 (474, 16) fie&ht ... äcpUi
neben fisüh]aiv . . . äcph^aiv c. 12 (486, 16. 20) 14 sg olov'i ä<pixEoiz6\
s. zu S. 69, 1 18 ä).ig: vgl. de morb. IV 55 (600). 57 (612, 4) Xäßoi
vgl. Z. 5
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 67
ofiiy.QordTOv, aVA dX'iyov tov eglov lg iwvTO ftFTaßdXoi, xai t^
avTsov xaTCL öiddooiv to näv nvQovjcu eqiov xal iy.xaifTai, xai rö
oööfxa ävdyy.i] xQaTr]ih~]vai vno rov jrdOeog xal fiFxaßdXkeodai ig
röv Ibv efiJiayh'xa rcTji öijyjLiaTi, xal lo iyyig i^ avieov xal 6
5 eyxeq)a?.og tots oivot'aro. yva)o)]i de xal loöe cböe' uxorav /uh' ^3!»
vno ai'juarog, rjv re vjio örjjuooiov xaxiijg ijv tf ctto örjyfiarog
(pXavQov xaraoTaviog, f] Ivooa ^vveorijxei, E^amvi]g 6 t/xeqoaXog,
ev öji eon rd xTjg yvxrjg egya, öiaßeg/uaiverai vtio xo}Sjg xaxd
xäg cpXeßag avxeox' xäg aljuaxixiöag ijiiCeoavxog xov aijuaxog xal
\o q'douaxa ögäi cpaßegd- xal xö örj^av l^ioiov xi]v (pavxaoiijv iO
emoxoxijoav rpkavgoioi jivsvf.iaot jrgög tojvxo deiyßaxt^ef xal 41
xdgxa 7iaQd?J]Qog, xal xö jrgoowTiöv oi cpXoyim xal ol (xpßaXjuol
EQv&Qa'ivovxai xal i) yvcö/n] EJTivoei xi xaxov egyaCeodai' xal 42
(pdofiaxa ooecov (j^oßhxai xal ddxvEoßat öoxeei e^ avxEOv xal
n GTiaxai d/Mycog xal Enih']dExai Ttagd xaioöv xal JiaQarpQovEEi' f. 42S'
öxoxav Öe jivEvjiiaxi xe xal &eQjuaoh]i xal yoXöiv xaxEQyaoirji 6 43
EyxEcpaXog xaxa^)]QavdEü], dvdyxt] jlii) eXivveiv, äXld xivEladai,
xirovjiiEvov Öe uYjxe xijj' öyiv äxQEjLuCeiv p.)]XE X7]v äxo/jv, dXV
äXXoxe äXda XeyEiv xe xal dxovEtv xijv xe yXwooav xoiavxa dta-
20 XsyEoßai, öxdia dv cfavxaQ)]xai ExdoxoxE, xal Trgrjxxip' xal xaxovQ-
5 Vgl. Parall. zu § 28. 53 8 Vgl. de morbo sacr. 15 (VI 388,
18 L.) dsQfiaivEiai 8e v.to zi]; /o?.)];, oHÖzav 6ofxi]o>]i sm rov Eyy.E(palov xaza
rag <pXeßag rag aiuarinSag. Ebda. S. 890 egy^erai 8k Haia rag (p?.sßag jioXh
rag elotj/^isvag, oxörav rvyydvi]i lörd Qcojiog oqecov evvjtviov (foßEQÖv 12 V'gl.
das. 15 (VI 390) röxE ^lähora ru TroöooiJiov (pkoyiäi, y.al oi 6(fßa).iioi eqev-
dovrai, oy.özav (foßyjrai xal ?) yvm/iHj E::iiroEi]L ri xaxor ioydoaoßai 15 Vgl.
das. 15 (888, 23) i'.t' avrov de rov näßsog xai EJidrj&Erai 17 Vgl. das. 14
(888, 6) xal /iialvöfiEßa fih> vno vyQÖri]rog ' bxörav ydg vyQoregog rt]g q)vaiog
Etil dvdyxi] xiVEEO&ai, xiVEVfiivov de fxi^TE ri]v oi^nv argsjui^Eiv ^irjXE rip' dxoiqv,
aXV äU.ors ä?.?.a ögäv xal dxoveiv ri^v re yX&ooav roiavra biaXkyEodai, oia av
ßXinrji rE xai dxovrji ixdarors ' ooov 6' «V urQ£/Liia)]i 6 syxEcpalog ygövor,
xooovxov xai (pQovhi o äv&ga>nog 20 Vgl. das. 15 (38S, 12) yivsrai 8k rj
Siaqpßooij rov syxetfdlov vno (plsyiiarog xal xolrjg ' yvwa)]i 8k exdregu a)8e ■
Ol fikr ydg vno <p?.Ey^iarog /naivöjUEj'oi fjav/oi re elai xal ov ßoijral ovSe ßogv-
ßwdeeg, ol 8e vno xolfjg XExgäxrai xal xaxovgyoi xai ovx droE/iaiot, dkV dei
ri äxaigor dgcövrEg
4 EiinijyEvra ; das r] ist nicht deutlicli. Oder ist ifinXt^yEvra zu lesen ?
5 oivoiaro] vgl. zu S. 66, 5 10 (parraoüp', av in ^v geändert 1.3 sg-
yd^Ezar. vgl. Parall. 17 xaza^)]gav&Eij]] vgl. zu S. 69, 1 19 ä?J.a )JyEiv']
seheint falsche Verbesserung des in Ep. vulg. § 1 (s. oben S. 62, 2) cor-
rupten Textes dV.ohjv (d. i. äV.' doiiv) zu sein.
5*
68 H. DIELS
44 yoi' eovTa doxeeiv xal ovx rjQSfiaiov xal vdgocpoßeovra ' öxav
45 ovTcog ^yj]i, avdyxr] ävEXjtioxov eivai. yv 6' vjio vögconog 6 iy-
46 xe(pakog diacp'&aQrji, fjov^o? t£ ioTi xal ov ßo7]rrjg' ardg ovde
&OQvßa)di]q, juavixög de aXXcog xelg eoJVTOv ri]v xaxit]v /xegjur]-
47 QiCcov xal äviäjai. xal äorjrai ' ooov ö' äv dTQEjuior]i 6 eyxe- &
48 cpaXog, rooovzov ygovov xal (pQoveT 6 ävd^Qdonog. digejuiCsi de,
49 oxorav rb aljLia öiaoxeöao&fjt ndXiv eg rag q)Xeßag. cog ev 'Eni-
ötjjiuaig loTogeeTai, ojg eyerero ayvoia, naQaXyjQTjoeig, vtzootqo-
50 (pal ovxvai xal 6 elg tiÖtov oqjucov <p6ßog xrjg avXtjZQidog eXdjx-
ßavev, et dxovoeiev avXovot]g. xal jui] dxovcov, eöoxee' xal he- 'o
öl Xevxfjoe. xal 6 rov xvva ev xvXixi xal xuxecövi xal vdari cpav-
xaCojuevog, änoxog öirj/xegevoag xal ipexddi gavxio&elg dned^ave.
52 xal 6 xbv xvva jui] xoivcoveeiv xcTji ßaXaveioit cpQOvijoag xal eioeX-
&d}v dieoü)§r} '
53 yvc6o7]i de exdxega d)de' öxöxav vjiö d^eQuaoirig 6 eyxe- i5
cpaXog ovx dxgejuiCrji, 7iagaq)Q0veei, xal XtjgeT xal xaxovgyeT 6
54 dv^QüiJXog. öxoxav d' djiia xal vjio ^rjQaoirjg ojidxai xal (pa-
5 Vgl. Hipp, de morbo sacr 15 (388, 21) dviSzai zs xai doärai jTagä
xaiQOv ifv^of^irov rov eyxecpäXov xai ^vvLaxafA.Evov Jingd z6 k'&og 6 Das.
388, 20 xal q:>6ßog Jiagiozrjxe, fiF}(Qig djre^.dtji nähv ig rag (fXeßag xal zo
aöjfia, ejTEiza Jiejiavzat 8 Epid.V 80 (V 248 L.) = VII 85 (V 444) !^v-
dgoßaXsi [so V c u. VII] a.(p(üvir], ayvoia [fehlt V], JiagalrjQrjaig [Xrjgrjoig V
Xvdivzwv [jiav&Evzojv VII] bk zovzcov jzsQifjv [jisgi9]t£i Yll\ 8zi av^vä' xal
vnoozQoq?al f.yivovzo. rj 6s yXiöaaa diszsXei nävza zov ygövov ^tjQrj, xal f.I /4,r)
öiax?.voaizo [öiaxlv^oizo V] Sialsyeadai ovy oTög zs rjv xal aq^ödga nixgy] fjv
[jiiXQ?] lirjv fjv V] zä jzoVm. sazi 8' ozs xal Jigog xagdirjv oSvvt], tjv (pXeßozo-
(liri ilvoev [qp?.sßoTOfii'r) klvos VII] zavza' [zavzrji V] vdgo^iooirj r) [?/ om.
VII] fAE?uxgi]zov [^vvip'EyxEv fügt V zu] ' iVJßogov ejus fiE?.ava . . . zsXog
dk /EijLiMi'og xazaxhdslg e^co syEvszo . . . Exslsiza 9 Das 81 (V 250 [ =
Vil 86] VII 444) tÖ ÄhxäioQog jiadog, onozs ig jiozov ojgfirjzo' <p6ßog tfjg
avArjzgiöog ' oxöze dgx^l^ivrjg avXsTv [(poiv^g avXov dgxofA.£vrjg dxovoeiEv avX^sTv
V] dxovosiEv iv züi [züüi om. V] ^v^ijioaiui, vjio SsifiäzMv o^Xot 13 Vgl.
etwa Celsus V 27,2 i231, 11 Marx) scd unicum iamen rcrmdiam est neqne
opinantein in piscinam non ante ei prorisnm proicere 15 de morbo sacr.
15 (388, 13) yvcöo}]i 8i ixdzsga wds. Vgl. zu § 28
3 dzäg] darüber aAA' vgl. § 15 5 äorjzai : darjzac Ep. vulg. (§ 3 S. 62,
13); über diese Formen bei Hippokrates vgl. Smith, Gr. Dial. lonic
S. 526f. 7 (hg: richtiger Epist. vulg. ev 8e zwi jisf-uzzoii zcov 'Ejii8. 8 Ag:
richtiger c5< Epist. vulg. 10 xal firj dxovwv, eööxee ' xai izsXsvzTjas verstellt?
das Ende könnte zu § 49 Ende passen, vgl. Epist. vulg. § 4 (S. 63, 2), dann
"Würde fii] dxovsiv [so] iSöxss das Hippokr. i'^co sysyszo (Parall. 8 Ende) para-
phrasiren 11 xvXvxi 13 (pgoviqoag {beachtet huhend?): wohl verderbt
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 69
a/xarim xal vÖQO(foßhrai, xijv rig avT(~n vöwg jigoadiputv, anöX-
h)Tai. öxojav de 6 eyy.e(paXog uTQ£iiu^7]i, xelvcoi JÖn xQovoii xul 55
jy yvcbjur] ^gejueV xrjv vöooQ ngood^i^iq, ovx äjioxxevelg. f-x^i 56
de xai rode ovrcog. r]v ßev xb Ö7]?j]T)'jqiov i^amvt]g dvudgdjU)]Tai
5 ig Tov eyxeq)aXov, cog eyoj ttqojeqov dieoijjuijrov, xat oivhrai
xovTOv xai, El XL eoxiv ixf.ialeov avxeov, tmvt/iexai xai avor xdgxa
noiEEt xai vyQaoirjv ovxexi jTQootexai " ov ydo e/ei, wp öxov
eX^eie xö vygöv. jisjiavxai ydg avxEov 6 i'/biEgog xai fzaviäi xai 57
egev&ei xai fj yvojjur] avxEOv dstgExat, xai djioXXvoi rbv äv&gw-
10 ^ov. rjv Öe jui] xovxo ovxo) yiyv7]xai, xai ngooiExai vno ovyye- 58
VEiy]g xai dnaXXdooExai grjidiwg T] ovx dnolXvxai. nagsipavcxai 59
öe juoc di]X(voai xöji ovvexöji, xai ev öxoirji ojgrji xai xdigrjL xai
riXixitii xai diaixi-ji xai öxwg EJiiörjjUEEi f) vovoog. dt]?MO(jo öe 60
TiEgl avxEOv xdXXiov voxegov.
15 vvv Öe EdiXco (pgdoai, öxojg r) vovoog xai öxoioioi o)]iuEioioi 61
ycyvMoxoixo. ^ij/lh dt], f]v fj qiwvy] xgofxeovoa doxErji xai ävi- 62
xjuog xai onaöoEiöqg i) ßgay/wöijg, xip' oi ö(p&aXjuol xoTXoi
ewoiv ü)g Egooxubvxoov, x})v rj yXcoooa ^rjgaivrjxai xai fuj xaXwg
diaoxgE(pr]rai, xr/v XEjudyja vnb xb öixxvcööeg q)aivovxai hnb x^Xrjg
20 xai al'juaxog (pXoyicbvxog, xfjv al vnb xi]v yXcoooav cpXsßEg öia-
XEivaivxai xai nayvvcovxai xai oxigöoivxai, dxdg xi]v t) yXdjooa
q)XvxxaivÖ7]xai, xrjv ol Xoßol xcov wxcov cboi xgy^yEEg, xrjV vjib xrjv
XEiga juvEg oxXrjgol Öoxecüoiv iovxEg, xr^v xb ngoowjiov neXibv rj
juoXißdcöÖEg, xrjV xb juexwjiov xagcpaXEov, xyv f] xEq^aXr] avy-
3 Vgl. § 47 und zu S. 67, 17 Ende 10 Vgl de morbo IV 34 Theorie
des ^vyyevEg (544, 24) oder der ^vyyive'a (546, 14) 11 Vgl. de morbo IV
38 (556, 12) naQEipavoiai öd fxoi dt]?.cboat tioi aweroji . . . brjXojoio 8e jieqI
avzov xälhoT' vozsqov
1 ngoompeiEv. Nach dem Vorgang des Verf. de morb. IV 43 (Vll
564, 20) }tr]v ajiojiaTit)aeis xai ovQiqaEiEv; 51 (5'^8, 23) xai enrjv , . . kdßrjzai
xai nXrjOEiE. Derselbe, de morb. niul. I 32 (VI 11 76, 21) xivövvevoei xai
i]v firj xig [so d] ev id^ei ETnxrjÖEioxEQOi? öiaiiMirj ' djioJiviyEirj yäg av ^ yvvrj
4 ävaSga/iiriTat (so acc.) 5 8i£oqfi7]vov wie de morb. IV 36 (552, 16)
ETieorjurjvov (nicht zu ändern in ijiEO>j[intvov) und 85 (550, 7) Eniorj^rjvoi
GivEExai. wie de morb. IV 36 (552, 13) oiveöfiEva; 52 (592, 10) aivso-
fiEvov 6 EJiivE/LiTjxai 7 noiEEi xai^ jxoieei 17 o:ia8oEiörjg] euiiuchenhaft
(= ojia8wvoEi8r]g durch Haplologie s. Brugmann-Thumb gr. Gr. S. 197, 1)
erklärt richtig Regenbogen 19 xef(/id/ia 8ixxv(ü8Eg (sc. nUyi-ia nach
Gal. III 696 ff.j] 8vxxi(Jö8Eg 21 oxiQscovxai 22 (pXvxxaivrjxai 28 8o-
HEOVOIV
70 H. DIELS
ficboa, yJ'jv 1] §ig o^eu] y.ai äoaoxog, yJ]v al roi/eg aTzojiijixoioiv,
yjjv ol Tioöeg oi'x äzQefuCovTEg eojoiv, yj]v vXay.röjoi, y.ijv dd-
f. 428^" 63 y-vcooi, yJ]v jiagacpQOVECooi yai ßoö)oi y.al oTTCovrat. ndvra ravia
(i4 o}]fi})'ia /.vooi]g vtcojixov i) iyyvg EOVo)]g yo)) voui^elv Tjv de
y.ai vdgoq oߣi]Tai, cpXavQov rö oi]juEiov y.ai davarwÖEg }dav' s
65. 66 äjOLQ yJ)v tov yega (poßErjzai, iv fjEQi i) vovoog. fjv je vnb
dijyjLiazog )jv xe vjio d}]iiootov xayh]g y.al öi' aviEov ig xbv iy-
y.EcpaXov xal xads Jido/ji oy.ola y.al jTqoo&ev EiQEaxö juoi, y.al öxoxav
67 xov fjEQa cpoßE^xai, xivÖvvevei avEXnioxov yiyvEodai. xal öxoxav
68 xö vöü)Q Tixofjxai, änöklvxai. T]v ök xal nvgorpoßhjxai T] xgrj- lo
69 jurog)oߣ)]xai, ygovb] f) vovoog' xi]v jui] -dEoanEvd^fji, xäÖE
Tidoyßi oxoTa xal ngoo&EV jxoi £l'gi]xai. ovxog ydg e EXEa, jiolXd-
70 xig de xal C, ovxa)g E'yei. xfjv juev juij juExgidorji T] jUExajiEorji,
äjioXlvxai' ov yäg olov xe eoxi negiyEVEodai. ip de i}Ega7iEv-
71 d}]i, ov juExajimxEi. xal xavxa juev ig xovxo juoi Eigrjxai. lä
72 dvaßi]oojuai ö' ai'^ig dniooi, öy.ojg i7i:iö)]jLi££i fj vovoog,
73 igicov. öxoxav /liev ovv TiagaxgajiEh] xd aij^iufia xov xaxä
Xöyov im xoig äoxgoig dvvovoi xe xal dvaxE/.X.ovot x6 xe juexojiü)-
gov dvixfiov Tzgo'u'ji xal xaujLiaxcbdEg, xal 6 yEifxojv öiajLiExgErji
xöjc xaxd Xoyov, e'v xe xöji ygi yiyvcovxai xav/xaxa i^anivaia xal 20
ixi] (hgaXa, xT]v vnb xvva jui] vdaxa yiyv)]xai /u}]d£ ol ixrjoioi
qjvocöoiv, ovy olov xe juij cpXvöäv x)]v odgxa xal xbv iyxecpaXov
vji£gavf]vat, (hg xdg Xa'ooag xal ^vjumjixEiv xoioi jueoij/iißgivoloi
74 jiiEgeoiv UTiaoi, judX.ioxa de im xoioiv eigrjjUEvoiot l^cbioioiv. ov
&avjua ök ix xcbv xoiovxwv x)]v Xvooav yiyveoß^ai, öxov ye (pal- 2*
rovxai xvvEg xal El'ÖEa ixigcov i^(oia)v -degeog xal vnb xvva Xvo-
75 OEOvxa, y(bg-i]i xal f]?uxh]i ^udXuoxa xfji ößOEidii. (xXXA xavxa juev
äXig Eigriiai.
76 xbv de Xvooeovxa ygrj '&EganevEiv wÖe ' öxoxav juev al'odrjxai
drgexeojg x)~jg vovoov xal uxixvg ö iyxEcpa/Mg f.u) doxEi]i, xaiEiv ^
13 Philum. de venenat. anim. 4, 6 (8, 5 Wellm.) iarooovai ds rtveg (isza
ijirasziav iviovg dlcövat. xon jiädei 15 Vgl. de morb. IV 88 (VII 556):
39(560). 40(5H2) 16 Vgl. ebda. IV 45 (VII 568) dvaßtjao/nai S' av§ig
o.-iiao) 80 Rufus ed. Daremb. S. 450 , 1 1 Tivkg 6k y.al yavztjoioig aiSrjQoTg
4 vnöjizo) 6 ■^eQt] 8 Eigsazo: vgl. zu S. 66, 5 17 :iagazga7isir] :
vgl. zu S. 69, 1 19 Siatiszohji zcöi (oppositns sit vgl. Manetho IV 74. 296).
dia/nszQit] z6 27 ri'/.iy.ia. Man erwartet &Qtji, vgl. § 59 ofioeiditj
30 äx^y.ig: vgl. de morb. IV 43 (VII 564, 24)
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 71
veoTQCOTov x6 öfjyjiia, eha otxv)]v txei ngooriÖEvai i] jiQOoxokläv,
et olov re eh]. xal yevnnytjv ninioxeiv yjd uoiojoXoyirjv xal 77
xav^agida, exeivag juev em "^juegag fi, ravx^p öe äjia^, oixva>vh]i
ze xal iXXeßuQcoi vjToxadagdip'ai, xal Tavra Txgoorpegeodai oxooa
5 xal OL juaivojuevoi. xal top eyxeqpaXov Jieigrjodai uygijvai xal 78
xaravxXeeiv rovg jTOÖag xal ßaXaveioig ;^^££ö*^ai, öxuoov av deoi.
xal Tcöi öid xagxivcov ofu'jyjuan novVvv ygeeadai ygövov. eyei 79. 80
^£ xal rode ovra>g ' xagxivojv Jioiajiuajv xe<pgag ev äfXTieAon
kevxfji xaevTCOv xorvlag dexa, yevjiavfig t6 JJjmov xovzoiv, xgoxov
10 ofxvgvYjg, nenegeog xov Xevxov, ägioxoXoyiiqg , älvooov, Ivxiov,
TXoXiov, oxogoöov, otXfpiov Öjiov ävä jiuäg ävaXaf.ißavexco oXvcoi
xexgi]juevcov xal icp' ex(lox7]g Jigooqsgeoßw, x6 xe xov öaxövxog
f/Tiag (boavxojg xal oivajziojuoTg ygijoxeov xal ögcona^i.
t6 ekxog xaiovoi; Galen, b. Oribas.V418, 1 xaieiv je y.avTrjqioig oidrjQoTg:
vgl. Gels. V 27, 2
1 Gels. V 27, 2 cuciirbitula xnriis eins [sc. cunis rahioni] extrahendam
est; Philum. 2, 7 (6, 19 Wellm.) jioXv ö' av ■>] oixva xokkrjdeToa [xeru jiof.Xfjg
qdoyog naQÜayoi oqjslog 2 Philum. 2, 2 (ö, 1 8) ofioicog 8e xal gi^ag yev-
riavfjg djioüeo&ai y.eKOfXfiEvag xai oeaija/nsvag ' öjiöiav 8e rtg drjydiji vjio ?.va-
ocövTog xvvög, Eig olvov axQäxov nvä&ovg rgscg y xEooaQag i/.iJidao£iv, 8vo ^isr
xoyXiÜQia xfjg tojv xaQxivcüv z£(pQag, sv ök xo^Xiägiov x-^g yEVxiavfjg . , jzisir
ujio xfjg jiQcoTtjg TjfisQag /.isyai xEaoaQaxovta rjf.iEQwv; Rufus ed. Darenib.
p. 450 3 Ruf. 451, G xadaigsiv öe öiä xfjg oixvcoviag; Galen b. Oribas. V
418,7 4 Philum. 2, 10 Jim'xcov 8e (h'voi/.icüxaxog ett' avicjv 6 EXXsßoQÖg /lot
Eyvcooßjj 7 Damocr. (^Galen. XIV 195; ed. Uussemaker v. 7"^; Philum.
2, 3 (5, 16) 8eT xoivvv xagxivovg jroxaftiovg etiI xXrjfiaxidog XEvxfjg dfijiEXov
xavaai xal xtjv xsq^Qav avxcöv X.sioxQiß/jaaviag e^eiv d.ioxEt/-i£vr]v. 6fioia>g 8y
XX?.. (s. zuZ. 2); Ruf. 450, 14 xaQxUoyv Jioxaj.il.cov ejiI xlrj[xaxi8(ov ksvxfjg dfjt-
tieXov xavßsvxcov ev xvjxqivwi dyysion. y yaXxwi xo/Judgia ß, ysvxiavfjg xfjg
^iCt]g Xslag xoyXidgtov a [XExa olvov dxgdrov jiaXaiov xoxvXöJv ß 9 Vgl. zu
Z 2. Damocrat. ed. Bussemaker v. 85. 170; Rufus S. 450; (Aet. XlIIl);
Gal. Oribas. V 41S, 6 10 Philum. 7, 13 oniov, of^ivQvrjg dvd oßoX.öv, jisjiEQEoyg
ögayi^yv a, dgiozoXoyiag dgay/iiäg ß dgioxoXoyJyg] Da.raocr. v. 128 dXvo-
öov] Gal. b. Orib. V418, 9 rj xfjg ai8t]gixi8og xyg 'HgaxX.Eiag, fjv xal äXvooov
ovo/LidCovoi Sid xö xal fiövyv avxyv (bqpsX.Eiv; vgl. Dioscor. III 91 Xvxiov]
vgl. Ruf. ed. Daremb. S. 450, 12; Gal. Oiib. V 418,3 11 jioXiov] Damocr.
V. 138; Ruf. S. 450, 13,- Gal. Oribas. 418, 5 oxogödov] Philum. 3, 3 (6, 32).
Vgl. Ruf. 450, 13; Gal. Orib. 4 IS, 5 aiX(p{ov 6.-iov] vgl Damocr. 173; Ruf.
450, 13; Philum. 3, 3 (7, 1); Gal. b. Orib. V 418, 4 12 Ruf. 451, 8 xivkg Öe
y.al xov ijiiaxog xov öaxövxog xvvög söooav (payETv; Gal. b. Oiib. 418, 12
oivajTio/ioTg xal ögwjia^i] Philum. 4, 9 (8, 19)
1 TigoxoXXäv 3 aixvcovio) 4 oxoadxig oder vorher xovxcov? 11 xo-
XeoV 12 X£Xg)jf.lEVO}
72 H. DIELS
Das Prooemium des neugefundenen Textes IIeqI juavü]g trifft
nicht ungeschickt den selbstbewußten polemischen Ton mancher
Hippokraliker, die so tun, als ob die Arzneiwissenschaft erst mit
ihnen auf die Welt gekommen sei. So wettert der Verfasser Tlegl
dQxnh]g irjrgixfjg gegen die modernen „Hypothesen", so kämpft
der Sophist IJegl Teyv7]g gegen die Angriffe auf die Medicin, so
höhnt der Autor IJeqI qn'oiog äv&gwjiov über die Philosophen,
von denen einer den andern in den Sand streckt, so setzt endlich
der Anfang der Bücher JJeqI diam]g das yvöjvai ÖQ'&cbg, das der
Verfasser sich selbst zuschreibt, der falschen Schriftstellerei seiner
Vorgänger entgegen. Und aus dieser Schrift hat nun auch unser
Briefsteller einige Phrasen z. T. wörtlich in sein Prooemium her-
übergesetzt. So ist denn überhaupt eine Auswahl hippokratischer
Schriften (de morbo sacro, Epidemien und besonders das vierte
Buch de morbis) der Brunnen, aus dem er seine Phraseologie ge-
schöpft hat. Die Übergangsformeln sind meist wörtlich nach-
geahmt. Ob und wieviel dem Verfasser sonst noch an alter ioni-
scher Literatur zu Gebote stand, ist schwer zu bestimmen. An
Demokrit, der doch zunächst gelegen hätte, erinnert hier nichts.
Und doch scheint sein Name für die ganze Behandlung dieses
Themas ÜeqI /uavitjg nicht ohne Einfluß gewesen zu sein, obgleich
ja der Witz des ganzen Buches, daß der wahnsinnige Philosoph
schließlich als der allein weise sich herausstellt, darauf führen
konnte. Aber es gab auch literarische Anknüpfungen. Freilich
von dem großen Werke des alten Philosophen ist, wie ich bereits
früher bemerkt und durch den neuen Fund bestätigt finde, so gut
wie nichts dem Spätling bekannt gewesen ^). Aber in hellenisti-
scher Zeit hatte der Mendesier Bolos eine große naturwissenschaft-
liche Encyklopädie unter Demokrits Namen in Kurs gesetzt, die von
nun an die alte und mittelalterliche Literatur auf diesem Gebiete
beherrscht^). Dieser trüben Quelle entnahm Soran in seinem Buche
über akute und chronische Erkrankungen (UeoI ö^ewv y.ai ygovicov
7ia§cöv) eine Reihe von Äußerungen über die Tollwut {Xvooa,
vÖQOcpoßia, rahics canina), die uns in der lateinischen Bearbeitung
1) Vorsokr. IP 136 Anin. Ähnlich schon Ermerins Hipp III, i.xxxi.
2) S.Vorsokr. IP 125ff.; doch wird die dort gegebene Übersicht
durch M. Wellmanns Forschungen über das Demokritbuch des Bolos
■wesentlich erweitert und berichtigt werden. Hoffentlich wird diese
wichtige Arbeit bald veröffentlicht werden.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 73
des Caelius Aurelianus vorliegen ^). Der gelelirte Methodiker hält
die Schwindelscluifl des Bolos für ein echtes Zeugnis des Ahderiten
und berichtet, da& dieser die Hydrophobie als eine Nervenkrankheit
auffaßte, was ja mit der modernen Wissenschaft übereinstimmt,
welche die Tollwut als eine durch die sog. Negri'schen Körperchen
(wahrscheinlich Protozoen) hervorgerufene Infektionskrankheit im
Centralnervensystem bestimmt hat. Da Soran entgegen der von
anderer Seite und 7,war mit Recht behaupteten Tatsache, dafs diese
Krankheit der klassischen Medicin unbekannt sei, ihre Kenntnis be-
reits dem Hippokrates vindiciren wollte'^), war ihm das Zeugnis
eines vermeintlichen Zeitgenossen des Hippokrates willkommen. In
Wirklichkeit haben erst Ärzte des letzten vorchristlichen Jahrhun-
derts, Artemidoros und Artorius, der Leibarzt des Augustus, die
Krankheit genauer beschrieben^). Auf ihre Schriften gehen ver-
mutlich die zahlreichen Erwähnungen der Späteren*) zurück. Der
Verfasser unserer Abhandlung glaubte daher etwas besonders Inter-
essantes zu liefern, wenn er diese moderne Krankheit als die her-
vorstechendste der Geisteskrankheiten (juavia) besonders ins Auge
faßt § 7 : xal jiqcöxov djio xfjg xoivoTäri]g äq^oj-iai jiiavirjg, i]v d))
1) acut. morb. III 14 quisnnm in hyrfrophöbicis locus corporis pntia-
tur. eqiürleni Democrifus, cum de einprosthotonicis diceret, nervös inqicit,
coniriens hoc ex corporis conductione [d. i. OTiao/nög] otque reretri tentigine
[ä. i. oazvQiaoig], Das. 1.^ etenim Democritus, qui Hippocrati conrixii, noii
soliim hmc memoruvit passionem, scd elium eius causam tradidit, cum de
opisthotonicis scriberet. 16 Democritus vero iubet orignni decoctionem dari
alque ipsnm poculnm quo bibunt in splmerae rotunditaiem formari.
2) Er hat dieser Frage das ganze Kap. III 15 utrum nova passio sit
hydrophobiii gewidmet.
3) Cael. Aurel. ac. morb. III 14. Die von Soran angezogene Stelle
Hippoer. Prorrh. I 16 (V 5U, 9 L.) über die ßga^vTiözai (vgl dazu Gal. in
s. Comm. Corp. m. V 9, 2 S. 'SS, 11) geht (auch abgesehen von der wahr-
scheinlich falschen Lesart) nicht auf die Hydrophobie. Polybos, Schwie-
gersohn des Hippokrates, kennt wohl das hervorstechendste Symptom
der Krankheit (er spricht von cpsvyvdooi) und ihren letalen Ausgang
(Cael. a. m. III 9. 14), wie ja einzelne Fälle auch damals vorgekommen
sein werden, aber eine eingehendere Beobachtung und Darstellung ist
der Krankheit in der klassischen Zeit nicht gewidmet worden. Sie ist
wohl erst in hellenistischer Zeit epidemisch in Kleinasien und Europa
aufgetreten. Der Pariser Doxograph der Medicin (Rh. Mus. LVIII 1U4)
sagt einfach und richtig: oi aoyaloi ovy. iurr'jo&tjoar rnvzov.
4) Das Wesentliche hat M. Wellmann in seinem Philumenus (Corp.
M. X 1, 1) zu S. 4, 5 zusammengestellt.
74 H. DIELS
XvGO))v xaXeofxev. Da die Hundswut, die man nach den Ausfüh-
rungen des Verfassers darunter speciell zu verstehen hat, keines-
wegs die allgemeinste Form der Manie heißen kann, so bezieht sich
diese Bezeichnung auf ihr weitverbreitetes Vorkommen im Tierreich,
wie er dies ja auch § 11 selbst erklärt. So zählt er § 22 Löwen,
Wölfe, Hunde, Hyänen, Ibisse und Basilisken als tollwutempfäng-
lich auf, die 'automatisch^ bei sich das Gift erzeugen. Von ihnen
geht es dann durch Infektion auf die andern Lebewesen über. Die
Ursache aber der Krankheit findet er ebenso wie der unten ange-
führte Anonymus (Herodot nach M. Wellmann) in der Trockenheit
des Pneumas (§ 20), die durch Galle und Blut auf das Hirn wirkt
(§ 39). Hier tritt der pneumatische Standpunkt des Verfassers her-
vor, der für die Auffassung seiner ganzen Abhandlung wohl zu
beachten ist. Diese stoisch orientirte Schule der Pneumatiker
nimmt ihren Ausgang von Athenaios aus Attalia, der am Anfange
des 1. Jahrhunderts n. Chr. gewirkt haben muß^). Es scheint also,
als ob der Verfasser, der, wie gesagt, in den ärztlichen Kreisen
gesucht werden muß, von dieser modern-eklektischen Pachtung er-
faßt worden ist, die sich mit dem Kultus der Hippokratesverehrung
wohl vereinigen ließ.
Diese Neigung zeigt sich nun auch in der eigentümlichen Um-
formung der benutzten Hippokratesstellen.
Er geht von den für den Verfasser von de morb. IV grund-
legenden vier Stoffen aij-ia, xolrj, cplh/}.ia, vÖQOoyj (d. i. vyQÖnjg)
aus, aber statt des Phlegmas fügt er hier sein Pneuma ein, das nach
pneumatischer Lehre besonders in den Arterien concentrirt ist ^) :
§ 29 >c7]v juev Iv vdowni ro örjyjua, vdga>y>, tjv ö' iv (pXeßicot,
aljua, i]v <5' ev äonjQhji TTvevjua zo juiavß^ev, y.al Tzrevjuan xal
aXfxari xal vöqojtii diadidcooiv.
Trotzdem aber betont der Verfasser der Demokritschen Ab-
handlung auf das schärfste den Primat des Gehirns, das den Hippo-
1) M. Wellmann, Die pneumatische Schule (Wilamowitz, Ph. Unter-
such. 14) S. 8 setzt ihn unter Claudius. Allein da der Pneumutiker Mag-
nus (s. Wellmann a. 0. S. 14) älter als Agathinos ist und dieser als
Freund des Cornutus wiederum älter als dessen Schüler Persius und
Lucan sein muß, kommen wir für Agathinus mindestens auf Claudius'
Zeit und werden guttun, Athenaios, den Stifter der pneumatischen Rich-
tung, an den Anfang des Jahrhunderts zu setzen.
2) Wellmann a. 0. S. 139,7. Vgl. [Gal.J def.74 (XIX 36ß) dgr^gia iari
Gwua y.oT'/.oi-, btyizon-ov, ix y.aodiag ooiiMiierov nvevuarog ^(oitxov xoQtjyöv.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 75
kratikern als Sitz der Seele gilt. Die echten Pneumatiker sehen
dagegen entsprechend der stoischen Lehre') das Herz als Centruni
der Intelligenz an"'^). Dies führt zu einer merkwürdigen Behandlung
einer Hippokratesstelle, welche die üherlieferle Fassung des Briefes
und die neue gegenüberzustellen gestattet. Der alte llippokratiker
de morbo sacro oder vielmehr sein Fortsetzer ^) zeigt c. 14, wie
alles Leid und alle Freude, aller Wahnsinn und alle Schreck-
gespenster vom Gehirn ausgehen, dessen unnormale Bescharfenheit
(zu grofäe Hitze, Kälte, Trockenheit, Feuchtigkeit) die krankhaften
Geisteszustände hervorruft. Dann fährt er fort (c. 14. VI 388, 6)
yMi juairojiiiiOa juev vjio vyQÖrrjxog' oxoxav yäg vyQoregog xfjg
cpvoiog fi)]i (näml. 6 eyxecpaXog), ävdyxr] xiveeoOai mX. Der Brief-
schreiber nimmt in der Yulgatfassung (Ep. 19 § 1) mit dem Gitat (hg
ECpi-jv ev Tcoi sregl legrjg vovoov ^) diese Stelle wörtlich herüber,
nur fügt er hinter vygoDjzog hinzu tov b/xECfdlov, ev cot iort
rd r)~]g yv/jjg egya. Die neue Fassung dagegen läßt diese Ver-
änderung durch die Feuchtigkeit hier § 39 beiseite. Sie greift viel-
mehr die Ausführung des Hippokratikers c. 15 (388, 18) auf, wo
dieser die Erhitzung des Gehirns durch die Galle behandelt: ijv öl-
deifiaxa xal cpoßoL nagioxojvxai, vjio fiExaoxdoiog xov eyxecpdXov
(näml. werden die Erscheinungen des Wahnsinns hervorgebracht] *
fiB'&ioxaxai de degijiaivofievog' &£gjuaivexai de vjxö xTjg yoXrjg,
öxöxav dgjiiijor]i im xov eyxecpaXov xaxd xäg q)Xeßag xdg alßa-
xixiöag ex xov ocojuaxog. Dies wendet der neue Brieftext so § 39:
e^a7xiv7]g 6 eyxecpaXog, ev cbi eoxi xd xfjg y'vyj]g egya, öia-
d'EQfiaivexai vnb yoX)]g xaxd xdg (pX^eßag avxeov xdg aljuaxi-
xidag xxX. Die beiden Fassungen haben also den hervorgehobenen
Zusatz, der das Gehirn als Centralorgan mit Nachdruck bezeichnet,
obgleich sie sonst verschiedene Wege gehen.
Und wiederum begegnen sich beide im folgenden trotz der ganz
verschiedenen Behandlung des Hippokratescitates in der Lesart Tzgtjx-
xai. Der Vulgattext jener Stelle de morbo sacro 15 (388, 13) lautet
Ol juev ydg vjio xov (pXJyjuaxog ßaivojuevoi fjov/^ot xe eloi xal ov
ßoöjoiv ovde §ogvßeovoiv, ol öe viiö xoXifjg xexgäxxai xal xaxovg-
1) Die wieder auf die sicilische Äi-zteschule zurückgeht. S. Well-
mann, Fragmente d. or. Arzte I 14. 103.
2) Wellmann, Pneum. Schule S. VM.
3j Regenbogen, Symb. Hippocr. (Berlin 1914) S. 31.
4) S. oben S. 61 (vgl. S. 59).
7ö H. DlKl.S
yoi xat ovx ihot'uaiot. Die Handsoliiitl j'> \ixü[ lor vor (fXtyua-
TOs viohtitr weg und stolll don un/\voitVlhat1 oohton Text im fol-
iroiulen mit xa« or ßotjjat ot'de {toQvßtoöee< tost. Uoido Fassungen
dos tJriotos stimmen hier Imlz aller Versehiodenlioit in der IVhaiid-
lung dos Cilates übereiii (^|; "2 Vulir. - jJ 45. 4G Urb /) und zeigen
schon hierduroh, dati ihr 're\t vor der byzantinischen Vulgala liegt.
Beide geben aber auch statt dos einstimmig im Hippokralostext
ttberlioterlen xexgäxTat xat xaxov(}yot die autTahendo Variante
ai)»}xT(i< xai xaxovgyot {^ '2 Vulg. = § 48 Urb.). Das nach ioni-
schem System gebildete :tj>»/xt*/s statt ji^ttjxrt'j^ {jtfMxxjtJQ), .todx-
T(OQ fehlt in den W ürl er bü ehern, es fohlt aucl\ in den umfassenden
und die hippokraliseho Lexis sonst sorgfiiltig borilcksiehtigenden
Sammlungen von Ernst FrJinkel ^), scheint aber vvolil das echte.
alte Wort zu sein, das in diesem Zusammonliange neben xaxovo-
yog in tndfani jxirtcnt verwendet wurde, iihnlich wie .7oa.ru' und
jXf}ivrTny bisweilen den Sinn von rtQa^txojxm' annehmen. Eis ist
begreillich, dafa man spüter diese Glosse nicht mehr verstand, wie
denn auch der junge, schmählich inlerpolirte Codex D i^Liitrt^s
Paris, gr. 2254) ztXrjxjat liest. Po Lesart xt'xt;iaxTin, die in lior
guten Hippokralesüberlieforung steht, ist wohl an die Stelle des
nicht mehr vorstandeneu rji^ijXTai getivten mit Berücksichtigung
des folgenden t^x vvxjmv öe ßoät xiu xhigayev (SS8, 24)^).
Diese Spuren alter, jenseits unseitr Hippokratosüberlioforuug
liegender Texlformen zeigen sich nun aucJi in dem folgenden Ab-
scimitt, wo die Epidemien ausgeschrieben werden. Die in de«
beiden Fassungen dos Briefes benutzten Stellen sind in unseren
HandschriAen des Hippokratos zweimal erhalten, im 5. und im
l"! Gesch. d. gr. Nomina agentis avif r#/i». twq, rif? , '2 Bde. vStniß-
burg 1010. I91-); er hat die Form il^- als specifisch ionisch erwiesen.
2) 0. Regenbogen hat iu dem se neneit der Faknität eingereichte«
abreiten Teile seiner Disi^ertation, der bisher nicht hat verOftentlicht
wenien können, die ansprechende Vermutung geiluläert, auch .lof'jxjai sei
eine Kutjjtellung der «rsprüngliehen Olos^e /<i>#;Arroi = xfxo<iAfFoi. Er ver-
weist auf die vom nichtreduplicirtcn Stamme gebildeten Formen xMixiota
i^bei Hesych als Erkhirung von ioxfjjrC«) «ud X2nxjixöi Lnc, Conviv. 12.
Sohol. Arist. Yesp. lU. Über xoti^o> vgl. Herod. .t. /«»•. If^. c. 28. Aber
auflaUeud ist, daß das Ionische und speciell die Hippokratesüberliefe-
rxing nur xhegaya i^x^xtMxn}^), nicht x^xQt;ya kennt: de morbo sacro 15
(,VI i5{SS): de morb mul. 1 1^5 (YllI ISO): leidem. YIl 25 ;V A>6;. Ist ilies
Koine-Ümformung ?
HIPPOKR ATISCHE FORSCHUNGEN V 77
7. Buch. Der Text des Briefschreibers aber zeigt beiderseits, wie
meine Anmerkungen angeben, einen bald der einen, bald der
andern Recension angehörigen Wortlaut. Auffallend ist auch das
gemeinschaftliche Mißverständnis einer Stelle, die in dem benutzten
Hippokratescodex verkürzt gewesen zu sein scheint. Der Urtext
lautet Epid. V 80 = VII 85 'AvÖgo^ahi äcpoivii^, uyvoia, nagalrfor}-
oig' XvdevTOiv de jovxoiv Tieoirjv an ov/vd, y.al vTiooTOorpal iyi-
vovro, d. h. den Androthales befiel Sprachlosigkeit, Bewußtlosigkeit,
Irreden. Doch als diese Erscheinungen verschwanden, blieb er noch
geraume Zeit am Leben und es traten Recidive ein. Der Brief da-
gegen gibt in der kurzen Fassung § 4 7zaoa/.i]oy]oig, ov/val y.al
imooTQoqpai, was bU in naoaXrjorjoeig ovyyai verschönert haben,
dagegen ist in der neuen Recension umgestellt § 49 7iaoa/.7]gj]oig,
v7ioo70oq:ai ov/val. Also war wohl in diesem Hippokratescodex der
Satz XvßevTov — hi ausgefallen und so der Sinn verdunkelt. Die
Kurzform ist also offenbar älter, da sie dem vorauszusetzenden ver-
stümmelten Originale am nächsten bleibt.
Wie ist nun aber gegenüber diesen nicht eben zahlreichen,
aber deutlichen Spuren gemeinsamen Ursprungs die auffallende Ver-
schiedenheit des sonstigen Textes zu erklären, die zwischen der
alten und der neuen Fassung besteht? Soll man annehmen, was
zunächst liegt, daf?. die kürzere Recension ein .Auszug aus dem voll-
ständigeren urbinatischen Texte sei? Für diese Annahme lassen sich
die Verkürzungen in den ersten Briefen als Analogie geltend
machen. Ep. 8 ist in Pap. Ox. 1184 verkürzt gegenüber unserer
handschriftlichen Fassung und der am Rande des Pap}TUs stehen-
den. Umgekehrt ist Ep. 6 in unsern Handschriften gegenüber der
Papyrusüberlieferung verkürzt. Auch der verbindende Text zwischen
Ep. 4 und 5, den Pap. 1184 einschiebt: o de yewalog xi-jorjoag ro
Trjg TE-/V7]g a^ioy/ua y.al xb Jigog xovg "E/Jajvag rpi/.ooxooyov
ävTEffcorrjoev yodyjog xov xqotiov xovxov, ist in der Vulgata weg-
gefallen ^).
l"i Regenbogen, der auch für die urbinatische Fassung von Ep. 19
die Priorität annehmen möchte und die Vulgata auf solche Excerption
zurückführt, verweist für den Wegfall der erzählenden Verbindungs-
stüclie in unserer handschriftlichen Tradition auf die Analogie des Brief-
wechsels des Apollonios von Tyana. Dort findet sich im Cod. Mazari-
naeus 87 ein Zwischentext zwischen Brief 62 und 63, der in der sonst'gen
Überlieferung fehlt: ravra avayvov; 6 'Jrro/./.ojvio; ovy. iyavvojßi] zatg ziuaTg
78 H. DIELS
Aber abgesehen von der Verstümmelung der Vulgatüberliefe-
rung am Anfang, die nicht von der Excerption herrühren kann,
gibt der alte Text eine an die citirten Hippokratesstellen sich eng
anschliefsende Kasuistik, während der neue an den betreffenden
Stellen im Wortlaut wie im Inhalt viel freier gestaltet und mit Be-
nutzung anderer Hippokratesschriften stilistisch erweitert ist. Be-
merkenswert ist ferner, daß die Abhandlung IIeoI e?LkeßoQiojuov
(Ep. 21), die Hippokrates artig Demokrit als Gegendedikation über-
reicht, in unserer Überlieferung genau denselben ängstlichen An-
schluß an Hippokrates (Aphorismen und de morb. acut, victu) zeigt
wie der Brief 19 in der alten Fassung.
Nimmt man an, daß die kürzere Vulgatfassung einem Excerptor
verdankt wird, so gerät man in die Schwierigkeit, sich einen zu-
gleich pedantischen und flüchtigen Schreiber vorzustellen, der einer-
seits nur einen kleinen Teil des Materials auswählte, andererseits
aber sich nun die Mühe nahm, nicht die vorliegende Fassung ein-
fach herüberzunehmen oder zu verkürzen, sondern die freie Wieder-
gabe seiner Vorlage nach dem Texte des Hippokrates abzucorri-
giren. Warum soll er ferner den Hauptinhalt der neuen Abhand-
lung, die Ävooa, geflissentlich ignorirt haben? Fürchtete er etwa,
durch die Erwähnung der modernen Krankheit die Echtheit des
Briefwechsels zu gefährden?
Hätte andererseits ein späterer Bearbeiter, etwa auf Grund der
in der alten Originalfassung gegebenen AnhaUspunkte mit Benutzung
derselben Hippokratesschriften (de morbo sacro und Epidem. V), die
neue inhaltlich so veränderte Form geschaffen, wie kommt es, daß
er dieselbe Hippokratesausgabe benutzt hat wie das Original, mit
dem er in guten (Tigiiy.rai) und schlechten (ov/j'al vTiooTQOcpai)
Lesarten, in Auslassungen [IvBlvrcov dk xovtcov TiEoiriv en ovyvä)
wie in dem Zusatz zu e.}'y.e(pdkov: er coi eon ra Tj)g y)vyj]g über-
einstimmt ? \^'ie kommt es, daß sie beide den aus der Überlieferung
von Buch V und VII der Epidemien contaminirten Text aufweisen?
Ich sehe nur eine Möglichkeit, die Doppelform dieses Briefes
y.al roTg ijiaivoig, cSore äjioxQivsoüai ta ysyaoia/tisva xal firj rä dhjdr) • iScor
de rovg jigsoßeig ov navv Äaxoivixovg, ov% t'jo&Eig avroTg dvzs7TiTi&7]ai T>;v5f
T?jv i.-norohp' (d. i. Ep. 63 1. S. Kaysers Quartausg. Zürich 1844 S. 54. Ich
notire diese Analogie, weil sie die Auffassung E. Meyers (d. Z. LH 1917
S. 412) zu stützen scheint, daß die Apolloniosbriefe aus einer vollständi-
gen Biographie herausgenommen seien.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 7<)
zu erklären. Man muß annehmen, der neue Text stelle eine von
demselben Verfasser angenommene Erweiterung und Umarbeitung
des (ursprünglich am Anfang natürlich vollständigeren) Vulgattextes
dar. Ich sehe also in unserer urbinatisclien Recension eine ver-
besserte und vermehrte Auflage desselben Verfassers.
So erklärt sich die Identität des Hippokratescodex und des
unhippokratischen Zusatzes h wi eoti rd xrjg ipvxrjg. Und zwar
gab zu den Änderungen den Anstoß, wie ich vermute, die Be-
nutzung des vierten Buches de morhis, von dem in der alten Fas-
sung keine Spuren zu finden sind (denn hier handelt es sich wie
in der Vorlage ch; morho sacro nur um (plkyiia und loXy], die auf
das Hirn wirken), während der neue Text die vierfache Wurzel der
Theorie de morhis einarbeitet, die außer dem q)AEy[ia und der
Xoh) auch noch den vögcoip (dies dem Verfasser von de. morhis
eigene Wort entspricht der vyQorrjg des Verfassers von dn niorho
sacro 388, 6) und das aljaa heranzieht.
Die Differenz zwischen der kürzeren und der längeren Fassung
der Demokritschen Abhandlung zieht nun aber weitere Gonsequenzen.
Wenn die neue Auflage genau die Ankündigung erfüllt, welche der
17. Brief (§ 20f. ; S. 15, 8 Patzger) von der Schrift Ilegl /navh^g gibt
(s. oben S. 60), während der alte Text weder den ersten Teil // rig
xe Etrj noch den letzten jiva rgojiov ajiolwcpeoixo behandelt und
wohl auch im vollständigeren Zustand nicht behandelt zu haben
scheint, so ergibt sich daraus, daß in unseren Handschriften der
17. Brief in der zweiten Bearbeitung vorliegt^). Nun sehe man sich
das Größenverhältnis der Briefe an. Die übrigen 22 unserer Samm-
lung sind auffallend kurz, und ihr Umfang geht auch bei den um-
fangreichsten nicht über ein Dutzend Paragraphen hinaus. Allein
der 17. Brief mit seinen 58 Paragraphen gibt das Gegenstück zu
der urbinatischen Fassung des 19. mit 80 Paragraphen. Beide ge-
gehören also zur zweiten sehr erweiterten Auflage und sind auf-
einander berechnet.
Zu bedenken ist ferner, daß der alte Text dem Titel üegl juavir]g
entsprechend nur das Wort jLiaireodm enthält (§ 1, oben S. 61.),
während der neue beständig von Xvooa, Ivüoäv und den Symptomen
der Hundswut spricht. So komme ich zu der Vermutung, daß der
1) Auch die Sektion der Tiere ep. 17 § 21, um die Beschaffenheit
der Galle festzustellen, entspricht der späteren Bearbeitung, welche das
Vorkommen der Ivooa bei gewissen Tieren hervorhebt. 19 § '22 Urb.
80 H. DIELS
Verfasser selbst, angeregt durch eins der damals gerade erschiene-
nen oder ihm bekannt gewordenen Bücher über die Hundswut
(s. oben S. 73) und durch die darin mitgeteilte Ansicht des 'De-
mokrit' über die Lyssa, dem Roman eine pikante Neuigkeit einver-
leiben wollte, die gestattete, den Altmeister Demokrit mit den Er-
rungenschaften der modernen Medicin auszustatten und zugleich
auch die wieder in Aufnahme gekommene Pneumalehre anzu-
bringen.
Nun erklären sich auch die Zusätze hinter den Epidemien-
citaten § 51. 52, welche in dem alten Texte fehlen. Der erste dieser
beiden Fälle, wo der Kranke beim Anblick von Flüssigkeit die
Vision eines Hundes hat, ist ebenso wie der zweite, wo der Kranke
durch ein Bad, das er, wie es scheint, mit einem von ihm nicht be-
merkten Hunde teilte, geheilt wird, der späteren Literatur über Hydro-
phobie entnommen, da die alte Medicin, wie gesagt, diese Krank-
heit nicht berücksichtigt. Daß diese von dem Verfasser zur zweiten
Auflage benutzte Schrift IIfoI Ivoorjg ebensowenig ein Echo in der
späteren ärztlichen Literatur gefunden hat, welche hauptsächlich
den Philumenos und Markellos') von Side ausschreibt, wie die
Gestalt seines Hippokratescodex einen Vertreter in unserer byzanti-
nischen Überlieferung aufzuweisen hat, beweist meines Erachtens,
daß die Abfassung auch der neuen Fassung des Briefes soweit wie
möglich zurückverlegt werden muß. Verbindet man dies Ergebnis
mit dem Resultat der Recensio, das Pohlenz ermittelt hat, so
leuchtet ein, daß seine beiden Recensionen A und G der Briefe 4. 5,
die nur wenige Jahre nach der Abfassung des Briefromans ent-
standen und bereits im Oxyrhynchospapyrus verbunden worden sind,
identisch sein müssen mit den beiden Auflagen, die wir jetzt im
Br. 19 unterscheiden, und ebenso mit den beiden Formen, die
Br. 6 zeigt:
Codd. Pap. Oxyrh. 1184 Z. 28 (IX 197)
'iTiTioxQdrfjg At]^ui]TQicoi y^aiQeiv. 'IjiJioxodT7]g rogyia xöi (ptX-
jäxo) nleiara xaioiv xai vyi-
alvLV.
BaoiXevg TTegGecov fjjLieag BaoiXevg 6 Uegoecov juera-
jueTajxejUJierai ovx eldcog, özi Jiejuxpao&ai f]/ueag eßovXtj&r}
1) S. Röscher, Das von der Kynanthropie handelnde Fragment des
Marcellus v. Side, Abb. d. Sachs. Ges. d. W. XVII phil. bist. III (1896).
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 81
Xoyog Ejuol ooqoirjg xQ^^^v tiXeov enl xQ^^^f- ^^ ^^i^ clqyvqüji
övvaxai. TzavjiXrjßet äyvocov, ort Xoyog
6 ifiög ooq)ir] HsxQrjjuevog XQ^~
oov jue^ova övvajuiv exsi'
Nähmen wir an, ein Abschreiber habe das Bedürfnis nach Va-
riation des Stils empfunden, wie das so oft den Anlaß zu Umfor-
mungen gegeben hat (z. B. Brief des Aristeas bei Joseph. Anl.
XII 7 ff.), so verstünde man nicht den Wechsel des Adressaten.
Liegt aber der von dem Verfasser in mehreren seiner Briefe an-
gebrachte Scherz zugrunde, seine eigenen Gönner und Freunde als
Adressaten des klassischen Briefwechsels einzuführen und so ver-
steckte Widmungen anzubringen, so läßt sich leicht denken, daß
der Verfasser Anlaß hatte, bei einer zweiten Auflage mit einem
Namen zu wechseln, wie es Cicero in den beiden Auflagen seiner
Academica tat. Es ist wohl vergeblich, diese Freunde Demetrios
= Gorgias (Br. 6; vgl. 24), Amelesagores (Br. 11), Philopoimen
(Br. 12), Dionysios v. Halikarnaß (Br. 13) mit historischen Persön-
lichkeiten identificiren zu wollen. Nur drei Namen geben über Zeit
und Ort der Abfassung einen gewissen Anhalt. Der erste ist Da-
magetos aus Rhodos, der das Schiff "AXiog ^) dem Hippokrates aus-
rüstet. Dieser Name ist in Rhodos, wie die Steine lehren, seit
dem ersten vorchristlichen Jahrhundert weitverbreitet, und es ver-
steht sich von selbst, daß der Verfasser, der mit den Örtlichkeiten,
den Sitten und der Geschichte von Kos und der kölschen Askle-
piadenschule gut Bescheid weiß''^), zu Rhodos, dem geistigen und
merkantilen Centrum der Gegend, engere Beziehungen gehabt hat.
Für die Zeit der Abfassung hat Marcks ^) mit Recht an das
Compliment angeknüpft, mit dem der Br. 16 beginnt: 'InnoxQa.xt'jg
Kgarevai xaiQ^iv- 'Emarajuai oe Qi^OTOfiov ägiorov, c5 haTge, xal
1) Dem ejiiar}fiov"Ahog (d. h. der Wimpel mit der Aufschrift "JAto?),
das bei einem rliodischen Schiffe keines Commentars bedarf, soll nach
Br. 17 (13, 3) auch noch das sjiioTjfiov 'Yyieia zugesellt werden, nachdem
sich Demokrit als gesund herausgestellt hat und dadurch die Heiilmis-
sion des Hippokrates glänzend erfüllt ist. Die Worte zrjv "Aoxlrjniäöa
vrja, rji [R: ^v cett.] Jigör ''«■c [R: jiQÖ&sg h: utgöo^s M; Tigöodev ürb. 68]
HETOL Tov'AUov EJiiorjfj.ov xal j; . '^bR: vyifj MÜV Urb.] hat der neueste
Herausgeber wie manches andere nicu. rstanden. Das Urteil, das Wila-
I ■) : über diese Recensio fällte, ist leider richtig.
2) Herzog, Kölsche Forsch, u. Funde 217 u. ö.; Wilamowitz a. 0.
3) Symb. ad epistologr. gr. S. 43.
Hermes LUX. 6
82 H. DIELS
öid rer]v äox)]oiv y.ai dia TXQoyovoiv xkeog, (bg [xrjdev änodeXv os
xov TigoTTOLTogog Kgazeva ' vvv ovv, el xai noze aXlors ßoravo-
löytioov xtX. Der Verfasser nennt also seinen Freund einen Nach-
kommen des unter Milliradates Eupator tätigen, für das ganze Alter-
tum maßgebenden Rliizotoraen Krateuas. Wenn also Marcks und
neuerdings Pohlenz an einen gleichnamigen Enkel des berühmten
Krateuas denken, kämen wir mit der Abfassung des Briefromans
auf die Zeit des Augustus ^).
Aber der Ausdruck jigoTidrogog kann ja auch den Urgroß-
vater, überhaupt den Stammvater des Geschlechtes bedeuten. Und
i ch glaube in der Tat, daß wir noch um eine Generation herab-
gehen müssen^). Im ersten Briefe wendet sich Artaxerxes an einen
nicht näher charakterisirten Paitos und bittet ihn wegen der verderb-
lichen Pest, die sein Heer ergriffen habe, um Hilfe. Im zweiten emp-
fiehlt ihm Paitos den Hippokrates, indem er ausführlich seinen Stamm-
baum von Asklepios ab mitteilt und seine Kunst anpreist. Man muß
demnach annehmen, daß dieser Paitos, unter dem wir uns einen
Satrapen Kleinasiens denken sollen, diese Vermittlung zwischen Kos
und dem Perserkönig angebahnt habe. Warum später der Groß-
könig mit Hystanes, dem vjiag)(og "ElXrjOTiovTOv , in dieser An-
gelegenheit weiter verhandelt, wird nicht klar. Vermutlich soll der
1) Wäre die Annahme von Wilaniowitz, Ilias a. 0. richtig, daß
vielmehr an die Zeit und die Sphäre des Poseidonios zu denken wäre,
so müßte der Verf. den berühmten Rhizotomen Krateuas selbst meinen.
Aber daß ein gleichnamiger Vorfahre des Krateuas gelebt, der Ruhm
als Rhizotom erworben habe, ist weder bekannt noch wahrscheinlich.
Der Beiname QiCoiöfiog haftet Krateuas beinahe so fest an, wie cpvatxög
dem Straton. Die berühmte Wiener Dioskurideshs. s. V, die auf Phar-
makopötn des 3. oder 4. Jahih. zurückgeht, nennt ihn fast regelmäßig
Kgaievag giCoTo/my.ög. S. M. Wellmann, Krateuas, Abh. d Gott. Ges. phil.
hist. N. F. 11 1 (Berlin 1877) S. 11 ff.
2) Wir dürfen andererseits nicht über die Mitte des 1. Jahrh.
n. Chr. hinuntergehen, da der Pap. 1184 mit Dokumenten der J. "24 — 25
zusammen g(-funden wurde und die Schrift nicht wohl später als in die
Mitte des 1. Jahrh. gesetzt werden kann (HuntO. P. IX 195). Das Zeug-
nis des Erotian, der als ernter die Hippokratesbriefe citirt haben soll,
ist sehr zweifelhaft, da er ah^irpäQf.iaHa wahrscheinlich rieht aus den
Briefen, sondern aus einer verlorenen Schrift des Hippokrates entnommen
hat (^vgl. Nachmanson, Erotianstudien 3l5, 1). AVie sollte man damals
auch diesen Roman in Grammatikerkreisen als echt haben behandeln
können! Auch würde der Glossograph z. B, aus ep. 23 mehr gegeben
haben.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 83
Beamte, der von Hippokrales die stolze Absage erhält, nicht bloß-
gestellt werden. Denn es ist ja längst vermutet worden, daß sich
hinter diesem Paitos ein römischer Großer namens Paetus verbirgt,
dem der Verfasser der Hippokratesbriefe durch die Nennung im
ersten Briefe sein Werk gleichsam widmet. Es war nun wohl eine
unrichtige Vermutung von mir, unter den wenigen Paeti, die nach
ihrer Stellung in jener Zeit in Betracht kommen konnten, den
P. Clodius Thrasea Paetus zu verstehen. Aber wohl kommt sein
Schwiegervater Caecina Paetus in Betracht, der im J. 42 unter
Claudius Selbstmord beging, nachdem ihm seine Gattin heroisch
im Tode vorangeixangen war. Plinius ^) nennt ihn einen vir consu-
lans. Da wir nun durch die milesische Inschrift über die Kabiren 2)
erfahren, daß ein Caecina Paetus als Proconsul in Kleinasien tätig
war, so läßt sich doch kaum der Annahme ausweichen, daß der
koisfhe Arzt und Schriftsteller seine Schrift unter die Auspicien des
dort maßgebenden höchsten Beamten hat stellen wollen, indem er
die geschmacklose Namensvermummung in den beiden ersten Briefen
vornahm. Ich nehme also an, daß die Entstehung der Briefe unter
Tiberius oder Caligula fällt, obgleich sich das Gonsulat (consul suf-
fectus) und Proconsulat dieses Caecina Paetus nicht genauer feststellen
läßt. Freilich gibt es im 1. Jahrh. noch einen zweiten Paetus, der
für die milesische Inschrift in Betracht kommen könnte: C. Caecina
Paetus, der Consul suffectus Ende des J. 70, der entsprechend der
damals üblichen Frist zwischen Gonsulat und Proconsulat dann
80—82 n. Chr. Proconsul in Asien gewesen sein müßte ^). Welche
Gründe Wiegand veranlaßt haben, nur den älteren Caecina Paetus
mit der milesischen Inschrift in Verbindung zu bringen (etwa Aus-
sehen der Schrift?) vermag ich zur Zeit nicht festzustellen. Sicher
ist, daß, wer die Beziehung zu den Hippokratischen Briefen ein-
leuchtend findet, nur an den älteren denken kann. Unter den köl-
schen Asklepiaden, die als Verfasser der Hippokratesbriefe zunächst
in Betracht kommen könnten, dürfte man also an einen der beiden
Brüder, entweder Sterlinius Corn(elia tribu) Xenophon oder dessen
älteren Bruder Q. Stertinius denken, welche Herzog *) vermutungs-
1) ep. III 16, 8.
2) Wiegand, 6. Bericht über Milet, Ahh. d. Berl. Akad. 1908 S. 2G.
3) So Dessau (brieflich), der die betrelFenden Inschriften unter
N. 6049 und 5929 a-b in seinen Inscr. 1. selectae II 1, 459. 483 gibt.
4) Koische Forsch. 'J18. S. Stammbaum S. 191,
6*
84 H. DIELS
weise mit der Abfassung der Briefe in Verbindung gesetzt hat.
Wäre etwa der berühmtere Xenophon, der Leibarzt des Claudius,
der Verfasser, so würde die Abfassung noch in seine Jugend fallen
und in seinen Aufenthalt in der Heimat.
Natürlich sind von dem Roman die älteren, wertvollen Bestand-
teile des Anhangs 25. Aoyjua'A^rjvaicov, 26. 'Emßcojuiog, 27. ügea-
ßevrixog QeooaXov 'InTcoxQdjovg vlov fernzuhalten , obgleich sie
als Keimzellen des Briefromans anzuerkennen sind ^). Die Briefe da-
gegen selbst 1 — 24 halte ich für die einheitliche Arbeit eines Ver-
fassers, da die gegenseitigen Beziehungen klar sind und die aller-
dings vorhandene Stilverschiedenheit sich teils aus den Absichten
der Charakteristik, teils aus den Stilvorlagen des Verfassers erklärt.
Die inhaltlichen Diskrepanzen, die sich in Kleinigkeiten finden 2),
dürfen dagegen nicht in Betracht kommen, zumal wir ja die beiden
Fassungen nur an wenigen Stellen gegeneinander halten können.
Jedenfalls geht es nicht an, die Lücke, welche ein Ast der Hand-
schriftenüberlieferung gemeinsam mit den beiden Berliner Papyri zeigt
(Briefe 6 — 10 fehlen), zur Scheidung einer älteren und einer jün-
geren Schrift zu benutzen^). Denn die Ablehnung des Hippokrates,
zum Grofäkönig zu gehen, und die stolze Antwort der Koer auf
dessen Ultimatum sind der notwendige Auftakt zu der Einladung
der Abderiten (Br. 10), die der Br. 11 des Hippokrates notwendig
voraussetzt. Der Kernpunkt des ganzen Briefromans ist der 17.,
der allein ein Drittel des Ganzen ausmacht und das unauslösch-
liche Lachen des Demokrit über der Welt Torheit mit mehr Be-
hagen als Witz darstellt*). Es würde mir leid tun, wenn Horaz
den 'lachenden' Demokrit (ep. II 1, 194) diesem liederlichen Mach-
1) Herzog a. 0. 20L 215 f.
2) Ermerins, Hippocr. III Prol. S. LXXXIfi. S. Marcks a. 0. S. 31.
3) So Herzog a. 0. 217. Dagegen Pohlenz a. 0.
4) Die Bewunderung, die Herzog a. 0. 218 dem Stil des Verf. zollt,
kann ich nicht teilen. So interessant für den Forscher diese Imitation
der alten las und ihre buntscheckige Mischung mit modemer Koine
und rhetorischem Flitter sein mag, geschmackvoll wird man diese Epi-
stolographie sowenig finden dürfen wie die übrige damals blühende
Fabrikation von Pseudobriefen , welche unser Briefcorpus füllen. Ich
stimme mit Ermerins a. 0. S. LXXXIII überein, der die Widersprüche
dieses mediocris scriptor hervorhebt und zugesteht, daß ^)/i<rt»ja leguntur
quae perabsurda sunt, trotzdem aber die Einheit des Verfassers fest-
hält, qui quali ingenio fuerit, inde sitnul apparet.
1
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 85
werk zu verdanken hätte, wie man wohl vermutet hat^). Denn
bereits Cicero (De orat. II 58, 235) scheint das Demokritische Lachen
zu kennen, und dies Lachen war im Zeitalter der kynischen Diatribe
(in diesem Ton ist auch der 17. Brief abgefaßt) fast der einzige
Überrest der Demokritischen Weisheit. Sein Buch über die Heiter-
keit {Tleol £vßv/nh]g) wird wohl neben den Bücherkatalogen (Thra-
syllos) und Sentenzensammlungen das einzige gewesen sein, das zu
Beginn der Kaiserzeit von ihm noch gelesen wurde und unserem
Verfasser zugänglich war.
Der neue Text lehrt daher nichts für Demokrit. Denn der
verzweifelt dumme Mißgriff, den Hippokrates durch seine eignen
Gitate belehren zu wollen, erklärt sich ebenso durch diesen Mangel
au Quellenmaterial, wie der weitere Mißgriff, die Manie auf die Spe-
cialbehandlung der Lyssa hinauszuspielen, durch die ihm nachträg-
lich in die Hände gefallene Notiz aus Demokrit -Bolos bedingt ist.
Trotzdem ist der neue Fund wenigstens für die spätere Medicin-
geschichte von einigem Wert. Denn er gibt aus der modernen
Specialliteratur eine Reihe von wertvollen Angaben, welche die
zeitgenössischen und späteren Ärzte von Celsus an nicht bringen.
Wichtig ist ferner der neue Text auch für die Geschichte des
Hippokratestextes, wie ich an einigen Proben gezeigt habe. Daß
die damals vorhandenen Handschriften des Gorpus von zahlreichen
und zum Teil unglaublichen Fehlern entstellt waren, wissen wir
aus Galens Gommentaren. Auch die Herausgeber und Lexicogra-
phen edirten und commentirten Monstra, die der modernen Wissen-
schaft abenteuerlich vorkommen müssen 2). So ist es schließlich
auch zu begreifen, daß der Verfasser der Abhandlung, der sich als
stilistischen Leitfaden hauptsächlich das vierte Buch de morbis mit
seinem von der übrigen las des Gorpus abweichenden Stile aus-
gewählt hat, auch die im damaligen Texte bereits vorhandenen
Solöcismen als besonders hervorstechende Archaismen in seiner Ab-
handlung nachgeahmt hat. Der alte Arzt schreibt c. 43 (VII 564.
19) y.al e^otjCe öid Jiavrdg tov yoovov 6 uv§ooiJiog, £7ii]v äno-
Tiarrjoeie Koi ovq}']oeiev, avzixa Tzooiog koI ßgcooiog und so öfter ^).
Da man im Homer (z. B. ß 105) und Herodot (1, 196) Ähnliches
1) Vgl. Mareks S. 42.
2) Vgl. Klein zum Erotian S. LIX A. 59. Nachmanson, Erotian-
stud. (Upsal. 1917) 505.
3) S. oben zu § 54 TiQoaatpeiev.
86 H. DIELS
las, was in unsern Texten in der Regel emendirt wird, so mag
dergleichen für das archaisirende Lesepublikum der Kaiserzeit einen
besondern Reiz gebildet haben ^). So ahmt er den mehrmals dort
gebrauchten Aorist eo}'jjui]vov'^) nach und scheint die mehrfach auf-
tretende Form eodoeiev^) von eoatooeiv abzuleiten statt von ioateiv,
da er nicht wie die Vulgata soaoeie rb ocöjua, sondern (ähnlich wie
cod. H) iodooEie dv ig t6 ocojLia gelesen zu haben scheint. Es
versteht sich von selbst, daß er die Unform oivoiaio = oivoixo
seinem Original treulich abgeguckt hat, so daß § 32 das erstaun-
liche Griechisch zu lesen ist: 6 eyyJq)a?.og . . . 8m]7> Mßoi, oi-
voiaro uv. Freilich haben aus dem ähnlichen Motive der Glossen-
jägerei heraus bereits Kallimachos und Nachahmer solche Ungeheuer
in ihren Poesien angebracht*). Bemerkensu^ert ist, daß der Ver-
fasser nur solange er im Bannkreis seiner ionischen Quelle ist,
solche Formen verwendet. Ja er fällt sogar da, wo er offenbar
einer Koinequelle folgt § 36, in die übhche Form egiov statt eXqiov
zurück, ähnlich wie Erotian.
1) Berechtigt ist die Nebenform Atj/noxQizEco, die der Verf. der
Briefe öfter neben Arjfioxgizov verwendet. Denn wie attisch vsavtas nach
Analogie der zweiten Ueklination vsaviov bildet, so sagte man umge-
kehrt ionisch statt Kqoioov, Baxzov auch Kqoioeco, Bärrsco usw., wie im
Herodot häufig zu lesen ist.
2) S. oben zu § 56 öiso^/urjvov.
3) S. oben zu § 83.
4) S. 0. Schneider zu Kalüm. fr. 521. Ursache des Mißgriffs war
auch hier die blmde Nachahmung verderbter Stellen der epischen
Poesie. Ein scherzhaftes Beispiel, wie der Verf. die Corruptelen seiner
Eippokrates -Vulgata gedankenlos herübernimmt, ist der 21. Brief {jtsqI
i?J.sßoQio/^iov), wo es heißt, man dürfe die Helleboruskur nicht anwenden
(S. 24, 27) /J,i] (paQixay.eveiv zovg aygöovg, zovg ßgay^codFug, zovg ojih]vcüdeag,
rovg d(pai/iiovg. Littre übersetzt das letzte Wort anemiques:, aber ä(pai[j,og
ist kein Griechisch. Hesych kennt freilich atpaifxoi, aber in der Bedeu-
tung auoyovoi, evysvsTg. 'Anämisch' heißt griechisch ?u<paif.iog. Schlägt
man nun die von dem Briefschreiber unter dem Titel IJegl jiztodv}]g
citirte Stelle des Hij^pokrates auf. die in unsern Ausgaben als Anhang
zu UsqI diaizr)g o^scov erscheint, 2'i (Kühlewein 1 173, 19), so steht hier
richtig zovg ?uq)at/.iovg in der unrichtigen, aber von Kühlewein gedul-
deten itaciitischen Orthographie der führenden Hs. A Xeicpaifiovg. Die
alte, richtige Orthographie hat in leichter Verderbnis der andere, durch
M vertretene Ast der Hippokiatesüberlieferung: ai(pai'f.iovg. Diese Hs. hat
dann i(fai/.iovg gebessert und so liest auch der Vatic.276(V). Wie alt
diese Vulgata ist, sieht man nun aus dem Citat des Briefschreibers.
HIPPOKRATISCHE FORSCHUNGEN V 87
In merkwürdigem Conlrasle zu den Fossilien, die der Verfasser
ausgegraben hat, stehen die zahlreichen Neologismen, die er sich hat
entschlüpfen lassen. Es finden sich späte Wörter wie § 1 nagaoi-
yäv (Strabo), § 40 dsiyjiiaTtCeiv (N. Test.), § 51 gaviiCetv (N. Test.),
§ 56 örjlYjxriQiov (Joseph. B. lud. I 272), § 62 igarnäv (Ach. Tat.
6, 20, 1) und späte Formen im § 56 jigood^i^tg (Batrachom. 115.
119) ') und ebenda ävadQdjirjxai (Philipp. Anlhol. IX 575, 4). Diese
Übersicht mag hinreichen, um auch von dieser Seite her die Ent-
stehungszeit des Stückes zu sichern. Nichts rät dazu, sie früher oder
später als an den Anfang des 1. nachchr. Jahrh. zu setzen. Schließlich
heimst das griechische Lexicon noch eine Reihe von neuen Wörtern ein :
§ 15 diaiTrjjuaTcbdrjg (f) vovoog), d. h. abhängig von der Lebens-
weise, ferner § 54 qjaojLiariäv (Gespenstersehen), endlich § 68 jivQO-
(poßeXodat und y.Q}]^vo(poßElo&ai als Symptome der Wasserscheu.
Das bereits aus der allen Fassung bekannte 7iQi]HTt]g, das aber in
den Wörterbüchern nicht gebucht war, ist bereits oben behandelt.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß der Verfasser diese neuen Wörter
alle selbst gebildet hat. Vielmehr wird er auch hier dasselbe Ver-
hältnis zu seinen medicinischen Quellen innegehalten und deren mo-
dernere Ausdrücke unbefangen herübergenommen haben. Indem er
so seinen Zeitgenossen unter dem durchsichtigen Mantel antiker
Medicin moderne Wissenschaft vorsetzte, glaubte er gewiß seinem
albernen Roman in der neuen , vermehrten Auflage eine bessere
Gestalt gegeben zu haben. Wenn ernste Leute wie Plutarch und
Soran sich um diesen Pseudobriefwechsel gekümmert, wenn in
Ägypten sich bereits drei Exemplare, die aus den ersten Jahr-
hunderten der Kaiserzeit stammen, vorgefunden haben, so hat der
Verfasser seine Zeit wohl richtig eingeschätzt. Der Democr'itns
ridcns dieses Romans hat in der Tat die wirkliche Gestalt des
Abderiten auf mehr als anderthalb Jahrtausende verdunkelt.
1) Zu den Stellen der Batrachomachie finden sich alte und neue
Anderungsvorschläge. Über die späte Entstehung des Machwerks vgl.
Wackernagel, Sprachl. Unters, z. Homer S. 198, der mit dem Ansatz bis
zu Augustus herabzugelien Lust hat. Der Aorist ä^ai ist auch in die
Vulgata des Hipp. d. morb. III .S (126,23) eingedrungen: 6'ts av x'^^V^'
cL^rji, wo ^ das richtige o xo^^jv ä^ei gibt.
Berlin. H. DIELS.
GEMMEM MIT DER INSCHRIFT MNII^^OIL
Eine Anzahl von geschnittenen Steinen, die alle der Kaiserzeit
angehören, zeigt die nicht ohne weiteres verständliche Inschrift
MNHZQH. Mir sind folgende bekannt:
1. Karneol in Ravenna: Hirschkuh mit Umschrift MNHZQH.
Le Blant, une collection de pierres gravees ä Ravenne in Rev.
arch. 1883 I 302 n. 11. Ficoroni, gemmae antiquae litteratae V 5
beschreibt offenbar denselben Stein, gibt aber als Inschrift MNHZON
an, darnach auch GIG 7355. Le Blant aber, der den Stein ge-
sehen hat, erklärt, es stehe MNHZ&H da. Wir werden ihm
daher glauben müssen, obwohl er, ohne ein Wort zu sagen, also
irrtümlich, in seiner Abhandlung: 750 inscriptions de pierres gra'
vees in den Memoires de 1' Academie des inscriplions et belles-
lettres 36 I (1898; im folgenden mit Le Blant citirt) p. 44 zu
n. 113 als Inschrift MNHZON angibt. Derselbe Irrtum ist ihm
auch beim folgenden Stein passirt.
2. Karneol in Ravenna; Inschrift nach Le Blant, Rev. arch.
1883 I 302 n. 8: MNHZSH BAIIAEA EIAAPOY. Bei Fico-
roni VI 14, GIG 7352 und Le Blant zu n. 113 wird wieder MNHZON
angegeben; vgl. die Bemerkung zu 1. Noch einmal finden wir diese
Inschrift bei Ficoroni VI 1 und darnach auch GIG 7351: 6 dovg
rgrjyöiQiog) juvi]OOv. Nach dem Gesagten liegt die Vermutung
nahe, daß auch hier MNHSGH steht, zumal da nach Ficoronis
Abbildung der letzte Buchslabe nicht lesbar ist. Der einzige Unter-
schied, der in Whklichkeit aber keiner ist, bleibt dann der Punkt
im O. Doch lassen wir diesen Stein beiseite, weil die Lesung
nicht sicher ist. Ficoronis Irrtum bei den beiden genannten In-
schriften ist leicht erklärlich, wenn wir bedenken, daß H und N
einander sehr ähnlich sind; wurde doch ^ oft durch //geschrieben,
so auf der nachher anzuführenden Berliner Gemme n. 6763. Manch-
mal hat es sogar einen schrägen Querstrich und gleicht dem N
fast völlig; s. Larfeld, Griech. Epigr. ^ 271.
GEMMEN MIT DER INSCHRIFT MNHZOH 89
3. Karneol mit bärtigem Kopf in Florenz. MNH2QH
OAYMniAS. Gori, mus. Flor. II 12, 3 = S. Reinach, pierres
gravees pl. 50. GIG 7353. Le Blant zu n. 119.
4. Amethyst in Paris. MNHZSH EYSENIA. Le Blant
n. 118.
5. Karneol, Sammlung Le Blanl n. 119. MNHZeii KA-
TAIAAA.
6. Jaspis im römischen Kunsthandel ; Bestrafung des Eros.
MNHZ0H NEIKH. Le Blant n. 168.
7. Karneol mit Opferscene. MNHZSH AKYAA. Tassie-
Raspe, Catalogue raisonne d'une collection de pierres gravees I 982.
8. Jaspis in Berlin : Eine Maus nagt an einem Brote (?).
MNHZQH OEOrENEIS. GIG 7354. Furtwängler, Beschrei-
bung der geschn. Steine im Antiquar, in Berlin n. 8576.
9. Jaspis im Herzoglichen Museum in Gotha. MNHZQH
EYHSHZ. Der Stein stammt aus dem griechischen Osten, wie
mir Herr Geheimrat Purgold in Gotha freundlichst mitteilte.
Hierzu kommt noch: 10. Goldring aus Syrien. MNHZQH
EAAENOZ. Le Blant n. 117.
11. Eine am jrroßen Tempel in Baalbek flüchtig eingemeißelte
Inschrift: MNHZSH MAFNOYZ. Jahrb. d. arch. Inst. XVI
(1901) S. 154.
Was bedeutet das merkwürdige 3INHZSH? Gori und die
Herausgeber des CIG zu n. 7552 sehen es als Imperativ an,
= juvijoß^t]Ti', es ist zuzugeben, daß diese Erklärung dem Sinne
nach zutrifft. Dafür sprechen auch die vielen Steine mit der ähn-
lichen Inschrift jurrjjuoveife. Diese Mahnung wird oft symbolisch
dargestellt durch eine Hand, die an einem Ohre zupft; so z. B.
auf den Berliner Karneolen 3391-93. 8087—89. Manchmal tritt
fxov hinzu, seilen ein Eigenname; denn diese Steine wurden fabrik-
mäßig angefertigt, und der einfache Mann konnte sie beim Händler
für billiges Geld erstehen. Gelegentlich ist ein Kosewort beigefügt,
wie: f] xaki] yvyjj, oder der Geschenkgeber erinnert den Geliebten
oder die Geliebte an das Kosewort, mit dem er selbst gern be-
zeichnet worden ist : juvrj/uoveve juov jfjg xaXrjg xpvxrJQ- Le Blant
90 — 113. 159; Smith and Hution, Catalogue of the anliquities in
the collection of the late Wyndham Francis Cook n. 360. Nicht
häufig ist die lateinische Form, memento; z. B. Berliner Sammlung
11. 3394. 6711. Le Blant 114.
90 KARL SCHERLING
Trotzdem muß Goris Erklärung aufgegeben werden, weil es
unmöglich ist, in juv)']o&)] eine verkürzte Form statt /uv^o&rjii zu
sehen. Die Herausgeber des CIG zu 7353 und 7354 denken
außerdem an den Conjunctiv juvt]o&f] = meminerit. Dies ist an
und für sich zulässig; denn der Conjimcliv wurde in späterer Zeit
als Aufforderupg gebraucht; s. Kühner- Gerth 111,220 Anm. 2.
Brugmann-Thumb, Griech. Gramm.* 574. Slolty, Der Gebrauch d.
Conj. u. Opt. in den griech. Dial. (= Kretschmer-Kroll, Forschungen
z. griech. u. lat. Gramm. Heft 3) S. 24 ff. Zu den Beispielen ist
hinziizufü-^en; E. Kalinka, Antike Denkmäler in Bulgarien Sp. 38,
Col. IV 88 f. öiaXvoüioi = pcrsolvnnt. Indessen ist die Anwendung
der drillen Person, d. h. das Vermeiden einer direkten Anrede, bei
einem Geschenk für einen dem Geber nahestehenden Menschen sehr
befremdlich und widerspricht ganz und gar der griechischen Ge-
wohnheit, wie schon die obenerwähnten vielen Steine mit der In-
schrift juvijjuöveve zeigen. Etwas ganz anderes ist es, wenn
in der von Le Blant zu n. 117 citirten Felseninschrift CIG 4 668
die dritte Person gebraucht wird; dort steht in a /.ivr]o&fi AvXog
"'Eqoov AiiJus Erst mennnerH-, in e ebenso der Plural /liv7]o&ojoiv.
Ganz unmögh'ch ist jedoch die dritte Person in der unter 11 an-
geführten Baalbeker Inschrift; denn: „er soll sich an den Magnes^)
erinnern" ist unverständlich. Es kann der griechische Arbeiter nur
geschrieben haben: erinnere dich an Magnes! Dasselbe gilt von
Nr. 1, wo das alleinstehende MNHZGH als dritte Person keinen
Sinn gibt, und auch von Nr. 10, wo die Auffassung: „er gedenke
des Hellen" nicht richtig sein kann. Entschieden wird diese Frage
durch die Gemme 8. Hier wollten die Herausgeber des CIG den
Namen ©eoyeveig als den Genetiv ansehen, also mit Schreibfehler
statt Qeoyevovg. Es geht aber nicht an, einen derartigen Irrtum an-
zunehmen, nur um eine Erklärung zu fmden ; wir müssen uns viel-
mehr an die deutlich überlieferten Buchstaben halten. Da ist meines
Erachtens die einzige Möglichkeit, die Form als anomalen Vokativ
zu ©eoyevTjg aufzufassen. Wie die Namen auf -y.li]? gelegentlich
den Vokativ nicht nur nach der 1. Deklination, sondern auch nach
1) Mäyvovg ist Genetiv zu Mäyvrj? nach Analogie von Aioyivrjg
Aioyivov?; möglich wäre es auch, Mayvovs zu les-^n; dies würde eine
Nebenform zu Muyvrjxog wie Qa).ovg zu QäXrjiog sein; vgl. Crönert, Metn.
Graec. Hercul p. 163, 4; zu solchen Doppelbildungen vgl. auch Hatzi-
dakis, Einl. in die neugr. Gramm. S. 79.
GEMMEN MIT DER INSCHRIFT MNIISOH 91
Analogie der anderen Sigmastäninie bilden (z. B. "HgaxXeg; s. Lobeck,
Phryn. 640; G, Meyer, Gr. Gramm. ^ 436), so ist hier umgekehrt
der Vokativ eines dieser Sigmastämme nach Analogie der Wörter
auf -xXrjg gebildet. Neben einem Vokativ aber ist die dritte Person
ausgeschlossen.
Damit ist auch inhaltlich die Erklärung erledigt, die Stephani
in Koehlers Ges. Schriften III 248 gab. Er wollte {E)fivrjodr] lesen
und die Inschrift als Zuruf an die beschenkte Person oder als Ant-
wort auf ein juvrjjuoveve auffassen. Dies ist schon der Form nach
unmöglich. Denn ein solcher Wegfall des Augments im Simplex
des Verbums ist nicht zu belegen. In den von ihm angezogenen
Steininschriften, wie GIG 4668 , bedeutet MNHZOH eben nicht
ejiiv7]o&}] , sondern juvrjodfj , wie oben erwähnt. Die Erklärung,
die Panofka, Gemmen mit Inschriften {— Abh. Akad. Berl. 1851)
S. 473 n. 108 für die Berliner Gemme gab {Mv^]0'dfi Oeoyevetg =
Theogeneis an Mneste (sie)) bedarf keiner Widerlegung.
Nach meiner Meinung ist juvrjoßf] die 2. pers. sing, des medial
flektirten, wenngleich passivisch gebildeten Aoristconjunctivs. Diese
hybride Bildung ist seilen, aber sie ist bezeugt durch die Form
dvajuvrjoßü)ju{ai) bei Grenfell, An Alexandrian erotic fragment
col. I 22. Ein zweites Beispiel dafür bietet derselbe Papyrus col.
II 11 in der Form önvaoß^cojuei^a; s. Mayser, Gramm, d. griech.
Pap. aus der Plolemäerzeit S. 883. Daß der Gonjuncliv als Auf-
forderung in späterer Zeit gebraucht wird, ist oben erwähnt. Am
häufigsten ist freilich die 3. Person; aber für die 2. Person ist das
Beispiel aus Soph. Phil. 300 cpsge /J.ddijg nicht aus der Welt zu
schaffen ; für die xoivrj vgl. das von Brugmann-Thumb cilirte evQfjxe
dvdjiavoiv aus LXX Buth 1, 9. Ferner macht Slotty a. a. 0. S. 27 ff.
wahrscheinlich, daß wir in der auf Vasen sich oft findenden Auf-
forderung jiiei einen alten volkstümlichen Gebrauch des volunta-
tiven Conjunctivs vor uns haben; niei ist also = jiir], 2. pers. sing,
vom Conjunctiv des medialen Aorists. Eine weitere Stütze meiner
Erklärung bietet die Berliner Gemme n. 6763. Sie enthält in der
Inschrift MNHZeOIONHSIIMOZ die dem [xv^io&f^ entspre-
chende 2. pers. des Optativs mit medialer Endung ^).
1) Ein anderes meines Wissens noch nicht belegtes Medium weist
ein Goldring im British Museum auf, Marshall, Catalogue of Finger
Rings in the Brit. Mus. n. 632. Dort steht: EvrvxoTo'Aacvösv; vgl. Hatzi-
dakis a. a. 0. 195 f.
92 KARL SCHERLING
Ich füge einiges über die noch nicht besprochenen Namen
hinzu. Die eben angeführte Inschrift ist zu lesen: Mvrjo^oio
'Ovi]ot}/uog, mit Itacismus in der vorletzten Silbe; vgl. Magfjvog =
Magivog in der Sammlung Cook n. 152. Auch der Name auf
dem Stein n. 108 bei Cook, AQYTIIOZ hat sicher die Endung
-TLog. Am frühesten beginnt der Itacismus im Osten, wo über-
haupt die e- und i-Laute oft vertauscht werden; s. Brugmann-Thumb
S. 35 f. Wir werden also den Ursprung dieses Steines dort suchen
dürfen, und damit auch den der hybriden Verbalform. Dazu paßt,
daß drei der anfangs genannten Inschriften (9, 10, 11) tatsächlich
aus dem Osten stammen. Dorthin weist auch der Stein mit dem
Namen MaQfjvog ; denn er zeigt eine von zwei anderen Figuren
umgebene Darstellung der Tyche von Antiocheia. Die Haplo-
graphie des mittelsten o kann wohl beabsichtigt sein, um Raum
zu gewinnen. Beispiele für diese Vereinfachung bei zwei Wörtern
bringt Larfeld, Handbuch d. griech. Epigr. I 269 f. II =^ H ist am
häufigsten im 2. Jahrhundert nach Christus, wie aus den bei Lar-
feld, Gr. Epigr, ^ 271 angeführten Beispielen hervorgeht. 'Ovijoi-
/Liog ist der durch den Nominativ ersetzte Vokativ. Dieser Gebrauch
findet sich bekanntlich schon bei Homer; z. B. Od. XVII 415 dog,
(piXog; vgl. Brugmann-Thumb S. 431f. , wo noch andere Beispiele
angeführt sind. Aus dem 2. vorcliristl. Jahrhundert stammt der
Vokativ Ilrokejuaiog bei Mayser S. 256. In späte Zeit gehört die
Inschrift Le Blant 183: Gelasius, Zosinie (= Zosimae) vivas. Sehr
häufig findet sich der Ersatz des Vokativs durch den Nominativ auf
Grabschriften ; z. B. aus Boiotien IG VII 2353 Evdajuog xaTgs neben
'Ofiolo'ny^e, Kußeigr/a, '/aigeze; 2398 IIaQa.juovog xaige, dagegen
2400 Ilagdjuove yalgs. Ferner IG IX 1, 584 (Leukas) Zdöraxog
XaiQS] 529 (Akarnanien) 'HQdxleiiog x^^^Q^'i ^^^ (Amphilochia)
"AvÖQovixog x^^Q^' Beispiele aus Altika bieten IG III 2, 3310 Nov-
jLiijviog x^^Q^i 3355 2!xeq)avog XQV^'"-^^ X^^Q^ ^- ^ ^^' Interessant
ist die Verbindung von Nominativ und Vokativ in der aus Kertsch
stammenden Inschrift römischer Zeit, die Compte rendu 1882—88
Suppl. p. 15 n. 6 mitgeteilt wird: MrjiQocpdog vle Oecoreijuov
XOiTQ£' BaoiMa in n. 2 ist weiblicher Eigenname = Baoileia.
Man denkt sogleich an die aristophanische Jungfrau av. 1536 ff.
Der Übergang von ei zu e vor a ist sowohl aus dem Altischen
wie aus der Koine bekannt; s. Meisterhans ' 40f. Mayser 67 f.
In n. 3 ist wohl 'OXvjujiidg zu lesen, nicht 'OXvfimag , weil der
GEMMEN MIT DER INSCHRIFT MNHSeH 93
Name 'Okvjujiidg sehr häufig ist. Ev-&evia in n. 4 = Evdip'la;
ebenso in n. 10 "EXXevog ="EXh]vog. Vom 3. vorchrisll. Jahr-
hundert an werden e und r] immer mehr miteinander verwechselt;
s. Mayser 66. Brugmann-Thumb 36. Ev§7]via ist auch als Göttin
bekannt; s. RE VI 1498. Solche abstrakte Begriffe werden be-
sonders in späterer Zeit gern als Frauennamen benutzt; z, B. auf
Gemmen Le Blant 634 EvxXsia, 639 Evvoia, 643 EvzvjiEia, das
aucli als Schiffsname vorkommt, u. a.
5, KdxaiXXa = Catclla, ein Schmeichelwort; s. hierzu Le
Blant. Die Wiedergabe des offenen e durch ai ist charakteristisch
für die Kaiserzeit; Meisterhans ^ 34 f. Brugmann-Thumb 57 mit
weiterer Literatur. Von Gemmen führt Le Blant p, 9, 11 zwei
Beispiele an: x^Tgai = xaiQe und /^at = ^e.
7. "AxvXa = Aquila; s. K. Dieterich, Untersuchungen z. Gesch.
d. Gr. Sprache (Byz. Arch. I) S. 83. Ebenso steht bei Le Blant 585
"AxvXeivai = Aquilinae.
9. Evrj'&r]q ist Nominativ statt des Vokativs wie 'Ovrjoifiog.
Daß gerade von den Adjektiven auf iqg der Nominativ so gebraucht
wurde, zeigt der Vokativ äöaiqg Soph. Phil. 827 ; außerdem führt
Choiroboskos aus Menander c5 dvorv^rig an ; s. G. Meyer a. a. 0. 436.
Leipzig. KARL SCHERLING.
2:kytaji:imo:z.
Der Hauptbericht über diese merkwürdige Episode aus der
Geschichte von Argos, die einzige zusammenhängende geschichtliche
Erzählung derselben, steht bei Diodor (Ephoros) XV 57, 3. 58. Zum
leichteren Verständnis dessen, um was es sich handelt, wird es gut
sein, den ganzen Wortlaut wiederzugeben. (G. 57, 3) "Ajua dk
zovToig jioazTopevoig ev ifj nöXei rcov 'Agyeiojv eyevero OTaoig
xal cpovog Tooovzog, öoog Jiag' iregoig rcTjv 'EXXrjvcov ovöenoxe
ysyovevai jjivrjjxovevEiai. eyJj]di] de 6 vecoTeoiojuog ovrog Tzagd
rolg "EVl7]oi oxvra?uojuög, öiä rbv tqojtov rov daväxov rnvrrjg
Tvxcov xfjg jiQOO}]yoQiag. (G. 58, 1) -fj yovv ordoig iyevexo diä
xoiavxag aixiag. xfjg jioÄeojg xcov 'Agyeicov drjjuoxQaxovjuevrjg xal
xivcov d}]juaya>yä)v jiüqo^vvovxcov x6 n/.rjßog xaid xwv xdig
E^ovo'iaig xal öö^aig vjxeosyövxcov, oi diaßa?d6juevoi ovoxdvxeg
eyvcooav xaxaXvoai xöv dfjfiov. (2) ßaoavio'&E.vTOiv de xivatv ex
xöjv ovvegyeTv öoxovvxon', oi juev älXoi (poß7]i9evx€g X7]v ex xcöv
ßaodvoiv xificDQiav eavxovg ex xov C'fjv jU€xeoxi]oav, evog ö' ev
xaig ßaodvoig öfxoXoyrjoavxog xal Tiioxiv Xaßovxog, 6 juev jurjvv-
xrjg xQidxovxa xcöv e7iiq)aveoxdxo)v xaxY]y6oi]oev, 6 de örjinog ovx
iXeyiag äxgißcög änavxag xovg öiaßX.rjdevxag ajiexxeive xal xdg
ovoiag avxwv id/jjuevoev. (3) noXXöjv de xal dXX.oiv ev vnoxpiaig
övxojv, xal röw drjjxayoiywv ipevöeoi diaßoXalg ovvrjyoQOVvxoov ,
ein xoaovxov eirjygico&r] x6 nXrj&og, Mgxe ndvxoiv xcöv xaxi]yo-
Qovjuevojv övxcov juh' noXXöiv xal j.iEyaXo7iXovxoiv, xaxayvGivai
ßdvaxov. avaige&evxcov de xcbv dvvaxcTw dvdocov nXeiovcov y
yiXicov xal diaxooiüiv, xal xfbv d}]iuaya>ya)v avxöiv 6 drjjuog ovx
ecpeiaaxo. (4) did ydo x6 jueye&og xfjg ovfiq)ooäg oi jiiev drjjua-
yoyol (poßrj'&evxeg fiij xi jzagdXoyov avxoig dnavxrjorj, xfjg xaxr]-
yoQiag uTieox^ioav , oi d' öyXoi do^avxeg vti' avxcbv eyy.axaXeXeTqy&ai,
xal did rovxo Jiago^w&evxeg, änavxag xovg dijjuayojyovg dnexxei-
vav. ovxoi fiev ovv, (bguegei xivog vejutjoavxog daijuoviov, xfjg
aQjuoCovorjg xijuaygiag exvy^ov, 6 de dfj/uog Jiavodjuevog xfjg Xvxxrjg
1
i:kytaai2:mo2 95
eig Trjv JTQOVXcdQ](^ovoav eüvoiav äjioy.axEOzi]. Diodor bringt die
Sache unter dem Arclion Dyskinelos (Ol. 102, 3. 370/69); richtiger
wird man sagen, dafs sie im allgemeinen, im Zusammenhang mit
den von ihm XV 40 fälschlich auf das J. 375/4 fixirlen i) ähnlichen
Vorgängen in anderen peloponnesischen Staaten, in die Zeit nach
der Schlacht von Leuktra anzusetzen ist, also schon vor Juli 370
stattgefunden haben kann ^).
Was die anderen Autoren zur Ergänzung Diodors bieten, ist
nicht' viel. Bei Isokrates V (Philippos, 346) §52 findet sich nur
die allgemeine Anspielung, daß die Argiver in den Pausen, welche
ihnen die Kriege gegen ihre Nachbarn ließen, die Evöo^oraroi xal
TtXovoidixaxoL ihrer Bürger vernichteten; und ebenso knapp ist die
Bemerkung bei Dionys. Hai. Ant. Fiom. VII 06, 5, dafs die Römer in
ihren inneren Kämpfen sich keine so heillosen Dinge zuschulden
I kommen ließen wie die Korkyraeer, Argiver, Milesier und Sikelio-
Men. Eine wirkliche, wenn auch nicht bedeutende Erweiterung
V unserer Kenntnis kann man in der Mitteilung Plutarchs sehen
(Praec. gerend. r. p. 17, p. 814 B), daß damals 1500 Bürger zu-
grunde gegangen seien und die Athener auf die Nachricht von den
Ereignissen in Argos ein Sühnopfer beschlossen; beide Einzelheiten
kehren bei Helladios (Photios cod. 279, S. 534 Bkk.) wieder, die
erste in der Fassung oxvrahojiiöv e.xa.Xeoav, dioxi naiovxeg äXh)-
Xovg avEiXov yiXiovg Hat nevxaxoolovg. Anders steht es mit der
Meldung des Ael. Aristeides (Panalh. I 273, llff. 311,4/5 üdf.),
daß Athen die Parteispaltung in Argos beigelegt habe^). Endlich
1) Dazu Grote, History of Greece (Newyorker Ausgabe ISöG) X
jl99. 1 und besonders Busolt, Jahrb. f kl. Philol Suppl. VII 77-2fF. und
Irnst V. Stern, Gesch. der sparbmischen und thebanischen Hegemonie
^om Königsfrieden bis zur Schlacht bei Mantinea (Dorpater Diss. 1884)
)4ff. 99. 155,2; Ed. Meyer, Gesch. d. Altert. V ^98. 420. Den Versuch
)tto Grillnbergers, Griech. Studien 143ff. , Diodors Bericht über den
'rieden von 374 zu retten — was zur Folge hätte, daß auih seine Zeit-
lestimmung der oben erwähnten Ereignisse aufrechterhalten werden
lüßte — , halte ich für mißlungen; vgl. zu diesjer im Buchhandel nicht
irschienenen Arbeit Berl. philol. Wochenschr. 1908, 782 ff.
ni 2) Bereits bemerkt von K. H. Lachmann, Gesch. Griechenlands von
Hfcem Ende de.s peloponnesischen Krieges bis zu dem Regierungsantritte
JAlexand.Ts d. Gr. (Leipzig 1854) I ;W7, 2 und Grote a. a. 0. X 199, der
feie in die zweite Hälfte von 371 v. Chr. verlegt.
3) Zur Beurteilung derselben Eugen Beecke, Die historischen An-
96 HEINRICH SWOBODA
dürfte die Stiftung eines Standbildes des Zeus Meilichios durch die
Argiver, das der jüngere Polyklet anfertigte^), auf dieselbe Gelegen-
heit zurückgehen^).
Diodors Bericht ist sicherlich nicht in jeder Beziehung befrie-
digend, speciell was den geschichtlichen Zusammenhang dieser Er-
eignisse und die Veranlassung anlangt, welche zu ihnen führte^);
im großen und ganzen läßt sich aber aus ihm eine Vorstellung
über den Gang der Dinge gewinnen, und in dieser Beziehung ist,
wie ich glaube, der größte Teil der neueren Gelehrten zu einer
Auffassung gekommen, die mit Diodors Worten nicht zu verein-
baren ist. Ich sehe dabei ab von denjenigen, die wie E. v. Stern
(a. a. 0. 155), Holm*) und Fr. Gauer (a. a. 0.) die Sache nur strei-
fen; aber auch Otfried Müller (Dorier 11^ 139 ff.) und Sievers ^)
geben kaum mehr als eine Paraphrase von Diodors Erzählung, ohne
darauf einzugehen, wie die Bezeichnung ^Hvraho/Liog für diese Epi-
sode zu erklären sei^). Im Gegensatz dazu hat sich die herrschende
Auffassung — im Altertum durch Helladios (vgl. oben) vertreten
— gerade an diesen Terminus angelehnt. Zuerst findet sie sich,
soviel ich sehe, bei Westermann (Paulys Real-Enc.^ VI 897) und
Jakob Burckhardt (Griech. Kulturgesch. I 268), dann ausführlicher
entwickelt bei Ernst Curtius (Griech. Gesch. III ^ 305 ff. 764), Gustav
gaben in Aelius Aristides Panathenaikos auf ihre Quellen untersucht
(Straßburg 1908) 76 ff.
1) Pausan. II 20, 1. 2, vgl. W. Klein, Gesch. der griech. Kunst II
335. So schon Otfr. Müller, Dorier II* 140; anders Beloch, Griechische
Gesch. II 1 S. 260, 1.
2) Die von Aeneas Poliorket. c. 11, 7 — 9 berichteten Tatsachen hier-
herzustellen, wie Fr. Cauer (Pauly-Wissowas Real-Enc. II 739) -will, geht
schwerlich an; sie gehören wohl in frühere Zeit, vgl. Otfr. Müller a. a. 0.
II 2 138 ff,
3) Hervorgehoben von K. F. Lachmann I 338 und Grote a. a. 0. X
199 ff. ; darüber unten.
4) Griech. Gesch. III 118 (daß zuerst eine Menge von reichen Leuten,
dann auch Volksführer umgebracht wurden). Auch Lachmann a. a. 0.
spricht im allgemeinen von einem 'Gemetzel* und 'Blutbad', das die
Menge zuerst unter den Reichen, dann unter den Demagogen anrichtete.
5) Gesch. Griechenlands vom Ende des peloponnesischen Krieges
bis zur Schlacht bei Mantinea 261 ff.
6) Otfr. Müller sagt nur (S. 140): ,Der Aufruhr im ganzen hieß
HxvTaXiofiös, Stockprügelei: es war eine Zeit des Faustrechts, wie es
ZKYTAAIIMOi: 97
Gilbert (Lehrbuch d. griech. Staatsaltertümer 11 80), Beloch (Griech.
Gesch. II 1, 259) und Eduard Meyer (Gesch. d. Altert. V 420); sie
geht dahin, daß damals der Pöbel über die Reichen herfiel und sie
mit Knütteln erschlug, und dann auch die Volksführer das gleiche
Los erfuhren ^).
Daß mit einer solchen Deutung Diodor Gewalt angetan wird,
hat allein Grole gefühlt (History of Greece X 200), dessen Dar-
stellung unbedingt der Wahrheit am nächsten kommt ; es gilt
eigentlich nicht viel mehr, als sie wieder in ihr Recht einzusetzen.
In ihren Hauptzügen besteht sie darin, daß die dreißig zu Anfang
Denuncirten von dem Volk nach einem hastigen Verhör (öfter a
hasity frial) hingerichtet wurden ; daß man dann diese Hinrich-
tungen fortsetzte, bis 1200 (oder 1500) der vorzüglichsten Bürger
zu Tode gebracht waren. Endlich wandte sich die Wut des Volkes
gegen die Demagogen und auch sie wurden hingerichtet 2). In der
Tat läßt sich für die Herstellung des Tatbestandes aus Diodors
Worten nichts anderes folgern. Als man der Verschwörung der
Oligarchen auf die Spur kam, wurden einige von ihnen peinlich
geprüft; sie endeten durch Selbstmord, mit Ausnahme eines Ein-
zigen, der gegen Verbürgung der Straflosigkeit^) 30 angeblich
Mitschuldige denuncirte, die man nun in Anklagezustand versetzte.
Ohne genauere Untersuchung wurden sie von dem Volke zur Todes-
strafe verurteilt und, was mit ihr zusammenhing, ihr Vermögen
eingezogen. Aber auch andere angesehene und reiche Bürger,
welche von den Demagogen angeklagt wurden, traf das gleiche Los
(über ihre Zahl unten) : ttoAAcoj' öe xal äXXcov ev vjzoxpiaig övrcov,
xal Tcöv SrjjLinycoycöv y^'evdeot diaßoXalg ovvi^yoQovvTCOv, im
Tooovxor e^i]yQicjo'df] to nXrj&og, wgiE Jidvxeov töjv xaTi]yogov-
juevco.v, övrcov juev noXXcbv xai jusyaXojiXovrcov, xarayvcovai
1) Es ist ganz interessant, an E. Curtius zu ersehen, wie sich diese
Auffassung stufenweise fortgebildet hat; während er früher (Gr. Gesch.
IIP 316) sagt, daß die erbitterte Menge mit Stöcken über die Verdäcli-
tigen herfiel, ist dies später (III " 305 ff.) dahin erweitert, daß es an
einem von den Demagogen bestimmten Tage geschah.
2) Ganz consequent verfährt freilich auch Grote nicht, wenn er
zum Schlüsse seine Bemerkung, daß die Benennung 'Skytalismos' von
dem Instrument herrühre, mit dem die Hinrichtungen vollzogen wurden,
durch den Zusatz abschwächt, daß der Name mehr einen ungestümen
Volksaufstand, als beabsichtigte Hinrichtungen anzudeuten scheine.
3) Zu moTir )Mß6vT0Q vgl. Partsch, Griech. Bürgschaftsrecht I 361.
Hermes Lllt. 7
98 HEINRICH SWOBODA
&6.vazov. Es handelte sich also nicht um ein planloses Hin-
morden, wie die gewöhnliche Ansicht will, sondern um ein gericht-
liches Vorgehen. Zur richtigen Beurteilung ist daran zu erinnern,
was auch bei Diodor zum Ausdruck kommt (vgl. außer den gesperrten
Worten noch § 2 d dfj/xog ovx iXey^ag dxQißcög änavxag xovg
diaßXr]{^evTag äjiexTeive), daß es in Argos Volksgerichle gab^),
und daß in wichtigen Fällen, zu welchen der unsere gewiß gehört
haben wird, das gesamte Volk Recht sprach 2) — was mit dem
attischen Eisangelieverfahren zusammenzustellen ist 3). Dann wird
man aber weitergehen und annehmen dürfen, daß sich auch das
von Diodor § 4 geschilderte Vorgehen gegen die Demagogen, die
sich zu weiteren Anklagen nicht mehr hergeben wollten, in glei-
cher Weise vollzog. Allerdings ist der Sachverhalt, wie schon in
den früheren Stadien — so gleich in den Worten, mit welchen
Diodor den ganzen Abschnitt einleitet — , so auch hier durch die
rhetorische Art, mit der Ephoros die Ereignisse wiedergibt, ver-
dunkelt worden, schimmert aber bei unbefangener Prüfung noch
immer durch. Was bleibt, genügt, um die Ansicht der Neueren
von einem Gemetzel oder Blutbad u. dergl. und daß sich die auf-
geregte Menge mit Stöcken auf die Reichen stürzte und sie auf der
Straße niedergemacht habe, als unvereinbar mit unserer Haupt-
quelle erkennen zu lassen. Wenn sich also der Vorgang in der
Form gerichtlichen Verfahrens abspielte, so soll damit durchaus
nicht gesagt sein, daß dabei die gesetzlichen Vorschriften einge-
halten wurden; daß keine ordnungsgemäße Untersuchung staltfand
und den Angeklagten nicht die Möglichkeit gegeben war, sich zu
verteidigen, sie vielmehr summarisch abgeurteilt wurden, bemerkt
Diodor ausdrücklich für die zuerst Angeschuldigten (§2 6 de
1) Ed. Meyer, Forschungen zur alten Gesch. I 101 ff.; 0. Schultheß,
Real-Enc. VII 2240.
2) So Ed. Meyer, GdA. III 320. 321; meine griech. Staatsalter-
tümer 157.
3) Ob diese gerichtliche Versammlung des Volkes ebenso wie die
Volksversammlung die Bezeichnung dXiaia trug, was Ed. Meyer (Forsch.
I 103) und Schultheß a. a. 0. verneinen, ist dafür ohne I3edeutung; ich
halte es allerdings mit Rücksicht auf die aus Schol. Eur. Orest. 871. 872
hervorgehende Identität von Fron und Haliaia für wahrscheinlich. Für
die argivisclie ähaiu bedeuten die vonVollgratf, Mnemosyne N. S. XLIII
3G5ff. XLIV 64 ff. 21 9 ff herausgegebenen Urkunden eine wesentliche P'r-
weiterung unserer Kenntnis.
2KYTAAIZM02 99
öfjfxog ovH IXey^ag dxgißojg), und das gleiche ist für die späteren
Fälle vorauszusetzen — vielfach wird sich die Verhandlung vor dem
Volke in tumultuarischer Weise vollzogen haben , wie wir dies für
Athen aus dem Processe gegen die Feldherren der Arginusen-
schlacht und später gegen Phokion ') kennen. Das Gräuliche in
dem Vorgehen des argivischen Demos lag nicht bloß in dieser Will-
kür, sondern auch in der Massenhaftigkeit der Exekutionen; wie-
viele Bürger damals umkamen, läßt sich nicht mit völliger Sicher-
heit feststellen: nach Diodor § 3 mehr als 1000 oder 1200 2),
während bei Plutarch a. a. 0. und Helladios die Zahl auf 1500
erhöht ist; auch wenn man die niedrigere Ziffer annimmt, waren
es noch immer soviel wie die Opfer der korkyraeischen Partei-
kämpfe in den Jahren 427 und 425^) und die angeblich von den
Athenern hingerichteten Mytilenaeer*); die höhere Zahl würde den
von den Dreißig in Athen Hingerichteten entsprechen ^). Es ist
daher begreiflich, daß, wie Plutarchs Meldung über Athens Haltung
zeigt, der Skylalismos in der griechischen Welt großes Entsetzen
hervorrief und die Argiver nach Wiederkehr der Ordnung^) es für
notwendig hielten, den Zorn der Gölter durch eine Sühnewidmung
zu beschwichtigen. Auch bei unserer Auffassung bleibt an dem
Andenken des argivischen Demos ein arger Schandfleck, der Vor-
wurf des Justizmordes haften.
Der Zy.vxaXiojxog führte seinen Namen, wie Diodor c. 57, 3
sagt, dia rbv tqojiov zov -davarov, d. h. die Verurteilten wurden
mit der Keule oder einem Knüttel hingerichtet, ihnen mit einem
solchen Instrument der Kopf zertrümmert. Diese Art der Exeku-
1) Plut. Phoc. 34. 35; dazu Job. Gust. Droysen, Gesch. d. Hellenism.
UM, 228 ff.
2) In unserem besten Codex (Patmensis) fehlt xal diay.ookov; die
Handschriftenfauiilie FIKM gibt >cai i^axoaicov.
3) Die Gesamtzahl der korkyraeischen Oligarchen betrug gegen
1000 (cf. Jak. Burckhardt, Griech. Kulturgesdi. I 2ß6; Busolt, Gr. Gesch.
III 2 S. 1018, 2). von welchen wenig übrig blieben (Thuc, IV 48, 5). Diodor
gibt auch da die Zahl 1500 (XIII 4S, 2).
4) Thuc. III 50, 1, dazu Busolt a. a. 0. III 2, 1030f., 2. Ed. Meyer
(Gd.A.. IV 347) und Beloch (Gr. Gesch. IP^ 1, 311)) halten an der überlie-
ferten Zahl fest.
5) Ed. Meyer. GclA. V 38. 39.
6) Diodors Wendung 6 öe Stifiog Jiavadfisvog rfjg Xvzxrjg eig rijv jzqo-
iJTidgxovaav svvoiav djioxaieozrj macht nach dem Vorangegangenen unwill-
kürlich einen ironischen Eindruck.
7*
100 HEINRICH SWOBODA
tion kommt auch sonst bei den Griechen vor^); der gewöhnliche
Terminus dafür ist äjiorvjuTiaviojuog^). Wenn für Argos damals
die an sich viel passendere Bezeichnung mit dem Werkzeug, das
der Scharfrichter gebrauchte, aufkam, so ist der Grund vielleicht
auch darin zu suchen, daß bei der Massenhafligkeit und Gleich-
zeitigkeit der Exekutionen das rv/jjiavov, die Maschine, auf welche
sonst der Verbrecher gespannt wurde, gar nicht zur Anwendung
kommen konnte.
Die Schwierigkeit, welche für uns darin besteht, wie der argi-
vische ^Skytalismos' in den Zusammenhang der Zeitgeschichte ein-
gereiht werden soll und aus welchen Ursachen es zu ihm kam,
habe ich bereits betont. Die Neueren haben darüber verschiedene
Ansichten aufgestellt. Lachmann vermutet (a. a. 0. I 338), daß
Argos damals das Hauptquartier der aus den anderen peloponne-
sischen Staaten vertriebenen Demokraten war und daß die spar-
tanerfreundlichen Aristokraten dem arkadischen Synoikismos wider-
1) Vgl. Th Thalheim, Lehrbuch d. griech. Rechtsaltertümer * 141, 5;
ders., Art. d7toTVfiJiavio/:i6g, Real-Enc. II 190f. In Athen fand dies sel-
tener statt (Lipsius, Att. Recht I 77, 101). — Wie mich mein College
M. Winternitz belehrt, dessen Bemerkungen ich im folgenden wieder-
gebe, scheint das Erschlagen mit der Keule als Todesstrafe bei primi-
tiven Völkern nicht vorzukommen, da grausame Todesstrafen .sich im
allgemeinen nicht bei Naturvölkern, sondern bei despotisch regierten
Kultur- und Halbkulturvölkern finden. In Indien war das Erschlagen
mit der Keule u. dgl. wohl keine gewöhnliche Todesstrafe (am häufig-
-sten das Pfählen , aber auch Verbrennen und Ertränken) ; doch findet
.sich schon in den ältesten indischen Gesetzbüchern eine Form der
(religiösen) Sühne, die darauf hindeutet, daß das Erschlagen mit der
Keule eine sehr alte Strafsitte gewesen sein muß. Wer sich des Gold-
diebstahls an einem Brahmanen schuldig gemacht hatte, wurde durch
folgende Sühne von seiner Schuld gereinigt: der Dieb soll mit fliegen-
dem Haar, eine Keule auf der Schulter, zum König gelaufen kom-
men und ihm melden: 'Ich habe diese und diese Tat begangen' oder
sagen: 'Herr, ich bin ein Dieb, strafe mich!' Wenn der König ihn mit
der Keule, die ihm der Dieb überreicht, erschlägt, ist er von seiner
Sünde gereinigt; aber auch wenn der König ihm verzeiht, doch fallt in
letzterem Fall die Sündenschuld auf den König. Der religiöse Charakter
dieser Sühneceremonie imd ihre Erwähnung in alten Rechtsbüchem (Äpa-
staraba 1, 25, 4£f. ; Gautama 12, 43flf. ; Vasishta 20, 41; Baudhäyana 2, 1,
16 fi'.; Manu 8, 3l4fF.; Vishnu 52, Iflf. und Yäjnavalkya 3, 257) macht es
sehr wahrscheinlich, daß man es hier mit einem sehr alten Rechts-
brauch zu tun hat.
2) Vgl. H. Stephanus. Thesaurus s. v.; Thalheim a a. 0.
ZKYTAAIZMOZ 101
strebten und damit Erbitterung gegen sich hervorriefen; Eduard
Meyer (GdA, V 420) bringt, was gewiß richtig ist, die Bewegung
in Argos in Zusammenhang mit den übrigen revolutionären Er-
hebungen in der Peloponnes (Diod. XV 40, vgl. oben) und meint,
daß in Argos, wo die verbannten Feinde Spartas und der Oligarchie
Zuflucht gefunden hatten, aufs neue die Hoffnung erwachte, eine
führende Stellung gewinnen zu können, und die Vorbereitung dazu
der Skytalismos gewesen sei. Eine sichere Entscheidung zu treffen,
ist schwer; vielleicht ist die Tatsache einfach auf psychologischem
Wege zu erklären, derart, daß die Bewegung in der übrigen Pelo-
ponnes auf Argos gewissermaßen ein geistiges Contagium ausübte
und damit den Anstoß zu dem Vorgehen gegen die Oligarchen gab.
Prag. HEINRICH SWOBODA.
MISCELLEN.
ZUM EHRENDEKRET VON LETE IN MAKEDONIEN
FÜR M. ANNIUS (DITTENBERGER, SYLL.2 I 318).
Die Aera, nach der das Datum exovg ■&' xal x, ITavijjuov k
zu berechnen ist, beginnt 148. HoUeaux wünscht allerdings eine
Nachprüfung dieser Epoche (d. Z. XLIX 1914 S. 589, 1), um vielleicht
zu einer Vereinij:ung mit der von Wilhelm wahrscheinlich gemach-
ten Aera des eigentlichen Griechenlands vom J. 146 zu gelangen.
Doch sehe ich nicht, wodurch der von Kubitschek (Pauly-Wissowa:
Aera Sp. 636 f.) begründete Ansatz, den auch Gaebler (Zeitschrift für
Numismatik XXIII 165 ff.) angenommen hat, erschüttert würde. In
der Annahme zweier verschiedener Aeren vermag ich nichts Bedenk-
liches zu erblicken. Ich kann daher Klaffenbach nicht folgen, der
ohne weiteren Beweis die makedonische Aera mit 146 beginnt und
erklärt, daß der Praetor Sisenna es gewesen sei, dem der Quaestor
M. Annius 117 für den gefallenen Sextus Pompeius die Provinz über-
geben habe (d. Z. LI 1916 S. 475). Der Beschluß der Letaeer ist viel-
mehr, da das 29. Jahr im Oktober 120 beginnt, im Juli 119 ge-
faßt. Dafür sprechen die folgenden Erwägungen. Die schweren
Kriegsnöte, die uns die Inschrift kennen lehrt, machen es ganz un-
wahrscheinlich, daß ein Praetor die Provinz übernahm. Hier war
vielmehr die rechte Stelle für ein consularisches Commando. Nur
kann der Consul L. Caecilius Metellus (Dalmaticus) die Statthalter-
schaft nicht schon im Frühjahr 119 angetreten haben (Gaebler
a. a. 0.), sondern erst im Sommer. Denn noch im Juli stand der
Quaestor an der Spitze des Heeres (Z. 40 ff. der Inschrift). Ferner:
das wenige, das über die römischen Feldzüge 119/8 überliefert wird,
ist nur als Fortsetzung der von den Letaeern berichteten Ereignisse
ganz verständlich. Dasselbe weit entlegene Ziel hat sowohl Me-
tellus wie sein College Cotta: die ZEyeoTavoi = Siscia an der Save
(Appian 111. 10: eoiyMoi de y.al Heyeozavol {vnaxovaai) Aev-
xlqy Koxra xai MereV.o), . . . ov nokv ((5') voteqov äjiooTijvai).
Augenscheinlich haben wir hier den Gegenschlag gegen den Ein-
bruch der Skordisker in Makedonien zu erkennen. Das Volk sollte
in seinen eigenen Sitzen getroffen werden, die sich von Siscia zum
Margus ausdehnten (Strabo VII 318). Zugleich sollte dem Cim-
MISCELLEN 103
bernzuge, der die Bewegung der Donauvölker verursacht hatte
(Strabo VII 293), ein Riegel vorgeschoben werden. Ob die Gon-
suln gleichzeitig von verschiedenen Seilen her operirten, etwa Cotta
von Aquileia, Metellus von Makedonien und Dalmatien aus, oder
aber nacheinander, ist nicht auszumachen. Bei Livius epit. 62 steht
der dalmatische Krieg des Metellus unter den Ereignissen von 118
(L. Cnccilius Mctel/mi Balmatas siihcgit). Bei Appian 111. 11 heißt
es: KaixiXfog MExeXXog vjiarsvüjv ovdev ädixovoi loig AaX~
fjLaiaig ly.'fjfpioaxo JioXejusiv sjiid^vjuiq d-Qid^ußov, xal de^Ofievcov
avTOv ixeivojv co? (piXov diexei/iaoe jiag' avjoXg ev ^aXo'yvt]
TioXet, y.al ig 'P<joar]v ijiavfjX&e xal edQidjußsvoev. 'Ynarevwv
könnte scharf gefafst nur für 119 gesagt werden und vertrüge sich
dann schlecht mit Livius. Ich nehme also lieber eine Ungenauig-
keit im Ausdruck bei Appian an und setze den Einmarsch ins Ge-
biet der Dalmater ins Jahr 118, und zwar in den Herbst. Denn dort
überwintert Metellus, um im Frühjahr 117 zum Triumph nach Rom
zurückzukehren. Das Unternehmen gegen Siscia und die Skordisker
hätte also vermutlich im Frühjahr oder Sommer 118 stattgefunden.
Den Ort, wo M. Annius die Schlappe des Statthalters in einen
Erfolg wandelte, nennt die Inschrift rovg xaxd ^'Agyog rojiovg.
Wo er dann die vereinigten Skordisker und Maeder schlug, wird
nicht ausdrücklich gesagt, doch geht aus dem Zusammenhang, be-
sonders aus ju€t' ov TioXXdg de ^juegag, hervor, daß das zweite
Schlachtfeld nicht weit vom ersten gewesen sein kann. Ein makedo-
nisches Argos wird öfter erwähnt (nicht nur bei Stephanos von Byz.,
wie Duchesne, Rev, arch. XXIX 21 und Dittenberger a. a. 0. an-
geben): 1. Strabo VII 326 Xeyezai de rrjv 'Ogeoudda xaraoxsTr
noxe 'Ogeoxrjg . . . xal xaxaXineTv e.Jicovvjuov eavxov xrjv i^gav,
xxloai de xal noXiv, xaXeTodai d' avxi]v "Agyog 'Ogeoxixov.
2. Appian Syr. 63 unter den Städten, vor denen Seleukos der Große
sich hütete, weil ihm prophezeit war, er werde in Argos sterben:
"Agyog x6 ev 'Ogeoxeia, ödev ol 'Agyeddai Maxeöoveg. 3. Stepha-
nos Byz. V. "Agyog . . . eßöofxrj xaxd Maxedoviav. öydorj ""Agyog
'Ogeoxiov f) ev Zxv^iq, wo 'Agyog 'Ogeoxiov augenscheinlich an
die falsche Stelle geraten und hinter eßdo/it] einzuschieben ist.
4. Livius XXVII 33 unter den schlechten Nachrichten, die König Phi-
lipp im J. 208 von Norden erhält: ibi alii maiorem adfe.rentes tu-
multum nuntii occurrunt, Dardanos in Macedoniam effnsos
Orestidem iani tenere ac descendisse in Argestaeuyn cainpum.
104 MISCELLEN
Die Orcsfis grenzte an Epirus, die Orestae waren ein epirotischer
Stamm (Strabo VII 326. IX 434). Für sicher lokaHsirt kann man
die orestisclie Stadt Geletrum ansehen, die wegen ihrer eigenartigen
fjage auf einer Halbinsel in einem See (Livius XXXI 40) mit Kastoria
geglichen wird. Daß wir die Schlachtfelder in dieser Gegend zu
suchen haben, wird durch die Liviusstelle sehr wahrscheinlich. Die
Vorgänge von 208 sind denen von 119 anscheinend ganz analog.
Die Dardaner sitzen etwa am oberen Axius und Margus, also ge-
rade dort, woher die Skordisker kommen, und sie gelangen nach
Argos in Orestis. Dahin muß also von Norden her ein für größere
Massen benutzbarer Zugang geführt haben. Die Lage der Stadt ist
bisher nicht genauer ermittelt. Soweit ich sehe, pflegt man sie an
den Oberlauf des Haliakmon (Vistrica) zu verlegen ; Kiepert, Formae
orbis XVI gleicht sie mit Geletrum. In diesem Berglande fehlt
aber durchaus eine größere Ebene, wie sie durch Livius' Argcstaetis
Campus gefordert wird und für die Bewegung der offenbar zahl-
reichen gallischen Reiterei, die die Inschrift erwähnt (Z. 18. 21. 30),
nötig erscheint. Ich möchte daher die Orestis, deren Umfang nicht
näher bekannt ist, weiter nach Norden ausdehnen und Argos süd-
lich von Monastir, etwa bei Florina suchen. Es bleibt noch eine
Stelle übrig: 5. Hierocles synecdemus p. 641, 1 ff. (ed. Burckhardt
p. 6) : ejiag^ia Maxedoviag ß, vJiö fjysjuova, noleiq t], Zzoloi,
^Agyog^ Evorgdiov, lleAayovia, Bagyala, KeXeviöiv, 'Agjuovia,
Zanaga. In dieser Eparchie, die das nördliche und westliche Make-
donien umfaßt, steht also Argos zwischen ^roßoi (so wohl sicher
herzustellen) am Axius und Evorgdiov, das gleich Aiorgaiov in
Paeonien (Ptolemaeus III 12, 14. Livius XL 24) zu sein scheint
(heute Strumitza?). Mommsen hat, offenbar daraufhin, die Schlacht
,bei Argos (unweit Stobi am oberen Axios oder Vardar)" lokalisirt
(Rom. Gesch. '^ II S. 170). Indessen, wenn die Verzeichnisse des
Hierokles auch im allgemeinen eine geographische Anordnung er-
kennen lassen, so sind doch Sprünge und Unregelmäßigkeiten in
ihnen nicht selten. Die Annahme eines sonst ganz unbekannten
zweiten Argos halte ich daher für bedenklich, um so mehr als
Stephanos von Byzanz es nicht verzeichnet, und auch das einfache.
yMxd 'Agyog der Inschrift, ohne ein unterscheidendes Beiwort, darauf
schließen läßt, daß es nur eine Stadt dieses Namens in Makedonien
gab, das orestische Argos.
Graz. OTTO CUiNTZ.
MISCELLEN 105
XENOPHON BEI CLEMENS ALEXANDRINÜS.
Axel W. Persson, Zur Textgeschichte Xenophons, bringt S. 102 fL
drei Xenophoncitate aus Clemens bei: 1) Strom. VI 2, 16 = Cyr,
V 3, 9; 2) Strom. II 20, 107 - Apomn. II 1, 30; 3) Protr. VI 71
und Strom. V 14, 109 = Apomn. IV 3, 14 (wozu Gilbert praef.
z. d. St. vergleicht Cyrill adv. lulian I p. 32. Stob. Ecl. II 1, 20),
Auch daß Clemens Strom. VI 2, 19 Xenophon falsch (statt Herodot
I 155) citirt, erwähnt Persson.
Aber damit sind die Entlehnungen des guten Clemens au&
Xenophon noch nicht erschöpft. Allerdings nennt er Xenophon
nirgends mehr. Aber wenn wir Paed. II 10, 110 lesen: xavrr} y.al
röv Kelov änodexofiai ooq)ioxi}v rag oixeiag y.al xaza}.h]kovg
aQExrjg y.al xaxiag sixövag vnoyQÜq^ovTa' xyjv juev ydg avxaiv
äq)eX(bg ioxa/j.evi'iv ejioir]0£ xal Xevyeijuova xal xad^dgiov xrjv
ägexrjv aidoi f^iävt] x£xoojin]juevr]%' . ., d^axegav de zovvavxiov eiodyec
rrj7> xaxiav, neQixxfj juev iodrjxi, ijjLKpieo/uevijv, dXXoxQiq) de ygcofiaxc
yeyuvü}jiiev}]v, xal fj xiv)]oig avxFjg xal y o/eoig jigög xb einxEQneg
STUxydevojuevi] xdig jnax^.cooaig eyxeixai oxiayQacpia yvvai^iv, sO'
finden wir das Vorbild in Xen. Apomn. II 1, 22 bald heraus. Freilich
muß es vorläufig dahingestellt bleiben, ob Clemens hier sehr frei,
vielleicht aus dem Kopf citirt oder ein 'triviales Handbuch' (v. Wila-
mowitz, Einl. in die griech. Tragödie^ S. 172) benutzt hat. Auf-
fallend bleibt immer, daß die obenerwähnte andre Stelle aus der Pro-
dikosfabel (Strom. II 20, 107) ziemlich genauen Anschluß an Xenophon
hat, daher von Persson als einziges wirkliches Citat bezeichnet wird.
Eine zweite Entlehnung aus Xenophon gewinnen wir, wenn
wir gegenüberstellen
Cyrop.l 2,16 aioxQov juev ydg k'xi Paed. II 7, 60 jiagaiTrjxeov de
xal vvv eoxi Ilegoaig xal x6 xal xb ovvey^eg dnonxveiv
üixveiv xal xb djzojuvxreo&ai xal xb ^Qe/ujixeoßat ßiaiozegov
xal xb cpvoYjg fxeoxovg cpaiveo&ai, i-iydh djtojxvxxeodai naga
atoxgbv de eoxi xal xb lovxa nöxov.
7101 (pavegbv yeveod'ai y xov
ovgrjoai. evexa i] xal äXXov
xivbg xoiovxov.
Cyr. VIII 8, 8 vojuijuov ydg di] Paed. 112, 21 ol de dx/udCovxeg ..
^v avxoTg juyxe nxveiv fxrjxe äjieyeoßwv ndfxnav xov Jioxov
djio/bivxxeo&ai. driXov de oxi jigbgrbdvajiiveo&aixtjv Jiegixxrjv
106 MISCELLEN
Tavia oi' rov ev reo ocjojiiaTi vyQÖrtpa avröjv ävaonoyyi^ofie-
vygov (peiöousvoi ivöfxioav, vrjv ^rjQocpayiq' y.al ya.Q t6
d.X?Ä ßovXojjLSVoi diä novüiv ovveyeg titvelv xal anoiivo-
y.al Idgcörog lä ocojuara orege- oeod^ai xal Tiegi rag exxgi-
ovodai.vvv ÖetÖ ju£v jui] Tirveiv OEig OTievöeiv axgaoiag xex-
/itjöe äjiojLtvTTSo&ai exi öia- jU)]oiov ix jrjg djuergov ngoocpo-
juevEi, zb <5' exTiovelv ovdajuov oäg vn£Qjieou.EV<jiv zcbv vygcöv
inixt]öev£xai. tm owjuan.
Offenbar fand Clemens die Xenophonslelle in seinem Handbuch
schon ohne des Autors Namen und verwertete sie, wie öfter seine
Vorlagen, zweimal.
Am merkwürdigsten ist die Stelle Paed. I 7, 55 ovx eXa&ov
rjjuäg ol Tiagä IJegoaig ßaoilEioi xaXoviJLEVoi naidaymyoi, ovg
TETxagag xbv dgiß/növ ägioxivöijv ix?J.yovx£g ix Jidvxcov ÜEgocbv
ol ßaodEig ÜEgocbv xolg ocpcbv avxcöv icpioxwv uiaioiv äXXä
xo^evEiv juoi'ov ol jiaJdeg avxolg juavt)drovotv, fjßrjoavxEg dh
aÖElcpalg xal fiy^xgdoi xal yvvai^i, ya/UExalg xe äjua xal naXXaxtoiv
civagldjuoig ijiijuioyovxai , xa^djisg ol xdngoi Eig ovvovoiav
t]oxi]ju£voi. Der erste Satz enthält ein Mißverständnis aus Xen.
Gyr. I 2, 4 ditjgtjxai 6^ avxrj fj dyogd rj JiEgl xd dgyeTa xExxaga
jbiEgt] ■ xovxcov Öe Eoxiv EV /UEv naioiv, ev Öe icprjßoig^ äklo xE?Moig
dvögdoiv, äXXo xoTg vjikg xd oxgaxEvoijua Exrj yEyovooi, denn nach
§ 5 stehen jeder Abteilung 12 ägyovxEg vor. Die Angabe ferner,
-daß nur das Bogenschießen den persischen Jugendunterricht bilde,
stammt aus Cyr. 12, 8 jigög öe xovxoig jjiavddvovoi xal xo^evelv
xal dxovxi^Eiv. Im Schluß der Clemensstelle ist fälschlich auf
^lle Perser übertragen, was nach Strom. III 3, 11 nur von den
Magiern erzählt wird: Edvdog ök iv xoTg iniygacpofXEVoig /xayixoTg
'/niyvvvxai ds^, (pi]oiv, 'ol judyoi jiajxgdoi xal dvyaxgdoi, xal
aÖEXcpaTg juiyvvoßai ■ßEjuixöv slvai xoivdg xe slvai xdg yvvaixag
ov ßia xal Xddga, dXXd ovvaivovvxcov djucpoxEgojv , oxav '&EXrj
yrj/uai 6 k'xEgog xrjv xov ixEgov^. Auch ist nicht eine Schrift
Xenophons die Quelle, sondern die fxayixd des Lyders Xanthos
(Strom. 1 21, 131 Edvßog öe 6 Avdög xx'a). Ob freihch Clemens
selbst diese schlimme Verallgemeinerung zur Last fällt, ist mehr
als fraglich, da wir bei Konon IX (Westermann Mv&oygdcpoi
S. 128 = Photius bibl. CLXXXVI) Ähnliches finden: Xh/Ei ö' wg
fj ^^Ejuiga/xig avxrj reo viq> Xddga xal dyvoovoa juiysioa, slxa
yvovoa ävöga iv tg> (pavEgw eo^e, xal i^ ixEivov, ngoxEgov
I
MISCELLEN lO?
ßöekvxzov öv , Mrjdoig xal IJegoaig xaXbv xal vöjuijuov edo^e
jur]TQäoi juiyvvo&ai, was wieder in einer Randbemerkung des cod.
A = Ven. 450 folgendermaßen eingeschränkt wird: ort ov idg
jurjregag yajuoüoiv, ä?2a raig /nrjTQvialg julyvvviai oi IJegoai ecog
rov vvv, djiexovrai de xoiv yevv7]oa/U£va)v, (bg Xeyerai nagd rcöv
eidoTCov rd xar' avrovg. Darnach scheint es mir wahrscheinhcher,
daß Clemens die ganze Stelle Paed. I 7, 55 mit ihren Reminis-
cenzen an Xen. Cyr. 12, 4 u. 8 und Xanthus' Magica aus einem
wirklich recht trivialen Handbuch abgeschrieben hat.
Das Vorgetragene wird genügen, um zu erkennen 1) wie kritiklos
Clemens seine Quellen benutzt hat und daß es ihm gar nicht darauf
ankommt, sich selbst zu widersprechen wie Paed. I 7, 55 = Strom.
III 3, 11, 2) daß Clemens die Schriften Xenophons aus eigener
Lektüre nicht gekannt haben kann und als Zeuge für die Neben-
überlieferung ausscheiden muß.
Liegnitz. ______ WILHELM GEMOLL.
ZUM ATTISCHEN VOLKSBESCHLUSS ÜBER CHALKIS.
Von dem wichtigen attischen Volksbeschluß über Chalkis IG I
Suppl. n. 27* ist die Bestimmung über die dort wohnhaften Frem-
den neuerdings wiederholt zum Gegenstand der Erörterung gemacht
worden, wiewohl ihr einzig natürliches Verständnis, das ich seit
Jahren in meinen Übungen vertreten habe, nach seiner Begründung
durch E.Meyer, Forsch. II 146 f. für ausreichend gesichert gelten
durfte. Gegen eine abweichende Deutung von W. Kolbe ind.Z. LI 1916
S. 479 f. ist es sofort von E. von Stern ebenda S. 630 f. gestützt wor-
den. Schon zuvor aber hatte Lehmann-Haupt in der Behandlung des
Psephisma in seiner Griech. Gesch. bei Gercke-Norden IIP 116ff. eine
noch stärker abgehende Auffassung zur Geltung zu bringen versucht
und hat in dessen erneuter Besprechung im vorjährigen Bande d. Z,
S. 520 ff., die im übrigen nur das früher Gesagte wiederholt und
weiter ausführt, seiner Erklärung der in Rede stehenden Stelle unter
dem Einfluß von Kolbes Bemerkung eine veränderte Gestalt gegeben,
die aber gleichfalls zu entschiedenem Widerspruch herausfordert.
Die Bestimmung lautet wie folgt: rovg de ^evovg rovg ev
XaXxiöi öooL oixovvreg jut] xelovoiv 'A^rjvaQe xal ei' ro) diöorai
VTiö rov drjfjLov tov A^7]vaia>v dreleia, rovg de älXovg reXelv eg
XaXxida xa'&dneQ ol äXXoi XaXxiöh^g. Man hat mit Recht an
108 MISCELLEN
der ungeschickten Stilisirung Anstoß genomrti6n. Aber der sehr
verschiedene Umfang der beiden von der Steuerpflicht in Chalkis
ausgenommenen Kategorien hat die positive Fassung der zweiten
Ausnahme veranlaßt und diese weiter zur Wiederaufnahme des
Subjekts mit robg de allovg geführt, da das Prädikat xeXeiv
ig XaXxida zu dieser Fassung nicht mehr paßte. Über den An-
stoß kommt man aber auch nicht dadurch hinweg, daß man mit
Kirchhoff äxEkElg elvai zu den Ausnahmebestimmungen ergänzt.
Denn dessen Ellipse wird durch die vorausgehende Erwähnung der
dreXeia in keiner Weise gerechtfertigt und nötigte obendrein, /uij
in juh> zu corrigiren, eine Änderung, die allgemeine Ablehnung
gefunden hat, ohne die aber die noch von Lehmann -Haupt fest-
gehaltene Ergänzung für den ersten Satzteil sinnwidrig wird. Klar
ist der Sinn des Beschlusses : die Fremden in Chalkis sind ver-
pflichtet, dort zu steuern, soweit sie nicht, obgleich da wohnhaft,
nach Athen steuern oder vom Volke von Athen von der Steuer
befreit sind. Daß unter den Fremden in Chalkis nicht athenische
Bürger verstanden sein können, nämlich solche, denen nach der
Unterwerfung von Chalkis die den Hippoboten abgenommenen Län-
dereien in Pacht gegeben wurden, wie Lehmann-Haupt noch 1914
verstanden hatte, erkennt er jetzt selber an. Aber an dem Zu-
sammenhange der Bestimmung mit der Neubesiedlung jener Län-
dereien liält er nach wie vor fest, in der Weise, daß er in den
ooot jidj teIovolv 'A&^vaC£ die looreXelg sieht, die neben den atti-
schen Bürgern zu ibrer Pachtung zugelassen worden seien, und er
beruft sich für diese Deutung der Worte nach dem Vorgang von
Kolbe auf die Erklärung des Lex. Seguer. V 267 looreXelg' fihoixoi
rä fXEV ^evixä reXr] jurj reXovvxeg, ra de loa roig aozoTg relovvieg.
Dabei ist jedoch dem Einwände nicht genug Rechnung getragen,
den von Stern sofort gegen Kolbe erhoben hatte, daß diese Definition
für das Verständnis der fraglichen Worte nichts beweisen kann,
weil in ihr aller Nachdruck auf dem Objekt rä jiiev ^eviy.d zu /j,r}
reXovvreg ruht im Gegensatz zu dem folgenden rä de loa roTg
äoroTg reXovvreg. Lehmann -Haupt will zwar mit der Auskunft
helfen, daß, wenn in dem nach deutlichen Anzeichen vorausgegan-
genen Volksbeschluß über Chalkis von der Beteiligung der Isotelen
an der Pachtung des Hippobotenlands die Rede war, der Ausdruck
öooi jui] reXovoiv "Adrjvalie im Sinne von ol rä ^evixä jU)] re?.ovv~
reg 'Adijva^e gebraucht werden konnte, womit zugleich das Hinder-
MISCELLEN 109
iiis gegen die Ergänzung von äreleig dvai beseitigt werden soll.
Allein die Möglichkeit der Ellipse des für den Sinn unentbehrlichen
rd ^Evixd ist auch unter jener willkürlichen Voraussetzung ent-
schieden in Abrede zu stellen, und selbst wenn sie zugegeben wer-
den dürfte, wäre damit noch keine correcte Bezeichnung der ioo-
teXeig gegeben, da der Ausdruck auch auf die nrehTg Anwendung
htte. Gerade die Zusammenstellung der Kategorie öooi /d] reXov-
oiv 'Adijva^E mit den ärEXeig aber lätU die Beziehung jener auf
die Isotelen unzulässig erscheinen. Nicht als ob laoTeXeia und
drtX.eia nur verschiedene Benennungen derselben Sache wären, wie
sonderbarerweise Francotte, Finances des cites Grecques p. 283 ff. mit
ganz unzureichender Begründung behauptet hat. Aber da die eine
wie die andere durch Volksbeschlufs verliehen wurde, wäre die Fas-
sung der Ausnahmebestimmung statt eines einfachen oooig jutj
looxeXeia rj dreXeia dedoiai vno rov dtjjuov rov 'Aßrjvaicov mehr
als ungeschickt. Es muß also dabei bleiben, daß alle in Athen
eingeschriebenen Metoiken, falls sie nach Chalkis übersiedelten, nach
Athen weiter zu steuern hatten, in (Ihalkis aber von der Steuer-
pflicht entbunden waren. Daß aber die Absicht der Maßnahme
dahin gegangen wäre, Nichtbürger zur Bebauung des Hippobolen-
landes heranzuziehen, um durch dessen möglichst starke Besiedlung
die in Athens Interesse gelegene Erhöhung seiner dortigen Wehr-
macht zu erzielen (Lehmann -Haupt S. 533), das ist dadurch aus-
geschlossen, daß in diesem wie in ähnlichen Fällen die Zahl der
Ansiedler im voraus festgesetzt war. Und daß man entgegen dem
sonstigen Verfahren bei Aussendung von Golonien im einzelnen
Falle auf die Metoiken zurückgegriffen hätte, wird, von allem andern
abgesehen, um so unwahrscheinlicher, wenn man erwägt, aus wel-
chen Elementen die attische Metoikenschaft sich zusammensetzte.
Unter der großen Zahl von Metoiken, deren Beschäftigung für uns
nachweisbar ist, begegnen nur sehr wenige Landbauer, und am
wenigsten kann es ihrer unter denen gegeben haben, die das Volk
durch Verleihung der Isotelie ausgezeichnet hatte. Etwas wesent-
lich anderes ist es, wenn der Staat, um den Abbau der Silberberg-
werke von Laureion zu steigern, den Metoiken, die sich daran be-
teiligten, die Isotelie gewährte, nach Xenophon jioqoi 4, 12 mit
meinen Bemerkungen bei Schubert, De proxenia Attica p, 53. Wohl
aber ist es verständlich, daß man als Folge der Abwanderung von
zweitausend Bürgern nach Chalkis auch die Übersiedlung einer nicht
110 MISCELLEN
geringen Zahl von Metoiken erwartete, deren Steuerkraft man dem
Staate nicht verlorengehen lassen wollte.
Leipzig. J. H. LIPSIUS.
DIE ZEIT NIKANDERS.
Für den Dichter Nikander sind drei verschiedene Zeitangaben
überliefert.
1. Um 275 wird er als Zeitgenosse des Arat, Theokrif, Kalli-
machos, Lykophron gesetzt in den ßioi 'Agdrov 1, 2, 4 Westerm.
(= Comment. in Arat. Maaß p. 78. 11; p. 323. 13, p. 326. 5, 14),
Hypotlies. Theokrit I, ßioi Ävx6(pQovog p. 4. 30 Scheer, auch wohl
bei Cicero de or. 116. Ebendahin setzt ihn Schol. Nikand, Ther. 3
mit der Behauptung, der hier angeredete Hermesianax sei der
Dichter des Leonlion.
2. An das Ende des 111. Jahrhunderts verweist ihn die Polemik,
gegen den ersten Ansatz in den citirlen Aratviten, von denen die
erste ihn nach Ptolemaios V. (204 — 180) dalirt, die vierte ihn
12 Olympiaden = 48 Jahre jünger als Arat erklärt, was etwa 225
ergäbe. Da sie aber beide dieselbe Vorlage wiedergeben, ist dieser
Unterschied bedeutungslos.
3. Nach Altalos 111. (138—133) datirt ihn der Verfasser des
erhaltenen Commentars zu den Theriaka im yevog und zu Vers 3,
ebenfalls gegen den eisten Ansatz polemisirend.
Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß die ursprüngliche Datirung
Nikanders die erste auf 275 war, da gegen sie sich die Polemik
richtet, die ihn jünger machen will. Worauf jener ältere Syn-
chronismus des Nikander. Arat, Kalllmachos, Theokrit, Lykophron
gegründet war, wissen wir nicht. Es paßt zu ihm aber vortrefflich
die Widmung der Theriaka an Hermesianax, „den berühmtesten seiner
vielen Verwandten", den der ältere Erklärer für den Freund des
Philitas, den Dichter des Leonlion, erklärt hat (Schol. Nik. Tlier. 3),
ohne dies als Beweis für die Datirung zu benutzen ; eher gilit er
es als Folgerung, sofern man auf die Fassung des Scholions über-
haupt etwas geben darf. Diese Identifikation, gegen die sich auch
hier die Polemik des jüngeren Chronologen richtet, leuchtet außer-
ordentlich ein, da jener Dichter Hermesianax in der Tat aus Kolo-
phon stammte (Athen. Xlll 597 A), wirklich berühmt und älter als
Nikander war, der ihn auch in seinem Werk über die kolophoni-
1
MISCELLEN 111
sehen Dichter erwähnt halle (Schoh Nik. Ther. 3). Es paßt aher
auch, was wir von Nikanders Poesie wissen, vorlrefTlich in diese fi üh-
hellenislisclie Zeit. Wie Herinesianax, Arat, Alexander Ailolos u.a.
folgt er dem Vorbilde Hesiods, des Lieblings dieser modernen
Dicblergemeinde, maclit wie Arat Lehrgedichte Theriaka, Alexi-
pharniaka, Georgika, Melissurgika, und zwar ebenso wie jt-ner, in-
dem er ein Handbuch des lologen ApoUodoros versificirt, dichtet
wie Boio Verwandkmgssagen. Für die Diktion scidiefst er sich dem
Anlimachos, seinem Landsmanne, an (Schol. Nik. Ther. 3). Auch
das ist ein specifij:ch fVühhellenislisihcr Zug. Asklepiades von Samos
(AP IX 63) und Poseidippos (AP XII 168) feiern Anlimachos hoch,
Phililas, Hermesianax ahmen ihn nach; aber, nachdem Kalli-
machos (f^% 441) die Lyde des Anlimachos ein naiv yQ6.}xiia xal
ov xoQov gescholten, hat es, soweit wir wissen, lange gedauert,
bis er wieder zu Ehren kam : erst bei Antipalros von Thessalonike
AP VII 409 finden wir wieder sein Lob. Denn aus dem boshaften Epi-
gramm des Ktales von Malios XI 218 kann man das kaum herauslesen.
Dieser gut begründeten urspiünglichen Anselzung Nikanders
auf 275 durch seine älleslen bekannten Behandler stehen seine
Dalirungen auf 200 und 133 entgegen, von denen jene in den
Aratviten, diese im Theriakacommenlar gegen die erste ausgespielt
werden. Die nur für die dritte erhaltene Begründung stützt sich
auf einen Hymnus an einen Pergamenerkönig Attalos in Hexa-
metern, von dem fünf Verse im Wortlaut angeführt werden; weitere
Beweise scheinen nicht erbracht worden zu sein , wie diese Verse
ja auch so ziemlich Ausschlag zu geben geeignet sind. Denn
daß ein um 275 dichtender Zeitgenosse Arats und Ka'limachos', der
noch den Hetniesianax, Phililas' Freund, gekannt halte, auch nur
den Altalos I. (241 — 197) besungen haben sollte, ist nicht sehr
wahrscheinlich, wenn auch Kallimachos noch um 244 der Gattin
des dritten Ptolemaios gehuldigt hat. Nun behauptet aber der
Verfasser der Nikandervita , dieser Hymnus sei an den 3. Altalos
(138 — 133) gerichlet. Wie er daraufgekommen, wissen wir nicht.
Die mitgeteilten Verse geben keinen Anhalt. Denn Pasqualis
(Studi Ilaliani di Hlologia cl. XX 1913 p. 68) Schluß aus dem Verse
Tev&Qavidtjg, cb xXrJQOv äei naTQCotov l'oxcov , der erste Altalos
könne nicht gemeint sein, weil er nicht vom Vater, sondern vom
Oheim Philelaitos das Reich erobert halte, ist verfehlt. Das perga-
menische Königshaus führte sich auf den Heraklessohn Telephos, den
112 MISCELLEN
Erben des Teutliras zurück, und es hat, wie die von Ad. Wilhelm
erkannte und erläuterte (Athen. Mitt. XXXIX 1914 S. 148) Statuen-
reihe dieser mythischen Ahnen und der Attaliden in Delos, ebenso wie
der von Robert gedeutete Telephosfries (Arch. Jahrb. II 1887 S. 255)
zeigen, auf diese Abkunft und ihr so legitimirtes Erbrecht den
giößten Wert gelegt. Wirklich ist nun aber auch dieser Hymnus
wahrscheinlich auf Attalos I. bezogen. Denn so wird nicht nur der
zweite Ansatz Nikanders auf 225/200 (Ptolemaios V. und 12 Olym-
piaden nach Arat) verständlich, sondern es erklärt sich auch die Con-
fusion bei Suidas NiyMvdgog . . . yeyovcog xard röv veov "'ArxaXov
tjyovv röv teXevto.Tov, tov FaXarorixtp', ov'Pco^aToi xareXvoav.
Diizu paßt nun auch das delphische Proxeniedekret Nixdvdgoo(
"Ava^ayoQov Kokocpcovicoi ijiecov 7ion]räi (BCH VI 1882 p. 217 nr. 5
= Collilz-Bechtel, Gr. Dialekt-Inschr. 112653 = Dillenberger Syll. P
452), nach Pomtows Ansatz von 205, auf den er nach vorübergehen-
dem Schwanken (260 — 230: bei Vollgraff, Nikander und Ovid 1909
S. 20) wieder zurückgekommen ist (Syll. a. a. 0., vgl. Realencykl. IV
2631). Bewährt sich diese Datirung, so hat es zwei Dichter Ni-
kandros von Kolophon gegeben: 1. den berühmten Dichter der
Georgika, Heteroiumena, Tlieriaka, Zeitgenossen des Hermesianax
und Arat, Sohn des Damaios, um 275, 2. den Sohn des Anaxa-
goras, der 48 Jahre jünger als Arat, auch nach Ptolemaios V. datirt
(also um 225/200 anzusetzen), den Hymnus auf den Galliersieger
Attalos 1. gedichtet haben wird. Sollte aber die delphische In-
schrift mit ihrem Archon Nikodamos doch noch auf 266, das Jahr
eines Archons gleichen Namens (Pomtow zu Diltenb. Syll. P 424),
zu setzen sein, so würde sie auf 1. bezogen werden müssen. Da-
maios, ein Name, der nur in Delphi vorkommt (Pomtow zu
Dittenb. I ^ 452), wäre dann sein delphischer Adoptivvater. In jedem
Falle bleibt der Ansatz des uns bekannten, von Aemilius Macer,
.'ergil, Ovid bewunderten und benutzten Dichters Nikander auf die
frühhellenistische Zeit bestehen. Denn in ihre Bestrebungen fügen
sich seine Werke ein. dahin weist seine Widmung an Hermesianax
und dahin ist er von der antiken Gelehrsamkeit als Zeitgenosse
Arats gesetzt.
Leipzig. E. BETHE.
ÜACCHYLIDEA.
1. Die keische Siegerliste.
Die Bedeutung der Siegerlisle von Keos für Bakchylides'
Epinikien ist sogleich nach der Veröffentlichung des großen Papyrus
von Wilamowitz ') und Festa^) erkannt worden, die aus ihr den
von Kenyon mißverstandenen Namen des in den beiden ersten
Liedern gefeierten Siegers Argeios, Pantheides' Sohn, ermittelten.
Der Stein war lange Zeit nur in der Dissertation von Pridik, De
Cei insulae rebus, Berlin 1892 S. 160 zugänglich ^), jetzt liegt er
in besserer durch ein Faksimile unterstützter Fassung vor IG Xlf
5, 608 *). Am eingehendsten hat sich mit ihm Jebb ^') befaßt,
der sich auf Angaben Bosanquets stützen konnte. Da Bosanquet
eine für das Verständnis des Steins wichtige Frage anders beurteilt
als Hiller v. Gaertringen im Corpus, erbat ich von diesem einen Ab-
klatsch, den er mir mit gewohnter Liebenswürdigkeit und Hilfs-
bereitschaft sofort zur Verfügung stellte. Eine Nachprüfung am
Original im Athener Nationalmuseum ist ja leider vorläufig un-
möghch.
Über den äußeren Zustand bemerkt Hiller im Corpus: Stehi mar-
moris albi in duas partes fracta, superne mvfila, a parte postica
rudis. L. 0,30, a. max. 0,52, er. 0,09; littcrae OMS— 0,012.
Darnach wäre die Stele zwar rechts und links an den Rändern
bestoßen, so daß einige Anfangs- und Schlußbuchstaben verloren-
1) Götting. gel. Anz. 1898, 126,
2) Le odi e i fi-ammenti di Bacchilide, Firenze 1898, S. 2 Anui. 1.
3) Pridiks Abschrift ist wiederholt in Michels Recueil 905, der
von den Beziehungen zu Bakchylides noch nichts weiß.
4) Obwohl der IG - Band 1903 erschienen ist, citirt leider auch
die sechste, 1912 herausgekommene Auflage der Griechischen Literatur-
geschichte von Christ-Schmid nur die veraltete Pridiksche Veröffentlichung.
5) Bacchylides, the poems and fragments, Cambridge 1905, 186 f.;
Hillers Veröffentlichung ist auch Jebb unbekannt.
Hermes LIII. 8
114
A. KÖRTE
gingen,, aber nur oben gebrochen, die Ergänzungen der einzelnen
Zeilen müßten sich also rechts auf 1 — 2 Buchstaben beschränken,
und so hat Hiller sie unter Annahme zahlreicher Abkürzungen
auch durchgeführt. Bosanquet bei Jebb S. 186 f. nimmt dagegen
eine stärkere Abarbeitung der rechten Seite an, die anläßlich der
Verbauung in eine byzantinische Kirche auf Keos vorgenommen sei,
und ich muß ihm beistimmen. Der Abklatsch spricht zum mindesten
nicht gegen eine solche Verstümmelung der rechten Seite, ein
glatter scharfer Band ist nirgends zu erkennen, und sachliche Gründe
machen es meines Erachtens sicher, daß mehr fehlt, als Hiller an-
nahm. In seiner Ergänzung ist nämlich dreimal den Angaben
des Namens, Vatersnamens und der Altersklasse die Kampfart bei-
gefügt, z. B. Z. 13 Ko]7vig 'A^iXeco Tiaidcov 7Tay{y.odnov)^), bei den
übrigen Siegern fehlt das Kampfspiel. Dies Schwanken wäre bei
gleichzeitiger Eintragung der ganzen Liste ^) schwer verständlich,
es widerspricht aber auch dem Zweck der Liste, denn zu wissen,
in welchem Kampfspiel die einzelnen Siege errungen waren, ist
doch mindestens ebenso wichtig wie, in welcher Altersklasse. Unter
der Voraussetzung, daß rechts ein Stück der Stele von unbestimm-
barer Breite abgehauen ist, komme ich zu folgendem Text:
a]»'[^^ä>j' äyojvo. röv deiva
?y]? [0]ißQCOv{og) äv[dQcdr
Ä]eo\xQ]eojv BoAeog äv\dQÖn'
A]iJiaQio)v ÄiTiägov avdgc7j[v
5 A]i7iaoioji' Äi7id[Q]o[v a]vdQ[a}v
Ä\eoy.Q£OJv BcoIe\o\q ävd\oö)v
Aeo\ii[QE\(jov Bo'jl[e\o\g\ d.rd[Q(br
Ai\7iaQuov AiTiaQov ävdQ[oJV
^]aiöi7i7Tiöi]<; AiJioLQOv d.y[EVEkor
10 a\dElcpol rfji avT)~]i fijiisQai
Kif.ior/ KdjiiTiov dvdgcTjv
2!iLiiy.v?>.[iv]i]g Tiiidoyo[v dvögcor
KQ]7vig 'A^ü^eo) Tzaidojv Jiay[xQdTiov
IIolvq)avrog Qeo(pQd[deo\g äYEv[eicov dydira tov öeTv
15 'AgyElog nav&elQÖECo 7iaidco[v ttv^ oder TrayxQdxiov
Aecov Ascüjuedovrog [xiJqv^
leerer Raum für 3 Zeilen
1) Die beiden andern Fälle sind Z. 24 und 29.
2) Wieweit diese anzunehmen ist, erörtere ich initen S. IIG.
BACCHYLIDEA 115
OIÖE Nefieia evly.ojt' «7r[o
Aojx[ioj]v (?) Ned[ov]xiov (?) ärdQCo[r uyibra lov dura
"EnaxQog Na\y\x,vöeo(; ävd\Qwv >< >^ >>
20 \Ake^idiKog [M\eviiTog ävö[Qü)v >> »> »
KoivoXemg [T/j^aaea uye\^>doiv " >> »
AinaQioiv A^Ti\äoov av6Q(b\\' n ,> »
Aa/i(jTQ0>i2.rjg "A^iXeco a.vdQ\a)r » <> '>
Kificov KäjATioi'! uvÖQfjjv Jia\j'y.Qdziov oder 7idh]v
25 IIokv(pavTog &E[o\(pQädeog äye\yeUiL>v äyörva tov öeTva
Agyslog Ilavde'idECO äyEveko[v 7iv^ oder TrayxQariov
Adicov AgiOTOjuh'eog 7iaiöco[r orddiov
Addern' 'Agioro/ueveog jiaidco[v orddiov
Aecov Äecüjuedovrog y.fJQv^
leerer Raum
In der Lesung des stark verscheuerten Steins bin ich, wie zu
erwarten , über den kundigen Corpusherausgeber kaum heraus-
gekommen^), nur glaube ich in Z. 17, wo Hiller nur das Vorhanden-
sein unlesbarer Spuren hinter hixcov angibt, ein A, A oder A und
•dann deutlicher ein P zu sehen ^), also äjio, das wäre dann eine
Angabe über den Anfangstermin der nemeischen Siegerliste. Z. 15
«nd 26 habe ich nv^ oder nayxQdxiov vorgeschlagen, weil Argeios
bei Bakchylides I 141 y.aQTe]Q6yeio heißt und II 4 f. von ihm ge-
sagt wird
öri iJ.\d'/]^ag dgaov^^eiQog Aq-
y£io[g ä]Qaro v'ixav.
Z. 27 und 28 ist oxdöiov sicher zu ergänzen, denn wir wissen
jetzt aus der Olympionikenliste von Oxyrhynchos (0. P. II 222), daß
Lachon den von Bakchylides im sechsten und siebenten Gedicht
verherrlichten Sieg in der 82. Olympiade (452 v, Chr.) im Stadion-
Jauf der Knaben gewann.
Zwei Fragen drängen sich zunächst auf: 1. Wann ist der
Stein geschrieben? 2. Ist die Niederschrift einheitlich? Da Hiller
1) Gegen &\lßQior{og) in Z. 2 l)iu ich sehr mißtrauisch, obwohl Prott
■fiN gelesen hat „N prms certum esse affirmans neque OYAWqööv legi
posse'^.
'2) Hiller gibt an: post hi'xcor Ol Piiclik; „in eciypo et in
LoUinßü apographo, f/iiae exscripsi optirne dignosci possunt" Pridik. ABT
prima littera fere certa, deinde P aiit B, postea K aut P, ante A fortasse
-spatio racuo Pi-ott. Nihil cnudeo.
11(5 A. KÖRTE
eine Beantwoilung der eisten Frage ablehnt, wiid sie bei unserer
bisherigen Kenntnis der keischen Inschriften nicht zu geben sein^
aber so viel wird man doch Avohl sagen dürfen, die FJuchstaben-
formen sehen nicht so aus, als seien sie um 450 eingehauen ^).
Mit aller Vorsicht möchte ich vermuten, daß die Inschrift kaun\
wesentlich vor 400, vielleicht auch erst im Anfang des IV. Jahr-
hunderts verfallt ist, also ein bis zwei Menschenalter nach Lachons-
letztem Sieg.
Die zweite Frage läfst sich eher entscheiden: es fallen deutlich'
die Schlußzeilen beider Abteilungen aus dem Übrigen heraus, Z. 1(>
.Ucov ÄEOijiiEdovTog ist größer und plumper geschrieben als die übrige
Inschrift, weshalb y.fJQv^ auf dem erhaltenen Teil nicht mehr Platr
fand, Z. 29 Aeoiv Äsü)f.iedovrog ü^qv^ dagegen kleiner, aber auch
in dickeren, etwas tiefer eingehauenen Buchstaben. Alle anderw
Eintragungen sind gleichzeitig, das zeigt sich besonders in den Fällen ,
wo derselbe Sieger zweimal hintereinander erscheint, wie Z. 4 und 5-
AiTiuokov AiJiaQov, 27 und 28 Adyiov\AQLOxoi.i£VEog, wo die Siege
also in verschiedene Jahre fallen. Das kleine Schwanken in der Schrei-
l)ung KijLioiy Kdjujtov in Z. 11 gegen Ki^ucoy KduTiov in Z. 24 kann
dagegen nicht ins Gewicht fallen. Im Grunde ist die Sache ja schon
durch den Schriftcharakter entschieden; denn wenn die Inschrift nicht
in die erste Hälfte des V. Jahrhunderts gehören kann, wäre es ja
sinnlos, die vor langen Jahren errungenen Siege einzeln von ver-
schiedenen Steinmetzen eintragen zu lassen. Das Ergebnis ist also r
etwa um 400 schrieb man die keischen Sieger aus der nach Bak-
chylides II 9 vorhandenen staatlichen Liste auf Stein ab. Zwischen
den Isthmioniken und Nemeoniken ließ man zunächst 4 Zeilen für
etwaige künftige Sieger frei, ebenso einen Piaum am Ende der
Nemeoniken, und diesen freien Raum benutzte dann der Hi]Qvi
Leon zur Eintragung seiner späteren Erfolge^). Betrachten wir
zunächst, was der Stein für die Sporterfolge der Keer lehrt. Bei
der festen Reihenfolge der vier großen Nationalspiele ist es voa
vornherein klar und auch nie bezweifelt worden , daß den Neme-
oniken die Isthmioniken vorangehen. Von ihnen sind uns noch
1) In Lübkes Zeichnung wirken sie für mein Gefühl etwas eleganter
uud jünger als im Abklatsch.
2) Daß zwischen der Niederschrift uud Leons Siegen viel Zeit liegt-
glaube ich nicht.
BACCHYLIDEA 117
14 Eintragungen erhalten^), in den beiden ersten fehlen die Sieger-
namen, wir haben also von der ganzen Liste nur grade ein
Fiinftel, denn der in Z. 15 verzeichnete Sieg war nach Bakchylides
<ler 70. oder 71. eines Keers am Isthmos^). An den nemeischen
Spielen scheinen sich die Keer erheblich weniger beteiligt zu haben,
<lenn hier haben sie bis auf Laclion nur 11 Siege zu verzeichnen,
inid es standen auch niemals mehr gymnische Sieger auf dem
Stein, Von den Siegern sind 15 ävögeg, 5 äyeveioi, 4 TiaiÖFQ,
<lie Männer überwiegen also sehr stark; Z. 12 bei Smikylines fehlt
<lie Altersklasse jetzt auf dem Stein. Nur einmal, bei Argeios,
linden wir verschiedene Altersklassen, er siegt Z. 15 Trcddcov am
Isthmos, Z. 26 äyeveuov in Nemea. 24 Siege verteilen sich auf
15 Sieger, Liparion hat 3 isthmische und 1 nemeischen gewonnen,
Leokreon 3 isthmische, Kimon, Polyphantos und Argeios je einen
isthmischen und einen nemeischen, Lachon zwei nemeische, der
Sohn des Thibron, Phaidippides, Smikylines, Krinis je einen isth-
mischen, Lokion, Epakros, Alexidikos, Krinoleos und Lamprokles
je einen nemeischen. Nimmt man hinzu, daß Liparion und Phai-
dippides beides Söhne des Liparos sind — äösXfpol Tfji avrrji, fjuegat.
wird ihren Namen in Z. 10 stolz hinzugesetzt — und auch Krinis
«nd Lamprokles beides Söhne des Axileos, so gewinnt man den
Eindruck, daß der Kreis der sporttreibenden Familien in Keos doch
nur klein war, wie das bei der geringen Ausdehnung und geringen
Fruchtbarkeit der Insel auch nicht anders zu erwarten. Läßt doch
Pindar in IV. Paian den heroischen Ahnherrn der Keer, als er das
Erbe des Minos ausschlägt, bekennen 52
ef^iol (5' oUyov deöorai,
ddavo(; dovog.
1) Leons Nachträge berücksichtige ich im folgenden nicht.
2) Aus den Worten des Dichters II 6 ff.
xaX<öv S' uvfjiva.aer, So' sv y.Xesrv(<ii
av'/h'i lo&fiov CoLdsav
XmövtEi Ei'^avTida rä-
aov sjTeösi^afiEi' tßdoiii'j-
xovza avr oTF.ffäroiGiv
schließt Blaß praef. * LVIII, 70 Siege seien dem des Argeios voran-
gegangen; mir scheint es natürlicher, daß Argeios' Sieg eingeschlossen
ist, grade die runde Zahl wird den Dichter bewogen haben, sie zu
nennen.
118 A. KÖRTE
Um so größer ist der Stolz der ganzen Insel auf seine Sieger, der
Keerchor rühmt sich bei Pindar IV 21
ijTOi xal eyo) nxojieXov
vaiojv ÖiayivcooHojuai
jUEV UQBxaTg äe.'&liov
'EkXavioiv, yivojoxojuai de xal
ixoXoav naQE'/^cov äXig,
und auch der keische Sänger weist gern auf die Sporterfolge der
Heimat hin Bakch. II 6 fY. VI 4 ff. Da ist es nun sehr interessant^
daß die Beteiligung der Keer an den nationalen Kampfspielen ^^^en
450 plötzlich abbricht, die von Bakchylides gefeierten Sieger
Argeios und Lachon sind in beiden Listen die letzten. Vermutlich
Avurde auch hier der sportliebende Adel vom Demos um so mehr
zurückgedrängt, je schärfer die attische Vormacht die Zügel der
Herrschaft anzogt). Als man dazu schritt, die Liste der Sieger
in Stein zu hauen — ich möchte glauben, daß dies bald nach dem
Sturz des attischen Reichs geschehen ist, als die spartanische Vor-
herrschaft den alten Familien wieder Oberwasser gab — , da waren
50 oder mehr Jahre seit dem letzten Siege eines Keers verflossen,,
und die Hoffnung auf neue Erfolge scheint nach der Zahl der zwischen
Isthmioniken und Nemeoniken freigelassenen Zeilen nicht allzu groß
gewesen zu sein. Tatsächlich hat denn auch kein Athlet; sondern
nur ein Herold nachträglich noch Aufnahme gefunden.
Der reizvolle Einblick in das Blühen und Welken der Gesell-
schaft, aus der Bakchylides hervorging und die er verherrlichte 2).
ist aber nicht der einzige Gewinn, den der Stein abwirft, es läßt
sich aus ihm für Bakchylides erheblich mehr herausholen als bisher
geschehen ist. Zunächst verhilfl er uns zu einer ziemlich genauen
Datirung der beiden ersten Gedichte. Lachon hat in Olympia
TiaiÖcov orddiov im Jahr 452 gesiegt, und es ist sicher anzunehmen ^
daß mindestens einer der beiden nemeischen Siege dem in den
größten und anspruchsvollsten Nationalspielen voranging, also sind
die spätesten für Lachons nemeische Siege möglichen Jahre 45S
und 451, wahrscheinlicher wird man sie auf 455 und 453 setzen.
Der Sieg des Argeios äyevEion' an den Nemeen steht unmittelbar
1) Vgl. Bethe, Neue Jahrb. für das klass. Alt. XXXIX 1917, 76 ff.
2) Sein gleichnamiger Großvater heißt bei Suidas u&hjT}']?, gehörte-
also zum sporttreibenden Adel; der Enkel wird das gelegentlich hervoi-
gehoben haben.
BACCHYLIDEA 119
vor Lachons erstem Sieg, kann also spätestens am gleichen Fest 453
errungen sein. Der Nemeensieg des Argeios fiel aber später als
der von Bakchylides gefeierte isthmische, denn am Isthmos ist er
noch Jialg, in Nemea äyeveiog. Nehmen wir an, daß er grade
in dem zwischen beiden Siegen liegenden Jahre die Altersgrenze
beider Klassen überschritten hatte, so ist 454 das spätest mög-
liche Jahr für die beiden Gedichte des Bakchylides. Nicht ganz
so fest wie dieser Terminus post quem non läßt sich der ante
quem non bestimmen, immerhin ist auch hier der Spielraum nicht
allzu groß, weil die Zeit, in der ein Athlet Tiaig oder uyeveiog ist,
ja nur wenige Jahre umfaßt. Wenn Lachon 452 als Knabe in
Olympia siegt, so ist der frühest mögliche Termin für den ersten
Nemeensieg das Jahr 457, dann kann der unmittelbar vor ihm
stehende Argeios immerhin 459 oder 461 gesiegt haben und sein
Isthmiensieg als Knabe 462 oder 464 fallen , höher hinauf wird
man schwerlich gehen dürfen. Somit fallen die beiden ersten Ge-
dichte des Bakchylides zwischen 464 und 454, also sicher zwi-
schen das Lied III für ' Hierons olympischen Wagensieg und die
beiden für Lachons olympischen Sieg im Knabenstadion VI und VII,
vom Jahre 452. Mit Wahrscheinlichkeit wird man die Mitte des
so abgesteckten Zeitraums, also die Jahre 460 oder 458 als Ent-
stehungsjahre der Gedichte ansehen dürfen, und warum von diesen
beiden wieder 458 nicht in Frage kommt, führe ich weiter unten
(S. 147) aus.
Aber noch eine andere für Bakchylides nicht unwichtige Frage
hilft die Siegerliste entscheiden. Bekanntlich hat Blaß die von
Kenyon als VII und VIII gezählten Gedichte in eins zusammen-
gezogen und dementsprechend für die folgenden Gedichte eine beim
Citiren höchst unbequeme ümnumerirung eingeführt. Diese Ver-
schmelzung ist von Festa und Jebb angenommen, von Blaß ind. Z.
XXXVI 1901 S. 274ff. noch einmal ausführlich verteidigt worden, und
Sueß hat sie trotz des inzwischen geäußerten Widerspruchs ^) bei-
behalten, Wirkhch bewiesen hat Blaß, daß zwischen der Columne
XVII (XIII bei Kenyon) und XVIII (XIV K.) keine ganze Columne aus-
gefallen ist; denn er hat Wortenden am linken Rand des oberen
Drittels von Gol. XVIII mit Hilfe kleinerer Fragmente sehr scharf-
1) Jiirenka, Festschrift für Gomperz 220 if. Paul Maas, Philol.
LXIII 1904, 308 f.; Sitzler hat seinen Bursians Jabresber. 104, 134 ge-
äußerten Widerspruch später Jahresber. 133, 216 f. zurückgenommen.
120 A. KÖRTE
sinnig und durchaus überzeugend an die Versanfänge der Golumne
XVII angeschlossen. Nicht bewiesen hat er aber, daf.j Gedicht VII
von der drittletzten Zeile der Gol. XVI bis zur 16. Zeile der
Gel. XVIII reicht , so gerne man auf das kurze VI. Gedicht ein
längeres von 54 Versen folgen sähe. Ein Beweis war hierfür nicht
zu erbringen, weil sich eine strophische Einteilung nicht durchführen
ließ ^). Er kam deshalb in seinem Aufsatz in d. Z. zu der verzwei-
felten Annahme, VII sei ein großes änolelvfxevov, eine Ansicht,
die Sueß p. LVI anscheinend mit einigem Unbehagen wiedergibt 2).
Jetzt entscheidet der keische Stein gegen die Zusammenziehung,
denn Kenyons VIII. Gedicht läßt sich mit ihm nicht in Einklang
bringen.
Das Erhaltene beginnt V. 39 Blaß
Ilvdcbvd xe fit]lo&vrar
40 vjuveojv Nejiitav je xal 'lod[fi\6v
yäi d EJiioxi'jjTTOJv x^Q^
}<ojuJidoof,iat' ovr aXa-
'&eiai de tiuv /mjlijisi xQ^o[g'
ovng ävdQOjTioiv x\ad' "EXka-
45 vag ohv ähxi xq6vo}\i
Tiaig eojv ävrjQ ze n\oooh''^) JiXev- m
rag EÖe^axo viyMg.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Erwähnung von
Pytho, Nemea und dem Isthmos durch frühere Siege des Gefeierten
an diesen Orten veranlaßt worden ist ; wenn Lachon hier besungen
wird, muß er also vor dem olympischen Knabensieg schon andre
in den drei andern großen Nationalspielen gewonnen haben. Daß
die V\'^endung V. 46 jiaTg kov avi'jQ xe auf ihn bezogen werden kann,
obwohl er ja nur als Knabe gesiegt hat, gebe ich zu, nach dem
vorangehenden ovxig entspricht die Wendung einem ovxe Tzaig ovxe
1) Die gewaltsamen Versuche von Jurenka a. a. 0. 222 f. und Sitzler
Bursians Jahresber. 133, 216 f., Responsion von VII 1 — 7 und 8ft". zu
erzwingen , scheitern an V. 3 und 10, wie Blafs und Sueß mit Recht
bemerken.
2) Wie unwalirscheinlicli ein dno'/.slvjiiyov unter Bakchylides' Epi-
nikien wäre, hat Jurenka a. a. 0. 224 sehr richtig ausgefülirt.
3) Ich habe mit Sandys n:oooiv vor .-z^-erya^ eingesetzt, ebenso möglich
ist Jiv^. Die Angabe des Kampfspiels scheint mir wünschenswert an
sich und ergibt ein besseres Metrum, nur hätte der Schreiber .ihv- zum
folgenden Colon ziehen sollen, das dann ein regelmäßiger Enhoplier wird. '
BACCHYLIDEA 121
CLVYjQ, schlechterdings niemand, auch kein Mann, Aber die Verse
können nicht auf ihn bezogen werden; denn er fehlt in der Liste
der keischen Isthmioniken, wo er hinter Argeios seinen Platz haben
müßte. Ich halte es für durchaus unzulässig, die Urkundlichkeit
dieser Liste einer noch so bestechenden modernen Gombination zu-
liebe anzutasten. VIII ist mit Kenyon von VII zu trennen und einem
unbekannten Sieger zuzuweisen.
Es zeigt sich, dafs Kenyon doch von einem richtigen Empfinden
geleitet war, als er die Schlußverse des Gedichts als Gebet für
«inen künftigen Erfolg in Olympia, nicht als Dank für einen ge-
wonnenen olympischen Sieg auffaßte, sie sind dann zu schreiben :
47 CO Zev K\£\Qavveyyßg, xa\l bti' äQyv]QOÖiva
öx&aioiv 'Alcpeiov xele\oov [,iey\aXoy.XEag
50 deodoToli']? ev/dg, Jieol x\gdT( y' d\7id\oaa.]g
ylavy.ov Älrcolido\^g
ävdijjLi' eXaiag
EV ÜEloTiog 0Qvyioi'^
y.leivoig äE&?,oig.
Mich hat immer gestört, daß wenn man mit Blaß TElEoag
(überliefert teIsoo-) ergänzt, dieser letzte größte Sieg durch die
feierliche Bezeugung der Einzigartigkeit der Erfolge von den andern
Siegen abgetrennt wird und nachklappt. Auch der wuchtige Anruf
o) Zev y.sgavveyyjg scheint mir für ein Gebet angemessener^).
Natürlich kann man trotz der keischen Siegerliste Blaß' Lesung
und Auffassung der Schlußverse festhalten, dann hat eben der hier
Gefeierte an allen großen Nationalspielen gesiegt, — was Lachon
nicht beschieden war.
Sind VII und VIII getrennte Gedichte, so muß man versuchen,
die von Col. XVII erhaltenen Bruchstücke (fr. 12 und 7 bei Kenyon)
auf beide Lieder zu verteilen und deren Umfang festzustellen. Dies
ist meiner Überzeugung nach Paul Maas (Philol. LXIII 308 f.) bereits
gelungen, dessen sehr knappe Darlegung des Tatbestandes von
Sueß nicht ganz nach Gebühr gewürdigt wird. Fr. 7 Kenyon ge-
hört in das VIII. Gedicht und entspricht metrisch den Viersen VII
46 — 53 der Blaßschen Ausgabe. Ich gebe von den correspondiren-
den Versen nur die vergleichbaren Teile:
1) Ganz ähnlich läßt Pindar Istlim. I auf die lauge Liste der Er-
folge des Herodotos V. 53— 59 mit scharfem Absatz V. 60 — 63 deu Wunsch,
er möge auch in Delphi uud Olympia siegen, folgen V. 63 — 67.
122 -^- KÖRTE
fr. 7. VII 46 ff. Bl.
IOC dycöv[og (?) :^aTg ecov ävrjQ je
ww xäv )dna[oäv — -vag ede^aio vly.ag
— vaig en' a[ o) Zev xenawey/hg
na^dag ^Elhl\yo)v öydaioiv 'Alcfeiov
5 6 7io]XvafX7ieX{ov 50 ßsodorovg evyäg
• ■ arov vi.iv\c>v ^ — y?Mvy.öv AhcoXidog
Z]^}]vbg £v K[(o)i ävdt]iu' iXaiag
y.ai]ji€o ävi7i[7iog eovo' (?) h UeXoTiog (Povyiov
Fr. 7 Z. 1 ist die Lesung unsicher und der Hiatus -lov äyojv\og
schwerlich richtig, aber der Papyrus hat ähnhche Hiate III 64. 92.
XVI 5. 20.
Z. 5 schlägt Maas nov\Xvaf.mel — oder 6 7io\lvaiA7iEX — vor,
aber Composita mit ttovIv kommen weder bei Bakchylides noch
bei Pindar vor, auch ist die Entsprechung bei o 7iolvai.i7iel — ge-
nauer. NatLU'lich mufs ein casus obliquus folgen, etwa 6 Ttokva/ti-
TIeXoV JLlEÖEmv.
Z. 7 ist Maas' Vorschlag iv K[ecoi schwer zu umgehen, da
dem Kolon nur eine Silbe fehlt; obwohl die Synizese sonst in Keog
bei Bakchylides nicht vorkommt.
Z. 8 habe ich y.aijiEQ ärijuiog lovo' gewagt nach Pindar
Pai. IV 27, wo der Keerchor von sich sagt ävinnog eijui.
Daß sich die 8 Verstrümmer hintereinander dem Metrum von
VIII ohne Zwang und ohne andre als die erlaubte Freiheit — ^ — -^
= — ^ (V. 5) fügen, kann kein Zufall sein.
Ebenso läßt sich fr. 12 mit Vll 2tY. in Einklang bringen, ob-
wohl hier die starke Zerstörung der Strophe ein sicheres Urteil
unmöglich macht ^). Maas gewinnt also aus VII 1 — 11 -f fr- 12
ein Lied aus zwei Strophen mit zusammen 22 Kola, aus fr. 7 -,-
VIII Kenyon ein zweites, wieder aus zwei Strophen mit zusammen
32 Cola bestehend. Beide Lieder sind kurz, aber selbst das kürzere
MI ist immer noch zwei Verse länger als der Liederbrief IV, den
Bakchylides nach Hierons pythischem Wagensieg an den Herrscher
sandte.
1) Blaß' Behauptung, daß sich am Räude von Col. XVUI Vers-
enden der Gegenstroplie erhalten haben müßten, wenn eine solclie zu
VII Ift". existirt hätte, weist Maas mit Recht zurück; der Schreiber
wird die Gegenstrophe etwas enger geschrieben, oder allmählich etwas
weiter links begonnen haben.
BACCHYLIDEA 123
Für das VIII. Gedicht läßt sich nun noch einiges ermitteln.
Daß 7iolvdjiiJie?.og (fr. 7, 5) auf Keos weist, hat schon Blaß hervor-
gehoben, äjUTieXoTQÖq^og wird die Insel VI 5 genannt, und auch
Pindar läßt den keischen Chor Pai. IV 25 f. rühmen
fj y.ai zt Aicovi'oov uqovqu rpegei
ßiodcoQov äfiayaviag äxog.
Nimmt man die zum mindesten wahrscheinliche Ergänzung in V. 7
Z\r]v6g ev K[koL und die wieder durch Pindar empfohlene in V. 8
y.ui]^7iEQ ävi7i[7iog hinzu, so glaube ich mich nicht gegen das neunte
Gebot des Lehrs-Ritschlschen Philologen-Katechismus „Du sollst nicht
glauben, daß zehn schlechte Gründe gleich sind einem guten" ^) zu
versündigen, wenn ich sage, im VIII. Gedicht wird ein Keer gefeiert.
Der Platz hinter den beiden Gedichten für den Keer Lachon paßt
gut dazu, und man versteht jetzt auch besser, warum die Gedichte
VI — VIII von den beiden ersten für den Keer Argeios getrennt sind.
Das erste Gedicht war durch seine Länge und die keische Sage als
Tijlavyeg tiooocojiov für die Epinikien des keischen Dichters wie
geschaffen und bestimmte natürlich den Platz des zweiten, das ja
nur sein Vorspiel ist. Nun aber sogleich weiter drei kleine Gedichte
für Keer folgen zu lassen, trug der Anordner Bedenken und schob
die Gruppe der Gedichte für Hieron ein, von denen III und vor
allem V weit stattlicher sind.
Ist aber der Sieger von VIII ein Keer, so können wir ihn auch
benennen. Er muß, wie wir sahen, am Isthmos und in Nemea
gesiegt haben, und das haben laut dem keischen Stein nur Argeios
und Liparion, Liparos' Sohn, getan. Argeios scheidet schon nach
der Stellung von VIII aus , also bleibt Liparion übrig. Und da
trifft es sich dann gut, daß Liparion mit seinen drei isthmischen
und einem nemeischen Sieg weitaus der erfolgreichste Keer ist,
von den wir Kunde haben, die stolzen Worte des VIII. Gedichts
ovrig äv&gcoTicov x[ad'' "Ella-
vag ovv älixi yo6vco[i
naJg ecov uv/jq ts :7[ooolv
.T/£t']vag idtiaro viy.ag
passen also in der Tat vorzüglich auf ihn.
1) 0. Ribbeck. Friedrich Wilhelm Ritsclil S. 4r>0.
I
124 A. KÖRTE
2. Die neuen Fragmente.
Unter den Oxyrh}Tichos-Pap)'ri ist schon einmal ein Rest
einer Bakchylideshandschrift zutage gekommen ^) , der für die Verse
XVII (XVI Bl.) 47 — 78 und 91 f. erwünschte Ergänzungen bot
und vor allem durch den angehängten Sillybos Baxyv/ddov
.dißvgajLißoi alle Zweifel daran beseitigte, daß wir in dem zweiten
Teil des großen Londoner Papyrus wirklich die erste Hälfte des
Dithyrambenbuchs besitzen. W^eit umfangreicher und interessanter
sind die Pveste einer zweiten Handschrift, die Grenfell und Hunt
in dem leider bisher in Deutschland nur sehr spärlich vertretenen
Band XI der 0. P. Nr. 1361 unter dem Titel Bakchylides Scolia
veröffentlicht haben ^j. Die sehr schöne, ich möchte sagen lapidare
Schrift, die sogar vornehmer wirkt als die des Londoner Papyrus ^),
wird von den kundigen Herausgebern dem 1. Jalirh. n. Chr. zuge-
teilt; hervorzuheben sind die Formen des t, bei dem der Horizontal-
strich nach Art der älteren Steinschrift senkrecht von der Mitte
der oberen zur Mitte der unteren Querhasta geführt wird, und des
i, bei dem ein kleiner Haken frei zwischen den beiden Querhasten
schwebt. Die Kola sind richtig abgesetzt, es fehlen aber die Paragra-
phoi zur Strophenabteilung. Die ävco oriyjurj hat, wo sie inner-
halb der Zeile auftritt (fr. 1. 1 und 3, fr. 4, 2 und 7), Kommaform,
am Versschluß dagegen (fr. 1, 6) Punktform, die /neo^] am Versschluß
(fr. 1, 8) ebenfalls Punktform. Die ziemlich zahlreichen Accente,
Spiritus, Apostrophe sind nach den Herausgebern ganz oder vor-
wiegend von späteren Händen hinzugefügt, ebenso die spärlichen
Schollen. Unter diesen verdient besondere Beachtung eine Notiz
zu fr. 5, 13. Als Variante zu y.QaxEoäi rex' wird angemerkt IJzolie-
jLioiog) xagxe[om reHJeTv. Von den zahlreichen Grammatikern dieses
Namens kommen hier besonders zwei in Betracht IJToXejiiaTog 6
'Ejif&etrjg und UroÄsjualog 'Ogodvdov. Für ersteren läßt sich
anführen, daß er der einzige Ptolemaios ist, der in unsern Pindar-
scholien citirt wird *) : auch ist er aus der Schule Zenodols hervor-
gegangen, dessen lebhaftes Interesse für die Chorlyriker durch den
1) 0. P. VIII 1091.
2) Knapp und gut liehandelt von P.Maas, Jahresber. des Beil.
Philol.Ver.XLl II 1917 S. 81 if. [Jetzt auch Dielil, Suppl. lyr.^ 78ff.]
3) Proben fr. 1 und 4 auf Tafel III.
4) Schol. A in 0. V 44 ?.vdiois aTivon- : h'dioTi ijQuoainvoi:. IJto?.f-
BACCHYLIDEA 125
Papyrus der Paiane Pindars neuerdings so deutlich geworden ist.
Die englischen Herausgeber ziehen ihn nicht in Erwägung, sondern
denken in erster Linie an den Sohn des Oroandes. Dieser wird
freilich in den Pindarscholien nie genannt , aber sein Beiname
Ilivöagicov ^) beweist , dafs er sich mit Pindar beschäftigt hat.
Ptolemaios, Aristonikos' Sohn, der in Rom lehrte, ist kaum älter
als der Papyrus, und auch Ptolemaios von Askalon-, gleichfalls in
lioni tätig, scheint erst der frühen Kaiserzeit anzugehören ^). Da
bisher Didymos der älteste Grammatiker war, von dem wir ein
V7c6jnv)jjua Bay.yvXidov "EnivixUov kannten (Amnion, de differ. verb.
p. 97 Valck.) ^), ist es immerhin ein Gewinn, hier einen Zeitgenossen
oder Schüler Aristarchs mit dem Text des Bakchylides beschäftigt
zu sehen. Leider ist die Erhaltung der Rolle schlecht, von den
48 Fragmenten sind nur drei von größerem Umfang (1, 4 und 5),
die meisten andern ganz kleine Fetzen. Weitaus am ergiebigsten
ist fr. 1, weil es sich mit dem in der Athenaios-Epitome I! 39 E
erhaltenen schönen Fragment 20 (Blaß-Suelj) aufs glücklichste er-
g^^nzt,
'Ale^o^^vyÖQCoi 'Ä}xvvT\a^)
'U ßuoßixe, jLUjy.en ndooaAov cfvldo\o(.ov
EJitdxovov hyvQav y.aTinave yuow
öevo ig ijudg xeoag' ÖQjiiaivw ri 7iE!.in\en'
'/Qvoeov 2Iovoäv ^AÄe^dvögcoi 7neo6[v
5 y.al ov/A7TOo[ioi]oiv äyaXf.i[a y]eiy.dd£q[ou',
eure vecov d\xaXbv ykvyeV a\vdyy.a
oevojiievä}' y.[v?Jy,cov ßd?.m]]oi dvju[6v
KvTiQidog T e}^ji\lg {di)aidvoo)]i (pQ£]vag,
ä jueiyvvin€v[a Aiovvoioioi] dcoQoig
10 drögaoiv vi^'o[rdTco Treujist] jLieoiLiv[ag '
avT(y.[a\ Liev 7i[oluoy yodd€]jiiva A[t'£t,
7rao[i d dv&QCOTioig poraoy/)]o[£iv öoy.si,
XQv[g\o)i \d' eXecpavTi ts jLiaQ^u]aig[ovoir oiy.oi
7ivQoq\6Qoi öe y.ax' aiy/idevT\a Ji6[yToi'
1) Suidas S. v. UioIeiiuio; 'AÄs^ardgev;.
2) Vgl. Susemihl, Gesch. der griech. Lit. m der Alex. Zeit II 156 f.
Ol Christ - Sehmid . Griech. Litteraturgesch. " 225 läßt ihn einen
Commentar zu den Dithyramben schreiben, in den älteren Auflagen des
Handbuchs findet' sich, soviel ich sehe, dieser Irrtum nicht.
4> Der Adressat war links in Höhe des zweiten Verses beigeschriebeu.
126 A. KÜRTE
15 väeg ayo[i'oiv un Aiyvnxov fuyioror
jiXovxov wg [mvovxog ÖQjuaivei xeuq.
CO 7T\a]i jUEyak[oodEV£g evöo^oi' "Afivvja^)
Der schlechte Text der Alhenaios-Epitome, der in V. 6 mit
yXvxeT ävdyy.a einsetzt und bis V. 16 y.eaQ reicht, wird durch den
Papyrus wesentlich verbessert ; vielfach war das Richtige schon durch
moderne Gonjectur gefunden; es entstehen aber auch neue Fragen.
Die Ergänzungen rühren, wo nichts anderes angegeben, von Gren-
fell und Hunt her.
V. 5. Ich habe Maas' Vorschlag y.Ety.ddeooiv angenommen^).
Die Herausgeber schreiben äyakju' er elydöeooiv, aber dann ent-
steht die schiefe Verbindung 'A?.eidvdooji y.al ov/unootoioir, wäh-
rend das Lied doch Alexander für die Gelage geschickt wird.
Richtig bemerkt Maas, „elyAg hat hier fast schon den Sinn von
Gelage, wie später EiyAg nioTega Philodem Gadar, Anth. Pal. XI 44",
vgl. auch Plut. Non posse suav. vivi 4, 8.
6. äraXov Maas unter Verweis auf Pind. N. VII 91 f. dxaXov
äju(pe7iojv {)v\auv TiQoyovoyv, die Herausgeber schreiben aya'dibv.
7. Die Athenaioshandschriften geben asvojaeva G oder yevo-
fieva E, oevojLiEräv hatte Blaß schon gefunden. ddl7iif[ioi steht
von erster Hand im Papyrus, dann ist das Iota durch darüber ge-
setzten Punkt mit Recht getilgt, die Athenaioshandschriften haben die
richtige Form ddlm]Oi, vgl. Kühner-Blaß, Griech. Gramm. II 46.
8. KvjtQtdog Einig d' atd^vooei G, (5' ev&vooei E, Kvjtoidog
6' ElTilg ÖiaidvooEi Erfurdt, diaidvooi]i Blaß. Im Papyrus ist für
SiaißvoG7]i kein Platz 3), es w'wd aber doch richtig sein.
9. ä jLieiyvvjLih'la ist im Papyrus durch Spiritus und Accent
auf « gesichert, die Athenaioshandschriften geben drajuiyw/uiva
(woraus Neue d/Lijuiyw/nEvag, Bergk äjnjuiyvvjiiEva herstellten) und
im folgenden Verse statt uröodoir uvögnoi ö'. Die von Grenfell
1) Von V. 18—23 sind nur einzelne Silben erhalten
deXi]ov jt[
— ^]^^7.[
— \.]g fj dvii[
] (pQovo[
— ^] ejiegl
2) Für die Krasis vgl. Bakch. III 81 yßn, XVII 33 y.äfts, XVJII 50
XTJVTVHTOV.
3) Auch für diatoorji, woran Maas denkt, reicht die Lücke nicht aus.
BACCHYLIDEA 127
und Hunt angenommene Lesung des Papyrus wird von Maas als
stilistisch schwächer zugunsten von aa/^ieiyvvjueva und avÖQaoi (Y
abgelehnt. Richtig ist, daß, wenn KvjiQiÖQg eXnk Subjekt des
Relativsatzes li — TiEfmei ist, ihr Anteil an den hochfliegenden Ge-
danken auffallend stark betont wird, das wird aber durch den Zu-
satz jLiEiyvvjLih'a Aiovvoloioi öcogoig gemildert, der sonst neben
ylvxeT ävdyxa oevoi-iErnv xv?uxcüv überflüssig wäre. Bei der un-
zweifelhaften Überlegenheit des Papyrustextes über die Athenaios-
Epitome folge ich ihm auch hier. Keinenfalls kann ich Maas zu-
geben, dafs ärögaoi zu rkov in deutlichen Gegensatz trete: „den
Jünglingen erhitzt der Wein die Sinne, die Männer läßt er von
Macht und Reichtum träumen"; das Schlußwort 16 cog mvovrog
oQjLiaivei yJag zeigt deutlich, dafs von Zechern im allgemeinen die
Rede ist, ohne Unterscheidung von Altersstufen.
11. amdg /Lih E, avrij juer G, die Lesung des Papyrus hatte
bereits Kaibel gefunden, avTiy' 6 jLih' Bergk.
xQ)]dejuvov C E, y.g/jöefiva Erfurdt, xQuöefira Bergk; jioleon'
G E, 7io)dcov Bergk.
Für XvEi schrieb Blaß ^ Ivoeir, weil ihm die Länge des v bei
Bakchylides verdächtig schien, dagegen vervi^eist Sueß auf Homer
•^513, 1] 74.
12. Der Dativ Träai ö' dv&QcoJiorg bei juovaQyt]0£iv wird von
Jebb durch das vereinzelte Vorkommen des Dativs bei uq'/eiv, Aiscli.
Prom. 940 öagöv ydg ovy. uq^ei dsoig, verteidigt, näher liegt noch
der Dativ bei ßaoilEVEiv Pind. P. X 3 äju(poTEQaig . . . ysvog 'Hga-
y./Jog ßaoilevEi.
13. Die Buchstaben aiq in juaQjuaiQovGiv und a uio des fol-
genden Verses stehen auf einem losgelösten Splitter, dessen Rück-
seite etwas anders aussieht als die umgebende Partie von fr. 1,
dennoch scheint mir die Einfügung sicher.
14. alyXrjEvra G E, alyXdevxa Bergk; novror fehlt in G E, war
aber von Erfurdt richtig ergänzt.
15. vfJEg G E, vuEg Bergk; eji' G E, uti Musurus.
17. fiEyaX[oo'&EVEog (?) Gr. H. , ich ziehe einen zu ttol ge-
hörigen Vokativ vor i). Daß dann der Vater genannt war, ist durch
Txfu gesichert, wird auch durch die ganz ähnliche Anrede Pindars
fr. 120, 2 Tiäi 'dQaovjutjdEg'AjLwvra bestätigt; 'Ajuvvta ist von Maas
1) Vgl. XVII (XVI Bl.) 52 f. ftsyaAoo&Evk Zsv jrärsQ.
128 A. KÖRTE
also lichtig am Versende ergänzt worden. Dazwischen fehlt nur
ein Beiwort zu 'Afxvvra, das des Metrums wegen auf -sog, mit
Synizese zu lesen, .geendet haben muß, etwa evueveog, oder aber
auf elidirtes -oio^): evöö^oi 'Ajuvvra liegt am nächsten 2).
18. Da am Anfang nur vier Buchstaben fehlen, die einen
Daktylus bilden müssen, ist Maas' Ergänzung äiiXiov überaus wahr-
scheinlich ^).
Metrisch ist das Lied wohl das schlichteste seiner Gattung,
das wir besitzen. Zwei Trimeler aus Enhoplier und Epitrit werden
umrahmt von einem genau so gebauten Trimeter mit Vorschlag und
einem katalektischen epitritischen Trimeter.
Die 6 Verse, die der Papyrus dem bekannten Fragment hinzu-
fügt, sind ein großer Gewinn. Zunächst sichern sie Blaß'
scharfsinnige Zusammenfügung der Pindarfragmente 124 a und b
Schroeder.
(a) 'Q SgaooßovX', eouTäv o-/;)]j.i' äoidäv
TOVTo [toi) jzEjiiTioj jUfTadoQTriov. ev ^vvon y.e.v el'rj
ovjUTtOTaioiv re yAvy.EQov y.al Aicovvooio xagTcön
xal y.v/Iy.Eooiv "Adavrdaiot xh'TQOv '
(b) äviy' är&QOJjTOJi' xajuarfoöeEg oXyovjai i.ieqi}xv(li
OTi]'&eoiv e^co ' Jiskäysi ö' ev noh^yovooio nXovxov
jidvreg ioov veojuev xpevdrj Ttqog äxTav '
og /jihv ä'/Qt]{.ia)v, äcpveog zöre, rol ö' av jTAovTeovxeg
Dann nach einer Lücke von mindestens 2 Versen
(ft>g)*) äe^ovrai cpgevag djLiTieXivoig xo^oig öajuevreg.
In der Form der Einleitung, in der Schilderung des Gelages
und seiner Wirkung auf die Zecher, selbst in dem Bau der knappen
Strophen sind beide Lieder jetzt so ähnlich, daß eine gegenseitige
Beeinflussung unzweifelhaft ist. Einen unmittelbaren Anhalt zu
genauer Zeitbestimmung gibt keius der beiden Gedichte, aber beide
sind verhältnismäßig wohl früh. Im Jahre 490 hatte Pindar in
dem Lied auf den pyihischen Wagensieg des Xenokrates P. VI den
Sohn des Siegers Thrasybulos mit einer Wärme gefeiert (besonders
1) Vgl. Bakch. V 62 fL-rAdrot' 'EyJSrag, XI (X Bl.) 120 Ugiäfioi etisi.
2) Vgl. Bakch. XIV (XIII BL) 22 Uvqqijcov r svdo^ov fjTTiövixor vim\
Find. N. VII 8 fMo'^og Icoysv}]?, P. XII 5 £v86^(p MiSai.
3) Diese Form steht bei Bakdiylides oft I ö."). V 161. XI (X Bl.) lOK
n^/.toc XI (X Bl.) 22.
4) {(og) habe ich nach dem Muster \on Bakch. \. 16 hinzugefügt.
BACCHYLIDEA 129
V. 44 — 54), die deutlich verrät, daß der schone Jüngling sein ent-
flammbares Herz entzündet hatte, ihm, viel mehr als dem Vater,
gilt das anscheinend gleich in Pytho bei der Siegesfeier gesungene
Epinikion ^). Ungern wird man das fürs Gelage bestimmte Lied
zeitlich weit von dem Epinikion trennen, zumal dessen Schlufs mit
dem Preis des Thrasybulos als liebenswürdigen Zecligenossen 52 IT.
yXvxeia ös (pQi)v
xal GvjiiTTOTaiGiv oluIeIv
jLisXiooäv djUEißerai xQrjröv novor
bei dem Gefeierten sehr wohl den Wunsch auslösen konnte, nun
auch ein sympotisches Lied von Pindar zu erhalten. Das Trink-
lied macht ganz den Eindruck, als sei es noch in frischer Begeiste-
rung für den schönen liebenswürdigen Jüngling verfaßt, gehöre also
zu des Dichters Jugendwerken ^j.
Für Bakchylides' Lied bietet die Thronbesteigung des Alexan-
dros 498 einen wahrscheinlichen terminus post quem, sein Tod 454
einen sicheren terminus ante quem, aber mit einer so weiten Be-
grenzung ist uns nicht gedient. Immerhin wird man sagen dürfen,
ein so ausgesprochen jugendliches Trinklied paßt wohl für einen
jungen Fürsten, aber nicht für einen alten König. Zeitlich stände
also nichts im Wege, das Bakchylideische Gedicht frXiher anzusetzen
als das Pindarische, aber schwerlich hat der stolze Thebaner eine
so starke Anleihe bei dem geringgeschätzten Keer gemacht, wäh-
rend dieser ja offen bekennt:
fr. 5 EtSQog e| hsGov oofpog rö ts Tidkai x6 xe vvv,
ovöe ycLQ oäioxov UQQrjxcov enecov nvXag
E^evQexv
und tatsächlich einen guten Teil seiner Wirkung der geschickten
Benutzung älteren Dichterguts verdankt '^). So gut wie er V 31 ff.
TCO? vvv xal ifio} uvota Txavxäi xElevdoq vjuexeqüv doExdv üjuveTv
1) Entstehimg in Delphi möchte ich mehr noch als aus den ersten
Versen aus V. 15 ff. erschließen, nach denen erst das Lied dem Vater die
Siegeskunde bringen wird {änayyshT).
2) Boeckh, der die Zusammensetzung mit fr. l'iib noch nicht kamite.
will Explic. 614 ff. das Lied in seltsam spitzfindiger Beweisführung wegen
der Hvhxsg "AßavaTai an den Isthm. II 19 erwähnten panathenäischen
Wagensieg des Xenokrates anknüpfen und bis nach 472 hinabrückeii,
das beruht auf einer irrigen Bewertung der attischen Becher.
3) Vgl. Hermann Büß, De Bacchylide Homeri imitatore, Gietaen 1913.
Hermes LHI. J
130 A. KÖRTE
aus Pindais I. IV 1 H. eoti jitoi decbv exari f.ivQia jravxäi xekevdo?
. . . v/nEiigag uoerdg vjiivco( duuxeiv übernommen hat^), wird er
auch liier der Nachahmer sein. Es konnte den gewandten lonier
wohl reizen, Pindars Gedanken, der Zecher fühlt sich reich, in
einer viel glänzenderen, lebendigeren Ausführung noch einmal vor-
zutragen: schwerlich wird hier jemand den frischen, leichtbeflügel-
ten Bakchylideischen Versen den Vorzug vor den schwereren, trocke-
neren Pindars abstreiten.
In ihrer Vereinzelung wirkten die Verse bei Athenaios wie ein
echtes Trinklied, das für die Allgemeinheit der Zecher, nicht für
eine bestimmte Persönlichkeit gedichtet ist und deshalb auch von
jedem Teilnehmer eines Gelages einzeln oder im Chor gesungen wer-
den kann, jetzt finden wir sie fest eingefügt in den Conventionellen
Rahmen der Ghorlyrik. Ganz persönlich wendet sich der Dichter
in den Eingangsverseu an einen der Großen dieser Erde und zu
ihm kehrt er V. 17 wieder zurück — die Erhaltung von V. 17 ist
deshalb besonders wertvoll. Wertvoll ist auch, daß wir Bakchylides
an einem neuen Fürstenhofe als Nebenbuhler Pindars finden. Dessen
Enkomion für den griechenfreundlichen König war längst bekannt
(fr. 120 f. Sehr.), noch Alexanders großer Nachkomme hat sich
durch Verschonung des Pindarischen Hauses bei der Zerstörmig
Thebens für die dem Ahnen dargebrachte Huldigung dankbar er-
wiesen ^j, aber von Beziehungen des Bakchylides zu dem makedo-
nischen König wußten wir nichts. Freilich konnte man aus Solin
9, 13 Alexander Aniyntae fdhts . . . voluptati aurium indidgeu-
tissime deditus: sicut plurimos qui fidibus sclebant. dum viv'tt
in usmn ohlectamenti donis tenuit liberalibus, inter qiios et l'hi-
darum lyricum entnehmen, daß Pindar nicht der einzige Dichter
war, der sich der königlichen Gunst erfreute.
Bevor ich die Frage, wie die alten Herausgeber das Lied be-
nannt haben, erörtere, möchte ich auf die beiden andern größeren
Fragmeute eingehen.
Fr. 4 "lYooivi l2!v]ga-riüoi(oi.
M//7T0J /uyvaxl^u navoco
ßagfitTov " /iA,e?J.[oj yäg fjdij xQvaoJienAojv
1) Und noch einmal XIX (XVIII Bl.) 1 f. üäQsaxi fivoia yJ/.svifog d/t-
ßgootcov /xsXeov; vgl. Otto Scliroeder S. 71f. der großen Ausgabe und Pren-
tice, De Bacchylide Pindari artio socio et iraitatore, Halle 1900, 21. 46 f.
2) Die Pnis. II 33.
15ACCHYLIDKA 131
nvßtuor Movour 'Is\Qayv\i xXi'tuk
^avfkäaiv mTtoig
5 iulsQoev reXioag
xu\l oviiJTOrrug ävÖQFooi, 7i[tn:rnv
ÄT\rvav lg Evy.rtzov ' et x\(ü
7iQ\6od'ev vjLiy/joag rbv [«' Tzwkoig y.kEevrbr
7to\oai Aan/'[//]/polT]c fPeglevtxov tri' "Al-
10 (f^E\coi r\F ri\y.av
... o .... TOj^ievog
eavE .[- w
tuol TOTE xovga
daifwvEg i^'J ooooi Aiög Jidy^Q[voov olxov
15 fioig ri&Eoav fx\^ w —
-,.,.-1
y\i'vai[y.-
ra7r.[
20 OY}[
Hier hilft leider kein bekanntes Fragment die Trümmer er-
gänzen, aber die ersten 10 Verse haben die englischen Herausgeber
wenigstens dem Sinn nach vortrefflich hergestellt. Sicher ist vor
allem die metrische Form:
— 1 — ww — I ww~[~
w w
Man ist zunächst versucht, dem zweiten Vers, der in den
beiden ersten Strophen unvollständig ist, die Form des dritten
— yj I — vjij— j w,^- ZU geben, was sich durch Ergänzung von
fx^XXoi yoLQ loß).Eq)dQO)r in V, 2 und vjiivrjoag rbv deX/.odgojuar,
oder ein ähnliches Epitheton, in V. 8 leicht machen ließe, aber dem
widerstrebt die dritte Strophe, Daß wir keine epodische Gomposi-
tion haben, ist durch die Genauigkeit, mit der die Verse 13, 15
und 18 in das Strophenschema passen und die Kürze der Verse 16
«nd 17 gesichert; also muß V. 14 für die Gestaltung des zweiten
Verses der Strophe maßgebend sein^), und dann kommt man zu
1) Zweifelhaft bleibt nur, ob V. 2 katalektisch Avar; wahrscheinlich
ist es mir nicht. fy.!-.
132 A. KÖRTE
dem oben mitgeteilten Schema der englischen Herausgeber, deren
Ergänzungen ich meist beibehalten habe.
V. 1. Der Anfang mit fu'jTTOj und einem Conjunctiv des
Aorists ist auffallend, aber nicht zu bezweifeln. Das von Maas vor-
geschlagene jiavaoj ist besser als Grenfell und Hunts ävtjxco.
3. Vüv die Bezeichnung Hierons als y.XvTog ^dvßaioiv mnoig
verweisen die Herausgeber treffend auf Pindar P. I 37 oTeipdvotof
viv mTioig JE xXvidi' (Alrrav).
9 f. An der Richtigkeit von Murrays Ergänzung iji^ 'A2q>ei\(7)t
t[£ vi]xav ist nicht zu zweifeln , nur war wohl ^si' 'Ak(psc7n ge-
schrieben wie V 38. 181. XI (X Bl.) 26; denn am Versanfang \on
10 scheinen nur zwei Buchstaben zu fehlen.
10. Der Rest eines Scholions
r[o]v?
ergibt leider nichts.
11 f. Murrays, von Grenfell und Hunt nicht in den Text ge-
setzter Vorschlag 7iXi]\Q\e £Qe7i\T6/Lievog [Movodv ejia?>.]£' ävde' be-
friedigt inhaltlich wenig und verträgt sich weder mit den Lücken
in 11 und 12 recht, noch mit den Buchstabenresten in 12. Daß
aber in -ro/Mvog ein Participium steckt, wie djixojiisvog, ist un-
gleich wahrscheinlicher als die Zerlegung in ro tih'og, an die Gren-
fell und Hunt denken. Ich vermag den Zusammenhang des Fol-
genden nicht herzustellen, vermute aber, daß Bakchylides in einer
längeren Periode aus der Construction gefallen ist, daß also trotz
vfxviqoag erst Th%oav in V. 15 das zu d in V. 7 gehörige verbum
finitum ist, 'wenn ich auch früher schon den schnellfüßigen Phe-
renikos und seinen Sieg am Alpheios besang . . . und wenn mir
damals die Tochter des Zeus (?) ^) und alle Götter, die des Zeus
goldreiches Haus bewohnen. Gelingen bescherten'.
13. Statt xovoa ist auch xovgm möglich; dann stand wohl
ein Beiwort, das die Mädchen als Musen kennzeichnete.
14. 7idyxQ[vaov ist sichere Ergänzung der Herausgeber. Das
zieht, scheint mir, in Verbindung mit ooooi Aiog die Ergänzung
oixov nach sich, und dann können die öoooi doch niemand anders
sein als Götter; y^gvoicov ol'xwv äva^ heißt Herakles als Gott Pind.
I. IV 60; daifxoveg &' läßt sich gerade noch in der Lücke unterbringen,
vgl. Bakch, XVII (XVI Bl.) 117 f. rmiaTov o,ti dai/ioveg 'äecooiv ovöh-
1) Etwa y^.avHWJTtc;] Kiiol rözs y.ovqa vgl. Pind, N. VII 96.
BACCHYLIDEA 1:J3
und IX (VIII Bl.) 82 fT. to ye toi y.aXöv e'gyov yvr^oUov vfivmy xvynv
vyjov TiaQU öaiiioai xeirai. Auffallend bleibt freilich, daß Alhena,
oder die Musen, und alle Gütler hier als Helfer des Dichters ange-
geführt werden, aber ich sehe nicht, wie man angesichts der Worte
ijuol röre . . . ri'&soar um eine Beziehung der Subjekte auf die
Person des Dichters herumkommt. Die Verse würden dann wieder
beweisen, wieviel sich Bakchylides, nicht ohne Grund, auf sein
schönes V. Gedicht zugute tat.
15. -juoiq, das von Grenfell und Hunt für möglich erklärt
wird, ist mir nach der Abbildung wahrscheinlicher als das von ihnen
in den Text gesetzte -/nog.
18. Eine Form von yvn'j ist sehr wahrscheinlich.
Vergleichen wir dieses Fragment mit dem Gedicht an Alexan-
<]er, so zeigen sich einige Verschiedenheiten, die Strophen sind
länger und weniger schlicht, die Einleitung ist erheblich breiter
iiusgesponnen und beschäftigt sich eingehend mit Hierons olympi-
schem Sieg, aber das Gleichartige über wiegt doch. Hier wie dort
wird die Leyer angerufen und der Entschluß des Dichters, dem
Gönner ein Lied zu senden, so stark hervorgehoben, daß man sieht,
beide Gedichte sind nicht bestellt, sondern freie Gaben des Dich-
ters, beide sind vor allem fürs Gelage bestimmt, Gi\u7iooioioiv
uyakjua y.eiy.uöeooiv heißt es fr. 1, 'Itgojvi . , . xal ovjujiorats
nvÖQEOoi wird fr. 4 gesendet; es leuchtet also sehr wohl ein, wes-
halb der alexandrinische Herausgeber beide demselben Buch zuwies.
Die Berufung auf das Lied für den olympischen Sieg des Phe-
renikos sichert die Entstehung nach 476, die Nichterwähnung des
höher bewerteten pythischen Siegs mit dem Viergespann rückt das
Gedicht vor 470, es fällt also zwischen die erhaltenen Epinikien V
und IV. Bakchylides ist damals nicht in Sicilien und nimmt nach
V. 7 an, daß Hieron in dem neugegründeten Aitna seinen Wohn-
sitz hat. Diese Annahme ist kaum zutrelTend, denn wir wissen aus
>;chol. Pind. N. IX inscr. , daß Hieron nach der feierlichen ^ durch
Aischylos' Tragoedie Ahvat verherrlichten Gründung zunächst seinen
Schwager Chromios zum ejTtTQortog der neuen Stach liestelltc,
«md aus Pind. P. I 58 ff. mit Schoben, daß im Jahr 470 Hierons
Sohn Deinomenes dort im Auftrag des Vaters herrschte; Hicron
selbst hat seine Residenz in Syrakus behalten. Die Unsicherheit
über den Wolmsitz des Königs spricht dafür, daß Bakchylides da-
mals überhaupt noch nicht selbst in Sicilien gewesen ist, und emp-
134 A. KÖRTE
liehlt es, das Lied nicht allzuweit von V zu trennen. Es wirti
etwa gleichzeitig mit Pindars P. II um 475|4 entstanden sein und
stellt einen zweiten Versuch des gewandten Keers dar, am syra-
kusanischen Hofe festen Fuß zu fassen, dann folgt das briefartige
Epinikion IV im Jahr 470, und so erreicht es der Dichter endlich,,
daß 468 das Preislied für Hierons heißersehnten Wagensieg in
Olympia (III) ihm, nicht Pindar übertragen Avird.
r In einem sehr üblen Zustand befindet sich Fragment 5. Er-
halten sind Reste von 25 Versen , von den 8 ersten Stücke aus dem
Versinnern, von den andern die Schlüsse ^), außerdem die ersten
Buchstaben von 15 Versen der folgenden Golumne; es ist aber
leider nicht möglich, aus den 16 Versschlüssen eine strophische
Gliederung zu gewinnen; es muß wohl triadische Gliederung vor-
liegen und Teile von Gegenstrophe und Epode, oder Epode und
Strophe erhalten sein, denn eine Strophe von mehr als 16 Kola
ist bei Bakchyhdes kaum anzunehmen, zumal in diesem Buch,,
dessen kenntliche Strophen so einfach sind^). Der Wert des Frag-
ments liegt hauptsächlich darin, daß es aus einer ausführlichen
Mythenerzählung stammt, während die Anfänge der Gedichte an
Alexander und Hieron keinen Mythus enthalten. Daß in den ver-
lorenen Teilen dieser Gedichte Mythen folgten, ist sehr wohl mög-
lich, sogar wahrscheinlich, jedenfalls darf man das Fehlen von
Mythen nicht für ein charakteristisches Merkmal dieses Buchs der
Bakchylideischen Werke nehmen.
\xEvei de >caju[
]oviag Td?Mi[v ]
jrsQov viv TeX[ ]
]. ag xal xaiaoazl i
5 ]i' evdov exq[ ] j_ ,— ^„^^^, hiSov h/o^,ev,,t
]t ö' iv [x\erpak\äi y.eioovro r\Qr/£g' [
'/Q\vooX6(pov Tia . \ ] [
]. yaly.eoiJiizoav [ ] .[ ]«v 6[
]oio y.6Qi]g -^ ^^"^ •'-
10 Iß'oaoh'xetoa y.al juial[(p6vo\f
1) V. 23 war so kurz, daß er gar nicht erhalten ist.
2) Unter den Dithyramben hat allerdings XVII (XVI Bl.) 23 Kola
in der Strophe, 20 in der Epode, XIX (XVIII Bl.) 18 und 15, unter deu
Epinikien hat V mit 15 in der Strophe, 10 in der Epode die längst««
Ver.sreihen.
BACCHYLIDEA 135
xöo]i]g y.aXvxcoTiiöog
j.TaTt'o' l'fiiiEv^ ' äXhiL i\tv y\o6v(K
\e[[%'\\ tigarsgäl xtx fTroÄieixmo?) xagtslgni Tf;y:]ETv
\dovT' ävdyy.ai '
15 a]fA<0)'
]£)' Ilooeiöaoviag
Jets" eXav-
]vTO? öXßiov rePiOs
\e y.6oi]v ^q-
20 TtaoE jgav fjgog
]tov
y.\aXXty.oi]dt\uvov ßeäg
, } /
(b]xvg uyyeXog xlcilV.iarpvoav
25 \av Evr l'fioXev.
Aus diesem Trümmerhaufen eine genügende Zahl von Steinen
zu einem sicliern Wiederaufbau des Mythus herauszufinden, hat mir
nicht gehngen wollen. Grenfell und Hunt denken wegen V. 6 ev
y.EfpaXäi und rgr^Eg an Pterelaos, Nisos oder eine ähnliche Sage^).
Mir scheint das lange Scholion, das zwischen V. 5 und 6 beginnt
und dann noch wiev Zeilen am rechten Rande einnahm, bis die
Paragraphos seinen Abschluß anzeigt, einen andern Weg zu weisen.
Da es mit t'.To Tiargog beginnt, kann es sich nicht um eine Tat
der Tochter gegen das Haupt des Vaters handeln, wie in den
Mythen von Pterelaos und Nisos, sondern die Tochter erleidet etwas
von dem Vater. Hält man nun evöov e^o in V. 5 und vnd nargög
EV im Scholion zusammen, so ergibt sich dessen Ergänzung vnd
jiaToog Ei']öoi> E'/of(EVi]i als sehr wahrscheinlich. Daraufhin habe
ich V. 6 versucht avT)j]i oder y.oo)'i]i (Y ev '[>c\E(paX\f2f. y.EiQovro
r\QiyEg', xeioovto paßt in die Lücke sehr gut und ergibt ein mög-
liches Metrum. Wir hätten es dann mit einem grausamen Vater
zu tun, der den Fehltritt seiner Tochter, die wohl von Poseidon
geschwängert isl^), entdeckt, sie einsperrt und ihr die Haare ab-
1) Das Beiwort /Qvoolötpov V. 7 darf man nicht etwa für Ptei'elaos
oder Nisos verwerten, bei beiden handelt es sich nicht wxn einen Haar-
schopf, sondern um ein einzelnps goldenfts (Apollod. bibl. 11 60) oder pur-
purnes (ebenda III 211) Haar: xü^'^^ö^-oipoc heißt mit ^-oltlenpm Helmbusch,
wie Athena bei Aristophanes Lys. 344.
2) Vgl. V. 16 und vieUeicht V. 2.
136 A. KÖRTE
siclmeidet. Nun gibt es in der Tat eine Poseidongeliebte, für die
das Abschneiden des Haars bezeugt ist, Tyro, die Tochter des Sal-
moneus. Auf dem von Robert, d. Z. LI 1916 S. 274 Abb. 1 ver-
öffentUchten Tonrehef hat sie das Haar geschoren, und in der
Sophokleischen Tyro sagt die Heldin selbst (fr. 598 N.):
y.ofdj:: dk jih'doQ Äay/ui'OJ -tojAov Öih)]v,
iJTig ouragjiaoßeioo. ßovy.ÖAcov vjzo
judvdoaig h' (TTjreiaioir äygiai ytol
d^HQog dEoiodrji $avddv air/Evcov utjo.
Aber hier fällt die Beraubung des Haars in eine ganz andre Zeit;
als die Söhne Neleus und Pehas bereits herangewachsen sind,
finden sie die Mutter von ihrer bösen Stiefmutter Sidero so zuge-
richtet. Immerhin haben wir eine Überlieferung, nach der Tyro
viel früher vom Vater eingesperrt und von der Stiefmutter miß-
handelt wurde: Anth. Pal. III 0 heißt es in der prosaischen Ein-
leitung zu dem Epigramm auf die 9. kyzikenische Säulenbasis : tr
Tcbi d TIeliag xal Nfjhvg Elle?M^evvTm oi ITootiöcovog jtaiÖEc:,
EH ÖEOjiUOV rip' EaVXOV liUjTEQa QVÖ^lEVOl, fjv TXQCOtp' 6 JiartjQ JLIEV
SaXfioyvEvg öid zijr (pdoQav Edy^OEV' y Öe jLiijroviä avrfjg
^idi]Q(o Tag ßuodrovg uvrTji ejieteivev. Ilobert^) versagt der Para-
l)hrase den Glauben, weil die Motivirung überflüssig und darum
unkünstlerisch sei. „Das Motiv des Hasses der Stiefmutter gegen
die schöne Stieftochter genügte vollkommen und war für sich allein
viel wirksamer. '• Das trifft gewiß für Sophokles' Tragoedie durch-
aus zu, aber an sich ist dieser Haß der Sidero viel begreiflicher zu
einer Zeit, wo Tyro eben noch jung und schön war, also vor der
Geburt ihrer Söhne, als nach deren Heranwachsen. Gerade weil
die Angabe der Paraphrase, Tyro sei öiä r/yr (pdoQav eingesperrt
und mißhandelt worden, zu der im Epigramm vorausgesetzten Situa-
tion nicht recht paßt, möchte ich vermuten, daß sie einer anderen,
älteren Version der Sage entstammt.
Leider bleibt die Beziehung des Fragments auf Tyro, zu der
die Bezeichnung des Vaters als doaovyEio y.ai /^(luk/ ovog V. 10
gut stimmen würde, doch sehr unsicher, weil Tyro Zwillinge ge-
biert, in V. 1(S aber nur von einem öXßior TEXog die Piede isl.
Ausgeschlossen wird sie freilich auch hierdurch nicht; denn es
könnten in V. 14 die Zwillinge erwähnt, im folgenden aber nur
von einem von ihnen weitere Erlebnisse erzählt sein. Ahnlich bc-
1) A. a. 0. 283.
HACCHYLIDEA 137
richtet Pindar 0. VI als Einleitung zu der lamos-Sage das Schicksal
seiner CJroßmuller Pilane und seiner Mutter Euadne. Leider gehen
auch die Versreste 19 f. y.oQ^r iiQ\jiar)i- und -^av fJQwg keinen
Aufschluf-i, denn eine Vcrhindung des Pelias oder Neleus mit einer
auf -QU endigenden Heroine ist nicht bezeugt^).
Die englischen Herausgeber erwägen die Möglichkeit, data in
V. 14 -/te]dorr äväyy.ai der Name des Sohnes und damit der
Schlüssel des Piätsels stecke, aber das kann auch Dativ sein evqv-
juedovTi d. h. Poseidon; Elision von Iota hat Bakchylides nicht nur
in den dorischen Formen der dritten Person Pluralis von Verben
<y£vovr ayü.cK; (XVIII 10), ßgldovr äyvicu (fr. 4, 17 Bl.-S.), son-
dern auch im Dativ von Stibstantiven ytofon uxovTag (XVIII 49).
An der Möglichkeit, daß hier eine etwas abweichende Form
der Tyro-Sage von Bakchylides erzählt wird, möchte ich festhalten,
vielleicht gelingt es einem andern, einen entscheidenden Beweis
dafür oder dagegen zu finden.
Unter den kleinen Bruchstücken des Papyrus erwähne ich noch
' "^ OTeq)avacpo\Q-
Tore vecov 6ix6qj\üyvog äoiöu (?)
6' evXvQm TS f^Of'\ß(oi,
weil es augenscheinlich eine Gelageschilderung enthält, und fr. 20,
weil in ihm die Worte V. 3 jiore T(Oco[ und V. 6 rj\fd&£oi mit
Sicherheit auf eine Mythenerzählung führen.
Es sind also in diesem Buche Lieder vereinigt, die für das
Gelage gedichtet sind, sich an ganz bestimmte Persönlichkeiten
wenden und neben dem Preise von Wein und Sang auch längere
Mythenerzählungen enthalten.
Welchen Namen trug nun dies Buch im Altertum? Die eng-
lischen Herausgeber nennen es oKolia unter Verweis auf Pindar
fr. 125 Sehr., das Aristoxenos bei Athen. XIV 635 B als h< run
jtQog 'lEQOJva oxo/Jcoi anführt. Sie hätten sich auch auf Pindar
selbst berufen können, der in dem ähnlichen Lied für Xenophon
von Korinth fr. 122 Sehr. V. 10 ff. sagt
d?JM 'daif/idCco, li jlis Xe^ovri 'lod/iov
dsojrojai rouirdf jue/Jcpgovog äg/dr evQÖ/avov ay.oXior
i;x'v6.0Qor ^vvalg yvvai^iv.
1) Natürlicli muß in -Qar nicht ein Name stecken, aucli Adjektiva
wie xgo.TFnm-, hjTagäv. IniiTTgäv, ).vyoar, noiOTo:TäTnar (I^akch, XI lO(i) sind
igöglicli.
138 A. KÖRTK
Aber Pindar hat nocli keine festen Bezeichnungen für die einzelnen
Alien seiner Lieder, nennt er doch N. I 7
äofia ^' oTQvvEi Xqojluov NejLim t'
e'oyjLiaoii' viy.acfOQoig eyxcojuiov ^ev'^ai ueXog
und ebenso 0. II 52 und P. X 53 seine Siegesheder e.yy.cöjuia. Auch
(h'e nächsten Generalionen kennen noch keine bestimmten Namen
für die verschiedenen Klassen, Chamaileon bei Athen. XIII 573E be-
zeichnet das XIII. olympische Epinikion als §y>ccojiuov. Fest Averden
die Namen erst durch die alexandrinischen Ausgaben ; es ist also
das einzig Naturgemäße, das neue Buch des Bakchylides so zu be-
nennen, wie die Alexandriner es benannt haben. In der maß-
gebenden alexandrinischen Pindarausgabe gab es aber kein Buch
Skolien, das sollte doch nicht mehr bezweifelt werden, seit uns
Hillers schöner Aufsatz (d. Z. XXI 1886 S. 357 ff.) von der Mißgeburt
der Suidasliste befreit hat. Pindarische Skolien werden nur ge-
nannt von voralexandrinischen Autoren ^), oder in Citalen, die
auf sie zurückgehen 2). Schon Boeckh hat (II 2, 605) das dem
Bakchylideischen entsprechende Lied Pindars für Alexander von
Makedonien unter die Enkomien gesetzt unter Verweis auf Dio von
Prusa Or. II 33, wo der Anfang des Gedichts mit den Worten ein-
geleitet wird eTit'jvEoev 'Ake^fxvÖQOv top ^iXelXrjva ETiixhi&h'ru
Tioii'joag eig avTov. ^'OXßio^v öju(6vvf.ie Aaoöavidäv^ fr. 120 Sehr.
Ausdrücklich als Enkomion citirt wird von Pindar ja nur das Lied
an Theron (fr. 118 Sehr.) im schol. A zu 0. II 39 to ydg rov
f))]Q(jovog yh'og iv&h'de (von den Kadmostöchtern) y.ardyeo&at
(f)]oiv 6 JlivdaQog h> iyxcojuicoi ov äg^^] ' „BovXojuai naideooir
'EXXdvcov^ vmd schol. A zu 0. II 70 javra (die Abstammung The-
1) Chamaileon Athen. XIII -573 F, iVristoxenos Athen. XIV 635 B,
Theophrast Athen. X 427 D.
2) Dazu wird man meines Erachtens doch die Notiz bei Suidas (s. v,
^A&tjvat'ag) y.ul UirSagog ty o/o rechnen müssen. Hiller a. a. 0. 368 sagt :
,Ich sehe nicht ein, weshalb ö;i;5 hier nicht dasselbe bedeuten könne wie
an andern Stellen des Suidas (vgl. s. v. Bh]yco%'ia, dvoogyo;, ';«««) und
sonst. Mit der Randbemerkung iv ayoUon wollte meiner Meinung nach
Suidas oder seine Vorlage oder ein Leser an irgendein jetzt wohl nicht
mehr zu ermittelndes Scholion ähnlichen Inhalts erinnern."' Er über-
sieht, daß an den angeführten Suidasstellen nicht wie hier Ir a/ö, son-
dern o/o oder oyöha steht, und dann wirklich ein Scholion zu der
citirten Dichterstelle folgt. Dazu kommt, daß das fr. 124 a, auf das die
Notiz anspielt, von Leuten wie Chamaileon, Aristoxenos, Theophrast sehr
wohl oy.öXiny prenaunt werden konnte.
1
BACCHYLIDEA 139
rons von Kadmos) iotoqeT ev syxo)f.do)i ou f] ägyri xre. Dies Gitat
ist insofern für das Bakchylideische Buch wichtig, als es zeigt, daß
in Pindars Enkomien auch Mythenerzählungen vorkamen. Schroeder
rechnet mit vollem Recht die von Boeckh und Bergk als Skolien
geführten Gedichte an Xenophon von Korinlh, Theoxenos von Te-
nedos, Thrasybulos von Akragas, Hieron, Agalhon (fr. 122 — 128
Sehr.) unter die Enkomien. Von diesen aber stimmt, wie wir oben
S. 129 f. sahen, das Lied an Thrasybulos so auffallend in Ton, Form
und Inhalt mit Bakchylides' Lied an Amynlas überein, daß es wirk-
lich unbegreiflich wäre, wenn die Alexandriner es anders benannt
hätten als das Pindarische. Ganz offensichtlich ist der literarische
Nachlaß des Bakchylides nach dem Muster des Pindarischen ge-
ordnet, außer den Epinikien und Dithyramben finden wir von ihm
citirt v.uvoi (fr. 2 und 3 Blaß-Sueß), nmäveg (fr. 4—6), jiQooodia
(fr, 11 — 13), jiagdh'sia (Plut. de.mus. 17, 2 p. 1137 A), vTioQ'/y-
juaza (fr. 14 — 15); es kommen also alle Arten des echten Pinda-
rischen Schriftenverzeichnisses vor mit Ausnahme der ßofjroi und
iyy.Mfda. Dafür finden wir bei Athenaios XV 667 C citirt Bay.yv-
kidt]g iv EQOixixoTg, und ich glaube nicht, daß dieser Titel zu be-
urteilen ist wie die Pindarischen oxoXia. Abgesehen davon, daß er
durch Apuleius apol. 8 fecere tarnen et alii talki (sc. uniatonos
versus) . . . opud Graecos Teius quidam et Lacedaemonius et Chis ^)
cum aliis inmimeris gestützt wird, läßt sich das eine erhaltene
Fragment (17 Bl.-S.)
evxe
xijv dji' uyxvXi^g h]oi
TÖiods ToTg vtavlaig
levxov ävjeivaoa ttTj/vv
in der Tat schwer in einer der übrigen Dichlungsarteu uul er-
bringen, und noch mehr gilt das von den beiden Versen, die
Hephaistion ohne Buchnennung ITeol :TOt)]jn. 7, 3 als Beispiele der
tTiKpdey f^mrixa anführt fr. 18
ij xaXbg SeöxQixog ' ob jnövog dv&Q(6.T(')v ooäig
und fr. 19 ^ «• 5
ov o ev '/^iTCovi uovvfo
Tiaqu x)]v rpfhjv yvvaiy.a ipevyeig.
Ein Pindarisches Gedicht mit solchen Refrains, die fast nach Gassen- ^'^
hauern klingen, wäre undenkbar. Es scheint also, daß die Alexan-
1) Überliefert civix, von Bosscha schlagend verbessert.
140 -A. KÖRTE
tirilier im Nachlaß des Bakcliylides Gediclile von ziemlich vulgärem
Ton und starker Sinnlichkeit fanden, zu denen Pindar keine Seiten-
stücke bot, und die sie deshalb in einem besonderen Buch igoj-
Tixd zusammenfaßten.
Man könnte ja nun vorsucht sein, das neue Buch aus Oxyrhyn-
<hos gerade diesen tQOjrixd gleichzusetzen ^), aber ein Vergleich
mit den angeführten Versen rückt die neuen Reste so entschieden
von ihnen ab und an die Seite der Pindarischen Enkomien, daß
ich es trotz des Fehlens bezeugter Enkomien des Bakchylides für
einen nahezu sicheren Schluß halte: im Altertum trug das Buch,
von dem uns der Oxyrhynchospapyrus schöne Reste wiedergab, den
Namen eyxw/ua. Möge ein ailXvßog diese Vermutung ebenso
schlagend bestätigen wie die Bezeichnung der zweiten Rolle des
Londoner Papyrus als Dithyramben.
3. Die Lebenszeit des Dichters.
Als herrschende Meinung über Bakchylides' Lebenszeit kann
gellen, daß der Dichter nicht unwesentlich jünger war als Pindar
und ihn um eine ganze Reihe von Jahren überlebte. So setzt
Crusius in dem vor Auffindung des großen Papyrus geschriebenen
Artikel der Realencyklopaedie II 2794 2) die Gel)urt mit einigem
Vorbehalt ins Jahr 505 und sagt Sp. 2795: „Bakchyhdes wird den
Beginn des peloponnesischen Krieges noch erlebt haben." Michel-
angeli in seiner breiten, ebenfalls vor Kenyons Veröffentlichung ge-
schriebenen Behandlung des Lebens unseres Dichters (Riv. di stör,
ant. II 3, 73 — 118) läßt ihn um 507 geboren werden und meint
S. 76 verso il 430 Ja fama di BacchUlde era cd sommo. Auch
in dem Nachtrag Riv. di stör. ant. III 1, 44 ff. hält er an diesen
Ansätzen fest. Jebb gibt S. 4 seiner großen Ausgabe als resuU
seiner eingehenden und vorsichtigen Erwägungen an ü is probable
that tlie period from abouf f)07 to 428 ivas comprised in his life-
time. und in der 6. Auflage der Griechischen Literaturgeschichte
1) Blati-Suels setzen das Gedicht an Alexander in der Tat unter
die honiy.d, und das war auch begreiflich, solange man den Anfang
nicht kannte.
2) Es ist eine der bedauerlichsten Lücken der Realencyklopaedie,
daß sie 20 Jahre nach der Wiederentdeckung des Bakchylides uoch
immer keinen Nachtrag in den Supplementen gebracht hat, der den
Dichter so behandelt, wie das neue Material es gestattet.
BACC1IYI>[J)K.\ 141
von Christ-Schmid lesen wii I 221: ,Bakcliylidcs (um 505 — 450
oder später), der jüngste der drei großen Dieliter der chorisclien
Lyrik", Schmid scheint also gegen eine Ausdeliniing des Lebens
bis in die Zeil des pelopoiinosisclien Kriegs doch Bedenken zu
haben.
Alle diese Ansätze stützen sicli aul antike Angaben, und es
gilt zu untersuchen, wie diese zustande gekommen sind.
Da ist z.unächst die niemals angezweifelte Xaclirichl der
Pindarvita des Eiistathios y.al ^iiKovldov ijhovo^:, i'eoneQog uev
txeivov MV, TTQeGßvreQOi; de BnxyvUöov ^). Daß Pindar jünger
war als Simonides, läßt sich unsch\ver aus den Werken feststellen,
daß er aber älter sei als Bakchylides, entnahm Eustathios' Ge-
währsmann doch wohl einfach der für beide festgestellten Akme.
Pindars Akme war angesetzt y.ara rd ITegGixd 480/79 ■^), Bakchy-
lides' auf Hierons olymi)ischen Wagensieg 468-'), also mußte
Bakchylides jünger sein, und wenn Pindar 518 geboren war*),
gewinnt man für den Rivalen, der 12 Jahre spater seine Akme
erreicht, das Jahr 506 als Geburtsjahr. Das ist eine sehr einfache
Rechnung, aber man sollte sie niclit als für uns verbindlich an-
sehen.
Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß der Altersunter-
schied" beider Dichter mehr als zwei oder drei Jahre betrug — falls
ein solcher überhaupt bestand''). Bedenklich macht mich vor allem
die bestbezeugte Tatsache aus Bakchylides' Privatleben, das Ver-
wandtschaftsverhältnis zu Simonides. Er war nach Strabo X 486
Simonides' Neffe, und zwar der Sohn einer Sclivvester, da Simo-
nides' Vater Leoprepes hieß, Bakchylides' väterlicher Großvater aber
1) Das fJHovoE ist uatürlicli ein töricliter Ausdruck für die Tat-
sache, dali Pindar von Simonides viel gelernt liat. Den übrigen Teil
des Satzes wiederholt fast wörtlich die vita des Thomas Magister vso)-
tsong iih' )]v S11.UOV1Ö0V TTOEoßüiSQog dk Baxyv).t<^oi\
2) So schon Diodor XI 2G, 8.
a) Eusebios Ol. 78. Natürlich ist der Auftrag des Epinikions für
Hierons Wagensieg, nicht dessen Tod Anlats zur Bestimmung der Akme.
4) An diesem Jahr halte ich mit Wilamowitz, Aristoteles und Athen
II oOl Anm. 20 fest.
5) Es verdient immerhin Beachtung, daß tjei Suidas s. v. Acayöga;
Pindar und Bakchylides einfach als gleichzeitig behandelt und in die
78. Olympiade gesetzt werden, roTg ygörois mv ytaxa TIir?to.QOv xal Bax^i-
?Jö)]i; ]\Ie)mvi71.-ii§ov öe jiQEoßvTsoog. )'j>{na^e toivvv o)/ 6?.vii:zidöi (468 — 465).
142 A. KÖRTE
denselben Namen trug wie der Dichter. Simonides war nacli seinem
eigenen Zeugnis 556;5 geboren (fr. 147 Bergk), und es ist in jener
Zeit der nicht sehr kinderreichen Ehen schon ein starker Abstand,
wenn wir annehmen, daß Bakchylides' Mutter 10 Jahre jünger war
als ihr Bruder. Dann war sie im Jahre 530 bereits heiratsfähig und
die Geburt eines Sohnes erheblich nach 516 ist wenig wahrschein-
lich ; im Jahre 50 G war sie nach südländischen Begriffen bereits eine
Matrone. Natürlich müßten wir solche Unwahrscheinlichkeiten hin-
nehmen, wenn eine gute Überlieferung uns dazu nötigte: aber die fehlt
durchaus, und ich kann nicht finden, daß in den Gedichten irgend
etwas für einen jüngeren Ansatz der Geburt des Dichters spricht als
etwa 516. Das älteste ziemlich genau datirbare Gedicht ist das
XIII. (XII Bl.) Epinikion auf den nemeischen Sieg des Aigineten
Pytheas. den Pindar im V. nemeischen Gedicht verherrlicht. Den
Sieg des Pytheas hat Wilamowitz, Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1909,
811 ff. überzeugend auf 485 oder 483 datirt. Da tritt Bakchylides
als Rivale Pindars mit einem langen anspruchsvollen Gedicht auf;
es war mit seinen 231 Versen, von denen uns freilich viele ver-
loren sind, das längste aller seiner Epinikien ^), mehr denn doppelt
so lang als Pindars Concurrenzgedicht, ja länger als alle erhaltenen
Gedichte Pindars mit Ausnahme des lY. Pyth i sehen ^j. und nun
höre man den Schluß 221 fT.:
220 e/^iöi dvjito)' iai}'[e( '
xui y.at iyo) 7itov)'o[g
(potriy.oy.oaöejLivoig \rs Movoaig
vjuvmv Tiva jdvde v\e67iXoy.ov dooiv
qiaivoi, ^eviav te [(püd-
225 y/Mov yggaigco,
räv Euol, Adfijion', \ov ve/ucov ydoiv ov
ßX)y/Qäv eTiado/joaiq T[ey.v(or
rdv uy. f.TV/iojg qga Kkeico
7ravßa?Jjg iuäig eveoTa$[sr (fQüotv,
230 regipiEJieTg vir \äo\ißal
1) Jetzt ist Y mit 200 Yersen das längste.
2} Zählt man auch bei Pindar nach Kola , wie man für den Yer-
gleich muß, so hat N. Y nicht ganz 100 Yerse; über 200 nur P. III (205)
nnd P. IX (220). P. lY freilich 533.
3} Ich folge in der Ergänzung der .schwierigen Stelle im wesent-
BACCHYLIÜEA 148
,Mit Hodiumg wäriiil [ein jeder | sein Hei/. Im Veitrauen auf sie
und die Musen im purpurnen Sclileier lasse aucli ich diese friscli-
geflochtene Liedergahe sehen und ehre die glanzUebende Gastfreund-
schaft, die du, Lampon, mir erweist. Mögest du das (lesc.henk fin-
den Sohn nicht als gering betrachten : wenn es wirklich die Idüheiule
Klio meinem Sinn einflößte, werden die holdklingenden Lieder ihn
allem Volk verkünden." Ist das wirklich die Sprache eines be-
scheidenen Anfängers^)? Der Wunsch, Lampon möge die Gabe
für den Sohn niclit als gering ansehen, ist doch nur eine Höf-
lichkeitsformel des glatten loniers; er ist durchaus davon durch-
drungen, daß sein Lied ein echtes Geschenk der Klio, also vor-
Uefflich ist und der weiten Welt Larapons Kulnn eindringlicli
künden wird. Auch die Tatsache, daß er Ijcreits die Gastfreund-
schaft des vornehmen Aigineten genießt und als Dankes/.oll für sie
sein Lied darbringt, beweist seine anerkannte Stellung in den
Kreisen des vornehmen sporl treibenden Adels. Meines Erachtens
fühlt sich Bakchylides hier schon genau so jedem Nebenbuliler ge-
wachsen wie im Eingang von V, wo die getlissenlliche Herausforde-
rung von Hierons Urteil docii nur der Ausfluß starken Selbstver-
trauens ist, und der Dichter sich selbst V. 13 als yQvodnnvKOQ
Ovguviag xketvög dsQdjicov bezeichnet.
Daß dies große Gedicht auf Pytheas für uns zufällig das
älteste datirbare ist, gibt uns durchaus kein Recht, es für eine
Jugendarbeit zu halten. Seinen Stil beherrscht der Dichter hier
bereits vollkommen, und wenn dieser Stil in allen erhaltenen Ge-
dichten ziemlich der gleiche ist, so erklärt sich das leicht aus der
Tatsache, daß seine Persönlichkeit weniger tief und deshalb weniger
entwicklungsfähig war als die seines großen Püvalen, der Zeit seines
Lebens mit Gedanken und Form immer von neuem ringt.
liehen Ed. Schwartz, dessen vorzügliche Behandlung (d.Z. XXXIX t*Jii4
S. 638 f.) Suets mehr liätte berücksichtigen sollen. Vor allem ist L-radfjr'i-
oa.ig, da Bakchylides keine aiolisclien Particiiiien hat, als Optativ zu
lassen, dann braucht man ein or , und xehi-oh in 227 ist nötig, um einen
Anschluß für das viv in 230 zu gewinnen, das doch nur auf Pjthea« gehen
kann. Sueß' Textgestaltung bekenne ich übei-haupt nicht verstehen zu
können. Abweichend von Schwartz habe ich nur 223 Jebbs vtörtXoyMv
S6oi7- {r£OjTh>?<(jor döaiv Blaß, vmr rrkexior '/a<yiv Schwartz) beibehalten und
dementsprechend 226 yäqiv [böoiv Schwartz); aber das ist uaerlieblieh.
\) Wilamowitz sagt a.a.O. 813 „der junge Dichter redet beschei-
den"; Schwartz spricht a. a. 0. G39 zutreffend von dem „stolzen Schluß''.
144 -^- KU UTK
Noch stärkere Bedenken als gegen den späten Ansatz der Ge-
burt des Bakchylides habe icli aber gegen die Ausdehnung seines
Lebens bis in die Zeit des peloponnesischen Kriegs. ^Venn dazu
noch immer eine große Neigung vorhanden ist, so beruht das be-
Avulät oder uubewufst auf der Notiz des Eusebios zu Oh 87, 2 (431)
BaxxvUdy^g /.leXoTioiog ^yvüJQiCexo ^). Der Unsinn, daß ein Dichter,
dessen „Blüte" ins Jahr 468 fällt, 37 -lahre später .bekannt wird",
ist ja handgreiflich genug, aber man hat sich doch immer wieder
bemüht, dieser durchaus tauben Nuß einen gesunden Kern abzuge-
winnen 2). Selbst den Versuch, statt des Bekanntwerdens den Tod
als eigentlichen Anlaß der Notiz zu retten, halte ich für durchaus
verfehlt; wie die Verwirrung entstanden ist, läßt sich nicht mehr
aufklären, aber jedes Compromiß ist hier vom Übel.
Man beachte doch folgende Tatsachen. Die spätesten dalirbaren
Gedichte des Bakchylides sind VI und VII auf einen olympischen Sieg
seines Landsmanns Lachon, der nach der Olympionikenliste von Oxy-
rhynchos ins Jahr 452 fällt. Pindars letztes datirbares Lied P. Vill ge-
hört ins Jahr 446, das schwermütige N. XI und das Enkomion für
Theoxenos, den Bruder des Adressaten von N. XI (vgl. Wilamowitz,
Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1909, 82911'.), können wohl noch etwas
später sein; keine bekannte Tatsache widerstrebt dem sich aus der
Altersangabe der Viten ^) ergebenden Todesjahr 438 •*), mag auch
immerhin 80 Jahr abgerundet sein und der Tod ein oder zwei
Jahre früher oder später fallen. Hätte der Keer den Thebaner um
10 oder mehr Jahre überlebt, so hätte in der Tat um 431 sein
Ruhm al sommo stehen müssen, wie Michelangeli annimmt ; denn
dann wäre er der letzte große Chorlyriker gewesen, der aus einer
andern Welt in das perikleische Hellas hineinragte. Nun ist aber
gerade das Gegenteil der Fall, er ist vollkommen vergessen; nie-
mand kümmert sich um ihn, dafür ist die Komödie ein sicherer
Barometer. Die Klage des Eupolis bei Athen. I 3 A ojs ti Tlir-
1) Bei Syiikellos ist die Notiz auf Ol. 88 verschoben.
2) Energisch verworfen haben sie Kenyon, Introd. VIII und Baum-
stark, Neue Heidelb. Jahrb. VIII (1898) 129.
3) 80 Jahre bei Eustathios und Thomas Magister; die daneben ge-
gebene Zahl 66 geht auf das Jahr des letzten olympischen Gedichts 452
zurück.
4;) Wilamowitz, Arist. u. Ath. II 301 Anui. 20 stellt dies Jahr aucli
bei Suidas durch die Oonjectur iröjv (.V oA. .t)«' her.
ÜACtlJVLlDKA 14.3
d(XQOLi ljö)j xuzaoeoiyaojiih'a v:n6 rfj^ Tcor TTolkoiv n(fiXoH(xXi(i::
war gewiß nicht unberechtigt; immerhin berücksichtigt Aiisln|)hancs
noch mindestens siebenmal Pindarische Gedichte, nicht nur Ach. 637.
Ritt. 1329 den berühmten Anfang des für Athen gediclilcliMi Dithy-
rambos fr. 76 (Sehr.)
'Q xal hncxQul y.al looreqxwoi hui uoidtiioi,
'EäI(1öo<; h'oeiofia, y.Xeivai ll«?äva/,
dai/iöviov TixoUe&Qov,
sondern auch Ritt. 1269 ein Prosodion (fr. 89 a Sehr.), Vög. 926 ff. das
Tanzhed an Hieron (fr. 105 Sehr.) und wohl auch den Anfang des
I. Nemeischen Gedichts ^). Von Bakchylides, der doch auch für athe-
nische Feste (XVIII und XIX) und athenische Sieger (X) gedichtet hatte,
findet sich weder bei Aristophanes noch bei einem andern Komiker
irgendeine Spur. Das wäre bei dem lebhaften Interesse, das die Ko-
mödie und insbesondere Aristophanes an den Lyrikern nimmt, ganz
unverständlich, wenn der Dichter bis an die Schwelle von Aristopha-
nes' eigener Dichlerlauf bahn gelebt und gewirkt hätte, es versieht sich
aber leicht, wenn Bakchylides schon so lange tot war, daß die Ge-
neration des Aristophanes keine eigene Erinnerung mehr an sein
Leben und Wirken besaß. Wenn irgendwo, ist hier der Schluß ex
silentio berechtigt, Bakchylides muß bald nach den Liedern für
Lachon um 450 gestorben sein. Pindars Lebenszeit überragte also
die seine voraussichtlich am Lebensende erheblich stärker als am
Beginn. Dazu stimmt durchaus, daß die bei Pindar so ergreifend
wirkende Altersstimmung bei ihm nirgends zum Ausdruck kommt
und daß er auch niem.als unter den [xaxQoßioi, auf die man im
späteren Altertum so eifrig Jagd machte, erscheint'-).
Zum Schluß noch ein Wort über Bakchylides' vielberufene Ver-
bannung. Ich will Plutarchs Ausführungen JJeQi q^vyrjs 14 p. 605 G
ganz ausschreiben, weil bei Herausnahme der Bakchylides betreffen-
den Stellen unwillkürlich ein zu starker Ton auf ihn fällt. Kai
yaQ ToTg naXaioTg, (hg eoiy.ev, al Movoai rä xäXhora xcbv ovv-
Tayf^iäxwv xal domjuMraxa (pvyi]v Xaßovoai ovvegyöv InexiX.Eoav .
Oovxvdidfjg 'A'drjvaiog ovveygaipe xöv jröXsjuov xcov UeXonowr}-
1) Vög. 1121; vgl. ferner Ritt. 626 = h\ 144 Sehr.; Wesp. 308 ==
fr. 189 Sehr.
2) Auf diesen letzten Umstand hat schon Baumstark a. a. 0. 130
mit Recht Gewicht gelegt.
Hermes LIII. 10
14G A. KÖRTE
akor xai 'A&rjvaicov ü> €)Qdiy.iji negl tijv Zxa7ix}]v vh]v ' Eevo-
fpoiv ir ZxdXovvTi rfjg 'H?,eiag' 0ihoTog iv 'HjieiQcoi' Tl/naiog
6 TavQOjuevmjg iv 'Adrjvaig' ^Arögorimv 'Adipdlog iv Meydgoig'
Bay.xv)udi]g u 7Toi7]X)jg iv neXoJiovvt]acoi. Jtdvzeg ovroi xal nXei-
oveg aXXoi tmv jinxQidoyv ixneoovxEg, ovh äjiEyvojoav, ovo' eqqi-
ijfav eavxovg, d//.' iyo/joavxo xaJg evcpviaig, icpödiov Tiagd xrjg
Tvyi]g xtjv cpvyi]v Xaßövzsg, Öi ijv Tiavxayov y.al xedv7]x6x€g fJ-Vi]-
/.lovevovxai. Plutarch nimmt seinen paraenetisclien Zwecken ent-
sprechend den Mund reichlich voll, und Bakchylides erscheint bei
ihm als letzter in einer langen Liste von Verbannten, für welche
die Behauptung, sie hätten xd xdlhoxa xcöv ovvxayjudxcov xal
öoxijucoxaxa in der Verbannung geschrieben, nicht gleichmäßig zu-
trifft. Man wird also als gesichert für Bakchylides nichts weiter
ansehen dürfen, als daß er eine Zeitlang im Peloponnes in der
Verbannung lebte. Die Zeit, in welche diese Verbannung fallen
kann, wird immer mehr eingeschränkt, je mehr feste Daten wir für
die Gedichte gewinnen. Zur Zeit seines ersten Liedes an Hicron
(V) 476 war der Dichter sicher in Keos, auch 468 würde er sich
schwerlich am Schluß von III 98 so emphatisch als Ktfia ärjöcov
bezeichnen, wenn er aus der Heimat verbannt wäre. Die beiden
Gedichte für Argeios, deren erstes die ausführliche Darstellung der
mythischen Geschichte von Keos enthält, während das zweite die
^i'jfia auffordert, die Siegeskunde vom Isthmos nach der Insel zu
bringen, kann er auch nicht wohl als Verbannter geschrieben haben,
und diese Lieder haben wir oben (S. 118 f.) zwischen 464 und 454
datirt, eine noch genauere Datirung wird sich gleich ergeben. Die
Lieder VI und VII endlich vom Jahre 452 schließen, falls VI 14
jT.Qodojuoig doidaig richtig überliefert ist, was ich glaube^), eben-
falls eine Verbannung in dieser Zeit aus.
Der einzige wirkliche Anhalt, den wir für die Zeitbestimmung
der Verbannung haben, ist die Tatsache, daß sich die Keer einmal
einen Paian bei Pindar bestellt haben, den IV. des Oxyrhynchos-
papyrus. Seine Datirung hängt ab von der des I. isthmischen Ge-
dichts, in dessen Eingang Pindar die Keer um Entschuldigung
bittet, wenn er das für den Vortrag des keischen Chors in Dclos
bestimmte Lied zugunsten des Epinikions für den Landsmann He-
1) Freilich sind die dot()al jigoSo/xot, eiu Ständchen vor dem Haus
des Siegers, zugleich tiqoöqo^ioi Vorläufer des feierlicheren Gedichts VIT.
BACCHYLiDEA 147
rodotos einstweilen zurückstelle. Der Dissensche, auch von Gliiisl
und andern angenommene Ansatz des I, islhmischen Liedes auf 458
hat neuerdings eine starke Stütze durch Caspars') Hinweis erhalten,
daß nach Herodot IX 69 Asopodoros, des Siegers Vater, der Führer
«ines letzten glücklichen ReiterangrifTs der Thebancr gegen Megarer
und Phliasier in der Schlacht von Plataiai war. Ein Mann, der sich
auf persischer Seite so hervorgetan hatte, konnte nacli V^crtreibung
der Perser nicht wohl in die Heimat zurückkehren, was also V. 34 ff.
über Asopodoros' einstiges Verbanntenleben in Orchomcnos gesagt
wird, paßt auf die Jahre 479 IT. ebenso vorzüglich wie die auffällig
«nge Verknüpfung der Taten des Kastor und lolaos V. 16 ff. auf
die Zeit der thebanisch-lakedämonischen Waffenbrüderschaft, die im
nächsten Jahre zur Schlacht von Tanagra führte.
Wenn sich die auf Sieger und Dichter ihrer Insel so stolzen
Keer im Jahr 458 einen Paian von dem Hauptrivalen der keischen
Dichter anfertigen lassen, dann muß das besondere Gründe gehabt
haben. Simonides war damals tot und Bakchylides offenbar ver-
bannt 2).
Daraus ergibt sich dann weiter, daß das Jahr 458 für Argeios'
Sieg und die Lieder I und II des Bakchylides nicht in Betracht
kommt, wir sie also auf 460 oder 462 zurückschieben müssen,
über 464 kann man schwerlich mit ihnen hinaufgehen ^). Somit
gewinnen wir als äußerste Grenzen der Verbannung des Bakchy-
lides die Jahre 464 — 452, sehr wohl kann sie aber auch nur einen
Teil dieses Zeitraums umfaßt haben.
Leipzig. ALFRED KÖRTE.
1) Essai de Chronologie Pindarique 150 ff.
2) So auch Schmid, Grieeh. Liter.-Gesch.« I 222 Amn. 2.
3) S. 0. S. 119. Die Möglichkeit, Argeios' Sieg auf 456 oder 454
herabzurüuken und die Verbannung zwischen 468 nnd 454 unterzubrin-
gen, besteht freilich auch, aber sie hat nach dem oben Ausgeführten
geringere Wahrscheinlichkeit.
10'
EIN NEUES BRUCHSTÜCK AUS DEN AITIA
DES KALLIMACHOS.
Der neue Fund aus den Aitia des Kallimachos ^) hat trotz der im
Kriege geringen Verbreitung des Oxyrhynchusbandes '^) rasch die Auf-
merksamkeit auf sich gezogen, vornehmhch allerdings um der heor-
fologischen Angaben willen und der Gonsequenzcn. die sich aus ihnen
zu ergeben schienen^); seine Bedeutung ist aber für den Dichter
und die Gomposition seiner Aitia grofä genug, der poetische Reiz des
Bruchstücks ein so hoher, dafs eine Sonderbehandlung des Textes
und eine genauere Einordnung des Fundes innerhalb seiner Lite-
raturgattung gerechtfertigt erscheinen.
Col. I.
t]chg ovde Txi^oiylg iMv&avev ord' ort dov/.oig
^jLiaQ 'Ogtorsioi Xevy.bv äyovoi yjhg,
'Ixagiov xal ncuöbg äyon> eTteieiov äyioxvv,
'Ar&ioiv otxxioTij, aov cpdog, "Hgiyovt],
5 eg daixip' exdXeooev ojutjd^eag, iv de vv töioi
^eTvov og A[i]yv7irq) y.aivög äveoigecpero
IxejjißXcoy.ibg Xdiov ri xaxd XQSog ' rjv dk yeved^krjv
"Ixiog, cd ^vvYjv el^ov eyöj xKiohp
ovx EHird^, dXX' alvog 'Ojurjoixog, aiev ö/noiov
10 (bg 'deög, ov ipevdijg, ig röv öjuotoy äyei,.
xal ydg 6 0Qi]ixit]v juev änioxvye '/[avbov niivoxiv
oivonoxuv, öh'yco d^ fjÖExo xioavßico.
1) Oxyi-hyiichus Papyri XI 1915, 13G2, von Grenfell und Hunt muster-
gültig bearbeitet; der Text oben in ihrer Fassung.
2) Ich danke der Güte von H. Diels die Benutzung seines Hand-
exemplars.
3) M. P. Nilsson, Die Anthesterien und die Aiora, Eranos XV 191(>,
181—200. Ä. Körte, Zu attischen Dionysosfesten, Rhein. Mus. LXXI 1916,
575 — 578. Mit Rücksicht auf diese Arbeiten sind die religionsgeschiclit-
lichen Fragen hier kürzer behandelt als geplant.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACUOS 1 19
To> jiiev iyo) rdd' eke^a JieQioreixot'TO^ uXeioov
To TQiTOv, evT sddijv ovvo/iia xal yei'hjv,
15 77 juuX' ejiog röd' äX)]dEg, ot' ov fiovor vSazo:: alonv,
uXX ETI y.al ?Joy)]g oJvog e'xf-'ti' tdeXti '
T)]v fjimg, ovx h y[a\o ägvonjosGoi cpoQETxai
oi'ÖE jitiv Eig dz[. . . .]. ofpQvag oivoyjHor
atxt]aEtQ öq6(o[v] or' elEV&EQog nr/ueva oaivti,
20 ßd/J.co/iiev yaksTiO) cpagfianov ev no/iaii,
ßEvyEveg, öoo[a] d' ejlieTo gIejOev ndga d^j/xög dy.ovacK
lyaivEi, xdÖE juot k[E]^ov [dveiQOjLiEv]cp'
MvQ/tidovojv tooijya r[i ndrqiov v],ujM OEßeoßni
IlrjUa, xwg "I>c(p ^vv[ ];<«,
25 TEv <5' EVEHEv yt]T£tov tö[. .]vr\ . . . a]orov Eyovoa
Col. II.
fJQOJog Ha[&]ödov jza[7g
eldoxEg (hg eve71ov{oi
XEIVY}V Tj TlEQl GYjV [
OV&' EXEQijV eyvojxa ' x\
ovuxa /wÜEToßai ßo.[
x[aux] £juE^%v kE^avxo[g
x[gio]judxaQ, y Tiavooiv ö[Xßi6g egoi fiiExa,
[vavxi\Xh]g ei viiiv EiyEig ßi'ov ' dXX' Ijudg aldiv
\y.vf-iaoiv ai\)9vh]g jiiä[?dov Eowxioaxo
„. . . auch nicht ging der Tag der Faßüffnung ungefeiert vor-
beii, auch nicht, wenn das Kannenfest (das seinen Ursprung von
Orestes herleitet) den Sklaven einen Freudentag bringt; und wie er
die; Jahresfeier der Ikariostochter beging, deinen Tag, Erigone, die
^u den attischen Frauen Jammer brachtest, da lud er zum Mahl
CJesinnungsgenossen, und unter ihnen einen Gastfreund, der neuer-
dings in Ägypten weilte, wohin er um persönlicher Geschäfte willen
gekommen war, einen Ikier von Herkunft."
* t)er Anfang des Bruchstücks ist verloren, damit auch der
Name der Person, die die verschiedenen Feste begeht. Genannt
wird sie von Athenaeus XI 477 G gelegentlich einer Diskussion über
verschiedene Becherformen : XJ.yojv im xov 'Ixiov ^) ^ivov xov Tiaod
1) Überliefert oly.elov; auf Grand des Papyrus vou Grenfoll und
Hunt entscheidend gebessert. - v . U'
150 L. MALTEN
T(p 'A-ßi^vaicp IlöXhdi ovveonaa&Evrog avtat. Daß Pollis Athener
sei, war von Meineke^) angezweifelt worden, der ihn durch Conjectur
zu einem Keer machen wollte. Da jedoch die von Pollis gefeierten
Feste speciell altisch sind, stützt der Papyrus die Angabe bei Athe-
naeus; auch liefert die attische Prosopographie 2) eine, wenn auch be-
schränkte Zahl attischer Träger dieses Namens : hinzu tritt der zur
Zeit des schwarzfigurigen Stiles lebende Künstler Pollis, den jüngst
G. Robert der Vergessenheit entzogen hat ^). Der Name ist also in
Athen aus älterer Zeit gesichert. Der Pollis unseres Gedichtes, der
in den verlorenen Anfangsversen genannt war*), war, wie Z. 6-
lehrt, aus Athen nach Ägypten übergesiedelt, bewahrte aber seinem
Vaterlande die Anhänglichkeit, indem er jährlich die heimischen
Feste beging, so Avie Themislokles die Choen nach Magnesia mit^
nahm •'). Unter den attischen Festen, die Kallimachos ihn feiern
läßt, sind sofort kenntlich Pithoigien und Choen, die beiden ersten
Tage der Anthesterien. Vorn überschießend bleibt rjo'jg. Der erste
Gedanke ist, daß darin ein besonderes, den folgenden nebengeord-
netes Fest stecke, von dem Genaueres im vorhergehenden verlore-
nen Verse gesagt war. Daneben bleibt denkbar, daß rjcog mit inver-
lirtem ovös (ähnlich wie xai in Z. 3) zu jic&otyig gehört. Bildungen
wie nidoiyig neben dem üblichen jii&oiyia können gewiß substan-
tivisch gebraucht sein, wie änoixig neben aTioixia, yXavig neben
X^aiva, e?M'i'g neben iXaia, sind aber, wie die Composita vom Bildungs-
typus y.ovooTQÖ(pog, von Haus aus eher Adjektiva. ijcog 7ii{}oiyic
wäre allerdings schwerlich der 'Morgen der Faßöffnung' : den Wein
wird man im Laufe des Abends geöffnet haben, um sogleich das
Festtrinken anzuschließen. Vergleicht man aber die folgenden Aus-
drücke levxov fj/Liag (Z. 2) und cpaog (Z. 4), so wird deutlich, da&
Kallimachos in dieser Partie Worte von ursprünglich stark sinnlicher
Bedeutung häuft, ohne daß diese Bedeutung den Worten in unserem
Zusammenhang noch innewohnt. Xevxbv fjfiaQ brauchen noch die
1) Bei Schneider, Callimachea fr. 109.
2) Job. Kirchner, Prosopographia Attica 11 898tF. führt aus IG I. II 2.
113. ]] 5 je einen Träger des Namens an. Vom gleichen Wortstamn»
abgeleitet i.st /7o;./(W IG 1 Suppl. 180, 373"; 180,37a" aus dem Perser-
schutt.
3) Aich. Jahrb. XXX 1915, 241 f.
4) Nicht notwendig im Accusativ, da i/.drdarsv eines persönlichen
Objekts nicht unbedingt bedarf.
5) Possis bei Athen. XII 533 D.E.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 151
Tragiker in voller sinnlicher Anschaulichkeit, verbunden mit cpdog^
jbteya, und contrastiren es der Nacht ^) ; bei Kallimachos ist es
nichts als 'Freudentag', wie ^evxi] fj/itegu übrigens noch lieute ge-
braucht wird'''), (pdog ^Hqiyöv}]? ist bei Kallimachos nur 'Tag der
Erigone'; gerade er verwendet das Wort auch sonst in dieser ab-
geblaßten Bedeutung ^). Der Weg führte hier von der Urbedeutung
über Formeln wie h cpdei eJvai oder tpdog ßlmEiv 'leben* ^) und eig
(pdog iXßeTv 'geboren werden'. Entsprechend dehnt nun schon die
Uias rjcog über den ganzen Tag aus ; in späterer Poesie wird tjcßg in
ibrcirten Ausdrücken ganz synonym mit yjaega gebraucht ^). So
würde neben q)dog 'Hgiyovijg auch tjcog Tndor/lg nicht mehr als
'Tag der Fafsöffnung' zu bedeuten brauchen"). Entscheidung könnte
nur der verlorene Vers vorher bringen.
Auf die Pithoigien folgen die Choen, die 'Ogeoretoi genannt
werden und ein Freudentag für die Sklaven ; über ihre Verbindung
mit Orestes und über die Beteiligung der Sklaven an beiden Fest-
tagen ist das Material von Nilsson'^) und A. Körte zusammengestellt
worden. Die Anthesterien treten damit dem Kreise von Sklaven-
festen bei, an denen die Herren entweder mit den Sklaven feierten
oder selbst ihre Sklaven bedienten. Zu den Kronien^) und den
thessalischen Pelorien^), die Nilsson vergleicht, treten eine Reihe ähn-
licher Begehungen in Kreta ^*'), Sparta ^^), Arkadien ^^), speciell Phi-
1) Aeschyl. Pers. 300f. Sophokl. Aias 708fi:, ähnlich auch Horaz
Od. I 3(3, 10 cresxa ne careat puJchra dies nuta.
2) VVie mir C. Kappus mitteilt.
3) Hymn. III 182. VI ^2 d 8e ivvm (päsa y.Enai von Erysichthon, Dem
Kallimachos folgend nennt Agathias (Anth. Palat. XI 362) ffdeo. ^toloifta,
was die Ärzte mit xQiaiiiog ijuem bezeichnen.
4) Ciosiv y.al oQäv (fäo; ijE?.ioio verbindet 8 .'"i40.
5) Musaeus Hero und Leand. HO y.artjiFv sig övoir'Hcog. Orph. Argon.
652 fiecdirj rjojg.
6j Auf die Möglichkeit, so zu deuten, macht mich W. Kranz auf-
merksam.
7) A. a. 0. 184 und Arch. Jahrb. XXXI 1916, 830, 2.
8) Athen. XIV Ö39 B u. ö.
9) Baten von Sinope bei Athen. XIV 639 E = FHG IV 349.
10) Karystios h laiootxoTg vnoiivr}^iaotv Athen. XIV 639 B = FHG
IV 358.
11) Anläßlich der Hyakinthien Polykrates ir xoig Aaacony.oTg Athen.
IV 139D — F = FHG IV 480.
12) Theopomp iv rf] exit] y.al Tsoaaoayootfj lojr ^H/.t7i:T(Hä>v Athen. IV
149D = FHG I 319.
152 I, MALTEN
galeia ^), Troizen ^) ; auch für Babylon wird der Brauch des uq-
yeodai rohg deoTzorag vjcd rcov oixeTÖJV berichtet ^).
Den Anthesterien reiht Kalh'machos die ijTereiog ayiorvg der
Erigone an. Das Substantivum ist neu, die Bildung aber hat ge-
rade bei Kallimachos reichliche Parallelen, zum wesentlichen Teil
Neubildungen des Dichters selbst: ye?Moivg (Hymn. IV 324). öi(x>-
viTvg (III 194), jxaoxvg und a.h]Tvg (fr. 277), äojiaoxvg (fr. 427),
nXayy,Tvg (Pap. Rylands 13, 12), äcpQaoxvg (fr. anon. 9), uyvvg
(fr. anon. 79). Begangen wird das Erigonefest, die Aiora, zur Ent-
sühnung der attischen Frauen, unter denen nach der Selbsterhän-
gung der Erigone eine Selbstmordepidemie ausgebrochen war;
flarum nennt Kallimachos die Erigone 'Arßtoiv otxxioi)], die olxrog
liringende (wie schon X 76)*). Den Charakter des Aiorafestes hat
Nilsson ausführlich behandelt; seine Zeit bleibt auch jetzt im un-
gewissen. So weit wird man sich von Kallimachos leiten lassen
ilUrfen, daß das Fest den Choen zeitlich naheliegt, nicht um ein
Iialbes Jahr von ihnen getrennt ist. Darauf führen auch die inner-
lichen Zusammenhänge, die Nilsson in dem gemeinsamen Orestes-
aition und auch wohl dem gemeinsamen Brauche des Askoliasmos
aufgedeckt hat. Sein Schluß aber, Anthesterien und Aiora seien
die städtische und ländliche Form eines und desselben Festes, bleibt
liypothetisch ; Pollis würde sie dann kaum beide gefeiert haben;
durch den Papyrus nicht neu gestützt wird auch die von Hauser ^)
aufgestellte, von A. Körte acceptirte, von Nilsson abgelehnte An-
nahme, daß die Aiora eine feierliche Begebenheit am Choentage
selber seien. Die verbindende Partikel, etwa de, die Körte zwischen
Erwähnung von Choen und Aiora vermißt, liegt meines Erachtens
in yMi hinreichend vor; Körtes. Interpretation, die im Papyrus
für die Aiorafeier im Hause des Pollis v. 18 und 19 vorausgesetzte
Situation entspreche der Sklavenfeier an den Choen, und dem darauf
gebauten Schlüsse auf die Identität von Choen und Aiora muß ich
unten (S. 164) entgegentreten,^ , , ,
1) Hamiodios von Lepreai iv tw ^soi t&v xarä ^lyäleiar routficor
Athen. IV 1 48 P- 1496 = FHG IV 411.
2) Karystios a. a. 0. Athen. XIV 639C.
3) Ktesias iv ösviego} neQoty.wv und Berossos iv noo'jTO) Baßilcovia-
y.my . (Athen. X l V 639 C = FHG : 11 498). - r
4^ Anders Apollon. Argon. II 783 oiy.xioxoi^ ileyoiai.
5) Häuser bei Furtwüngler-Reichhold, Giiech. Vasenmal. zu Taf. 125
S, 29. Körte a. a. 0. S. 578. Nils.sou a. a. 0. S. 195.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 158
Der Gastfreund des Pollis, der Kaufherr, den Gescbtifle nacli
Ägypten geführt^), stammt von Ikos, einer der magnesischen
Inseln. Die kleine, unbedeutende Insel , deren Name in unserer
Überlieferung öfters durch den Namen des gröfiercn Kos verdrängt
worden ist, ist recht eigentlich entdeckt durch U. v. Wilamowitz ^),
dem auch die Lesung des Wortes in unserem Papyrus Z. 8 und 24
und damit das Verständnis des ganzen Zusammenhanges verdankt
wird ; Hunt hatte Iiuog entziifert. Kallimachos gebraucht den
Namen mit langem Iota, Antipatros von Sidon Anth. Palat. VII 2, 10
(xEV&ei xal Ohtdog yajiierrjv fj ßgayvßcoXoq "Ixog) mit kurzem;
daraus folgt, dafs man schon in alexandrinischer Zeit sich über
Quantität und Bedeutung des Namens unschlüssig war; nicht zu
verwundern, da der Name der Insel wie der des benachbarten Pe-
parethos in karische Zeit zurückreichen wird 3).
„Mit ihm hatte ich ein gemeinsames Polster, nicht auf An-
ordnung (des Wirtes), sondern wahr ist der Spruch bei Homer,
daß immer die Gottheit gleich zu gleich gesellt. Haßte doch auch
er, nach Thrakerart ohne Absetzen gierig den Wein zu trinken, und
hatte seine Freude am kleinen Becher. Dem sagte ich, als der
Becher zum drittenmal umging, wie ich seinen Namen und seine
Herkunft erfahren ..."
Die Verse 11—14 stellen ein textkritisches Problem von nicht
geringem Interesse für die Geschichte des Kallimachosfextes. Unser
Papyrus liefert v. 11 f. in folgender Fassung: xal ydg 6 ßQr]ixii]i>
fiEv ajiEorvy E '/^avdov af^ivoTLv oivojiot ei v usw. Citirt werden
in sonstiger Literatur:
1) V. 11-14 (bis To TQiTov) von Athen. XI 477 C (s. ob. S. 149f.)
= Schneid, fr. 109 mit den beiden Lesungen äjii^raro und Qodqo^
JlOTEir.
2) v. 11 — 12 von Athen. X 442F anläßlich der Sitte des thra-
^iischen d/uvorl mveiv mit dn^ozvyE und oivotzoteiv.
3) Noch unerkannt eine Umschreibung der Verse bei Athen.
XI 781 D (III p. 17 K.j, wo es nach einem Gitat des Bathykles-
bechers, den Kallimachos, wie wir jetzt wissen, in seinen lamben
i) itisßß^.wxcög auch Hekale fr. 137 Kapp.
2) In d. Z. XLIV 1909 S. 474f.
3) So auch Fick, Vorgriech. Ortsnara. 67 und Fredrich, IG XII 8
S. 166.
154 I- MALTEN
behandelte^), lieifst: elevOeQiov de, <pt]oi, y.al efAju€?.cög iv olr(i/
öidyeiv, ur) y.co&wvi'QöfXfvov jui]de 0Qqxico vouco ajuvoTiv oivOt
TToreiv, d?.ka. tco Tiojuan (puQjiiaxov vyeiag iyniQvdvai jov
loyov. „Poeine rerha siihctse jrnlat WUanioivifz", halte Kaihcl
in seiner Ausgabe notiit.
4) Macrob. Saturn. V 21, 12 mit ävi'jvaro und QoiQonoxEiv.
Ledigh'ch Schreibfehler bei Athen. 1) ist änrjvaTo, schon von
Kaibel nach Macrobius in «j-?y»'«TO geändert. Es bleibt eine Doppel-
überlieferung: auf der einen Seite der Papyrus und Athen. 2) mit
dneoxvys und olvonoreir, wozu Athen, o) init oIvotioteIv sich
.stellt, auf der anderen Seite Athen. 1) und Macrobius mit ujirjvaxo
und QwqotioteJv. Die Entscheidung ist mit Sicherheil zu fällen:
äntoTvye ist das stärkere, hier noch besonders empfohlen durch
den Gegensatz zu ijdero, dazu ein echt Kallimacheischer Ausdruck:
Hymn. IV 223 cW.ai /nh' TiUGal juiv äneoxvyov ovo' tdey^ovxo^
Hekale fr. 103 Kapp eojxIqiov cpiXtovoiv, äxa.Q oxvyeovoiv eqjov.
Ebenso verdient oIvotioxuv den Vorzug; Kallimachos wählt das
Wort wegen des beistehenden Adverbs yavdov „gierig Wein trin-
ken". Darnach hat der Papyrus und Athen. 2) in beiden Fällen
das Richtige bewahrt. Wertvoller als die Einzelerkenntnis ist eine
principielle Folgerung. Es kann kein Zweifel sein, dafa Kallimachos
selbst seine Werke edirl hat; und trotzdem linden sich schon im
zweiten ^)' nachchristlichen Jahrhundert parallele Textfassungen, die
nicht aufeinander zurückzuführen sind. Alhenaios, der beide Fas-
sungen hat, hat sie verschiedenen Quellen entnommen; Macrobius
wird nach Wissowas^) Nachweisen nicht aus Alhenaios direkt ge-
schöpft haben, sondern eher aus einer der beiden Überlieferungs-
quellen, auf die auch Alhenaios zurückgeht, etwa so, wie Weli-
mann*) das Verhältnis auch zwischen Alhenaios und Aelian fest-
gestellt hat. Damit rückt die gemeinsame Quelle vor die Zeit beider
Autoren zurück und etwa in dieselbe Zeit, der im ersten Jahr-
hundert auch der Papyrus mit seiner abweichenden Überlieferung
angehört. Also drei Jahrhunderte nach dem Dichter und ersten
1) Oxyib. Pap VII 1011 v. IQ-^tf.
2i Für die Zeitansetzung des Athenaio.s auf das Ende des S.Jahr-
hunderts hat Dittenberger. Apophoreton, überr. von der Graeca Halens
1903, 14. 26 wohl das Entscheidende beigebr.icht.
3) Götting. Nachr. 1913, 331.
4j D. Z. XXVI 1801 S. 491. 503.
AUS DEN AlTIA DKS KAl.LIMACHOS 155
Editor ein Schwanken des Textes, das wieder eindringlich davor
warnen kann, aus der EinlieitHchkeit einer Texlüberheferung auf
ihre Festigkeit zurückzuscliHeßen.
Der Dichter hat mit dem Kaufherrn aus Ikos eine gemeinsame
xXtotr], hier nalürhch nicht Zelt, sondern Speisesopha, ein Gebrauch
des Wortes, für den Pindar Pyth. IV 133 das erste Beis|)iel bietet.
Die beiden nehmen dort Platz, ovtt tnixd^. Das Wort citiren Etym,
Magn. s. V. und Helladius ^) aus Kallimachos und Arat und erläutern
es xm emrayjua xal xeIevoiv. Für Arat v. 380 paßt die Deu-
tung nicht, um so besser für unsere Kallimachosstelle. Gewöhnlich
wies beim Symposion der Wirt die Plätze an, so Agathon im Pla-
tonischen Symposion p. 175 A. Da dies öfters eine Bevorzugung
der Vornehmeren und Reicheren zur Folge hatte, machte sich die
Forderung gellend, man solle den Gast selbst seinen Platz wählen
lassen, wo er wolle; xaraxeio&co öjiov äv rv^^f] exaorog fordert
Lukian im Kronosoion c. 17 p. 399 und ähnlich Plutarch in den
Tischgesprächen 12 p. 616 A: rovg «5' Im ravra xalovfiEvov^
eixfj xal cbg hvie xaraxXivavxag ')(^0Qrut,eiv ; so geschieht es in
der Tat bei Athenaios II 47 E fiexä ravra dvaardvreg xarexXiv-
■dij/uev (bg exaorog, i'i&eXe, ob 7i€Qi/ueivavreg övojuaxX/jroQa tov
x&v deijivcov ra^iag^ov. Hier bei Kallimachos weist der Gastgeber
den beiden die Plätze nicht an, auch kennen sie einander nicht
von früher (Z. 14); ein Gott führt sie zusammen, eine gewisse
Sympathie und ein Gefühl, daß sie sich etwas zu sagen haben.
Der aJvog 'Ofit]QiH6g stammt aus q 218, wo der Ziegenhirt dem
Odysseus und Eumaios höhnisch zuruft cog aiel röv ofioiov äyet
■&eög tg röv öjuotov. Das Wort hat gefallen ; Piaton verwendet
es öfters, im Gorgias 510 B cöoTzeg oi TiaXaioi m xal oo(fo}
Xeyovoiv, 6 ojiwiog reo öjnoiqj, im Sympos. 195 B o yaQ Tra-
Xaiog Xöyog ev e'xsi, cbg ojuoiov ö/uoico del TieXd^ei, im Lysis
214 A mit wörtlichem Citat, ebenso Aristoteles in der Rhetorik I
p. 1371*» 16, sowie mit wörtlichem Citat in der Eudem. Ethik Vll
p. 1235* 7, Cicero im Cato maior § 7. Auch die Atomisten^)
1) In der Chrestomathie bei Photius Bibl. p. 032» 36 Eekker
(= Schneider fr. 327).
2) Leukipp za of^tota apo? lä ö/Liota (Diels, Vorsokr.^ TI 1 S. 1 Z. 17),
ebenso L'emokrit (II 1 S. 34 Z. 84), ofioiov vn6 rov öfioiov xiveTo^ai (ß. 22,
38); TÖ ofioiov TU) ofioiq) qpvaet ovyysvi? läßt Plato (Protag. 377 C) den
Hippias sagen. Mehr bei Kranz im Index der Vorsokr. s. v. ofioiog.
156 L- MALTEN
spielen gern mit diesem Worte. Von Interesse ist eine Variante
im Texte. In der Odyssee haben PXD bei Ludwich, GPXD bei
Munro ig xbv öfioiov, die übrigen Handschriften und mit ihnen
die neueren Ausgaben mg röv ö/.ioiov. Letztere Lesart hat Rid-
geway ^) zu behaupten gesucht mit der unmögUchen Erklärung, die
beiden cbg ständen parallel 'tvhere God ever brings like, there he
hrings like". In Wahrheit liegt die Sache so, daß der speciell
attische Gebrauch des präpositionalen d>g und die attischen Texte
des Plato und Aristoteles sich stützen, so daß die Handschriften -
klasse der Odyssee, die eg bietet, zusammen mit dem Kallimachos-
papyrus für das Epos das Echte bewahrt haben-).
Der Gott hat die beiden recht geführt, denn (Z. 11), als das
Gelage begonnen, stellt sich zunächst heraus, daß sie beide den
Thrakercomment , aus großen Humpen ohne Absetzen und Aufr
atmen zu trinken, verabscheuen. Als thrakisch finden wir die Sitte
des äjuvoTi (oder äjivevorl) mveiv öfters belegt: dem Thraker
Rhesos wirft Hektor sie vor (Rhes. v. 419. 438), Horaz (Od. I
36, 14) bildet Threicia vincat amystide; die Grammatikerüber-
lieferung bei Pollux VI 25 bestätigt. Substanlivirt heißt dann der
Comment selbst äfj.vorig^)', so schon bei Anakreon 64 cpeg' tjfuv
xf2eß't]v, ÖTccog afivoxvv jT.Qo:i:ko oder bei Kratinos fr. 291 äXX'
ovv '&ecp aneioavT äjuvonv dei jiieXv; in diese Reihe gehört
auch Epicharms Wort (34) äjuvoziv ojoneQ xvXixa mvei rov
ßi'ov 'er schlürft das Leben in einem Zuge, wie er einen Becher
in einem Zuge leert^*). Daneben nun steht eine Grammatiker-
Iradilion, vertreten durch Photius, Suidas, Etym. Magn. s. v. äjiwotl
hielr, Pollux VI 97, Schol. Aristoph. Acharn. 1229, Schol. Rhes.
419, Athen. XI 783 D. E, mit der Behauptung, äuvorig habe auch
eine Becherart bezeichnet. Einen bestimmten Beleg bringt nur
das Rhesosscholion aus einer anonymen Auge (FTG ^ p. 437),
aber ersichtlich mit falscher Interpretation: ovv reo ßa&eiag xat
Tivy.rag elxovoi Tag ajuvoridag ; wo wir das Verbum E'kxeiv
1) Jomn. of Philol. XVII 1888 S. 113.
2) Bekker, Hom. Blätter I 191, 13 'tws für .-roög bei Pei^onen, ge-
wöhnlich im Attischen, ist, außer dieser Stelle, tmerhört im Homer*
Also wird, trotz Apollonius dem Sophisten p. 170, 15, ig zu lesen sein
asw.' Nachfolge scheint Bekker nicht gefunden zu haben. _,;,^
i: 3) Timarchos bei Hesjcli s. v. äfivoug. . fOtcMfi» öi ; 8;.
4) Vgl-, auch Aristoph. Acharn. 1228, Euripides Kykk"4KRK ;:i?Jcjq;iJ
AUS DEN AITIA DES KALLl MACHOS 157
fiiulen, ist immer der Tiiiikcommenl j^eineint (Eurip. Kykl. 417'.
Antiphanes bei x\theii. X 459 U. Anacrconlea 9, 2. Clemens Alex'-.
Paed. II p. 175 St.). Es bleibt nur ein Fragment des Ameipsias^),
das für diese Grammatikerangaben zu zeugen scheint, xal {ov)
Ttjy äjuvonv Xd/jßave. Uns Avird dies nicht genügen, bei Kalli-
machos die Bedeutung „Becher" einzusetzen, trotzdem das folgende
xtoGvßiov dazu verleiten könnte, zumal auch die Construclion um
vieles flüssiger wird, wenn '^ar(>dv olvojiorsTv als Inhaltsangabe
explicativ zu uj^ivaiiv im Sinn von 'Thrakercomment' tritt. So
hat auch der Paraphrast bei Athen. 3) oben S. 153 f. verstanden,
wenn er die Umschreibung gibt: fi}]öl- ßgayuro vojiup ajiivGTir
olvojrornr.
Der Ikier wie auch der Dichter haben ihre Freude am kleinen
Becher. So war es alte hellenische Sitte: xovt' mß\ ögag, 'Ek-
h']riy.b'; jr/nog, f(f.rQioiai /jjo/uvovg :roTr]Qioig XuXdv xi xat
h^QHv irgog avxovg yöecog (Alexis bei Athen. X 431 E), ebenso be-
richtet für die Zeit des Alkaios Dikaiarch (bei Athen. XI 461 A) das
•/Qiiodai liixQoTg ey.Trwjnaoi. Man glaubte zu beobachten, daß bei
einzelnen Stämmen, wie den Attikern'^), die alte Sitte geblieben sei,
während man z. B. in Thessalien , Chios und Thasos aus großen
Bechern zechte (Krilias bei Athen. XI 463 E). Das Abgehen von
dem alten Brauch schreibt Ghamaeleon in jieoi iie&tjg (bei Athen.
XI 461 B) dem Eindringen barbarischer Einflüsse zu: ov /a^ 7ia-
laiov ovds xovxo ye eoxt Txaoo- xoTg "EXXrjoiv, aX)A vecoaxl evQS'&r}
jteiKp'ßev ix Twv ßnoßdocov; dabei werden w'iv in erster Linie an
die Thraker denken. Dann war es beim Symposion Brauch ge-
worden, von kleineren Bechern zu größeren überzugehen-''). Zur
Auswahl für die Gäste standen xvXixeg Jiavrotai bereit *) ; da
mochte jeder wählen. So zechen am Schluß des platonischen
Symposions Sokrates, Agathon und Aristophanes ix (pidXt]g fzsyd-
Itjg (223 G), in Xenophons Gastmahl fordert Philippos einen größe-
ren Becher (II 23), auf der luxuriösen Hochzeit des Karanos wirrt
y^Qvcddoiv Jidvv iieydXcoi' getrunken (Ath. IV 129 D), bei Horaz
1) Bei Athen. XI 783 D. E, bei Crönert unter äfivoiis nachzutragen.
2) So fordert Sokrates in Xenophons Symposion (!I 26) zu trinken
/ity.oaTg y.vh^i.
3) Diog. Laert. I 104. Cicero in Verr. II 1, 66 nennt das mos Graecus.
4) Lukian Kronosoion c. 18 p. 400. Philo de vita contemplat. ed.
Cohn-Reiter VI p. 59 c. G. )
158 L. MALTEN
(Satir. II 8,35), Petron (c. 65 p. 44 BücL.*), Lukian^), Athenaios
(XI 501^ B) werden iiei^ova JioTtjoia gefordert, zuweilen kommt es
gar zum Streit, wer den gröfsten Becher erhält-).
Stand es so in jedes Gastes Belieben, den Becher zu bestim-
men, den er vor sich stehen haben wollte, so war jeder gebunden,
wenn der Trunk zum Zutrinken circulirte; den galt es zu leeren;
dann ward er vom nai^ neu gefüllt und emde^ia dem Nachbar
gereicht. So geht bei Kallimachos das äkeioov um, das zwei-
henkelige Trinkgefäß. Das Weitergeben und Kreisen des Bechers
wird sonst durch Tiegiayeiv ^), TiEQiEXavvEiv jrjv y.vXixa *), Jiegioo-
ßsTv^) ausgedrückt; dem Kallimacheischen Tiegioxely^eiv besonders
nahe kommt das Euripideische y.v?uy.og eojiovotjg y.vxXq) ^). Beim
Weitergeben an den Nachbar trank man ihm zu, die jigoTiooig
oder (pdoii]Oia; dabei nannte man zum Gruß den Namen des Ge-
ehrten. Ausdrücklich bezeugt das Kritias (bei Athen. X 432 D. E),
in Sparta sei es nicht Sitte ujiodiooeiodai TiQonooeig övojuaoTi
Xeyovxa, nicht ngonooeig ögeyeiv Inide^ia xai jiQoy.aXeTo'ßai i^o-
vojuaxlijöijv, (o TTooTTidv idehi . . Auch Athenaios in seinem
Symposion (XI 498 D) sagt von den Zechgenossen nh^QOvvxeg yaQ
jTQoemvov üLX)J]Xoig iterä TrgooayoQevoecog, und Lukian (de merced.
conduct. 16 p. 672) läßt den reichen Gastgeber dem armen Ge-
lehrten zutrinken , indem er ihn dabei mit seinem Titel anredet
{tiqovjiie ooi TM diöaoy.dXq) fj öxidrjnore txqooeijKOv). So begreift
es sich, daß Kallimachos bei dieser Scene der (pdoTi]oia die Worte
setzt evx' iödrjv ovvojua xal yEvhp: vorher, beim ersten Trinken
und Plaudern, hatten die beiden Namen und Stand noch nicht ge-
kannt, wie das bei uns ja auch oft genug der Fall ist. Das Um-
trinken geschieht öfters: bei Menander ex 0EO(poQovju€vt]g (Athen.
XI 504 A — fr. 224) tö jioöjxoi' JiEgiEooßEi noxrjQiov avrdig
dKodxou: bei dieser ersten Gelegenheit werden der Dichter und der
Kaufherr sich bekannt gemacht haben. Beim dritten Male — xö
xQixov fjvi/i EjTivE seufzt auch der ^Evog im Epigr. 43, 8 — sagt
der Dichter zu dem neuen Freunde folgende Worte:
1) de merced. conduct. 16 p. 672.
2) Galen. i>sQaji. ns^od. I Vol. X p. 3K.
3) Diog. Laert. II 139.
4) Xenopli. Sympos. II 27. Pollux VI 30.
5) Lukian Sympos. 15 p.428. Athen. XI 504 A. Alkiphr. Epist. III 5.\6.
6) er KQfjooaig fr. 468 N.^
AUS DEN AITIA DKS KALLl MACHOS 159
„Fürwahr, zutreffend ist das Wort, dafs der Wein nicht nur
sein Quantum an Wasser, sondern auch an Gonversation benötigt.
Die laf? uns selber als Linderungsmittel in den (uns) lästigen
Trank tun — denn nicht wird sie in Schöpflöffeln servirt und
nicht wirst du sie fordern wollen, wenn du auf die äx
ocpQvag der Weinjungen blickst, jetzt, wo der Freie den Sklaven
anschmeichelt — , was aber, Theugenes, mein Sinn von dir zu er-
fahren begehrt, die Frage beantworte mir."
V. 15 und 16 werden bei Athen. I 32 B anonym cilirt mit an-
schließendem Simonidescitat, das schon Schweighäuser, ohne Bergk
zu überzeugen, von dem jetzt als Kallimacheisch erkannten Gut ab-
sonderte. Die Textschwankungen sind hier nur Schreibvarianten:
fj yäg .... oxi ov .... äXXa ri .... y.al kevyrjg. Zu Xev^^ijg
citirt Kaibel keine Variante, Bergk Simon, fr. 88 aus L /.eox'i]g,
was seiner Conjectur -^ksut]? gegenüber das Richtige wäre; der
Kallimachosparaphrast bei Athenaios (oben S. 153 f) umschreibt XEoyi}
mit Xoyog. Kallimachos selbst braucht Xeoyj] im Sinne von Plau-
derei auch Epigr. 2 oooaxig äjuxporegoi yjXiov iv Xeo^tj xaredvoa-
jjFv ^), Phalaikos (A. P. XIII 6) verbindet ev je Xioxf] ev t' oTvrp.
Daß Gonversation die Würze des Mahles sei, ist ein aller
Topos ^), seit Xenophanes^) her, bei dem der xgaxrjQ jusoxög
evrpQoovvf^g von den Zechenden gepriesen wird. Theognis 563 ff.
wünscht
y.exXrjo&ai d' lg öatxa, naQE^EO&ai ök naq' loßXöv
ävöqa ^qecov, oocphp> Jiäoav ETrioxujuevov '
1) Anders fr 98^ keoxaivEiv.
2) Für die Symposienliteratur sind neben den Handbüchern von
I.Müller, Gi-iech. Privataltert. S. 264 ff. Hermanu-Blümner, Privataltert.*
1382, 247 f. Marquardt, Privatleben der Kömer I^ 147. 313. c5o2 zu ver-
gleichen: Müller, Die griechischen Symposien, Zerbst l8ö8. Maltos, tisqI
z(ov avfiJTooiwv xwv nalaiMv 'E).h)v(or. Hirzel, Der Dialog I 31. 155. .'559 ff.
Mau. P.-W. IV GlOff. 1205, vor allem Ullrich, Entstehung und Ent-
wicklung der Litteraturgattung des Symposion; zwei Programme des
Gymnasiums zu Würzburg 19U8. 1909. Für die bildlichen Darstellungen:
Daremberg-Saglio, Diction. I 2, 1269 ff. IV 3, 1579. Jacubsthal, Abhandl.
Götting. Ges. der Wiss. 1912, Anhang über Sv^uioaiaHÖ.. Studniczka, Das
Gastmahl Ptolemaios' IL, Abhandl. der säuhs. Ges. der Wiss. XXX 2, 1914.
F. Caspari, Das Nilschiff Ptolemaios' IV , Arch. Jalirb. XXXI 1916, Iff.
A.Frickenhaus, Griechische Bauketthäuser, Arch. Jahrb. XXXII 1917, 114ff.
3) Diels, Vorsokr.3 1 55, 2.
160 L- MALTEN
zov avvieiv, onözav tl Myt] ooq)6v^ öcpga ötday^&fjg
y.al rovT sig olxov y.eodog e'ycov änii^g^).
So wünscht es sich Kallimachos auch. Bei Piaton im Symposion
tritt das eigenthche Gelage den Gesprächen gegenüber auf lange
Strecken ganz zurück; im Protag. 34 7 C ff. formulirt er den Wert
des Symposions dahin, daß es der Sinnenreize nicht bedürfe, durch
Heden und Hören würden die Gvi^imnai avrol avroTg Ixavoi; ähn-
lich Xenophon in seinem Symposion 2). Von Interesse, da kurz
vor der alexandrinischen Zeit liegend, ist die Elegie des Berliner
Papyrus 3); wie schal und platt mit ihren moralisirenden Empfeh-
lungen gegenüber dem neuen Kallimachos ! Sehr häufig begegnen
die alten Gedanken vom Werte der Itoyj] noch einmal bei Plu-
tarch'*), vor allem in den Tischgesprächen, wo für die Mehr-
zahl der Prooemia der einzelnen Bücher^) dieser jönog den Stoff
abgibt. Hübsch ist die Wendung im Gastmahl der sieben Weisen
(p. 156 D), es hätten die Musen den löyog y.rx^amQ xQazPJQa vrj-
fpdXiov in die Mitte der Trinkenden gesetzt, in dem Vergnügen,
Ernst und Scherz sich befänden ; an anderer Stelle ®) werden die
koyoi enieixeig y.ai TToeTtovreg, der KÖyog y.aioöv eyrnv gepriesen.
Mit Berufung auf die alte gute Zeit beklagt Galen'') das Schwinden
der reizvollen Gespräche bei Tisch, an Stelle deren Völlerei und
Händelsucht getreten seien.
Speciell der Wert einer gelehrten Unterhaltung^), wie sie Kal-
limachos mit Theugenes zu führen wünscht, wird öfters, zumal von
Plutarch, betont: raXg d' ■ ioroQixaig y.al Tiotrjny.aTg ^t^rrjoeat dia-
Toißäg ovx d);^ä;g eviot öevregag rgane^ag dvögaot (piXoXöyoig
y.al (f'dojiiovooig ttoooeXttov (de tuend, san. praec. 133 E), andern-
1) Vgl. 493 ft: 1047.
2) c. 3, 2; vgl. auch Cicero Cat. ruai. 45 f.
8) Berlin. Klassikertexte V 2, 1907, 56. 62 f.
4) Conviv. sept. sapient. p. 147 F.
5) Quaest. conviv. I p. 614 B. C. III p. 645 C. IV p. 660 C. V p. 673 A.
VI p. 686 C. VII p. 697 D. VIII p. 716 D. E.
6) Quaest. conviv. I p. 614 B.
7) esoarTEVx. ,uedo8. I ed. Kühn X p. 3 ... df./.' oids /.öywv iivwv ava-
xoivovuh'ojy, ol'ovg iv toi; avuaooioig avveyQaiiiay ^,uTv oi :jaXatol yivofxi-
rovg . . . d?J.a TtooTrivorziov fisv dU^^.oig, dful?M^€vo}v ds :t€oI i^eye&ovs ix-
ao)fiäro)v ...
8) Unberücksichtigt dürfen hier bleiben Fachgespräche, etymolo-
gische Spiele, Rätsel u. ä.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACHOS 161
orts nennt er solche Erörterungen (pdöXoya ^rjxiq fjLaxa (Quaest.
conv. 737 D); auch Horaz' quantum distct ah Inaclio (Od. III 19)
setzt solche gelehrten Tischgespräche voraus, die zumal in alexan-
drinischer Zeit an der Mode waren ^) ; an Fiktionen, wie das Gast-
mahl des Athenaios, wo die Gelehrsamkeit einen künstlich um-
gelegten Rahmen sprengt, braucht dabei noch nicht gedacht zu
werden.
Die Mox^l, fährt Kallimachos fort, wollen wir selbst als (pag-
juaxov in das ^aXeTidv nojua werfen. yaXe::i6v heißt der Wein
nicht, weil er zu *^ schwer'^) ist; auch beim schönsten Gespräch
würde er nicht ' leichter \ Es ist den beiden 'lästig', trinken zu
sollen; die Xeoyj] ist ihnen das (pdQjiiaxov, das ihnen das Viel- und
Raschtrinken ersparen soll. Das fördert ihr 'Wohlbefinden': so deutet
es nicht übel der Paraphrast des Kallimachos bei Athenaios (oben
S. 154), wenn er (paQjiiaxov vyeiag umschreibt^). Den Einfall hat
Kallimachos aus der Odyssee genommen (d 220 ff.), wo Helena dem
Telemachos ein cpaQjxaxov in den Becher tut, um die Traurigkeit
zu beheben. Aber geistreich gibt der Alexandriner dem alten Motiv
seine neue Wendung. Und seltsam ist die Coincidenz, die doch wohl
nicht dazu führen darf, Abhängigkeit anzunehmen, wenn Plutarch
in den Tischgesprächen (614 G. D) mit direktem Verweise auf Homer
ebenfalls an das (paQjuaxov der Helena erinnert und dies, ähnlich
Kallimachos, aus einem echten Zauberkraute zu einem ?i6yog ovjli-
TTorixog umdeutet: ol juev ovv tu ßovyXcoooa xarajjLsiyvvvxeg slg
röv oJvor . . . änojLujuovjuevoi t}]v ^0/ut]Qix)]v 'Elevrp v7to(paQ-
juaTTOvoar rov äxQarov, ov ovvoQCoaiv, öxi xäxeivog 6 juvSog
sxjtsQisX'&djv an Alyvixxov i.iaxQäv ödov elg Xoyovg IjxieixEig xal
JiQETZovxag exsXevx')]oev xovxo yäg ijv xö rnjTiev&kg q)dQ-
1) Lehrs, De Aristarchi stud. Homer.* 212—215.
2) Qualitätsausdrücke für Wein sind äxQarog oder axXrjQÖg (Athen.
I 30 C) oder ■&EQf^iög xal ^coQoreQo; (Athen. IV 129D) oder^f.Trös xal 8oi/iivg
(Lukian de merc. conduct. 18 p. 673).
3) Die Wortverbindung cpäg^axor vysiag findet sich, auf die Olive
bezogen, wieder bei Aristides "J&fjvä II tom. I p. 16 Dind. Kaibels Ver-
mutung, vysiag bei Athenaios wäre corrupt, ist also abzuweisen ; sein
Vorschlag vßgEcog würde nach falscher Richtung führen. Bei Plato, Ge-
setze 666 B ist der Wein selbst ein q?(XQfiaxor xfjg zov yt'jgcog avazrjQÖTrjzog,
bei Xenopb. Sympos. II 24 erquickt der Wein die Seele, wie das Zauber-
kraut Mandragoras. Vorangegangen ist Alkaios (fr. 35 Bergk'): gegen
Sorgen ist (päg^iaxor ägiazor der Wein.
Hermes LUX. 11
162 L- MALTEN
iiay.ov, Xoyog ei^ov xaigöv aQjuo^ovra roTg vjioxeijUEvoig nd'&eai
y.al TtQayjuaoiv.
Selbst wollen die beiden die Moyi] dem Weine beifügen,
„denn die wird nicht mit Schöpflöffeln servirt und du wirst sie
nicht fordern wollen, wenn du die äz öcpQvag der Be-
dienung beobachtest". Mittelst des ägvonjo ^) wird vom Sklaven
der Wein aus dem allgemeinen xQaxrjQ zum Einzelbecher getragen,
der vor dem Gast steht; so wird der folgende Gedanke vorbereitet,
der von den olvoyöoi handelt. Deren Benehmen muß etwas haben,
das die beiden zurückstößt. In welcher Richtung dies liegt, deuten
die Worte an ot' eXevd^eqog ärjueva^) oaivei: die Herren bemühen
sich um die Gunst der Bedienung. Öfters in der antiken Sympo-
sienliteratur begegnet das Motiv, daß die Schmausenden und Trin-
kenden sich eifrig an die Bedienung halten; dabei entwickelt sich
auch eine Art von Xeoyj]. Leider liegt uns diese Literatur zwischen
Plato - Xenophon und Lukian nur in Bruchstücken vor, so daß wir
nur hie und da einen Einblick tun. Bezeichnendes Material liefern
dagegen die Dialoge Lukians, vornehmhch das 'Symposion', der
'Kronosoion', die 'Epistulae Saturnales' und das 'Los von Gelehrten
in Privathäusern', die uns Reflexe aus menippeischer Darstellungs-
art ^) erhallen haben; Athenaios und luvenal treten bestätigend
hinzu. Im Kronosoion sowie in den Epist. Saturn.*) werden die
Forderungen erhoben, daß die Sklaven nicht an einzelnen Gästen
A'orbeilaufen und die Schüsseln bloß zeigen sollen, der Mundschenk
solle nicht warten, bis einer erst siebenmal zu trinken gefordert
[tiqoeitieTv de xdlg oivoyooig /li] Jiegijueveiv, eor äv ijirdxig
uhiqor] melv rj/ucöv exaozog . . .), sondern solle hei einmaligem
Verlangen gleich einschenken; die didxovoi sollten nicht dem einen
ein großes Stück, dem anderen kleine vorsetzen, sondern Gleich-
heit solle herrschen; der Mundschenk solle scharf blicken und auf
jeden sehen und hören, man solle allen die gleiche Sorte Wein
serviren. Über ungleiche Behandlung der Gäste hält sich, gleichen
Traditionen folgend , auch luvenal (Sat. V 24 ff.) auf; nach Athe-
1) Mit oivoyöt], y.va&og identificirt bei Pollux VI 19. X 75.
2) ar(.ir]v, in fr. b2>% auch dz/neviog. Beide Formen auch sonst be-
legt (Et. Magn.. Hesych.). Für die Behandlung von fr. 538 vgl. H. Diels,
d. Z. XXIII 1888, 286 f.
3) Helm, Lukian und Menipp 1906, 218f. 254 ff.
4) c. 17 und 18 p. 399 f. Epist. Saturn. 22 p. 404 f. 32 p. 412.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACHOS 1Ö8
naios (V 192 F) zieht die Bedienung die evrijuoi gegenüber den an-
deren Gästen vor. In der Schrift de mercede conductis wird dem
Hausphilosophen empfohlen, sich mit dem Vorleger {diave/ucov) gut
zu stellen (26 p. 684): es passirt ihm, daß er immer wieder ver-
gebens um einen Trunk bittet , aber 6 jiaig 'ovo' atovxi eoixev'
(p. 685). Bei Tisch fixirt die Bedienung den Gast {r'} rs oixe-
TEia sk OS anoßXenEi 15 p. 670), wovon er so befangen wird,
daß er nicht wagt, Wein zu fordern (^>;r£ dupäyvTa üxisTv atzeiv
roXjLiäv p. 671).
Wie halten es nun die Sklaven des Pollis? Der Gast nach
Art des Kallimachos und Theugenes wird es verschmähen, sich an
die JiaTösg zu wenden ogocov eig är ocpQvag oivoxoojv.
Für die Lücke schlagen Grenfell-Hunt vor ärsveTg, dxQS/Adg, ärgö-
ixovg, äjQOTiovg, ohne sich zu entscheiden. Die letzten drei sind
metrisch zwar möglich: t^ längt bei Kallimachos, wenn die vor-
hergehende Silbe in der Hebung steht (in Hymnen und Epigram-
men etwa zwanzigmal), steht sie in der Senkung, so wird sie nicht
gelängt, weder wenn es sich um die erste (III 176) noch wenn um
die zweite Senkung handelt (III 57). Aber sachlich scheiden sie
aus : wir erwarten für das Verhalten der Sklaven einen positiven Aus-
druck. Um so treffender ist ajevElg. Vom Auge braucht es, um
nur wenige Beispiele herauszuheben, Aristoteles bist. anim. I 10
äxEvelg öcp&aXjnoi. Polybius XVIII 36, 9 dreveg ßXsjieiv eig xiva.
Lukian dial. deor. 6, 2 äxevsg dtpecoga eg jue, Icarom. 12 xijv öxpiv
eg xb äxevhg änegeideod^ai. Dionys von Halikarnaß Ant. Rom, V
8, 6 x6 äxEvkg xfjg öipecog, daneben äxeviQEiv und dxEviojuog. Das
Adjektivum paßt nun mit seinem copulativen a trefflich zu öcpgvg.
Pollux II 50 gibt eine Zusammenstellung der verschiedenen Be-
wegungen, die man mit den öcpQvg vornimmt, um seelische Regun-
gen damit zum Ausdruck zu bringen, so ävaonäv, ovonäv u. a.
Meist sind es Hoffart, Hochmut, Dünkel, die das Ziehen der Augen-
brauen kennzeichnet, grande supercilium gerere. So sind die
ocpQvovxEg' vjiEQYjcpavoi (Hes.), bcpov6op.ai sich stolz und hoch-
mütig gebärden. In diesem Sinne sagt Lukilhos Anth. Pal. X 122
noXkd xb dnijuoviov övvaxm, xäv fj Tiagdöo^a,
xovg juixQovg dvdyEi, xovg juEydXovg xaxdyEi.
xal oov xrjv bq)Qvv xal xbv xvcpov xaxajiavoEi
und Straton Anth. Pal. XII 186 redet von einer vjiegojixog bcpQvg.
Die gegenteilige Bewegung, die Augenbrauen zu lockern, bezeichnet
11*
164 L- MALTEN
eine Geste, die zum Ausdruck bringt, daß die Gebärde des Hoch-
muts schwindet. Genau im Gegensinne zu Kalhmachos tröstet
Dioskurides Anth. Pal. XII 42 den Liebhaber, mit Geld werde er
den Hochmut des 7ieQi(poirog EQWjuevog schon locker machen:
xal orvyvip' öq^Qvcov Xvoeig rdoiv.
Dieses rdoig kann die Ergänzung äxEveig bei Kalhmachos zur
Sicherheit erheben. Damit ist die Situation ins klare gestellt: die
Gäste des Pollis trinken aus grofsen Humpen nach thrakischem
Comment; ist der Becher leer, will jeder ihn zuerst wieder gefüllt
haben ; dazu buhlt der Herr in unwürdig schmeichelnder ?,8Gyji um
geneigte Bedienung; mit zusammengezogenen Brauen aber und
fixirendem Blick steht der TxaTg und fühlt sich. Dies oaivuv
um die Gunst der Domestiken machen Kalhmachos und Theugenes
nicht mit. Weit ist diese Situation entfernt von einem Sklavenfest,
das A. Körte in den Versen findet. „Dreist, frech und unbeküm-
mert" sind die Bhcke der Sklaven nicht; das wäre tra/,<dg^); aber
an dem a vß. ar ist nicht zu rütteln. Und beim Sklaven-
fest, wie die oben S. 151 f. citirten Beispiele lehren, schmausen ent-
weder Herr und Knecht zusammen oder die Herren bedienen die
Sklaven ; bei Kalhmachos dagegen lassen sich die Herren zwar recht
gehen, doch die Bedienung wahrt eine reservirte Haltung.
Das Gastmahl des Pollis fand in Ägypten statt, vielleicht in
Alexandreia. Alexandrinische Sklaven standen in einem gewissen
Renommee; so läßt Trimalchio (Petron. 31 p. 21 B.*) von dort sich
Bedienung kommen. Daß es aber nicht immer in alexandrinischer
Gesellschaft zuging wie bei der Aiorafeier des Pollis und auch die
Herren gegenüber den Sklaven aufzutreten wußten, mag ein Bericht
bei Athen. X 420 E lehren : ol dh vvv ovvdyovreg im rd öeiJiva
xal [jidhora ol dnb xrjg y.aXrjg 'AXe^avögeiag ßocboi, xexQayaoi,
ßkaocpruxovoi tbv oivoxdov, xbv öidxovov, rbv fidyeiQOV ' xkaiovoi
<5' ol Jiaideg rvjiröjusvot xordv}.oig äXXog äXXo'&ev.
Ganz anders wäre die Scene im Hause des Pollis aufzufassen,
wenn eine Vermutung zu Recht besteht, die P. Corssen mir ge-
äußert hat: es spiele ein erotisches Moment in das Verhältnis zwi-
schen Herren und Dienern hinein. Beziehungen derart zwischen
Gästen und naTöeg sind in der antiken Symposienliteratur häufig.
1) Hes. ha/iiög' dgaovg, draio/vvTog; Aristoph. Frösche 1291 trafxaig
y.voiv dsQO(poiroig von den Adlern; Lukian Drapetai 19 hafiör ri xal jraQa-
q)OQO%' öeöoQxözeg; Plutarch -t. xov dxoveiv p. 46 C hafiot y.al ^gaosTs u. s.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 165
Piaton zwar drängt die Erotik in seinem Gastmahl zurück; die
Flötenspielerin wird entfernt (p. 176 E), und bei der Erzählung Aga-
thons von seiner Nacht mit Sokrates wird den Sklaven aufgegeben,
sich einen Riegel vor die Ohren zu schieben (p. 218 B). Ahnlich ab-
lehnend ist Piaton im Protagoras 347 G, in den Gesetzen (I 640 A ff.
VII 806 E) wünscht er sogar männliche und weibliche Aufsichts-
beamte, die Gäste zu überwachen. Bei Xenophon spielen erotische
Vorstellungen schon stärker herein, die sich um die Gestalt des
Autolykos spinnen, auch fehlen nicht Vorführungen, die auf die
Sinne wirken sollen, von der erotischen Pantomime am Schlüsse
zu schweigen. Aus den Bruchstücken der folgenden Literatur geht
hervor, daß z. B. stark erotische Gespräche und Themen nicht ge-
mieden werden, so im Gastmahl des Epikur^), und auch in den
ovjLiTTOTixol didXoyoi des Stoikers Persaios^J heißt es: tieqI äqjgo-
dioicov äQjuooröv eivai ev tw oirco juvEiav jioisTo&ai] Späteres
darf hier unberücksichtigt bleiben. Wert legte man darauf, daß
die TiaTdeg durch Schönheit und Reiz die Augen auf sich zogen ;
ein cbgaTog naXg bringt im Symposion des Matron von Pitane')
juvQOV und orecpavoi, ein analog naidioxog gießt bei Timotheos *)
den Gästen Wasser über die Hände, von der zierHchen Haartracht
und der Gewandung der ävögaTToda evi-iogcponaTa gibt Philon^)
eine anschauliche Schilderung. Bei Cicero^), Horaz (Od. III 19,6),
in den Anacreontea (36), bei Petron ") und Lukian ^) kehrt der Preis
des coQoiog vs'ieder. Der Reiz der Knaben entzündet die Gäste; es
entwickelt sich eine erotische Xtoyj], es wird geplaudert, geliebäugelt
und geküßt. Bekannt ist die hübsche Geschichte, die Ion A^on
Ghios (bei Athen. Xlll 603 E ff.) von Sophokles erzählt, wie er den
schönen Knaben küßt. Besonders Lukian liefert wieder Scenen
dieser Art. In den epistulae Saturnales (38 p. 417) drücken die
Gäste dem schönen Knaben , während er den Becher bringt , ver-
1) Usener, Epicurea 117.
2) Athen. IV 162 C. XIII 607 B.
3) Conviv. attic. ed. Brandt, Corpusc. poes. epic. ludib. I p. 70 v. 106.
4) Philoxeni, Timotliei, Telest. reliqu. ed. Bippart p. 52 II fr. 1.
5) de vita contemplat. ed. Cohn- Reiter VI p. 59 c. 6.
6) de finib. II 23 adsint etium formosi pueri, qui ministrent. Cato
lehnt die fisigdpcia svixoQrpa zugunsten von Arbeitssklaven ab (Polyb. XXXI
24, 3; Plutavch, Cato maior 4).
7) Mehrfach in der Cena Trimalcbionis.
8) ovEiQ. >J dle-^to. 11 p. 718 und die unten citirten Stellen.
166 L- MALTEN
stöhlen die Hand; in de mercede conductis (16 p. 671) lächelt die
Menge junger, hübscher Knaben, die bei der Tafel aufwarten, den
Gast anmutig an {rä jueigdixia (bgaia diaxovovjueva aal fjQejua
jTQoojueidicovTo.), im Symposion (15 p. 428 f.) endet das Cokettiren
damit, daß der entzückte Philosoph dem lächelnden cbgaTog Geld
in die Hand zu schieben versucht. Oder de Anknüpfung wird
durch Zunicken versucht, wie in der Movo ■: sraidiy./j bei Straten
(Anth. Pal. XII 184) i)
fU] oJievorjg Mevedi]/j.ov eXeiv dolo) d.lX' imvevoov
dq)Qvoi, xal q^avegcög avxbg eoel, T.Qoaye.
Stellen wir uns auf diesen Boden, so würde Kallimachos ein solches
'Schwänzeln und Scharwenzeln'' um die Gunst der jiaideg mit den
Worten ot' eXev'&EQog äxfXEva oaivei zur Andeutung gebracht
haben. Und wenigstens einen unzweideutigen Beleg für die Ver-
wendung von oaiveiv in erotischem Sinne bin ich in der Lage
nachzuweisen: Theogn. v. 132 7 f.
c5 JiaT, eojg äv eyjfg Xsh]v yevvv, ovnore oaivcor
navGOfxai, ovo' sl' jLioi jLiögoi/.iöv eoxi '&aveiv.
Freilich begegnet nun die Ergänzung der Lücke größeren Schwie-
rigkeiten. Man denkt zuerst an einen Ausdruck, der auch die
jiaiösg an dem erotischen Spiele irgendwie beteiligt sein heße.
etwa wie Lukian sie lächeln läßt. Aber ein passender Ausdruck,
der mit dz . . begänne, ist nicht recht zu finden; äraXovg wäre
neben öcpgvag unmöglich; draPiCov würde öcpQvag des erwünschten
Beiworts berauben und einen Vers schaffen, der bei Ovid tadellos
wäre, während Kallimachos diese Art der Wortverteilung im Penta-
meter kennt, im Hexameter meidet. Zudem würde öqjgvag, das
mehr ist als öq^ßaX/uovg, seinem Charakter nach in eine erotische
Scene nicht gut passen. Gegen äjiaXcöv sprechen die letztangeführten
Gründe, äjiaXovg ist unmöglich, da aTiakog sich immer auf Reize
bezieht, die von Fleisch teilen ausgehen (äjiaXMygcog) , nie vom
Blicke, dyavög führt trotz der Wortverbindung dym'ä öcpqvi bei
Pindar (Pyth. IX 38) nach ganz verkehrter Richtung. Bleibt es bei
urevEig ocpQvg, das mir als die einzig mögliche Ergänzung erscheint,
so könnte Lukian deor. dial. 6, 2 p. 217 einen Weg weisen. Hera
beklagt sich bei Zeus, Ixion habe beim Symposion eine erotische
Annäherung versucht. Zum Beweis führt sie an drevkg dcpecbga
1) Vgl. auch Straten ebd. XII 199.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 167
ig ejbie und av&ig acpeojQa. Aber wieder führt bei Kallimachos öcpQvag
vom erotisch ansaugenden BHck ab; halten wir uns an die 'zu-
sammengezogenen Brauen', so würden wir für Kalhmachos eine
Scene gewinnen, wie sie ähnhch Dioskorides malt (Anth. Palat.
XII 42)
BXexpov eg 'Egjuoyevrjv JihJQSi xegi, xal rdya jiQrj^eig
naidoxöga^, ä'v ooi dvf.ibg öveiQOJcohj,
y.al OTvyrijv öq?Qvcov Xvoeig rdoiv . . .
oder wie sie Straten andeutet (Anth. Palat. XII 186)
äXQi Tivog TavTijv Ti]v öcpgva t)jv vneQOTixoy
MevxoQ, Ti]Q)]08ig . . .
Noch machen die Jungen hochmütig abweisende Mienen, wo die
Herren um ihre Gunst buhlen ; das Symposion ist ja noch nicht
weit vorgeschritten; später werden einige Münzen nachhelfen, den
Stolz zu dämpfen. Das Ende wäre dann, wie auch sonst: wer am
höchsten bietet, des wird Flötenspielerin wie jiaig.
Eine Scene, wie Corssen sie vermutet, würde also in die antike
Symposienliteratur vorzüglich hineinpassen. Eine andere Frage ist.
ob in den Vorstellungskreis, in den Kallimachos hineinführen will.
Und da muß ich nach immer wiederholter Überlegung nein sagen.
Höchstens in dem oalveiv konnte das erotische Motiv fühlbar er-
scheinen, ohne daß auch hier eine Nötigung vorliegt. Man muß
viel hineinhören in die Worte des Dichters, wenn man im oaiveir
der 'Herren' und in den dr^vag oqjQveg der Knaben das erotische
Widerspiel erraten will. Die Darstellung wäre von einer Diskretion,
die an Dunkelheit grenzt; die neue und überraschende erotische
Note am Schluß der ganzen Scene klänge in dieser versteckten
Form gar zu matt an. Bei der oben vertretenen Deutung bleibt
die Situation gewahrt; vorher wird vom Trinken gesprochen, dann
von den Schöpflöffeln, mit denen die Sklaven zu serviren pflegen,
und damit in enger Verbindung von der Art, in der sie ihre Be-
dienung ausüben. Das oben für gewisse Unsitten antiker Dienst-
boten beigebrachte Material scheint mir dem Wortlaut und Ideen-
kreis bei Kallimachos weit besser zu entsprechen und eine Scene
aus einem Guß zu schaffen.
Kallimachos ist kein Spielverderber beim Weine; wünscht er
doch, daß auf seinem Grabstein ihm anerkannt werde ev /.ihv äoidip'
sldörog, ev d' o/Voj xaiQia ovyyeXdom (Epigr. XXXV). Hier, wo
168 L. MALTEN
er der gelehrte Dichter der Aitien ist, packt er den xaiQÖg, um
den raren Gastfreund nach seiner rareren Heimat und ihren Bräu-
chen zu befragen. dveiQOjuevco haben Grenfell-Hunt sicher nach
KaUimachos' Worten oooa d' dveiQojLiEi'co (frjoE, rdö' i^Eoeco^) er-
gänzt. Zu der Form lyaivo) ist zu bemerken, daß der Kalhmachos-
papyrus uns befreit von dem alten Fehler schlechter Homerhand-
schriften, die neben dem richtig überlieferten r/avaco eine Form
hxavdco bringen; die Form ohne o bezeugt auch ausdrücklich
Steph. Byz. s. v. "lyava . . . tyaväv dk xo ejii'&vjlieTv. Das längere
r/aivü), das KaUimachos verwendet, steht zu r/avuco Avie oofiaivoj
zu ÖQjudoj.
Drei Fragen richtet der Dichter an den neuen Freund, die auf
den Kult des Peleus in Ikos und die Beziehungen dieser Insel zu
Thessalien zielen. Darin ist t[i txuxqiov vjjupi nach Hymn. II 71
Ejuol TiaxQcöiov oüxfjü von den Herausgebern ergänzt; sehr schön
ist ^vv[d xd f)£ooa?u]y.d von Wilamowitz und Lobel gefunden;
^vvog liebt KaUimachos; &Eooa}ux6g hat er auch Epigr. XXX.
MvQfxidovcov ioorjva, ohne Nennung des Peleus, war für KaUi-
machos bereits durch Herodian gesichert (Schneider fr. 508), jedoch
hatte seine Citirweise olov ooj/.i]v ioorjv 6 oiyAOxijg, MvQ^utdövojv
Eoo^va Ka?2ijuayog Schneider in die Irre geführt und an Aiakos
denken lassen; aber neben MvQjutdovcov ist oixiox/jg unmöglich,
wer auch gemeint ist. Herodians oixiox/jg geht vielmehr zurück
auf antike Versuche, das Wort iooijv zu etymologisiren, die Etym.
Magn. s. v. zusammenstellt: eooi]v d ßaoiAevg y.axd "EqjEoiovg
(das controlliren wir an Paus. VIII 13, 1)
a) djio fXExacpogäg xov /xeIioocöv ßaoilECog, og E}'oi]xai iooi'jv,
djib xov EOü) ivECEG&ai: dies Spiel schon bei Aeschylus Suppl.
223 f. EojLiög cog nEXeiddojv X'QEod^ai und 684 EoijLog . . . iloi,
b) T] Eoorjv 6 OEVCOv . . . xä xfjg nolEog,
c) ■i]^;6 oixioxrjg nagd xö Eooai y.ui lögvoat.
Erkennt man Herodians auf Etymologie ausgehende Quelle, so wird
das Kallimachoscitat von dem olxioxijg frei und stellt sich zum
Hymn. I 66, wo Zeus ^Jewv eooyjv heißt.
Für die Beziehungen des Peleus zu Ikos treten drei Zeugnisse
ein, das erste lautend auf den Namen des KaUimachos selber 2):
1) Sitz. Berl. Akad. 1914, 224.
) Sc hol. Find. Pyth. III 167 = Schneider fr. :j72.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 169
IlrjXEvg ev "ly.o) ^) t/) v/jöoj äTv^ijoag xbv ßiov oixiQibg y.a'i eno)-
dvvcog äne&avev. Wir werden annehmen dürfen, daß die Erzäh-
lung aus unserem Aitiengedichte und zwar aus der Antwort des
Theugenes entstammt ^). Auf unser Gedicht zurückgehend ist wohl
auch, trotz der verschiedenen Messung des Namens Ikos, die kurze
Anspielung bei Antipater von Sidon Anth. Pal. VII 2, 9 f. y.evdei xal
0hidog yaiih)p> i) ßQa/vßcoXog "Ixog. Etwas weiter ausgesponnen
wird die ikische Peleussage im Schol. Eurip. Troer. 1128 6 fxhv
EvQinldrjg vno 'AxdoTov <p't]olv iy.ßeßktjoßai rov IlrjXEa, elol de
oX (paoiv vjio rcov ovo avzov Tzaidüiv "AoydvÖQOv y.al 'Agyaelox^g
xaxä xbv xaigov öxe efxeXXov "EXdijveg i^ 'Duov e^eXrjXdodai xai
eX'&övxa Eig d7idvxt]oiv xw Neo7ixo)^ei.up TigooeXMelv did ^ei/u(7jva
xf] "ly.cp xfj vYjoq) xal ^eviodivxa vno MoXmvog xivog "Aßavxog exel
y.axaXvoai xbv ßiov. Die Ergänzung von der anderen Seite liefert
Euripides (Troer, a. a. 0.): Neoptolemos sei von Troja abgefahren
xaivdg xivag UijXJcog äxovoag ovfxcpoQdg, wg viv yßovbg "Axaoxog
£yßsßX)]yev. Wenn es zu einer d7idvx}]otg zwischen beiden kommen
soll und Peleus über Ikos fährt, wird für die Neoptolemossage der-
jenige Überlieferungsstrang vorausgesetzt, der ihn von Troja direkt
nach Skyros zurückkehren läßt^). Mit dieser Sagenform contaminirt
erscheinen die Fassungen, die den Achilleussohn ins Molosserland ge-
langen lassen, „nachdem er Skyros verfehlt" *), oder die ihn von
Troja auf dem Landwege ins Molosserland gelangen lassen und
trotzdem von einer Begegnung zwischen Neoptolemos und Peleus
berichten : so Proklos im Nostenauszug, ein Bericht, der Mißtrauen er-
weckt, hält man die zum Teil wörtlich übereinstimmende Apollodo-
rische Epitome 6, 12 daneben, nach der Neoptolemos im Molosserlande
König wird und dann nach Peleus' Tode das väterliche Erbe in
Thessalien übernimmt. Der Abante Molon im Scholion repräsentirt
den euböischen Anteil an der Besiedlung von Ikos, der zu der thes-
sahschen Schicht mit Peleus und der älteren kretischen unter Sta-
phylos hinzugetreten ist^). Wieweit diese detaillirten Angaben des
1) Hier wie im unten erwähnten Zeugnis aus Km gebessert durch
Wilamowitz d. Z. XLIV 1909 S. 474 f.
2) Den Peleus erwähnte Kallimachos noch einmal (fr. 136) im Zu-
sammenhang mit der Theiodamasgeschichte, wie Sitzungsber. Berl. Akad.
1914, 228. 231 (v. Wilamowitz) gelehrt hat.
3) Pindar Nem. VII 37 ff. Paus. III 25, 1.
4) 2xvQov uev a^aQTE, :iXay/dEvxEg 5' eig 'Ecpvgav i'xorzo Pind. a. a. O.
5) Die Zeugnisse bei Fredrich in den IG XII 8 S. 166. dazu Wila-
mowitz d. Z. a. a. 0.
170 L. MALTEN
Euripidesscholions mit Kallimachos zu tun haben, ist nicht deutlich :
doch scheint es, als ob zwischen dem oty.XQmg y.al ijiwdvvojg ani-
■&avev bei Kallimachos und der Landung diä yeiuwva ein sachhcher
Zusammenhang bestehe.
Die nächsten, leider zum Teil unleserlichen Worte im Papyrus
handeln von einer Kulibegehung in Ikos zu Ehren des Peleus.
Eine 7ia.\lQ tut etwas tjocoog xa^odov: das ist wohl auf dem Wege
(y.a{}' ödov)^) zum Grabe des Heros. Dabei hält sie yiJTsiov id[. .^vt
[. . . d'J^TOJ'. Das y7]Teiov, eine Zwiebelart, wird in dieser Form
bei Diokles von Karystos (fr. 120 Wellm.) und öfters von Theophrast
und Plinius erwähnt; es ist wohl die attische Form des Wortes.
Daneben hat Theophrast y^'&vov, das wiederum nach Didymos
(Athen. IX 371 F) identisch ist mit y7]ßv/Mg. Von dieser berichtet
Polemo (ebd. 372 E), es hätten beim Opfer der Theoxenien in
Delphi diejenigen juoTgav äno rfjg TgoTieC^jg erhalten, die eine
besonders große yrj'&vXUg der Leto dargebraclit, zur Erinnerung
daran, daß sie vor ihrer Niederkunft nach der yr]&v?Mg ein wider-
natürliches Gelüst gehabt. Ähnlich wußte der Verfasser einer Ko-
mödie IItcoxoi (Athen. IV 137 E), daß die Athener, wenn sie den
Dioskuren im Prytaneion ein Mahl vorsetzten, tvqov xal (pvorrjr
(d. h. eine Art judCa aus Gerstenmehl) ÖQVJieTieTg r' eläag xal Jigaoa
<Iarboten. Hier spielt der Lauch keine besondere Rolle ; das Aition,
das Polemo für das delphische Fest anführt, könnte auf die Zwiebel
als geburtsförderndes Mittel hinauswollen. Für unseren Zusammen-
hang würde das wenig passen, auch zu dem nicht, was sonst in
antikem und modernem Glauben der Zwiebel an Kraft beigelegt
wird. Nach Plinius (XX 101) soll Pythagoras gelehrt haben scil-
lam in limine iantiae suspensam contra malorum medicamento-
rum introitiim poliere; Kindern hängte man zum Schutz gegen
die Strix Zwiebeln um 2). Bösen Zauber bindet die Zwiebel wohl
mittelst ihrer Schärfe auch in germanischem Glauben, so schützt
sie den Trank vor Verrat^). Auch aus indischem und serbischem
Glauben wird eine Geister bindende Kraft der Zwiebel überliefert*).
All das führt auf eine kathartische Wirkung gegen Unreinheit und
1) Auf diese Möglichkeit macht mich ü. v. Wilamowitz aufmerksam.
2) Literatur bei Gruppe, Griech. Myth. 889, 7.
3) V. Hahn, Kulturpflanzen und Haustiere' 1902, 192 f. 196 ff. 20lf.
Schrader, Lexic. der indog. Altertumsk. 1901, 1004.
4) Grui^pe a. a. 0.
AUS DEN AITIA DES KALLIMACHOS 171
böse Kräfte; in diesem Sinne wird also die Gebärende wie Leto
Verlangen nach der Zwiebel gehabt haben, auch im Totenkult mag
man sich durch sie geschützt haben. Neben dem yrixvov hält die
naXg noch ein zweites, das leider nur in Buchstabenresten erhalten
ist. Unter der Voraussetzung, daß sie richtig gelesen sind und daß
ä\QTOv zu Recht von Grenfell-Hunt ergänzt ist, habe ich an
16' [£1]vt[iv ä]QTOV eyovoa gedacht. Hesych eVivrig ' Ji?Mxovg rig.
Dieselbe Kuchenart erscheint in der übhcheren Form £/l/!,^n;g (Gra-
mer, Anecd. Graec. II 44) im Testament der Epikteta auf Thera (IG
XII 3, 330), hier gleichfalls in Verbindung mit ügrog und ebenfalls im
Kult der Toten: eXXvrav xal ägrov xal JiaQay.a (Z. 190 f.); be-
schrieben wird der eA^iSri;? als ex jivqcov ^oivixcov (Z. 179 f. 187 f.).
Für die appositioneile Verbindung der Worte bei Kallimachos im
Sinne unseres Compositums 'Kuchenbrot' wäre jilaxovg äorog bei
Athen. XIV 645 D, wohl aus Philitas, ein Analogon. Auf einen
anderen Weg würde eine Ergänzung wie ;(^o]^roi' führen ; dann
wollen sich mir allerdings die Reste von -vt- zu einer befriedigen-
den Ergänzung nicht fügen.
In V. 27 Eidoreg cbg evenovoi bringt Kallimachos eine Art ver
schieierten Quellencitats an, so wie er in der Kydippe seine Quelle
Xenomedes direkt mit Namen nennt (Oxyrh. Pap. VII 1011 v. 54ff. )
Wir kennen nur einen Mann aus dem Altertum, der der Insel
Ikos eine Monographie gewidmet hat, den Phanodemos, dessen
'Ixiaxd Steph. Byzant. s. v. cilirt; er hatte auch von dem Orestes-
aition gehandelt (FHG I 368, 13), auf das Kallimachos im Beginn
seines Gedichtes Bezug genommen; die Vermutung liegt nahe, daß
er zu den eidoreg des Kallimachos gehört.
Vom nächsten ist wieder nur kenntlich, daß hinter ovaxa, wo
metrische Gründe zu interpungiren raten, zu verbinden ist /uväeiodai
ßo[v?,eo'^), eine Aufforderung, auf die Theugenes sofort reagirt:
, Dreimalseliger, glücklich bist du wie wenige, wenn du ein
Leben hast, das keinen Teil hat am Seefahren. Doch mein Leben
ist in den Wogen heimisch geworden mehr als das (fiäXXoy
sc. ßiov) eines Wasserhuhns."
Die lebhafte Seiigpreisung des seßhaften Lebens, mit der Theu-
genes einsetzt, kann die Vermutung nahelegen, daß in den voran-
gehenden Versen der Dichter versichert hat, sein Leben biete ihm
keine Gelegenheit zu weiten Reisen und damit auch nicht zu pei-
1) Die Ergänzung wird U. v. Wilamowitz verdankt.
172 L. MALTEN
sönlichen Erkundungen; damit wäre angedeutet, daß er also für
seine Aitia auf die Auskünfte guter und vielerfahrener Freunde an-
gewiesen sei: das negirte eyvcoxa würde dazu stimmen. Als Objekt
zu y.£m]v und ETeQ}]v sich viioov zu ergänzen, wäre aber wohl
kaum möglich; wie soll Kallimachos, wie überhaupt ein Grieche
erklären können, keine Insel zu kennen?
Die drei Antwortverse des Ikiers waren uns, zum Teil corrupt,
bereits durch Stobaeus (Flor. c. LIX 11 H.) bekannt; daß wir sie
bei Schneider (fr. 111) lesen wie nun im Papyrus, ist wesentlich
das Verdienst Bentleys, der aus vavrdirjoiv ijv sy^Eig mit Hilfe von
ApoUon, Argon. II 417 vfjiv gewann^) und ebenso in jiavqiov öX-
ßiög EOTi^) /iiE'ya das richtige navQOiv f^iha fand.
Das Leben des Seemanns mit dem eines Wasserhuhns zu ver-
gleichen, ist sprichwörtlich: ejiiy.vjuarl^ei y.ai }Aoov ßiov 'Qf] sagt
Aelian dygoin. ejiiöt. 18 ; Kallimachos hat dem gleichen Gedanken
in überraschend ähnlicher Form Ausdruck verliehen im Epigr. LIX,
wo er von einem Leontichos sagt ovdh yäo avrög ijav/og, aißvh]
<3' loa ßaAaoooTiooEl.
Der Oxyrhynchusfund ist geeignet, auch denen eine höhere
^leinung von Kalhmacheischem Können beizubringen, für die der
Dichter mit den Schlagworten des eleusinischen Schulmeisters und
des Hofpoeten sich erledigt. Wenn die concentrirte gelehrte
Arbeit, die mit dem Abschluß der Aitien einsetzt^), den Dichter
von der Poesie abzog, wenn man späteren seiner Dichtungen anmerkt,
daß sie nicht einem ungestümen inneren Drang, sondern äußeren
Anstößen ihr Dasein danken : der Kallimachos der Kydippe und viel-
leicht mehr noch des neuen Bruchstückes erzählt so natürlich und
1) vavziUrjg og njir ; das si fand Nauck.
2) saai aus soii besserte Jacobs.
3) Oxyrh. Pap. VII 1011 (S. 31) mit avzäo iyoj Movoeoiv ^e^og FJiet^i
ro,u6v enden die Aitia. Die richtige Erklärung hat Hunt (S. 18) ge-
geben, sie wird auch von Wilamowitz, Sitz. Berl. Akad. 1912, 533,2
vertreten. Anders v. Arnim, Sitzungsber. Wien. Akad. 164, 1910, IV 10, der
Movaäcov vofxög auf den Hesiodischen Weideplatz, sie'Qög auf den Kalli-
macheischen Dichterstil bezieht. Aber k'jieiiii ist nicht , weiterhin wan-
deln". Der Vers steht im Gegensatz zum vorigen; der Dichter kann
aber nicht sagen wollen, er wolle nunmehr den Movoecov vouog in seinem
Stil betreten; denn schon das Vorhergehende ist, wenn es auch Hesiods
Namen nennt, in Kallimacheischem Stile gesagt.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACHOS I73
lebendig, daß wir Töne wie aus echter, alter Elegie zu hören
wähnen. Ohne verschwören zu wollen, daß dieses Gastmahl
'm Hause des Pollis an diesen Aiora stattgefunden: die Farbe
des Erlebnisses zum mindesten hat der Dichter seiner Darstellung
zu geben vermocht. Und damit ist die Frage, ob real oder fiktiv,
in ihrem letzten Grunde entschieden. Die reiche Symposienliteratuv
der Griechen von Xenophanes her ruht auf dem Grunde einer den
x4.1ten heben Sitte: Kallimachos, der sich rühmt zu verstehen olvo)
y.aiQia ovyyeläoat (Epigr. 35), formt seine Scene aus seinen Er-
innerungen, so gut wie Anakreon das Bild der Herren, die beim
thrakischen Gomment sich zu Ausschreitungen hinreißen lassen^),
frisch aus dem Leben festgehalten hat, und so wahr man dem leb-
haften Ärger des Horaz es anmerkt, bis zu welchem Grade mau
sich bei den gelehrt-philiströsen Symposien im Hause eines Augur
Murena langweilen konnte.
Kallimachos verlegt den Schauplatz seines Gastmahls in das
Haus des Pollis, eines Atheners, der nach Ägypten übergesiedelt ist :
der Dichter mochte ihn in Alexandreia kennengelernt haben. Die
Umständhchkeit, mit der er allein in den erhaltenen Versen, denen
ähnliche vorangegangen sein müssen, im einzelnen aufzählt, mit
welcher Pietät der Gastgeber an den heimischen Bräuchen festhält,
läßt vermuten, daß Pollis dem Dichter wie dem Gedicht gegenüber
eine besondere Stellung hatte, wir in ihm den Adressaten zu sehen
haben. Das Gastmahl im Hause des Pollis bedeutet eine Ehrung
dieses Freundes durch den Dichter, es stellt die 'Widmung''^) eines
Aitienbuches an ihn dar. Daraus würde folgen, daß in den ver-
lorenen Versen am Anfang noch einiges von diesem Manne gesagt
war, uns aber nicht viel verloren ist, wir also mit unserem Bruch-
stück den Beginn des betreffenden Aitienbuches haben, des zweiten,
dritten oder vierten; denn vom ersten ist uns die Einleitung be-
kannt. Kallimachos hat, wie wir aus neueren Funden wissen ^),
die gesamten vier Bücher der Aitien mit einem einheitlichen , auf
1) Bei Athen. X 427 A urjy.sß' ovxco naidyco zs xäXahjzip üxv&ixrjv
nöoiv nag' oi'vq) /iCE?.eTw/iiEv; darnach Horaz Od. I 27 natis in usum laet'diw
scyphis pugnare TJiraciim est.
2) Mit diesem Worte formulirt mir eben U. v. Wilamowitz brief-
lich seine Auffassung des Bruchstücks.
3) Oxyrh. Pap. VII 1011 v. 85flF., verbunden mit Antli. Palat.VII 42;
dazu V. Arnim a. a. 0. 7 ff.
174 L. MALTEN
Hesiod hindeutenden Motiv umspannt; in gewissem Sinne würde
analog mit dem Symposion bei Pollis für ein einzelnes Buch oder
doch eine größere Partie eines solchen ein einheitlicher Rahmen
gezogen sein. Zum Partner wählt sich der Dichter, wie wir an-
nehmen dürfen mit Bedacht, einen weitgereisten Kaufherrn; der
wird ihm außer den spärhchen Aitien der Insel Ikos in abend-
füllendem Gespräch noch manches andere Aition für seine gelehrten
Zwecke haben beisteuern können. Auch scheint unverkennbar, daß
die Mühe, die der Dichter auf die detaillirte Ausmalung des Sym-
posions verwendet, ihren vollen Sinn hat, wenn es sich dabei um
das Leitmotiv für einen größeren Abschnitt, nicht um ein beliebiges
Über,^'angsstück zwischen gleichwertigen Partien handelt. Wir kennen
die Übergangstechnik des Kallimachos noch zu wenig, um bestimmt
zu urteilen; bei seiner subjektiven Art, die, wie er selbst bekennt,
im Sack behält, was ihm paßt (fr. 177 Sehn.), und verschweigt,
was ihn langweilt ^), wäre auch jede Verallgemeinerung vom Übel.
Doch darf betont werden, daß der Übergang zwischen der Kydippe^)
und einer anschließenden neuen Geschichte im 3. Buche der Aitien
in knapper Form bewerkstelligt wird, auch die Theiodamasgeschichte ^)
bricht zum mindesten kurz ab. Es ist psychologisch auch nur be-
gründet, wenn im Laufe oder gegen Ende einer Darstellung die
Verknüpfungen knapper und sorgloser werden als in Partien, die
dem Auge des Lesers zuerst sich darbieten.
Als Ersatz für die vorerst spärlichen Reste bei Kallimachos
bieten gutes Material, Rahmenumfassung und Übergangstechnik zu
beobachten, die großen Werke Ovids, der in Fasten und Metamor-
phosen von Kallimachos stark beeinflußt ist; in diesem Zusammen-
hange kann es sich naturgemäß nur darum handeln, die Formen
der Verknüpfung zu verfolgen, bei denen das Kunstmittel der Unter-
haltung, speciell der beim Mahle, zur Anwendung kommt. Noch
anknüpfend an altepische Vorbilder ist es, wenn in den Fasten
Ovid sich mehrerenorts von den Musen Auskunft erteilen läßt, wenn-
gleich seine Auskünfte specialisirter sind ; so von Erato (IV 193 ff.),
von Klio (VI 801 ff.), oder im Wechselsange von drei der Musen (V9fif.
53 ff. 80 ff.). Im Falle der Erato wird diese aber bereits als Spre-
cherin für eine Gottheit, für Kybele, um deren Fest es sich dreht,
1) Geschichte vom Esel, Sitzungsber. Berl. Akad. 1914, 224. 243.
2) Oxyrh. Pap. VII 1011 v. 78 f.
3) Sitzungsber. Berl. Akad. 1914, 233. 236. 241.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACHOS 175
aufgeführt: „Jemand, o Kybele, gib, den ich fragen darf" (IV 191).
Unmittelbar über ihre Angelegenheiten, ihre Feste und die damit
verbundenen Aitien geben dem Dichter im Zwiegespräch eine Reihe
von Göttern Auskunft: lanus (I 89 ff.), Mars (HI 167 ff.), Flora
(V 183 ff.), zweimal Mercurius (V 449fr. 695ff.), Thybris (V 637fr.),
luno (VI 18ff.) und Minerva (VI 655 ff.); Vesta darum nicht, weil
sie nicht einem Manne Antwort stehen darf (VI 253 fl'.); auf eine
Mitteilung, die Consus (im August) machen soll, wird verwiesen
(III 199 f.). Zuweilen gibt sich der Dichter einige Mühe, die Epi-
phanie des Gottes zu schildern (I 94. III 171 f. VI 637 f.) oder
seinen Abgang (V 375f. 661 f.) und so etwas wie eine Scene zu
gestalten, meist bleibt die Darstellung im Motiv stecken. Daß die
Einkleidungen pures Spiel sind, bekennt Ovid im Prooemium des
VI. Buches selbst, wo er sich einen Kritiker entgegenhält, der die
Wahrheit seiner Erzählungen bezweifelt, da kein Gott einem
Sterblichen erscheine: est deus in nohis, der dichterische Genius
ist es, der in Wahrheit die Offenbarungen zuteil werden läfst.
Dreimal finden sich Gestaltungen, die im Typus dem Kallima-
cheischen Gespräch näherstehen, indem Ovid sich bei einem Sterb-
lichen Rats erholt: im Circus trifft er einen alten Mann, ehe-
maligen Kriegstribun, der ihm über die Schlacht bei Thapsus, die
er mitgemacht, Auskunft gibt — „weiteres Gespräch schnitt ab ur-
plötzlicher Regen" (IV 377 ff.). Im gleichen Buche (93 7 ff.) führt
sich der Dichter ein, wie er auf dem Wege von Nomentum nach
Rom einem Flamen begegnet, der ein Opfer bringen will, dessen
Gebet er anhört und von dem er im Wechselgespräch die ge-
wünschten ätiologischen Aufschlüsse bezieht. Zum dritten ist es
ein Mütterchen, das dem Dichter entgegenkommt, wie er vom Vesta-
feste heimkehrt; sie beschreibt ihm den früheren sumpfigen Zu-
stand der späteren Fora; mit einem Segenswunsch^) nimmt der
Dichter von ihr Abschied (VI 399 ff.). Ein Symposiengespräch,
wie bei Kallimachos, findet sich in den Fasten nicht. Die ausge-
malteren Scenen stehen bei Ovid ohne wesentlichen Unterschied
neben anderen Stellen, an denen „der Mund früherer Greise" (II 584)
Aufschluß gibt oder ganz prosaisch „andere — andere — andere"
aufgereiht werden '(I 323 ff.). Das Kunstprincip der Unterredung
1) Mit einem Segenswunsch an die nasamonischen Nymphen scheint
Kallimachos einmal eine Aitienscene geschlossen zu haben (fr. 126: Wila-
mowitz, Sitzungsber. Berl. Akad. 1914, 241).
176 L. MALTEN
7U dem Zwecke, eine Scene zu gestalten, ist das von Kallimachos
verwendete; doch wird es nur als Gelegenheitsmotiv benutzt, das
der Dichter binnen kürzestem wieder fallen läßt; nie ist mehr als
ein Aition einem so gewonnenen Zusammenhange eingereiht.
Etwas anders ist die Lage in den Metamorphosen. In ihnen
tritt die Person des Dichters völlig hinter dem Stoffe zurück; nie,
außer in der hergebrachten Anrufung an die Muse, führt Ovid
seine Person ein, redend oder vernehmend. Gleichwohl wendet er
das Kunstprincip, durch Unterredung zwischen zwei Personen Ge-
legenheit zur Einfügung neuer Verwandlungsgeschichten zu ge-
winnen, ein gutes viertelhundert Mal an. In drei Fällen wird die
Situation dahin complicirt, daß in die eine Begegnung eine zweite
eingeschaltet ist^), auch sie wieder mit dem Zweck, neuen Meta-
morphosen Eingang zu gewähren. In der Motivirung der Gespräche
strebt der Dichter Mannigfaltigkeit an: zuweilen tritt eine Person
an die andere heran, um mit ihr zu plaudern, sie etwas zu fragen
oder ihr etwas mitzuteilen 2), zuweilen ist die Einfügung des zweiten
kunstvoller aus der Handlung heraus motivirt: seine Erzählung
bildet zur vorausgehenden ein Analogon^), soll Liebe erwerben
(XIII 91 6 ff. XIV 698 ff.), Mitgefühl wecken (XI 291 ff. XIII 639 ff.
XV 491 ff.) oder zur Warnung dienen (II 549 ff. X 559 ff.), die
Macht der Götter (VI 316 ff. 383 ff.) oder ihren drohenden Zorn
(I 209 ff.) veranschaulichen, eine Ablehnung motiviren (XIV 464 ff.),
Aufklärung bringen (XIV 130 ff. XV 12 ff.). Die uns besonders
interessirende Situation eines Mahles, bei dem geplaudert wird und
Geschichten vorgetragen werden, die auf Verwandlungen auslaufen,
hat Ovid fünfmal verwendet: bei seiner Hochzeit mit Andromeda
1) Tiresias prophezeit das Geschick des Pentlieus (III 5121f. 526 ff.):
in die Pentheusgeschichten ist eingelegt die Erzählung des Akoites von
der Verwandlung der Seeleute in Delphine (575 ff.). Die Musen erzählen
vom Wettkampf zwischen ihnen und den Pieriden (V 300 ff.) ; indem
sie den Wettgesang referiren, lassen sie die Pieriden von der Verwand-
lung der Götter in Tiere (318 ff.), die Kalliope vom Raube der Proser-
pina singen (841 ff.). In die Erzählung des Makareus von seinen Schick-
salen bei Kirke (XIV 223 ff.) ist eingelegt die Metamorphose des Picus,
die dem Makareus bei Kirke eine Magd erzählt hat (318 ff.).
2) 16880. III 846 ff. 512 ff. III 575 ff. IV 43 ff. 167 ff. 274 ff. 767 fl'.
787 ff. V 256 ff. 274 ff. 300 ff. VII 517 ff. 690 ff. VIII 559 ff. 576 ff'. 607 ff'.
717 ff. IX 1 ff. XI 752 ff. XIII 739 ff.
3) IX 275 ff. 326 ff. 403 ff. X 148 ff. XII 155 ff. 182 ff. 541 ff. XIV
165 ff. 223 fi.
AUS DEN AlTIA DES KALLIMACHO« 177
erzählt Perseiis von seinen früheren Taten (IV 767 (T. 787 ff.), beim
Schmause auf Ägina berichtet Aiakos von der Pest und der Ent-
stehung der Myrmidonen (VII 517(1'. 662. 690 ff.), Theseus kehrt,
als der Acheloos angeschwollen ist, beim Flufsgottc ein, und dort
bei Schmaus und Trank erzählen sie Verwandlungsgeschichten
(VIII 559 ff. 576 ff. 607 ff. 71 7 ff. IX Iff. 90 ff.), Nestor gibt beim
INIahle achäischer Fürsten Kämpfe der Vorzeit zum besten (XII
155 ff. 182 ff. 541 ff. 578), Anios kündet den bei ihm einkehren-
den Troern beim Mahl die Schicksale seiner Töchter (XIII 639 ff.
674). Detaillirter ausgemalt wird die Rahmenerzählung nirgends:
höchstens wird hie und da, wenn die Metamorphosen innerhalb
des Rahmens sich häufen, am Schluß der langen Scene mit kurzen
Worten oder einem knappen Zuge auf die vorausgesetzte Situation
wieder verwiesen; so in der langausgesponnonen Einkehr beim
Acheloos, die im VIII. Buche beginnt und ins IX. hinübergreift;
am Schlufs bringt eine Nymphe köstliches Obst zum Nachtisch,
worauf man auseinandergeht (IX 90 ff.), oder beim Schmause der
achäischen Fürsten, wo XII 578 wieder ein Schluck getan wird,
nachdem v. 156 der erste genommen war.
Das Facit ist, daß Ovid das Kunstmittel der Unterhaltung als
Rahmen- und Übergangsmotiv kennt und gern benutzt, in den Fasten
darin dem Kallimachos näher, daß er sich selbst einführt und sich
von anderen Aitia erzählen läßt, in den Metamorphosen so, daß er
mythische Personen zu gegenseitiger Erzählung von Verwandlungs-
geschichten zusammenkommen läßt. Eine detaillirte Schilderung
der Zusammenkunft, gar mit den Feinheiten wie bei Kallimachos,
findet sich nirgends; das Wertvolle der Ovidischen Biudescenen
liegt nicht in der Ausgestaltung der Situation, sondern in der geist-
reichen Art der Einfälle, mit denen er den complicirten Stoff zu
disponiren und aufzureihen versteht; wicAveit er hierin original ist,
läßt sich noch nicht genauer übersehen.
Spuren ähnlicher Technik finden wir auch in den aitiologischen
Elegien von Properz' letztem Buch, die den Namen des Kallimachos
an der Spitze tragen (1,64; 6,4). Allerdings zu einem wirklichen
Gespräche kommt es nicht. Im zweiten Gedicht berichtet der Gott
Vertumnus, aber nicht in der Form einer Unterhaltung mit dem
Dichter, sondern gerichtet an irgendein Publikum. Im ersten Ge-
dicht wird ein liospes eingeführt, aber nicht er gibt dem Dichter
Aufklärung (etwa wie bei Ovid), sondern in seiner stark persönlich
Hermes LIII. 12
178 L. MALTEN
nuauciiien Art ist Properz selbst der Periegel durch die Größe Roms:
der liospes ist eine Folie, die der Dichter bald fallen läßt. Auch
sonst in dieser Gediclitserie führt Properz das Wort (wie 4, 2; 9, 72 ;
10, 1), selbst der Muse teilt der Dichter mehr mit, was er zu sagen
liat, als daß er sie fragt (6, 11 f.). Da Properz Einzelgedichte schafft,
ist eine Übergangstechnik nicht zu beobachten; Eingänge wie 4, 1
{Tarpeium nemus . . . fahor), 10, 1 {nunc lovis incipiam caiisas
aperire Feretri) stehen nicht anders als die bekannten Ovidischen
Formeln. Das Lehrhafte, das der aitiologischen Dichtung ihrer Natur
nach innewohnt, tritt bei den Römern unverhüllter hervor als bei
dem Meister, auf dessen Vorbild sie sich berufen.
Noch ein Wort bleibt zu sagen über die Stellung des neuen
Bruchstücks zu dem, was wir bisher von den Kallimacheischen
Aitia wissen. Wenn 0. Schneider, auf das Prooemium gestützt,
halte glauben können, daß Kallimachos sich seine Aitien von den
Musen habe eingeben lassen, so ist diese Meinung durch alle fol-
genden Funde widerlegt worden. Wie der Dichter in der Kydippe
energisch mit seiner Person in die Erzählung eingreift, sich selbst
apostrophirend ^) und mit Xenomedes seine Quelle selber citirend,
so zeigte die Geschichte vom Esel^) noch deutlicher die subjektive
Art, in der Kallimachos seine Muse commandirt, und im Theioda-
raas^) ist er selber es, der das Wort an seinen Helden Herakles
richtet. Das neue Bruchstück hält nicht nur denselben ganz per-
sönlichen Ton; es rückt uns eine Situation unmittelbar vor die
Augen, die den Dichter am Werke zeigt, wie er sich seines Stoffes
bemächtigt: sein Tafelfreund Theugenes ist ihm in gewissem Sinne
die lebendig gewordene Chronik des Xenomedes. Fragt man aber
jemanden Auge in Auge, so rückt von selbst das Ziel der Frage
in die vorderste Reihe; so steht in dem neuen Bruchstück die Frage
nach dem Aition in ganz unverhüllter Form an der Spitze der Gon-
versation, während bei den älteren Funden wie z. B. der Kydippe
der Fluß der Erzählung sanft an Aitien vorbeiführt^) oder schließlich
h Oxyrh. Pap.YII 1011 v. 4ft. 48 f.
2) Sitzungsber. Berl. Akad. 1914, 224.
P)) Sitzungsber. a. a. 0. 228.
4) v. Arnim in .seinem lesenswerten Aufsatz über die Kydippe (Intern.
Wochenschr. 1910, 10) führt gut aus, wie das Aitiologische dem Kydippe-
stoff an sich nicht innehaftet und in Kallimachos' Darstellung passenden
Ortes in den Gang der Erzählung eingeschoben wird.
AUS DEN AITfA DES KALLIMACHOS ]7<»
in ein Aition einmündet. Der verschiedene StofT gebot verschiedene
Behandlung. Ein vereinzelt stehendes Kultfaktum wie etwa der
Peleuskult auf Ikos erledigt sich leicht durch Frage und Antwort;
aber die aitiologische Poesie begnügt sich sowenig wie die auf
Verwandlung oder Versternung ausgehende mit der Deutung ein-
2elner Sitten, Bräuche, Kulttatsachen, die einem fragenden |}edürfnis
sich als erklärungsbedürftig darstellten-, sie zieht von sich aus
iiltere Geschichten, die in sich geschlossen waren, in ihren Bereich,
um sie durch neue Behandlung und neuen Aufputz für ihre Zwecke
zu gewinnen. Um es an einem Beispiel zu exemplificiren, von
dem wir Bearbeitungen aus verschiedener Zeit und mit verschie-
denen Tendenzen besitzen: die Sage vom Raube der Köre, an sich
eine alte heilige Geschichte, wird im homerischen Demeterhymnus
der eleusinischen Kultlegende und im Traktat des Berliner Museums *)
orphischen Vorstellungen dienstbar gemacht; die gleiche Geschichte
gestaltet Kallimachos zu einem aitiologischen Gedichte^), durch Ent-
wicklung und Einreihung von Einzelailien, ohne daß die Geschichte
in ihrem Hauptziel aitiologisch wird; ihm folgt Ovid in den Fasten
{IV 393 ff. K In den Metamorphosen (V 341 ff.) verfährt der rö-
mische Dichter principiell wie sein griechischer Vorgänger, wenn er
dem gleichen Stoffe an Stelle der Aitien Verwandlungsgeschichten
einfügt, auch hier, ohne die Geschichte in ihrer Hauptsache zu einer
Metamorphose zu machen. Wir tun hier in den poetischen Werde-
gang eines Stoffes und seine Abwandelungen lehrreiche Einblicke ;
die Geschicklichkeit dürfen wir bewundern, wie Alexandriner und
Römer den überkommenen Stoff nach ihrem Geschmack modeln,
auch wenn uns die alte Geschichte ebenso lieb ist wie Aition, Meta-
morphose und Katasterismos uns kühl lassen.
Berlin. LUDOLF MALTEN.
1) Berliner Klassikertexte V 1. 7 ff. (Bücheier).
2) Reconstruirt in d. Z. XLV 1910 S. 560 ff.; dazu v. Wilamowitz,
Sitzungsber. der Berl. Akad. 1912, 524 tf. 535.
12*
ZUR GESCHICHTE GROSSGRIECHENLANDS
IM 5. JAHRHUNDERT.
Die Geschichte der unteritahschen Griechenstädte ist bekannt-
lich eines der dunkelsten Kapitel der klassischen Zeit; ein paar meist
mangelhaft datirte Fakta, wie der Fall von Siris, der von Sybaris,.
die Katastrophe der Pythagoreer, stehen 7,usammenhangslos vor uns.
Nur wenn fremde Großmächte eingreifen, Athen oder Dionysios I.,
fällt gelegentlich etwas Licht auf die Zustände der Colonialstaaten.
Mit Recht hat man sich daher längst, um die gröbsten Linien
der politischen Entwicklung zu fassen, der Münzen bedient, die von
der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ab vorhanden sind, und
deren älteste Gruppen sich durch die eigentümliche inkuse Prägung
der Rückseite chronologisch genau absondern lassen. Hier sei auf
Grund der Münzen eine Tatsache näher beleuchtet, die bisher wohl
berührt und geahnt, aber nie scharf formulirt worden ist.
Wir haben aus Unteritalien zahlreiche sogenannte Bündni?-
münzen, die die Namen von zwei Städten geben — meist auf die
beiden Seiten verteilt — und die aus dem 6. in das 5. Jahrhundert
überleiten, gelegentlich auch noch später vorkommen. Abgesehen
von einigen nicht mehr .sicher zuzuweisenden Münzen, die wir hier
beiseite lassen dürfen, und einigten anderen, stets mit Kroton ge-
paarten Städten, bei denen die Identificirung strittig ist und die
nachher behandelt werden sollen, begegnen uns folgende Städte-
paare: Siris und Pyxüs, Sybaris und Poseidonia, Kroton und Sybaris.
Kroton und Temesa, Kroton und Pandosia, Kroton und Kaulonia.
Kroton und Zankle, Mystia und Hyporon^).
Die Richtigkeit der Bezeichnung als Bundesmünzen läßt sich
1) Head, H. N.2 83 ft'. 95. 105; Br. Mus. Cat. Italy 283. 287. 357; Ba-
lteion, Traite des monnaies grecques et romaines II 1 (1907) 1455ff»
TiCtzterer will statt Temesa Terina einsetzen. Das verbietet aber der
Münztyp des Helms, der auf den Münzen, die Temesa allein schlägt.,
i'.bcnfalls begegnet.
GROSSG RIECHEN LAND IM 5.JAHKH. l,sl
an Material aus anderen Teilen der griechischen Welt niclil nacli-
prüfen, da wir analoge Erscheinungen bei politisch selbständigen
Staaten, deren gegenseitige Beziehungen die literarischen Quellen
aufklären, nicht finden, wenn auch bei der zweifellosen Prägung
von Bündnismünzen seitens Rhodos, Ephesos usw. im 4. Jahrhun-
dert die Münzen ganz anders aussehen. Auffallend aber ist, daß
in den Fällen, wo das Material ein Urleil gestattet (bei Kroton und
seinen , Bundesgenossen"), neben der Prägung beider Staaten
immer noch eine lokale Prägung des einen Staates, und zwar
immer des mächtigeren, einhergeht, während der schwächere in
der betreffenden Zeit immer nur auf den „ Bündnismünzen " be-
gegnet. Der letztere kann also nicht in einem acquiim foedus auf
die Münzherrlichkeit verzichtet haben, sonst müßte der andere Ver-
tragschließende ein gleiches getan haben und sich auf die gemein-
samen Emissionen beschränken oder aber dem Schwächeren aucli
die eigene Prägung zugestehen.
Zu denken gibt ferner die gemeinsame Prägung von Sybaris und
Kroton. Die Münzen sind keineswegs die archaischsten, die beide
Städte haben, können also, da die Prägung in Unterilalien erst um
-550 und meist später einsetzt, frühestens in das letzte Menschenalter
des 6. Jahrhunderts fallen. Das wäre also die Zeit, deren Entwick-
lung in der Zerstörung von Sybaris eben durch Kroton gipfelt; denn
daß die beiden Städte aus bester Freundschaft und einem Bündnis
von heute auf morgen in einen Zustand solcher Feindschaft über-
gehen, daß kein Friedensvertrag, sondern nur der Untergang des einen
Staates den Gonflict enden kann, wird kein Verständiger annehmen.
Dann gehören die Münzen in die Zeit nach dem Fall von
Sybaris, als das Gebiet dieser Stadt zu Kroton gehört. Man muß
sich dann freihch zu der Annahme verstehen, daß nach 510 (?)
noch ein kleines Sybaris weiterbestanden hat als Teil des krotoni-
■atischen Staatsgebietes. Das ist an sich nicht unmöglich und wird
sogar von anderer Seite nahegelegt. Unmöglich ist es deswegen
nicht, weil auch Milet, das wie Sybaris gefallen ist, und dessen
Untergang in der griechischen Welt genau solch einen Widerhall
«rweckt hat wie der von Sybaris, in reducirtem Maßstabe und, wie
die Tributlisten zeigen, als arme Stadt weiterbestand ^). Nahegelegt
1) Man vergleiche auch wie Selinus bald nach der Zerstörung durch
die Karthager doch noch existirt und wohl unbefestigt, aber nicht ein
Trümmerhaufen ist (Diod. XIII 63, 3).
182 U. KAHRSTEDT
wird die Vermutung aber durch die ständige Erwähnung von „Sy-
bariten", die eine selbständige Pohtik treiben, im 5. Jahrhundert.
Die Sybariten bilden in der Bürgerschaft von Thurioi eine ge-
schlossene zahlreiche und bedeutende Gruppe, spielen eine große
Rolle, bis sie schließlich verjagt werden (Diod. XII 11, 1). Und
diese Sybariten sind nicht etwa zur Gründung von Thurioi aus
aller Welt zusammengelaufen, sondern sie haben schon vorher (453 ?>
versucht, selbst einen von Kroton unabhängigen Staat zu gründen
(Diod. XI 90, 3, wonach XII 10,2 zu interpretiren ist), und schon
zur Zeit Hierons hören wir (Diod, XI 48, 4) von einer Belagerung
der Sybariten durch die Krotoniaten. Man könnte ja noch allen-
falls daran denken, daß es sich um die nach Herod. VI 21 nach
Laos und Skidros oder in andere Städte der Gegend geflüchteten
Reste bzw. ihre Nachkommen handelt. Aber es hieße doch den
Quellen Gewalt antun , wenn man eine Belagerung der Sybariten
deuten wollte als Belagerung einer Stadt, in der neben den Bürgern
auch viele sybaritische Familien (und dann doch als Metoiken)
wohnen ^). Vollends wäre gar nicht zu verstehen , wie dann die
Sybariten als solche sich an Hieron um Hilfe wenden und später
mit dem Demos von Athen in internationale Verhandlungen ein-
treten sollten (Diod. XII 10, 3 f.). Dazu kommt eine andere, grund-
sätzliche Erwägung: Wenn die Sybariten wirklich sich um 510
alle zerstreut haben, nirgends mehr geschlossen sitzen, und mit
der Belagerung von „Sybaris" eine solche z. B. von Laos gemeint
ist, sollen sie da noch nach zwei Menschenaltern ein so starkes
Zusammengehörigkeitsgefühl haben, daß das zu einer praktischen,
von ihnen durchgeführten Politik die Grundlage abgibt? Die Juden
haben es dank ihrer sie isolirenden und aufeinander anweisenden
Religion auch in der Diaspora behalten, aber ein entsprechendes
Bindeglied fehlte bei den Sybariten durchaus. Die Aigineten, die
von den Athenern verjagt und durch Sparta, also in einer Hand
vereinigt, im wesentlichen (Thuk. II 27, 2) geschlossen angesiedelt
werden, können nach einem Menschenalter wieder geschlossen in
ihre alte Heimat überführt werden, aber von den Einwohnern von
Skyros, denen es 475 so geht, wie es vorher den Sybariten ge-
1) 397 belagern die Peloponnesier Atarneus. Ihr Angriff gilt vor
allem den demokratischen Chiem, die vor ein paar Jahren dort Auf-
nahme gefunden haben; trotzdem wird kein Mensch den Vorgang eine
Belagerung der Chier nennen.
GROSSGRIPXHENLAND IM 5. JAIIRH. 183
gangen sein soll, ist 404, also auch nach zwei Menschenaltern,
keine Spur mehr vorhanden. Sie sind von ihren neuen Heimats-
orten aufgesogen, Sparta findet keine Skyrier mehr vor, die es auf
ihre hisel zurückführen könnte.
Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dai:-. es die ganze
Zeit ühcr ein kleines, wohl unbefestigtes und zu Kroton gehöriges
Sybaris gegeben hat, und daß die „Ansiedlungsversuche'' irn 5, Jahr-
hundert nur Versuche sind, sich unabhängig zu machen, die Belage-
rung von Sybaris zur Zeit des Hieron die Niederwerfung einer solchen
Erhebung darstellt. Und zu diesem Sybaris gehören dann natürlich
die auf den engen Zusammenhang mit Kroton weisenden Münzen ^^i.
Die Prägung wird dann, da sie noch der älteren inkusen Münz-
prägung angehört, die bis in die Zeiten der Perserkriege hinab-
reicht, um 500 bis 480 anzusetzen sein, d. h. sie geht chronolo-
gisch ungefähr zusammen mit den Prägvmgen Kroton-Temesa und
Kroton -Kaulonia, die etwa um 480 beginnen, und gehurt in die
gleiche Zeit wie die von Kroton-Pandosia, die man aur-h nicht allzu-
lange vor 480 ansetzen darf^).
Auf noch sichererem Boden für die Clironologie stehen wir bei
den Münzen Kroton-Zankle (Hill, Coins of Sicily 70 f.). Ihre Zeit
ist dadurch bestimmt, daß Messene nur vor ca. 493 und nach dem
Sturz der Anaxilaiden ca. 460 noch einmal vorübergehend Zankle
hieß. Die erstere Zeit scheidet durch den Stil der Münzen aus
(Babelon a. a. 0.). Allzulange nach 460 werden wir aber auch
nicht herabgehen dürfen, denn das Kroton, das Thurioi und, wie
wir sehen werden, Kaulonia nicht zu behaupten vermag, wird nicht
bis Sicilien ausgreifen, Hill erklärt die recht seltenen Münzen so,
daß bei den Wirren in der Meerengenstadt nach dem Sturze der
Tyrannen eine Partei sich Kroton in die Arme warf: und das Avird
richtig sein. Dann ist eben auch Zankle, wenn auch nur ganz
vorübergehend, im Machtgebiet von Kroton aufgegangen, ein bei
dem vulkanischen Charakter der sicilischen Geschichte ganz glaub-
licher Vorgang, wo ganze Städte mit einer Leichtigkeit ihre poli-
1) Die Sybariten, die Herodot (V 44) ah seine Quelle anführt, sind
wohl die Leute von Sybaris am Traeis (Diod. XII 22, 1), man kann aber
auch hier an die Sybariten der krotouiatischen Zeit denken, von denen
er als Colonist in Thurioi viele kennengelernt haben wird.
2) Siehe das Material bei Head, H. N.^95; die Prägung Krotoii-
Temesa reicht vielleicht durch beide Perioden, vor 480 und nach 48'J.
184 U. KAHRSTEDT
tische Existenz verlieieu oder gewinnen, die im Mutterlande uner-
liört wäre; man denke an Gela, Katana, Leontinoi usw.
Aufser den besprochenen Münzen begegnet uns Kroton gepaart
mit Städten, die folgende Abkürzungen haben: ME, IM, 9, lA, YAI,
OP (Babelon a. a. 0.). Von diesen ist nach dem bisher über die
Ausdehnung von Krotons Macht Gesagten Ms[djiia] sofort klar, OP
wird der später von Plinius n. h. III 73 genannte Ort Portus Orestis
südlich von Medma sein; die übrigen Namen bleiben unklar. Es
müssen Orte im Reich von Kroton gewesen sein ; daß die Literatur
von ihnen schweigt, braucht nicht wunderzunehmen: von Con-
sentia wüßten wir auch nichts, wenn nicht gerade die bruttische
Jlegierung sich dort niedergelassen und den Angriff Alexanders des
Molossers dort abgewehrt hätte.
Die Zeit der Begründung des Reiches läßt sich noch ungefUhr
angeben. Der Fall von Sybaris gehört um 510, die Stadt Kaulonia
prägt eigene Münzen ohne Nennung Krotons während der ersten
Periode der unteritalischen Münzgeschichte (Head, H. N.'-^ 92), also
auch bis um die Jahrhundertwende; auch die Gewinnung von Temesa
gehört nach den Münzen in diese Zeit, zumal eine Verdrängung Lokrois
aus dieser Gegend, die nach Strabo VI 1, 5 angenommen werden
muß, erst am Ende des 6. Jahrhunderts möglich war, in dessen Ver-
lauf Lokroi durchaus der mächtigere Staat gewesen ist (Schlacht am
Sagras). Die Gründung von Terina ([Skyl.] 306 u. ö.) wird damit
gleichzeitig, die Gewinnung von Medma bald darauf erfolgt sein*).
Wir beobachten also eine Abhängigkeit oder Zugehörigkeit aller
großitalischen Städte südlich von Metapont und Velia, ausgenommen
Rhegion, Lokroi, Laos und Skidros, zeitweilig auch von Zankle, zu
Kroton, die in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts gehört. Der
Höhepunkt der Entwicklung lag, wie die Münzen von Kroton-Zankle
gelehrt haben, in den Jahren bald nach 460. Und zwar hat es
sich dabei um eine Ausdehnung der nöXtg Kroton gehandeil, nicht
um eine lockere Symmachie. Das erhellt daraus, daß alle Städte
gleichmäßig ebenso wie Sybaris behandelt werden, das nach 510
unmöglich so zu Kroton gestanden haben kann, wie etwa Chios zu
Athen oder Tegea zu Sparta.
1) Daß vriv keine Belege für die Zugehörigkeit von Hipponiou zu
Kroton haben, wo alle seine Nacbbani, Terina, Kaulonia und Medma,
ihre Unabhängigkeit verloren haben, ist sicherlich Zufall. Wir werden
uns diese Stadt auch von Kroton abhängig denken dürfen.
GROSSGRIECHENLAND IM ;'),.! AHRU. 185
Der Zusammenbruch des Reiches, wie wir es mil guleni Ge-
wissen nennen können, ist sehr rasch erfolgt. Um 453 können
sich die Sybariten von Kroton lossagen und 5 Jahre unabhängig
behaupten; in den 40er Jahren muß Kroton die Gründung von
Thurioi und bald darauf die eines neuen Sybaris mit ansehen (Diod.
XII 22, 1). Die Münzen lehren, daß in Pandosia eben um 450 die
selbständige Prügung beginnt; und daß sogar die krotonialische
Golonie Terina zur Zeit der Gründung von Thurioi unabhängig ist,
lernen wir aus Polyain. il 10. wozu die Münzen auf das beste stim-
men. Auch Kaulonia hat einen Münztyp, der bis 388 benutzt
worden ist und ziemlich lange im Gebrauch war; es liegt nahe, die
Unabhängigkeit auch dieser Stadt in dieselbe Zeit zurückzudatiren.
Oßenbar ist damals das krotonialische Reich in seine Bestandteile
auseinandergefallen. Denn wenn selbst die unmittelbaren Nachbarorte
auf eigenen Füßen stehen, wird Kroton nicht mehr imstande gewesen
sein, etwa Medma zu behaupten, von Zankle ganz zu schweigen.
Man hat schon früher (vgl. Beloch, Gr. Gesch. 11 1 2, 199) den
Versuch, Sybaris unabhängig zu machen, mit dem Sturz der Pytha-
goreer in Verbindung gebracht. Und daß damals Kroton auf das
äußerste zerrüttet und geschwächt wurde, ist nach dem reicheren,
hier vorgelegten Material ganz offenkundig. Die nackten Daten zeigen
uns, daß die Errichtung des Reiches und sein Zusammenbruch ein
Widerschein der Geschichte der Pythagoreer sind. Man versteht nun
auch, was es heißt, wenn überliefert wird, daß diese Sekte viele Städte
in Unteritalicn beherrscht habe. Das wäre eine merkwürdige Sache,
wenn all die Staaten unabhängig nebeneinander stünden. Dann
müßte man es sich so vorstellen, daß in jeder einzelnen Stadt die
gleiche Entwicklung durchlaufen wird und eine analoge Hetairie die
Macht gewinnt. Jede einzelne dieser Regierungen aber stünde für sich,
hätte doch nur die lokale Politik ihrer Heimatstadt treiben können,
und die Behauptung, „die Pythagoreer" als solche hätten die groß-
griechischen Städte beherrscht, wäre ebenso verkehrt wie etwa:
adie Tyrannen" beherrschen um 550 die griechischen Staaten. Vor
allem aber wäre unklar, wie ein Schlag die ganze Herrlichkeit zu
Boden werfen konnte.
Ganz anders, wenn man sich vorstellt, daß die Pythagoreer
nur in Kroton, das ja auch immer als ihr Sitz schlechthin erscheint,
zur Macht gelangt sind, und daß das durch sie organisirte und
disciphnirte Kroton mächtig ausgreift, ähnlich wie in weit größerem
186 U. KAHRSTEDT
Maßstabe der Getenstaat des Burebista oder das Medina Mohammeds
nach einer ähnlichen reh'giösen Reform getan haben. Und die
Möglichkeit ihres Sturzes durch einen Staatsstreich wird auch deut-
licher: in der Republik Kroton ist eben eine Revolution ausgebro-
chen, die im ganzen Umfang des betroffenen Staates neue Macht-
haber ans Ruder brachte.
Durch das Gesagte können wir nun die Pythagoreerkatastrophe
genauer datiren, als es bisher möglich war. Daß sie vor den Aus-
einanderbruch des Reiches, der um 453 fühlbar wird, gehört, ist
immer anerkannt worden; jetzt sehen wir, daß zur Zeit des Sturzes
der Tyrannen von Rhegion Kroton erst auf den Gipfel seiner Macht
gelangte (ca. 460). Die Zeit für die Katastrophe der Sekte schrumpft
also auf die Jahre 459 bis 454 zusammen. Es ist nicht unmög-
lich, daß die Überspannung des Rogens, die in dem Hinübergreifen
bis Sicilien liegt, und der darauf folgende Rückschlag wenigstens einen
der Anlässe zu der demokratischen Reaktion in Kroton darstellen.
Wichtiger aber noch ist, daß wir nunmehr die politische Be-
deutung dieser Revolution klar erfassen können. Ihre Folge war
ebenso wie die der Vertreibung der Tyrannen in Sicilien im glei-
chen Menschenalter: die mühsam zusammengebrachten größeren
Staatengebilde fielen sofort wieder in ihre alten Restandteile aus-
einander. Wie der Sturz der Deinomeuideu und die folgenden Wirren
Gela, Kamarina, Katana, Leontinoi usw. wieder von Syrakus trenn-
ten, so treten neben Kroton wieder Sybaris am Traeis (Diod. XII
22, 1), Thurioi, Kaulonia, Terina, Temesa, Pandosia, Medma, Hip-
ponion, vielleicht auch Petelia. Wir haben also jetzt 9 — 10 Klein-
staaten statt einer Großmacht. Vermutlich ist auch ein Zusammen-
hang zwischen diesen Vorgängen und dem erwachenden Angriffs-
geist der Stämme des Hinterlandes in der 2. Hälfte des 5. Jahrhundert^^
zu constatiren. Die Widerstandskraft des unteritalischen Griechen-
tums muß durch die Revolution in Kroton ebenso schwer gelitten
haben wie durch den Fall von Siris und Sybaris.
Denn eine Großmacht im Sinne des 5. Jahrhunderts war das
])ythagoreische Kroton sicher. Das durch die Münzen als krotoniatisch
erwiesene Gebiet zwischen Metapont, Laos und Skidros einerseits.
Lokroi und Rhegion andrerseits hat mit Zankle ungefähr 9000 qkni
umfaßt, viermal soviel M"ie Attika, ebensoviel wie Lakonion mit Mes-
senien und kaum weniger als Thessalien und seine Nebenländer.
Die partiknlaristische Bewegung hat sich im 5. Jahrhundert voll
GROSSGRIECHENLAND IM 5. JAHRH. 187
ausgewirkt. Auch Lokioi ist nicht imstande gewesen, die vor 7,wei
bis drei Menschenallern an Kroton verlorenen Gebiete zurückzuge-
winnen: Thuk. V 5, 3 hegt es mit Ilipponion und Medma im Kampfe;
es ist offenbar, daß die Gegend von Temesa erst recht nicht in
seine Hand zurückgelangt ist. Auf der bruttischen Halbinsel gibt
es also um 460 fünf Staaten, im Jahre 440 mindestens vierzehn.
Neben den Münzen Krotons haben wir noch (Head, H. N.^ 85)
Münzen von Poseidonia und Sybaris aus der Mitte des 5. Jahr-
hunderts. Sie bezeichnen eine Abhängigkeit der Sybariten von
Poseidonia, nicht umgekehrt, wie erstens die ganzen Zeitumstände
dartun und zweitens die Währung lehrt, die beweist, daß die Stücke
in Sybaris und nicht in Poseidonia umlaufen sollten, also über die
Rechtsstellung von Sybaris, nicht von Poseidonia Auskunft geben
können. Es handelt sich bei diesem Sybaris ejitweder um die dritte
Stadt dieses Namens, die am Traeis, am Südrande des alten Staats-
gebietes, gegründet wurde, als die Sybariten aus dem zweiten Sybaris
(Thurioi) von den andern Colonisten verjagt wurden, oder um den
bei dem Aufstand von 453 vorübergehend wieder belebten Staat,
aber nicht um Thurioi, das niemals von Poseidonia abhängig oder
gar ihm zugehörig gewesen sein kann. Das junge, schwache Sy-
baris hat sich dann, um gegen Kroton oder Kroton und Thurioi
bestehen zu können, einmal Poseidonia in die Arme geworfen, der
mächtigsten unter den Pfianzslädten des alten großen Sybaris.
Auch dieser Umstand ist für die oben S. 182 behandelte Frage von
Bedeutung, ob die Sybariten von 476 und 453 die nach Laos und
Skidros geflüchteten Familien darstellen. Wären nämlich diese
beiden Städte wirklich die Basis für den Versuch der Wiederher-
stellung von Sybaris gewesen, so wären sie die gegebenen Schutz-
mächte, nicht das ferne Poseidonia, — sie werden sich eben ge-
hütet haben, zu einem Anschlag auf den Staatsbestand des sie
übermächtig umklammernden Kroton die Hand zu bieten.
Die bisher nicht berührten Münzen von Siris mit Pyxüs sind klar
und haben nie zu Schwierigkeiten Anlaß gegeben. Wir werden nach
dem Gesagten nur constatiren dürfen, daß Pyxüs vor dem Fall von
Siris unmittelbar zum Gebiet seiner Mutterstadt gehört hat, nicht sein
Bundesgenosse im Sinne der Symmachien Spartas oder Athens war.
Berlin -Steglitz. ULRICH KAHRSTEDT.
ÜBER DIE ABFASSUNGSZEIT EINIGER SCHRIFTEN
SENECAS.
I.
Senecas Schrift de hrevitnte vifae (X in der Sammlung der
Dialogi) ist einem gewissen Paulinus gewidmet, der zur Zeit der Ab-
fassung der Schrift ein hohes, mühe- und verantwortungsvolles Amt
zu allgemeiner Zufriedenheit^) bekleidete, von dem ihm aber nichts-
destoweniger Seneca dringend rät zurückzutreten, damit er von nun
an ganz sich selbst und den Wissenschaften lebe (c. 18, 1 in tran-
quüliorem porhmi reccdc; aliquid temporis tui sume etiam tibi
usw.) ; Paulinus sei zu Besserem berufen (c. 18, 4 maius quiddam
et altins de te promiseras). Jenes Amt war, wie zuerst Hirschfeld ^)
ausgesprochen hat, die Praefectura annonae, die die Fürsorge für
den Gelreidebedarf der Bevölkerung der Hauptstadt in sich schloß
(c. 18,5 cum venire tibi Inimano negotium est; c. 18,4 ut tibi
nmlfa milia frumenti comniitterentur, usw.) Praefectus annonae
war während eines großen Teils von Senecas Lebenszeit, nämlich
zum mindesten von August 14 (Tac. a. I 7) bis Oktober 48 n. Chr.
(Tac. a. XI 31) oder gar noch länger, aber gewiß nicht viel länger,
C. Turranius ; von 55 bis 62 war es Faenius Rufus ; dessen nächsten
Nachfolger kennen wir nicht. Wir haben also die Wahl, die Ab-
fassung der an den Praefectus annonae Paulinus gerichteten Schrift
in die Zeit zwischen Ende 48, in der Annahme, daß Turranius noch
in diesem Jahre einen Nachfolger erhalten hat, und 55, oder aber
in die letzten Lebensjahre Senecas (62 — 65) zu setzen. Man setzt
nun gewöhnlich die Schrift ganz in den Anfang des ersten der beiden
genannten Zeiträume, in das Jahr 49 (oder Schluß 48), wegen einer
eigentümlichen Erwähnung eines der sieben Hügel Roms, des Mons
Aventinus, c. 13, 8. Dort wird nämlich anscheinend vorausgesetzt,
1) In CO officio amorcm consequeris, in quo odiiiin vitare difficik est,
c. 18, 3.
2) Philologus XXIX 1870 S. 95 = Kl. Schriften S. 966.
ABFASSUNGSZEIT EINIGER SCHRIFTEN SENECA8 189
dieser Hügel liege außerhalb des sogenannten Pomeriums, der sakra-
len Grenze des Weichbildes der Stadt Rom; nun ist aber, nach einer
bei Gellius XIII 14, 7 erhaltenen Notiz der Aventin unter Claudius in
das Ponierium einbezogen worden, und zwar muß dies im Jahre 49
geschehen sein, da in dieses Jahr die auch sonst bezeugte Erweite-
rung des Pomeriums durch Claudius gehört^). Also ist die Schrift
Anfangs 49 (oder in den letzten Tagen des Jahres 48), als eben
Paulinus Nachfolger des Turranius geworden war, abgefaßt. Im
Jahre 49 ist Seneca auf Agrippinas Verwendung aus der Verbannung,
in der er eine Reihe von Jahren gelebt hatte, zurückberufen und zur
Prätur befördert und zugleich zum Erzieher ihres Sohnes, dos spä-
teren Kaisers Nero, bestimmt worden (Tac, ann. XII 8). Im Munde
eines Mannes, der eben erst wieder ein Amt und die Last des fort-
währenden Verkehrs mit den Großen auf sich genommen hatte,
klingen die an einen verdienten Beamten gerichteten Mahnungen
zurückzutreten, die Lobpreisungen eines sich selbst genügenden
Lebens, die Warnung vor dem ingratus superionun cidtus (c. 2, 1),
gar sonderbar. Gercke^) ist deshalb der Meinung, die Schrift gehöre
in die kurze Zeit, in der, wie er meint, Seneca zwar zurückberufen,
aber noch nicht in nahe Verbindung zu Agrippina getreten war und
noch nicht die Erziehung Neros übernommen hatte ; er soll in der
Tat nach seiner Rückberufung zunächst daran gedacht haben, nach
Athen zu gehen (schol. luvenal. 5, 109). Münzer (Beitr. zur Quellen-
kritik des Plinius S. 370) ist der Meinung, die Schrift sei in der
Verbannung •') begonnen und unmittelbar nach der Rückkehr abge-
1) Tac. auu. XII 23: pomerium urbis auocit Caesar unter dem Jahre 49.
Auf dasselbe Jahr führen die Inschriften der von Claudius gesetzten
Demarkationssteine (Inscr. Lat. sei. 213, mit Add. et Corr. p. CLXX).
Die 9. tribunicische Gewalt des Claudius reicht zwar bis 24. Januar 50,
aber die 16, imperatorische Akklamation scheint noch innerhalb des
Jahres 49 durch die 17. und 18. ersetzt worden zu sein (Groag, Real-
Encycl. 111 2808).
2) Gereke, Senecastudien (Jahrb. f. klass. Phil. Suppl.-Bd. XXI 1
1895) S. 289. 291 vgl. S. 283.
3) Die Abfassung der Schrift direkt in die Zeit der Verbannung zu
setzen hat man sich im allgemeinen wohl gescheut wegen des Mangels
jeglicher Bezugnahme auf die Verbannung, zu der genug Gelegenheit ge-
wesen wäre (vgl. Birt, N. Jahrb. für das kl. Altertum XXVII 1911 S. 855 A. 1>
Es kämen übrigens nur die allerletzten Monate des Exils in Betracht.
da Seuecas Rückberufung, mit der Agrippina sich als Kaiserin gut ein-
190 B.DESSAU
schlössen und herausgegeben worden. Originell ist die Meinung
von Waltz ^), Senecas Aufforderungen an Paulinus seien nicht ernst
zu nehmen — womit er wohl recht haben wird — , Seneca habe
auf diese Weise seiner Gönnerin Agrippina zu verstehen geben
wollen, ein wie großes Opfer er ihr bringe, wenn er in ihren
Kreis trete. Ich möchte es nicht von vornherein für unmöglich
erklären, dafs ein Mann wie Seneca ganz ohne Rücksicht auf sein
eigenes Tun und Treiben eine Schrift zur Empfehlung des Lebens
in der Zurückgezogenheil — das ist im wesentlichen der Inhalt
von de hrevitate vitae — geschrieben habe ; aber daß er sie einem
rührigen Beamten gewidmet, der eben erst sein Amt angetreten
hatte, und diesen nachdrücklich zum Rücktritt aufgefordert haben
sollte, das scheint auch mir sonderbar. Schwerverständlich bei
Annahme der Abfassung im Jahre 49 (oder Ende 48) ist aber auch
die Art der Erwähnung des Amtsvorgängers des Paulinus, des Turra-
nius, im Schlußkapitel der Schrift. Es wird da (c. 20, 3) als ein
bemerkenswertes Beispiel des nach Senecas Meinung tadelnswerten
Ausharrens im Amte, das ihm gerade eingefallen war {pracferire
quod mihi occurrit exemplum non j^ossum), der Fall des Tuira-
nius erwähnt, der trotz seiner neunzig Jahre und trotz seiner von
C. Caesar (Galigula, 37 — 41) verfügten Entlassung, sich von seinem
Verwaltungsposten {procuratio) nicht habe trennen wollen und
es schließlich durchgesetzt habe, sein Amt wieder übernehmen zu
dürfen; ohne daß gesagt wird, daß Turranius wunderbarerweise
noch zum mindesten weitere 8 Jahre im Amte ausgeharrt hat, und
ohne daß auch nm- mit einem Worte angedeutet wird, daß Turranius
der Amtsvorgänger des Paulinus, daß er eben in diesem Moment
erst durch Paulinus ersetzt worden war. Auf eine Schwierigkeit
andrer Art hat Hirschfeld hingewiesen. Der Abschnitt, in dem die
oben behandelte Erwähnung des Mons Aventinus sich findet, ist ganz
und gar eine Verspottung der Altertumsforschung oder doch der Art,
wie sie bei den Römern damals betrieben wurde (c. 13, 3: Bomanos
quoque invasit inane Studium super vacua discendi: 13, 8 in eadcm
materia supcrvaciiam quorinndnm diJigentiam); insbesondere wird
gegen Schluß es nicht nur mit Nachdruck für gleicligültig erklärt,
was der eigentliche Grund der alten Ausschließung des Aventinus
führen wollte, anscbeinead iu eleu Anfang des Jahres 49 gehört (Tac.
a. XII 8 zu Anfang des Jahresberichts'.
1) Vie de Seueque S. 145. 146.
ABFASSUNGSZEIT EINIGER SCHRIFTEN SENECAS 191
aus dem Pomerium gewesen sei, sondern auch die ganze Argumen-
tation darüber ziemlich unzweideutig als schwindelhaft verdächtigt,
(c. 13, 9 n(im ut conceclas omnia cos bona fidc dicerc). Kaiser
Claudius war bekanntlich andrer Ansiclit ; er hat einen großen Teil
seines Lebens antiquarischen Forschungen gewidmet und ihnen als
Kaiser einigen Einfluß auf seine Staatsverwaltung gegönnt ; und die
Frage nach der Sonderstellung des Aventinus kann ihm nicht gleich-
gültig gewesen sein, da er, wie bereits gesagt, es für richtig ge-
halten hat, diese Sonderstellung im Jahre 49 durch einen Regie-
rungsact aufzuheben. Jeder, der unter oder bald nach Claudius
diese Stelle las, muß die Verspottung des Kaisers gefühlt haben.
Und das sollte Seneca unter Claudius gewagt haben, sofort nach
seiner Zurückberut'ung aus dem Exil oder auch kurz vorher, er,
der vom Exil aus in der Trostschrift an den Freigelassenen P0I3'-
bius dem Claudius die unglaublichsten Schmeicheleien widmete und
iu den unter Nero herausgegebenen Schriften es an Verbeugungen
auch vor den Privathebhabereien des Kaisers nicht fehlen läßt^)?
Direkt gegen die Pomeriums-Erweiterung des Claudius mußte jedem
Leser, der etwas von ihr wußte, folgende Bemerkung Senecas ge-
richtet scheinen (c. 13, 8): Sullani ultimum Ptomanorum protidisse
Imperium, qiiod nnmquam provincinJi sed Ilalico agro adquisito
proferre moris apud antiquos fuit. Die Erweiterung des städtischen
Pomeriums galt als ein Pieservatrecht der Feldherren, die das Reich
erweitert hatten. Pomerium urbis auxit Caesar (Claudius), sagt
Tacitus ann. XII 23, more prisco^ quo iis, qui p>rottdere imperium,
etiam termiuos urbis pro/mgecrc dafür, die Eroberung Britanniens
hatte Claudius den Rechtstitel zur Erweiterung des Pomeriums ge-
geben 2): auctis populi Romani finibus pomerium ampliavit. sagt
er von sich selbst auf den von ihm gesetzten Circumvallationssteinen
(Inscr. Lat. sei. 213). Und nun behauptet Seneca, wir wissen nicht
mit welchem Recht oder nach welchem Gewährsmann, nur der Ge-
winn von italischem, nicht der von Provinzialboden berechtige zur
Erweiterung des Pomeriums (womit natürlich in der Kaiserzeit eine
solche überhaupt unmöglich geworden wäre). Es wäre also Seneca
das Mißgeschick zugestoßen, kurz vor der Pomeriums-Erweiterung
1) z, B. natur. quaest. I 5, 6; apocol. 4 v. 23.
2) Anders Detlefsen in d. Z. XXI 1886 S. 502 ff. 544. 561, dessen An-
sicht wohl nirgends Beifall gefunden hat und von Mommsen, Staatsr. III
S. 785 A. 1 zurückgewiesen worden ist.
192 H- DESSAU
des Claudius diese kaiserliche Handlung für unrechtmäßig oder doch
für der Tradition zuwiderlaufend zu erklären^). Im Hinblick auf
die spöttischen, offenbar gegen Claudius gerichteten Ausführungen
Senecas über antiquarische Spielereien meinte schon Hirschfeld, es
sei fraglich, ob die Schrift zur sofortigen Veröffentlichung bestimmt
Avar. Also soll sie Seneca beiseitegelegt, sie für später, etwa für
die Zeit nacli dem Ableben des Claudius aufgespart haben? Ich
möchte glauben, daß die .Schrift überhaupt erst nach dem Tode des
Claudius geschrieben ist: sie ist nicht, sondern gibt sich nur ge-
richtet an den ebenfalls verstorbenen oder doch zurückgetretenen
Paulinus. So erklärt sich, daß Seneca von dem alten Turranius
spricht, ohne sich zu erinnern, daß er der Amtsvorgänger des Pau-
linus war — der eben erst verstorbene Amtsvorgänger, wenn die
Schrift wirklich im Jahre 49 abgefaßt wäre. Zur Rechtfertigung
einer Fiktion dieser Art, wenn sie einer Rechtfertigung bedürfte^),
mag man, wenn man Avill, annehmen, daß Seneca tatsächhch in
früheren Jahren Paulinus, dem er sehr nah gestanden haben dürfte
— es scheint sein Schwiegervater gewesen zu sein — , zum Rück-
tritt geraten hat, aber nicht öffentlich, sondern vertraulich, und auch
nicht mit so starker Betonung von Allgemeinheiten, wie sie die
Schrift enthält, sondern mit Rücksicht auf seine persönlichen Ver-
hältnisse, und wohl auch kaum in den ersten Jahren seiner Amts-
führung. Die Schrift, geschrieben in den späteren Jahren Senecas,
als er seinen Entschluß, sich zurückzuziehen, immer wieder an-
kündigte (Tac. ann. XIV 53 ff. XV 45), und vermutlich gleich zur
Aufnahme in das Corpus der Dialogi •^) bestimmt, ist dann ein
1) Mommsen (Rom. Staatsrecht II S. 1025 A. 1 der 2., etwas anders
II S. 1072 A. 4 der 3. Aufl.) glaubte in der Tat, daß Seneca mit jenen
Worten eine von Claudius beabsichtigte Maßregel hiibe tadeln odor an-
fechten v?ollen.
2) Daß sie uns nicht einwandfrei erscheint, kommt daher, daß sie
keinen künstlerischen Zwecken dient.
3) Dieser anspruchsvolle Titel für Schriften, von denen kaum eine
ein Dialog in dem üblichen Sinne des Wortes ist — anspruchsvoll des-
halb, weil er die Schriften dem Gebiete der Philosophie, dem alten
Reiche des Dialogs (Lucian Piscator 20, Bis accus. 33) zuweisen soll — .
geht gewiß auf Seneca zurück, denn wie hätte er sonst in das alte In-
haltsverzeichnis der alten Mailänder Handschrift geraten sollen, wer
hätte außer Seneca oder nach Seneca, im Altertum oder in der Über-
gangszeit gewagt, jenen Schriften den ihnen eigentlich nicht zukommen-
den Titel zu geben V Ge\viß bättc Seneca mit demselben Recht auch
ABFASSUNGSZEIT EINIGER SCHRIFTEN SENECAS 193
schönes Denkmal seiner herzlichen Beziehungen zu Paulinus, und
empfahl sich nebenbei durch eine Anzahl noch immer gern auf-
genommener Sticheleien gegen Claudius ^).
II.
Drei der im Corpus der Dialogi vereinten Schriften (II. VIII. IX) sind
einem gewissen Serenus gewidmet, demselben Serenus, dessen frühen
Tod Seneca ep. 63, 14. 15 mit ungewöhnlicher und anscheinend
aufrichtiger Herzlichkeit beklagt; es ist dies sicherlich Annaeus
Serenus, der als Freund Senecas von Tacitus ann, Xlll 13 genannt
und mit gewissen Vorgängen am Hofe Neros aus dem Jahre 55
in Verbindung gebracht wird; später erhielt er das wichtige Amt
eines Praefectus vigilum ; er starb in diesem Amte unter eigentüm-
lichen Umständen an einer Vergiftung, Plin. h. n. XXII 96. Daß er
erheblich jünger war als Seneca, sagt dieser selbst a. a. 0. In
einer jener drei Schriften, de constantia sapientis (Dial. II) sucht
Seneca den Freund dem Stoicismus zu gewinnen ^), in einer andern,
de iranquillitate animi (Dial. IX), ihn bei ihm festzuhalten ^) ; in
einer dritten, nur unvollständig erhaltenen, de o^20 (Dial. VIII), scheint
der Freund schon so weit zu sein, daß er Seneca vom Standpunkt
des Stoicismus aus Einwendungen machen kann (de otio 1, 4). Es
ist begreiflich, daß man sich die drei Schriften in der angegebenen
Reihenfolge entstanden denkt *). Nach einer Meinung soll de consf.
andre seiner Schriften Dialoge nennen können (0. Rofsbacli in d. Z. XVII
1882 S. 368); er hat sie aber jedenfalls nicht in die. uns vorliegende
Sammlung der Dialoge aufgenommen, teils weil sie zu groß waren (de
beneficiis), oder weil ihnen eine Sonderstellung gewahrt bleiben sollte
(der dem Kaiser gewidmeten Schrift de dementia), oder weil sie noch
nicht fertig waren (natur. quaest.), oder aus irgendwelchen andern
Gründen.
1) Die Schrift des Cornelius Valerianus, auf die Münzer, Beitr. zur
Quellenkunde des Plinius S. 371 ff. c. 13 von Senecas Schrift zurück-
führt, braucht dann nicht 47/8, sondern mag unter Nero geschrieben sein.
2) Der Freund ist noch nicht Stoiker, ja verhält sich zunächst durch-
aus ablehnend (3, 1: haec srmt qiiae aitctorüatem vestris praeceptis detrahant ;
3, 2 si negas . . ., omnibus relictis negotiis Stoicns fio).
8) Hier sucht der Freund schon bei den Klassikern der Stoa, wenn
auch zunächst vergeblich, Trost und Stärkung fde tranq. an. 1, 10).
4) S. besonders Gercke, Senecastudien S. 283. Fr. Jonas, De ordine
libror. Senecae (diss. Berol. 1870) S. 45 läßt allerdings (mit H. Lehmann
Philolog. VIII 1853 S. 316) die Reihenfolge der beiden ersten Schriften
Hermes LIII. 13
194 H. DESSAU
saj). im Anfang der Regierungszeit Neros ^), de tranq. animi etwa
im Jahre 59 '), nach fast allgemeiner Ansicht de otio im Jahre 62
entstanden sein. Man hat auch wohl einen leisen Wechsel der
Anschauungen Senecas in den Schriften zu finden geglaubt ^) und
ihn mit des Verfassers Erlebnissen in Zusammenhang gebracht,
meiner Meinung nach mit Unrecht; man tritt wohl Seneca nicht
zu nahe, wenn man annimmt, daß er zu ein und derselben Zeit
verschiedene Schattierungen des Stoicismus in seinen Schriften hat
zum Ausdruck bringen können, je nach dem Gegenstand und der
Gelegenheit, oder auch der augenblicklichen Lektüre. Unter Nero,
auf dessen Zeit die sonstigen Erwähnungen des Serenus führen,
setzt man die Schriften fast allgemein*). Groß ist, wenigstens
in den beiden ersten jener Schriften, Serenus' Unselbständigkeit
seinem Meister gegenüber. In de tranq. animi muß er Seneca
sein Innerstes aufrollen, seine Unbeständigkeit, sein fortwährendes
Schwanken eingestehen ; Seneca gibt sich nicht die Mühe, im ein-
zelnen auf seine Regungen einzugehen, sondern nach einem Wort
des Trostes predigt er dem Freunde nach alten und neuen, oder
vielleicht auch nur nach einem neuen Autor die Tugend der evßvixia.
In de const. sap. zeigt sich die Überlegenheit des Älteren dem
Jüngeren gegenüber noch entschiedener; Seneca beginnt mit der
Erklärung, daß die Stoa den übrigen Systemen so überlegen sei
wie das männliche Geschlecht dem weiblichen, und sucht den jungen
Freund, dessen graden Sinn er anerkennt, mit Gatos Schicksal aus-
unentschieden. Dagegen Hense, Seneca u. Athenodorus (Freiburger Progr.
1893) S. 6ff.
1) Gercke S. 295; daß die Worte 14,5: at sapiens cokipJiis percussus
quid faciet? qnod (ein wohl unfreiwilliger Hexameter) Cato usw. in irgend-
welchem Zusammenbang mit den von Nero im Jahre 55 erhaltenen Prügeln
stehen, kann ich allerdings nicht glauben.
2) Hense S. 58. Gercke (S. 295. 316) rückt die Schrift um einige
Jahre herunter.
3) Hense S. 13 ff. findet einen Widerspruch darin, daß Seneca de
const. sap. 2, l das stoische Ideal des Weisen in Cato verkörpert sieht
und de tranq. animi 7, 4 das Vorkommen des Weisen in der Wirklichkeit
leugnet. Des Verfassers Idealismus soll inzwischen einer anderen Stim-
mung gewichen sein (S. 17).
4) Ganz allein steht wohl Waltz, Vie de Seneque S. 7, der die Schrift
de const. sap. in den Anfang der Regierung des Claudius setzt und damit
die Widmungen des berühmten Schriftstellers an den jungen Freund sich
über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erstrecken läßt.
ABFASSUNGSZEIT EINIGER SCHRIFTEN SENECAS 195
zusölinen, nicht so sehr mit dem heldenhaften Untergang des Re-
pubhkaners als mit einem Mißgeschick, das ihn früher betroffen
hatte: er soll einmal auf dem römischen Forum Prügel erhalten
haben und sogar angespien worden sein ; die Erinnerung an dieses
Vorkommnis hatte, wenn wir Seneca glauben, den jungen Serenus
tief im Innersten erregt (c. 1, 3. 3, 1: videor mihi intueri animum
kmm incensum et effervescentem). Nun finden wir diesen em-
pfänglichen Jüngling im Jahre 55 am Kaiserhofe sich in eigentüm-
licher Weise betätigen; er hat sich, im Einverständnis oder auf Veran-
lassung Senecas, dazu hergegeben, das beginnende Liebesverhältnis
des jungen Kaisers zu der Freigelassenen Acte vor der Öffentlichkeit
oder vor dem Hofe (vermutlich hauptsächlich vor der eifersüchtigen
Mutter des Kaisers, Agrippina) zu verschleiern, indem er sich selbst
in Acte verliebt stellte (Tac. ann. XllI 13). Das Merkwürdige ist
nicht, daß ein der Hofgesellschaft angehöriger junger Mann, der sich
zur Stoa bekannte oder im Begriff war, sich der Stoa anzuschließen,
seinem kaiserlichen Freunde, der übrigens ein Bursche von eben
17 Jahren war, einen Liebesdienst der genannten Art hat leisten können,
— warum auch nicht? — , sondern daß Seneca gerade diesen jungen
Mann der Hofgesellschaft zum Adressaten mehrerer populär-philosophi-
scher Schriften gewählt und ihn als einen gelehrigen und vertrauens-
vollen Schüler hingestellt hat^). Warum gerade diesem jungen Mann
auseinandersetzen, daß es für den Weisen weder Mißhandlungen noch
Beleidigungen gebe und daß auch der gewöhnliche Sterbliche danach
streben müsse, sich auf diesen Standpunkt zu erheben (de const.
sap. 19): daß es Wahnsinn sei, zu glauben, ein Mann könne von
einem Weibe beleidigt werden (c. 14); daß Gato, Regulus, Hercules
auf dem Holzstoß die unübertrefflichen Vorbilder der Tugend seien
1) In eiuer Gießener Dissertation vom Jahre 1909 I (W. Friedrich,
De Seneeae libro qui inscribitur de const. sap.) wird freilich be-
wiesen, daß die Schrift de const. sap. hervorgerufen ist durch Beleidi-
gungen, die sich Serenus hatte gefallen lassen müssen und die er nicht
gutwillig ertragen wollte; Seneca weise ihn deshalb zurecht, und ermahne
ihn, nur weiter kinderlosen Reichen den Hof zu machen (S. 13. 93); daß
die Schrift einem persönlichen Mißgeschick des Serenus ihre Entstehung
verdanke, hat auch Hense S. 11 vermutet. Ich kann mir nicht denken,
daß Seneca, wenn er den jungen Freund über ein ihm am Hofe wider-
fahrenes Mißgeschick hat trösten wollen, dies durch Paradoxa Stoicorum
getan hat; und gewiß nicht vor der Öffentlichkeit, in einer zur Veröffent-
lichung bestimmten Schrift.
13*
196 H. DESSAU. SCHEIFTEN SENECAS
(de tranq. 16, 4, de const. sap. 2, 1. 14, 3). Man sollte meinen,
daß es für Serenus selbst, so schmeichelhaft ihm die Dedikationen
des gefeierten Schriftstellers ohne Zweifel sein mußten, doch nicht
unbedingt angenehm gewesen sein kann, sich immer wieder auf
den Stoicismus festlegen und sich einen Tugendspiegel vorhalten und
in wiederholten Schriften seine Abhängigkeit von dem berühmten
Freunde und seine eigene Lenksamkeit feststellen zu lassen. Er hatte
noch nicht, wie dieser, die Höhe des Lebens überschritten und dachte
nicht daran, sich von der Welt oder auch nur vom Hofe zurück-
zuziehen; er verstand seine Beziehungen zu Nero auszunutzen, wie
seine Beförderung zur Praefectura vigilum, einer der wichtigsten
Stellen im Mittelpunkt des Regierungsbetriebs jener Zeit ^), zeigt.
Einen andern jüngeren Freund, den er reichlich mit Widmungen
und Ermahnungen bedacht hat, Lucilius, hat Seneca niemals auch
nur annähernd so schwach und unselbständig hingestellt wie Serenus
in den Schriften de const. sap. und de tranq. animi^); und Lu-
cilius lebte fern von Rom, in der bescheidenen Stellung (procura-
tnmcula, ep. 31, 9) eines Finanzverwalters von Sicilien, in der ihn
schriftliche Erziehungsversuche und Zurechtweisungen, vielfach aus-
geglichen durch Selbstbekenntnisse des Schreibers ^), nicht sehr stören
konnten. Ich möchte die Vermutung wagen, daß die sämtlichen
Serenus gewidmeten Schriften erst nach seinem Tode geschrieben
sind ; sie stellen mit Absicht Serenus auf drei Stufen seiner Entwick-
lung dar; dem Leser war es unbenommen, sie in die frühe Jugend-
zeit des Serenus zu versetzen, in ein Lebensalter, dem Abhängig-
keit von einem Alteren wohl ansteht; zusammengenommen sind sie,
ähnlich wie die Schrift de hrevitate vitae. ein Ehrendenkmal der
Freundschaft für einen Verstorbenen.
Gharlottenburg. H. DESSAU.
1) Der Praefectus vigilum war nicht nur Chef der Sicherheitspolizei
der Stadt Rom, sondern hatte auch mancherlei Verwaltungs- und richter-
liche Befugnisse (Hirschfeld, Verwaltungsbeamte ^ S. 256). Die Truppe,
die er befehligte, gab den Prätorianercohorten an Stärke nicht sehr viel
nach und konnte zur Not gegen diese verwandt werden. Auf den Prae-
fectus vigilum hat sich mitunter der Kaiser gegen den Praefectus prae-
torio gestützt.
2) Auch nicht ep. 34, ?,. 3) z. B. ep. 50, 2.
ÜBER EINE APORIE IN DER LEHRE VON DEN
AGGREGATZUSTÄNDEN BEI LUKREZ (II 444-477).
Die Verse II 444 — 477 im Lukrez gehören zu den verzwei-
feltsten Stellen des Werkes. Man hat auf verschiedenste Weise die
vermuteten Schäden zu heilen gesucht (vgl. die Anmerkungen in
Merrills Ausgabe). Am unzuverlässigsten und zweifelhaftesten ist
Briegers und Giussanis Um stell verfahren. Aber auch das Ansetzen
von Lücken hat seine Bedenken, da hierdurch leicht ein falsches
Bild der Überlieferung entsteht. Am glücklichsten ist Bailey ge-
wesen, weil er sich darauf beschränkt, in V. 462 das sicher Fehler-
hafte durch Kreuze anzumerken.
Lukrez hat in den Versen 408 — 425 davon gesprochen, welche
Atomformen dazu nötig sind, den Eindruck des Angenehmen und
Unangenehmen für die Sinne hervorzurufen {bona sensihns et mala
V. 408 1)), Levor ist Bedingung des Angenehmen; auch das Rund-
sein gehört nach V. 402 dazu. Squalor ruft die Empfindung des
Unangenehmen hervor. Darauf gibt Lukrez noch eine Anmerkung
darüber, wie die Atome derjenigen Dinge beschaffen sein müssen, die
titillare magis sensus quam laedere possint (V. 429).
Dann wird schließlich mit denique (V. 431) zur Ergänzung noch
die Bemerkung angehängt, daß die Sinne, insbesondere der tactiis,
die Kenntnis von diesen verschiedenen Atomformen vermitteln.
In V. 444 setzt der Dichter mit einem ganz anderen Gesichts-
1) In V. 408 ist tactu nicht allein auf mala zu beziehen, so daß
unterschieden würden bona sensibus und inala tactu. Durch tactu ist
vielmehr das Kriterium angedeutet, durch das beides gleichermaßen,
das bona sensibus und mala sensibus, überhaupt erst unterschieden
wird (vgl. V. 429 — 443). Überdies: wollte man wirklich bona sensibus
und mala tactu unterscheiden, so ergäbe sich die schon der Form nach
wenig wahrscheinliche Fassung, daß zu mala nur ein besonderer Sinn
genannt und zu bona das in beiden Fällen zu erwartende allgemeine
sensibus gesetzt wäre.
198 J. MUSSEHL
punkt ein. Vorher hat er davon gesprochen, wie die verschiedenen
Arten der Atom formen die Verschiedenheit der Sinneseindrücke
bestimmen. Jetzt beginnt er auszuführen, daß es auch darauf an-
kommt, auf welche Art in dem wirkenden Dinge die Atome mit-
einander verbunden sind und welcherart die atomistische Zu-
sammensetzung des wirkenden Dinges ist.
Da ergibt sich zunächst, daß alles Harte (Fels, Kiesel, Eisen,
Erz) durch hakige Stofie erzeugt wird, die fest aneinander durch
Verschränkung hangen {alte compacfa teneri V. 446). Dann bespricht
Lukrez den zweiten Aggregatzustand. Die Handschriften bieten:
451 lila quidem dehent ex levihus afque rutundis
esse magis, fluvido quae corpore liquida consfant.
namquc papaveris haustus itemst facilis quasi ^) aqiiarum.
nee retinentur enim inter se glonieramina quaeque
455 et perculsus item proclive volubilis extat.
Die Verse sind in ihrem Sinn klar, und ihre Anordnung bietet
keinerlei Anstoß. Lukrez vergleicht das Wasser oder besser die
Wasserteilchen (daher der Plural) — und dies ist auch nur das
nächstliegende Beispiel für alles Flüssige — mit der in einem Mohn-
kopf enthaltenen Menge Mohnkörner (so ist papaveris zu verstehen) :
„Es ist mit dem Wasser ebenso wie mit dem Inhalt eines Mohn-
kopfes. Wenn du einen Mohnkopf austrinkst 2) (haustus), so rollen
dir die kleinen glatten und runden Mohnkörner auf dem abschüs-
sigen Wege entgegen, da sie nicht fest aneinander haften, sondern
nur lose zu einer Masse verbunden sind. So auch beim Flüssigen
überhaupt. Es besteht mehr 3) aus runden und glatten Teilchen,
1) Diese Vermutung von Moriz Haupt für das handschriftliclie qmd
erscheint gesichert.
2) Wer einmal den Inhalt eines Mohnkopfs genossen hat, weiß, daß
man ihn „trinkt", und daß zu dem Bilde die Vorstellung des percellere
(V. 455) vorzüglich paßt. Denn man bricht die trockene Rosette ab,
lehnt den Kopf zurück und läßt die Mohnkörner in den Mund rinnen.
Um das „Fließen" der Mohnkörner zu bewirken und zu fördern, klopft
man beim „Austrinken" des Mohns leicht an die Wandung des Mohn-
kopfs. Papaveris haustus ist also nicht notwendig metonymisch zu fassen
nach dem Vorbild von Ovid Met. XIII 526, sondern durchaus anschau-
lich, aktivistisch. Facüis hat auch nicht eine so zugespitzte Bedeutung,
wie Men-ill will („easily moved'^), sondern bedeutet, wie gewöhnlich,
„leicht zu bewerkstelligen" (nämlich haurire).
3) Daß magis nicht anders als mit dem Verbum verbunden werden
DIE AGGREGATZÜSTÄNDE BEI LUKREZ 199
die sich ihrer Natur gemäß nicht fest aneinanderschheßen können
— denn sie sind ja nicht hamatae — , und hat darum die Fähigkeit
des Fhefsens, d. h. des leichteren Auseinandergehens. " So der Sinn.
Es ist richtig, Lukrez bietet diesen Vergleich nicht mit einem
bequemen iit — sie dar, aber vorhanden ist er wirklich, nur durch
das doppelte item (V. 453 und 455) angedeutet. Man muß nur
nicht die dichterische Form mit logischen Gesetzen meistern wollen.
Oben hatte Lukrez gesagt: das Feste entsteht dadurch, daß hakige
Teilchen da sind und sich eng verschränken. Er fährt zunächst
fort: alles Flüssige entsteht mehr aus runden und glatten Atomen
(denn wenn sie alle rund und glatt wären, könnte überhaupt kein
Zusammenhang sein; das gilt nicht einmal von den Dingen des
dritten Aggregatzustandes, V. 458). Hier nun müßte, wenn Lukrez
schematisch verführe, sofort folgen: diese können sich nicht so fest
verschränken, gewähren dadurch also ein leichteres Auseinander-
gehen (Fließen). Der Dichter tut das aber nicht, sondern setzt un-
vermittelt mit einem Gleichnis ein: „[Alles Flüssige besteht mehr
aus runden und glatten Atomen.] Hier ein Beispiel: Du machst
die Beobachtung, daß, wenn du einen Molmkopf austrinken willst,
dir sein Inhalt, d. h. die Summe seiner Teilchen — hierin liegt
der zweite Vergleichungspunkt — , wenn du sie in Bewegung setzst,
ebensoleicht entgegenfließen wie Wasser. Dies liegt daran:** Was
nun folgt, bezieht sich alles auf den Vorgang beim Leeren eines
Mohnkopfes: „Diese Mohnkügelchen {(ilomeramina), die du mit
Augen verfolgen kannst und nach deren Beispiel du dir die un-
sichtbaren Atome denken mußt, hängen nicht fest zusammen {non
retinentur inter se), sondern sind nur lose zusammengefügt (da-
von kannst du dich leicht durch Augenschein überzeugen). Wenn
kann, in V. 451 f. also nicht von der Gestalt der Atome geredet wird,
ob sie mehr oder minder glatt sind, sondern von dem Verhältnis der
Mischung verschieden geformter Grundstoffe in dem Dinge der Wahr-
nehmung, lehrt die Stellung von magis im Satz und lehren die Verse
586—5^8. Es ergibt sich also für ein flüssiges Ding dem Lukrez fol-
gendes Bild : in der Hauptsache sind runde und glatte Atome vorhanden
(damit das Flüssigsein bewirkt werde); in den Rest der im Dinge vor-
handenen Grundstoffe teilen sich diejenigen, welche bestimmte, auf die
Sinne wirkende Eigenschaften erzeugen, und die, welche noch für eini-
gen Zusammenhalt sorgen. Dabei ist die Möglichkeit nicht ausge-
schlossen, daß die Form dieser restbleibenden Atome sie befähigt, beide
Aufgaben zu gleicher Zeit zu erfüllen.
$00 J- MUSSEHL
du diese Teilchen in geeigneter Weise in Bewegung setzst — für
den Mohnkopf, von dem die Rede ist, ist das die Bewegung des
Klopfens ^), für Flüssigkeiten zunächst das Schräghalten des Ge-
fäßes, aber auch die Erschütterung 2) — , so streben alle Teilchen
prodive." Dies alles bezieht sich aber zugleich stillschweigend
auch auf die Atome, welche das Flüssigsein erzeugen, und der
Hauptton hegt auf V. 454:
nee retinentur eniin infcr se glomeramina quaeque.
Man hat diese dichterische Absicht vielfach mißverstanden und zur
Bequemlichkeit V. 454 vor 453 gestellt. Mit Unrecht. Denn die
Umstellung ist nicht nötig und übt am Wort glomeramina nur
Gewalt. Glomcramen ist nämlich an den wenigen Stellen, wo es
im Lukrez oder sonst vorkommt, stets die aus vielen Teilen zu-
sammengeballte, kugelige Masse. Man hat daher bei dem Plural
eher an einzelne Kügelchen zu denken, wie es beispielsweise die
Mohnkörner sind, als zu einer übertragenen Bedeutung wie atomiis
rotunda zu greifen. Dies wird aber bei Umstellung der Verse nötig ^).
1) Ob man das perculsus in V. 455 als Substantiv auffassen will
(einzig wiederkehrend bei Tertullian De anima 52) oder als Particip
auf 2)apaver bezüglich, ist für die Auffassung des Inhalts gleichgültig.
Beides ist möglich. Denn pa^iaver als Masculinum läßt sich, da sein
Genus in Lukrezens Gebrauch nicht ersichtlich ist (es begegnet nur
noch einmal, III 196), ohne Bedenken aus Priscian Instit. V 44 =
Gr. L. II 170, 13 K. entnehmen. Perculsus als Substantiv ergibt zwar die
Metonymie: , das Klopfen bewegt sich" = , das Geklopfte bewegt sich".
Solche Ausdrucksweise ist aber Lukrez nicht fremd. Vgl. VGOOf.: et sie
coniectus eoriim confliiit, ut . . .; voluhilis extat für vohibilis est ist für
Lukrez nicht verwunderlich. Übrigens vertritt vohibilis est hier das
Verbum volvi, daher es das Adverbium prodire bei sich haben kann.
2) Wie etwa Schaukeln oder Schlenkern einer Schale oder eines
Henkelgefäßes. Lachmanns Bedenken, denen der mittlere Ausdruck ^^ro-
cursus seine Entstehung verdankt, gehen zu weit. Wenn überdies die
Vorstellung des percellere für Flüssigkeiten weniger passend erscheint,
so liegt das daran, daß der Vergleich mit dem Mohn nicht voll durch-
geführt, sondern nur einseitig gehalten ist. Gewiß, perculsus müßte für
papaver und aquae strenggenommen gleich passende Bedeutung haben.
Aber Lukrez will den Eindruck erwecken, als handele er nur über die
Mohnkügelchen, und überläßt die genaue Durchführung der Nutzanwen-
dung auf die Atome dem Leser.
3) Die neueste Auflage des Wörterbuchs von Georges (1913) s. v.
glomeramen macht mit der Buchung der angeblich einmal zu beobach-
tenden übertragenen Bedeutung glomeramina = runde Atome Lucr. II 454
den Fehler der üblichen Lukrezauslegung mit.
DIE AGGREGATZUSTÄNDE BEI LUKREZ 201
Mit postremo (V. 456) wird als dritte Erscheinung der Aggre-
gatzustand angeknüpft, den wir den gasförmigen nennen, zu dem
nach Lukrezens Anschauung der Rauch, der Nebel und das Feuer
gehören (V. 457). Von diesen zeigt die Sinneswahrnehmung, daß
sie puncto fewporis diffiigiunt (V. 456 f.). Also dürfen ihre Par-
tikelchen nur ganz lose zusammenhängen. Wenn es aber schon vom
Flüssigen galt, daß es magis aus levihus atque rutundis besteht,
so gilt dies vom Luftförmigen noch mehr. Ein Mindestmaß von
Zusammenhalt muß aber gewahrt bleiben. Daher die Einschrän-
kung in den Versen 458 und 459^): „Die Teilchen des Luftförmi-
gen dürfen nicht alle völlig rund und glatt sein, sondern müssen,
zu einem ganz geringen Bruchteil wenigstens, eine nicht näher be-
zeichnete, wenn auch noch so geringe Fähigkeit besitzen, einen
Zusammenhang herzustellen. Hauptsache ist — wieder liegt der
Hauptton auf dem Verse, der von der Atom Verbindung handelt,
V. 459 — , daß sie nicht fest aneinandergehakt sind wie beim
Eisen usw. , auch nicht so wie beim Flüssigen : sie dürfen nicht
impedita sein und nicht aneinander haften bleiben (V. 461)." Auf
diese W^eise nur wird der Beobachtung in puncto temporis diffu-
gere ihr Recht.
Den Übergang von V. 459 zu 460 aber, der sich dem soeben
von Lukrez Ausgeführten nicht recht anzuschließen scheint, hat
Brieger (Jahrb. f. Philol. CXI 1875 S. 620) vorzüglich gekennzeich-
net. Als nämlich der Dichter die drei Beispiele für luftförmige
Körper: Rauch, Nebel, Feuer anführte, war er sich darüber klar,
daß sie auf verschiedene Weise auf die Sinne einwirken; Nebel
nicht gerade angenehm, Rauch und Feuer schmerzhaft. Jetzt war
er aber gezwungen, um der Verbindung der Atome willen der
weit überwiegenden Anzahl der Stoffteilchen von Rauch und Feuer
die Gestalt des leve und rotundum zu geben. Da fiel ihm ein,
daß dies von ihm selbst bereits als Kennzeichen des Angenehmen
bezeichnet worden war. Das war ein Widerspruch. Darum kam es
1) Man wird sich bei Merrills Auffassung von omnia = in all
respects beruhigen dürfen. Den genauen Beweis für den adverbialen
Gebrauch von omnia = omnino erbringt W. A. Bährens, Glotta V 1913
S. 85 f. Brieger (Jahrb. f. Philol. CXI 1875 S. 619) hat nur zum Teil das
Richtige gesehen. Vor allem hat er den Gegensatz der Verse 444 — 477,
die sich mit der Verbindung der Atome beschäftigen, zu dem vorher-
gehenden Teil (Verse 381 — 443) nicht klar erkannt. Das lehrt auch
seine Annahme einer Lücke nach V. 880.
202 J. MUSSEHL
ihm gelegen, daß er die Bestimmung, die in dem Gegensatz der Verse
458 und 459 verborgen liegt: „das Luftförmige muß, wenn es
auch weit überwiegend aus levibus et rotnndis besteht, doch
irgend etwas in sich führen, das sie für ein punctum t empor is zu-
sammenhalten kann" nach der Seite der Qualität hin umbiegen
konnte: „damit es die Sinne (corpus) verletzen und Felsen durch-
dringen könne" ^). Welcherart dieses Etwas sei, wird zunächst
noch nicht gesagt, sondern der Dichter verwischt seine augenblick-
liche Abschweifung auf das bereits vorher behandelte Gebiet und
nimmt mit nee tarnen hacrere inter se den Gedanken des V. 459
wieder auf. Doch das Verlangen, zu hören, wodurch das Luft-
förmige zugleich auch die Fähigkeit des compimgere sensus haben
möchte, bleibt bestehen.
Mit den Versen 464 — 477 räumt sich Lukrez eine Schwierig-
keit aus dem Wege. Darauf deutet sed. Er hatte gesagt, daß das
Flüssige mehr aus glatten und runden Atomen bestehe, weiter
oben, daß das Bittere (Unangenehme) von squalida"^) herstamme.
1) Pungere und compungere steht in V. 432 zwar anceps, ist aber
in V. 420 deutlich in malam partem gewendet Saxa ist gleichfalls von
Brieger mit Erfolg verteidigt worden. Brieger übersetzt in V. 460
gleichfalls corpus als „organischen (empfindenden) Körper". Denn wenn
corpus dies hier nicht heißt, kann von einer Umbiegung nach der Seite
der Qualität, d. h. der sinnlichen Wahrnehmung, hin nicht die Rede sein.
Nun könnte eingewendet werden, wegen des danebenstehenden saxa
liege es näher, an Körper in allgemeinem physikalischen Sinne zu
denken. Darüber kann nur eine Untersuchung des Wortes corpus bei
Lukrez entscheiden. In großen Zügen ergibt sich das Bild, daß der
Dichter den Plural corpora in erster Linie für physische Körper (Dinge)
im allgemeinen, insbesondere für die Atome (primordia, corpora prima)
gebraucht, corpus überwiegend im Sinne des einzelnen organischen, emp-
findenden oder nach menschlichem Muster gedachten Körpers. Das geht
im groben schon aus dem Löwenanteil hervor, den Buch III am Sin-
gular corpus hat. Gerade hier ist die Rede von dem beseelten und emp-
findenden Körper. Den Plural weisen die über Physik und Cosmologie
handelnden Bücher bei weitem mehr auf. Wer rechnerische Vorführun-
gen liebt, wird in folgenden Zahlen die Bestätigung finden: corpus 122
(Buch III): 242 (die übrigen Bücher), Durchschnitt 61; corpora 15:170,
Durchschnitt 31. Wenn man sich also an das Gewöhnliche hält, ist in
V. 460 die Übersetzung corpus = Sinne, empfindender Körper berech-
tigt. Eine genaue Untersuchung des Gebrauchs von corpora und corpus
bei Lukrez muß hier unterbleiben. Sie würde auch das Bild nur im
einzelnen ausführen, nicht aber die großen Grundlinien ändern.
2) Squalidum ist bloßes Negativ zu Jevor und nur allgemein zu
DIE AGGREGATZÜSTÄNDE BEI LUKREZ 203
Nun lehrt aber die Erfahrung, daß es bittere Flüssigkeiten gibt.
Wie diese Aporie lösen? Die Talsache erklärt sich aus der Zu-
sammensetzung der betreffenden Flüssigkeiten. Daher fügt sich
dieser Teil so gut hier ein. Es sind eben solche Teilchen darin
gemischt, welche allein das provolvi erzeugen {levia et roinnda:
diese sind in der Überzahl), und solche, die den dolor hervorrufen.
Diese müssen zwar sqiialida sein, aber nicht so, daß sie hamata
sind (sich verschränken können); sondern, um mitfließen zu können,
wenn sie nicht durch besondere Vorrichtung aufgehalten werden (Filtri-
rung), haben sie eine der Rundgestalt angenäherte Form {cilohosa).
Die Vorstellung ist schwer zu vollziehen, aber die Verse 468 — 470
lassen keine andere Deutung zu. Als treffendes Beispiel wird das
Meerwasser angeführt, an dem man beobachten könne, wie durch
Filtrirung sich die beiden Bestandteile deutlich voneinander scheiden.
Textkritisch ist der Abschnitt V. 464 — 477 völlig in Ordnung
mit Ausnahme von V. 467, der allerdings durch den Eindringling
aus V. 466 arg entstellt ist. Die Verbesserung ist der Sache nach
durchaus gesichert. Die am treusten das übrige Überlieferte be-
wahrt, ist vorzuziehen: est, et {squalida sunt Ulis) admixta doloris
Corpora (Bernays). Weiter: Sich um die Richtigstellung der Worte
minime mirahilc dehet zu streiten, hat sachlich nicht viel Zweck.
Man mag das dehet für verderbt halten und hahefo (Munro und
Bailey) oder anderes vermuten oder den Satz etwa so zu Ende
führen wollen : {esse) tihi videri . . . Die Hauptsache ist, daß für
das Fehlende nicht dem Dichter schuld gegeben werden kann, der
mit seinem Werke nicht fertig geworden sei. Darüber täuschen
aber Lückenzeichen ohne nähere Erklärung nur zu leicht hinweg.
Mehr als ein Vers wird überhaupt nicht ausgefallen sein, und dies
nur durch die Schuld eines Abschreibers ^).
fassen als „Unregelmäßiges, von der Rundform Abweichendes ". Wie
Angenehmes und Unangenehmes sich im Bewußtsein gegenüberstehen,
so gibt es in der Atomenwelt folgende Gegensätze: lere et rotundum-and
squalor, der sich äußert in acutum (V. 463) oder in dentatis formis, die
je nach der Schärfe des unangenehmen Eindrucks gegeneinander abge-
stuft sind (vgl. V. 427 — 429). Haben solche Atome mucrones oder sind sie
dentatae, so können sie sich auch verschränken und dadurch, wenn sie in
die Sinnesorgane eindringen, außer der Wirkung ihrer natürlichen Unregel-
mäßigkeit — um grob zu reden — ein größeres Loch reißen. Nur bei dieser
Auffassung streiten die Verse 404—407 und 424 f nicht mehr miteinander.
1) In meiner Erstlingsarbeit (De Lucretiani libri primi condicione
204 J. MUSSEHL
Wenn nun Lukrez in V. 464 ganz kurz mit sed die Aporie
einleitet, so muß er unmittelbar vorher etwas niedergeschrieben
haben, das ihn dazu veranlaßt hat, die Frage aufzuwerfen. Ande-
renfalls würde er eher mit einer in solchen Fällen beliebten Wen-
dung (wie II 225; V 1091 oder I 370; 1052; VI 1056 u. ö.) die
Aporie zunächst genauer angekündigt haben. Da der Teil V. 444
bis 477 von den Arten der Zusammensetzung der Atome han-
delt, also auch vom Flüssigen (V. 451 — 455), so ist mit größter
Sicherheit zu vermuten, daß die Nennung der mit den levia et
rotunda (aus diesen besteht ja vorzugsweise das Flüssige) in Wider-
spruch stehenden Atomformen des Unangenehmen den Dichter un-
mittelbar zu der Auseinandersetzung der Verse 464 — 477 ge-
drängt habe.
Mit derselben Erwartung hatte aber Lukrez den Leser bei den
Worten haerere inter sc (V. 461) entlassen. Die Worte
461 quodctimqiie videmus
sensihiis sedatum facile ut cognoscere possis
non e perplexis sed acutis esse elcmcntis
müssen also die Umschreibung von unangenehm wirkenden Atom-
formen enthalten. Daß dies wirklich der Fall ist, dazu weist V. 463
den Weg. Das, was den Sinnen unangenehm ist, besteht — so-
viel darf man zunächst aus dem Verse entnehmen — aus spitzigen
Atomen {acutis). Daher auch der Ausdruck conipimgere. Sie
dürfen nicht perplexa sein. Denn, zu einer Masse geformt — so
ac retractatione, Diss. Greifswald 1912) habe ich auf mehrere solche Fälle
hingewiesen. Die Feststellung der verschiedenen Arten von Lücken ist
sehr wichtig für die Überlieferungsgeschichte des Lukrez und die Frage
nach der Herausgabe des Werks von der Hand des Marcus Cicero. Im
übrigen halte ich für diese Lukrezstelle gegen Munro und Bailey einen
Ausfall für das Wahrscheinlichste. Die auffallende Ähnlichkeit des Vers-
ausganges V 666 bestimmt diese Ansicht. Man könnte sich den ausge-
fallenen Vers mit einem esse wie V 667 beginnend denken. Er kann
auch nur einen nebensächlichen Gedanken enthalten haben. Etwa:
„(das darf dir nicht wunderbar) sein, wenn du nach dem Vorhergehen-
den die Sache recht erwägst". Denn die mit nmyi beginnende Lösung
der Aporie ist vollständig erhalten. Minime mirahilc debet aber unter
Annahme einer , Ellipse" von esse für abgeschlossen anzusehen, verbietet
der Sprachgebrauch bei Lukrez. Gewiß sind manche sprachliche Härten
bei Lukrez zu finden, doch verbindet er debere stets unmittelbar mit einem
Infinitiv oder rückt es wenigstens in so große Nähe eines Infinitivs, daß
die -Ergänzung" selbstverständlich ist. Beides liegt in V. 465 nicht vor.
DIE AGGREGATZUSTÄNDE BEI LUKREZ 205
muß sich Lukrez die in iioii perplexa steckende Bedingung aus-
denken — , verlieren sie die Fähigkeit des compuncfcre. Auch
kommen sie ja im Luftförmigen vor, wie die Erfahrung lehrt
(Rauch), und dies darf überhaupt nicht perpJexiim sein. In dem
quodaimque videmus sensibus scäatuui ist also die Umschreibung
eines oumia, quae aniara sunt oder, wenn möglich, eines noch
allgemeineren Ausdrucks enthalten. Die Überlieferung ist auf keinen
Fall richtig, und Munros Versuch, sie zu halten, muß als mißglückt
gelten. Denn selbst wenn man davon absieht, daß scdatum in
Verbindung mit sensibus, mag man jenem noch seine Verbalbcdeu-
tung unterlegen oder es als Adjektiv fassen, schwerlich verstanden
werden kann, führt der Begriff sedare auf das ausgesprochene
Gegenteil von dem, was die Umgebung von dem Verse verlangt.
Lachmann hat das Richtige empfunden, als er venenumst für vide-
mus einsetzte, doch hat er an falscher Stelle geändert, da gegen
videmus an sich nichts einzuwenden ist. Wenn man sich ent-
schließt, in sedatum ein esse datum zu sehen, wie Bernays, Brieger
und Merrill es tun, ist der Weg zu dem nicht weit, was mit einiger
paläographischen Wahrscheinlichkeit V. 408 (vgl. dazu S. 197 A. 1)
nach Lukrezens Sprachgebrauch ohne weiteres an die Hand gibt :
sensibus esse maluni.
Nimmt man dies als brauchbar hin, so erhebt sich sofort die Frage,
wie das zusammenhängende Satzgebilde V. 456 — 463 aufzufassen sei.
Gewiß, die vorgeschlagene Verbesserung macht das Satzgebilde kühn,
aber nicht unmöglich. Der Satz gliedert sich äußerlich so: oninia
(sc. quae aeris similia sunt) necesscst non pcrplcxis indupcdita
esse neque haerere intcr sc, {ita) ut cognoscere jJossis, quodcuni-
que sensibus mahnn esse videmus, noti e perplexis scd acutis esse
elementis. Auffallend ist, daß der durch den relativischen Ausdruck
etwas ausgedehnte Subjektsbegriff dem cognoscere ut possis voran-
geht, während man von einem consecutiven ut erwartet, daß es
sich möglichst eng an den Satz anlehne, aus dem es die Folgerung
zieht. Doch eine kurze Betrachtung des Gebrauches der Redeweise
cognoscere (oder eines ähnlichen Verbums) ut j^ossis bei Lukrez
lehrt, daß es sich hierbei um eine Formel handelt, die größeren
Satzgebilden ganz frei angehängt wird. Vgl. 1 751 (davor 5 Verse),
II 121 (davor 7 Verse), III 124 (davor 7 Verse). Hauptsächlich
kommt III 588 in Betracht. Hier gehen gar mehr als 8 Verse, die
in Frageform gehalten sind, voraus, und man hat die Folgerung
206 J- MUSSEHL
mit ut noscere possis für so frei angesehen (durchaus gleich einem
griechischen mote), daß man gegen die Forderung der Satzghede-
rung bereits hinter foramina (V. 588) das Fragezeichen gesetzt hat,
das strenggenommen erst hinter aiiras (V. 591) zu erwarten wäre.
Ebenso darf man sich in II 461 helfen, etwa durch einen Doppel-
punkt vor quodcumque, imd wenn man die freie Verwendung der
Formel cognoscere ut possis anerkennt, verliert die Voransetzung
des langen Subjektsbegriffs, die zunächst als kühne Verschränkung
erscheinen möchte, immerhin ihr erstaunliches Ansehen. Doch selbst
wenn man diesen Weg nicht einschlägt: es fehlt im Lukrez nicht
an Beispielen solcher Verschränkungen, die in kleinerem Rahmen
meist dem Versbedürfnis entsprungen sind. Vgl. III 117 und 418;
IV 157 und 642 ;V 1185. Auch III 180 f. gehört hierher. Denn es mu&
im Gegensatz zu III 46 (vgl. Heinze zu III 180) so construirt werden:
ita esse ut pcrnoscere possis, liinc licet animadvertas animnni.
Ist aber auch nach Annahme der vorgeschlagenen Verbesserung
das Satzgebilde seiner Form nach nicht anstößig, so muß doch über
den Gedankenfortschritt nach den Worten haerere intcr se noch ein
Wort gesagt werden. Es stehen sich im Verhältnis von Grund und
Folge die Sätze gegenüber: „Das Luflförmige darf nicht ausschließ-
lich aus glatten und runden Atomen bestehen. Bedingung ist nur,
daß es nicht durch sich ineinanderhakende Atome verhindert werde
(d. h. an dem diffug er e puncto temjjoris)" und: „Du siehst also, daß
das, was den Sinnen unangenehm ist, nicht aus solchen Atomen besteht»
die die Fähigkeit haben, sich zu verwickeln, sondern aus spitzigen"^).
1) Schwieriglieit macht der allgemeine Ausdruck qtiodeumque. Ist
es denn wahr, daß alles, was den Sinnen unangenehm ist, aus non per-
plexa und acuta besteht? Nach den vorhergehenden Abschnitten des
zweiten Buchs muß das verneint werden. Zunächst ist sicher, daß für
die luftförmigen Körper nur solche Schmerzerreger passen, welche sich
nicht verhaken können, d. h. acuta, die man sich in Lancettform denken
mag- Über die Atomforraen, die beim Flüssigen den unangenehmen Ein-
druck hervorrufen, ist oben S. 202f. gehandelt. Bei festen Körpern können
die Schmerzerreger durchaus hamata sein, da sie damit nicht die Zu-
sammensetzung der betreflfenden Dinggattung stören. Es ergibt sich also
für die Schmerzerreger von den flüssigen bis zu den festen Körpern eine
durchgehende Abfolge von Formen (vgl. S. 202 A. 2), worauf auch V. 405
deutet, in dem rnagis wohl zu hainatis zu ziehen ist. Luftförmige Körper
müssen aus den angedeuteten Gründen (vgl. S. 204) eine besondere Atom-
form für die Erzeugung des unangenehmen Gefühls aufweisen. Sie bot
sich in den acuta, die die Forderung des compungere erfüllten, aber wohl
DIE AGGREGATZUSTÄNDE BEI LUKREZ 207
Wie die Bestimmung des V. 460 in die Auseinandersetzung über
die Arten von Atom verbin dun gen hineingeraten ist, hat, wie
oben ausgeführt, Brieger gesehen. Nur muß noch vor einem Ein-
gritr gewarnt werden, der nahehegen könnte, nämhch V. 460 vor
459 zu setzen, um eine vermeinthch richtige Folgerung zu erzielen.
Denn diese Gedankenfolge könnte berechtigt erscheinen: ,Das Luft-
förmige besteht nicht ausschliefslich aus runden und glatten Atomen;
denn es muß, wie z. B. der Rauch, die Sinne verletzen können;
sondern Bedingung ist nur, daß es nicht aus fest sich ineinander-
hakenden Stoffen besteht." Vielmehr geht der Gedankengang wie
der ganze Abschnitt V. 444 — 477 von den Atom v er bin dun gen
aus: „Das Luflförmige darf nicht völlig aus glatten und runden
Grundstoffen bestehen (vielmehr muß ein Mindestmaß von Zusam-
menhalt gewährleistet sein); Bedingung ist nur, daß es nicht aus
fest ineinander sich hakenden Teilchen besteht."
Die Bestimmung nun, die erst durch die Gegenüberstellung
von si minus — at tarnen erreicht wird, daß nämlich Grundstoffe
irgendwelcher Art da sein müssen, die jenes „Mindestmaß" er-
zeugen — für ihre Ausdenkung bietet die bloß negative Bestim-
mung des V. 459 Raum — , wird umgebogen nach der Seite der
Qualität hin, um die durch die Erinnerung an die Qualität der so-
eben als Beispiele gewählten Dinge entstandene Schwierigkeit unter-
zubringen. Die Aussage quodcumque videimis sensibiis esse niahiin,
non e perplexis sed acidis esse eJementis folgt aber, wie die Gleich-
heit der Worte schon ergibt, nur mJt ihrem negativen Teil aus dem
Vorhergehenden: „Das Luftförmige, von dem manches (wie du aus
den Beispielen ersiehst) die Sinne verletzt, stellt die Bedingung, daß
die Teilchen (die nicht rund und glatt sind; denn von denen braucht
nicht weiter geredet zu werden), von welcherlei Form sie auch sein
mögen, nicht fest zusammenhängen. Du siehst also", so wird richtig
geschlossen, „daß das, was den unangenehmen Eindruck (wohlver-
standen: bei dem Luftförmigen) hervorruft, nicht perplcxum ist und
auch nicht sein kann." Denn wenn es vächi non perplexum \vdiXQ,
könnte es keine luftförmigen Körper geben, die die Sinne verletzen,
im Durchschnitt als rund und an der Oberfläche als ein wenig gerauht
zu denken sind (um das verlangte Mindestmaß von Zusammenhalt zu
gewährleisten). Hieraus ergibt sich, daß der Ausdruck quodcumque sen-
sihiis esse malum vi(kmus nicht absolut allgemein zu verstehen ist, son-
dern nur auf das Luftförmige abzielt, so daß es gleich ist einem quod-
cumque in hoc rerum (sc. aeris simüium) genere sensibus esse malum videmus.
208 J- MUSSEHL
was wider die Erfahrung ist. Der Dichter beruhigt sich aber nicht
bei der negativen Feststellung, sondern sowohl aus sprachlichem
Ebenmäßigkeitsgefühl, als auch weil bei dem Leser das natürliche
Verlangen vorhanden ist zu hören, wie geformt wohl die im Luft-
förmigen unangenehm wirkenden Teilchen sein möchten, läßt er
auf die negative Bestimmung mit den Worten scd actitis esse ele-
mentis die positive Erklärung folgen ^). Diese ergibt sich gewiß
nicht als logisch strenge Folgerung, aber Lukrez wirft damit das
Wort in die Auseinandersetzung, an das er mit sed (V. 464) un-
mittelbar die oben bezeichnete Aporie anknüpfen kann. Es ist
darum eine arge Zerstörung des Zusammenhanges, wenn man, wie
Brieger und Giussani, nur darum, weil die Verse 464 — 477 von
bestimmtem Flüssigen handeln, die Aporie an V. 455 anknüpft.
Vielmehr ist der Übergang so: „Für das Luftförmige, das weit
überwiegend aus levia et rotimda besteht, erhebt sich sehr bald
die Frage, wie in ihm die schmerzerregenden Teilchen wohl be-
schaffen sein mögen. Aber auch beim Flüssigen, das in der Mehr-
zahl glatte und runde Teilchen aufweisen muß, zum Teil aber als
amariim bekannt ist, liegt dieselbe Schwierigkeit vor, die in ihrer
Art gelöst werden muß."
Man mag eine solche über das logisch Zulässige hinaus-
gehende Schlußfolgerung, wie sie in dem sed acnfis clementis
liegt, in strenger philosophischer Prosa tadeln; dem Dichter muß
man diese Freiheit hingehen lassen^), zumal deutlich zu erkennen
ist, durch welche inneren Gründe sie hervorgerufen ist. Das sprach-
hche Ebenmäßigkeitsgefühl ist dabei nicht einmal das Unwichtigste.
Auch daß Lukrez mit V. 460 eine Umbiegung begeht, die von dem
Leitgedanken der Verse 444 — 477 abschweift, kann ertragen wer-
den, zumal ihm dies Verfahren die Brücke zu der Aporie in V. 464
bis 477 bilden muß.
Solch ein Durcheinandergehen zweier Beweisreihen ist überdies
1) Daß der Dichter gerade hier im Vorübergehen diese Bemerkung
eingefügt hat und darauf verzichtet, einer Darlegung der verschiedenen
unangenehm wirkenden Atomformen einen besonderen Teil des Buches
einzuräumen, muß hingenommen werden. Man darf nicht in den Fehler
von Brieger und Giussani verfallen, mit dem Dichter rechten zu wollen.
Selbst dann würde ein solches Verfahren unberechtigt sein, wenn die
Vorlage des Lukrez in genauem Wortlaut bekannt wäre.
2) Es liegt hier ein ähnlicher Überschuß vor, wie ich ihn in der S. 203
A. 1 genannten Schrift S. 60f. für 1250-264 festgestellt habe.
DIE AGGREGATZUSTÄNDE BEI LUKREZ 209
im Lukrez auch an ganz untadligen Stellen seines Werkes nicht
ohne Beispiel. Ein Fall liegt gleich in den ersten Abschnitten des
zweiten Buches (V. 62 — 141) vor^). Mit den Versen 62 — 66 ver-
spricht Lukrez, daß er erklären wolle, (juo atomorum motu res
variae gignantur et qua vi (= quibiis de cansis) motum facere
cogantiir primordia, d. h. er will beweisen, daß es aus diesen oder
jenen Gründen eine Bewegung der Atome überhaupt gibt. Er
fängt auch positiv an zu beweisen, daß aus der durch Erfahrung
bewiesenen Veränderung der Dinge geschlossen werden müsse, daß
die Atome eine Bewegung hätten (V. 67—79). Dann geht er zu
einem Beweis e contrario über und kündigt an: si imtas cessarc
posse afomos, erras. Diesen Beweis führt er aber nicht rein durch,
sondern ihm kommt in den Sinn, daß er auch über die verschie-
denen Arten der Bewegung sprechen müsse: aiit gravitate sua
ferri primordia rerum aut ictu forte aUerius (V. 84 f.). Er ver-
mischt dadurch zwei Reihen von Darlegungen, die getrennt so aus-
gesehen haben würden:
1. Beweis dafür, daß es eine Bewegung der Atome gibt:
a) positiver Schluß: aus den sichtbar sich verändernden Dingen,
b) negativer Schluß: aus der Tatsache des Fallens und dem
Wesen des unendlichen Raumes;
c) Beispiel: die Sonnenstäubchen.
2. Die zwei Arten von Atombewegung:
a) Bewegung aus eigener Schwerkraft (primäre Bewegung),
b) Bewegung durch Stoß anderer Atome (sekundäre Bewegung).
Die Sachlage wird aber überdies dadurch noch verwickelter, daß
Lukrez aus der Darlegung 2 schon einige praktische Folgerungen
zieht: solche Atome nämlich, die aneinanderprallen , erzeugen die
Dinge, seien es harte, wie Felsen und Eisen, oder dünne (weiche),
wie Luft und Licht (V. 98 — 108); solche aber, bei denen es zu gar
keinem Zusammenprall mit anderen Atomen kommt, (c/ravitate sua)
per inane vagantur (V. 109).
Daß die beiden angedeuteten Reihen durcheinandergehen, ist
am klarsten aus dem Beweis 1 b zu ersehen. Dort zieht der Dichter
zunächst weiter keinen Schluß als quod quoniam constat, nimi-
rum nulla quies est reddita corporihus primis (V. 95 f.), d. h. es
1) Hierüber habe ich in meiner S. 203 A. 1 genannten Schrift
S. 17 f. bereits gehandelt, setze aber dieses vielsagende Beispiel in vollem
Umfange noch einmal hierher.
Hermes LIII. 14
210 J. MUSSEHL, DIE AGGREGATZUSTÄNDE BEI LUKREZ
gibt eine stete Atombewegung; dann aber zieht er, bewogen durch
die Ankündigung der Verse 84 f. die soeben dargelegten praktischen
Folgerungen. Darauf will er an einem Beispiel die Art von Atomen
klarmachen, welche conciliis rerum reiecta sunt (V. 110) und zu
welchen ihn der einmal eingeschlagene Seitenweg, wenn man über-
haupt so reden darf, geführt hat. Dazu erscheinen ihm die Sonnen-
stäubchen sehr geeignet, und in diesem Sinne beweist oder viel-
mehr vergleicht er auch in den Versen 112 — 124. Dann aber
kommt ihm der Gedanke zurück, daß er das Vorhandensein
einer Atombewegung zuallererst zu beweisen unternommen habe.
Darum biegt er dasselbe Beispiel der Sonnenstäubchen allein im
Sinne dieses Existenzbeweises um. Vgl. V. 127 f.:
quod tales turbae motus qtioque materiai
significant clandestinos caecosque suhesse
und V. 132: scüicet hie a principiis est omnibus error.
Man wird dies vom Standpunkt des Philosophen unklar oder
gar verworren nennen und sich bemühen dürfen, die Scheidung
der Beweise wieder vorzunehmen. Aber Lukrez ist Dichter, und
als solchem darf ihm daraus kein Vorwurf gemacht oder gar die
ganze Darlegung für unzulänglich und unfertig gehalten werden.
Sie ist vielmehr völlig in Ordnung, und die Verschlingung der beiden
Beweisreihen, in erster Linie die doppelte Wendung desselben Bei-
spiels, ist so geschickt und künstlerisch durchgeführt, daß man sich
wird hüten müssen, über die bloße Feststellung der Tatsache hinaus-
zugehen. Auf Grund dieser Vergleichung wird man endlich auch für
die Verse 444 — 477 zu keinem wesenthch anderen Urteil gelangen.
Es muß für die Arbeit am Lukrez Grundsatz bleiben, daß das,
was sprachlich richtig ist und sachlich ausreichend erklärt werden
kann, für abgeschlossen angesehen wird. Urteile, die da besagen,
der Dichter hätte geschickter so oder so schreiben müssen, sind
wertlos. Wie, wenn Lukrez aufstünde und erklärte, er würde trotz
der zusammengedrängten Darstellung in den Versen 444 — 477, trotz
aller Schwierigkeiten ihrer Erklärung, sie so belassen haben, wie sie
jetzt in den Handschriften stehen? Sein ästhetisches Urteil mag (im
Lukrez wenigstens) jeder für sich haben, aber allein hiernach irgend
etwas philologisch entscheiden zu wollen, ist Überhebung.
Berlin -Tempelhof. JOACHIM MUSSEHL.
DIE GRABSCHRIFT DES PHILOSOPHEN lULIANUS.
Im Jahre 1861 kam bei Eisenbahnbauarbeiten an der Via Latina,
etwa 600 m vom Tore, ein Inschriftcippus zutage, der, einem Philo-
sophen luHus luhanus gesetzt, in historischer Beziehung ein nicht
gewöhnhches Interesse beanspruchen darf. Der Stein ist von Kieß-
ling, der ihn kurz nach der Auffindung gesehen, im Bull. d. Inst,
arch. 1862 S. 7 (nach seiner Abschrift dann CIL VI n. 9783;
wiederholt von Bücheier, Carm. epigr. n. 1342 und Dessau, Inscr.
sei. n. 7778) pubhcirt worden. Seitdem schien er verschollen. Ich
habe ihn im Frühjahr 1913 im Thermenmuseum (im Garten links
vom Eingang zu den Verwaltungsräumen) wiedergefunden und
copirt. Die Inschrift ist eingehauen mit guten Buchstaben des aus-
gehenden zweiten oder beginnenden dritten Jahrhunderts n. Chr.,
ein chronologisches Kriterium, das für die Beurteilung des Inhalts
ausschlaggebend sein muß. Ich setze den Text nach meiner Ab-
schrift noch einmal her:
. D • M • S .
IVLIO I VLI AN 0
VIRO • MAGNO • PHI
urceus L 0 S 0 P 0 • P R I M 0 9^ ^,^,,
5 HIC- CVM-LAVRV-FE
RET . ROMANIS • lAM
RELEVATIS-RECLV
SVS'-CASTRIS-INPI
A . MORTE • PERIT-
Von sprachlichen Erscheinungen weist die Schreibung pMlo-
S02)0 (nicht filosofo) und ebenso die nichtassimilirte Form in2)ia
ebenfalls auf eine Zeit, die jedenfalls vor der Mitte des dritten
Jahrhunderts liegt. Dies ist der äußerste terminus ante quem;
einen späteren Zeitansatz schließen Schriftcharakter und Orthographie
gleichermaßen aus. Das Fehlen des Praenomens widerspricht dieser
chronologischen Fixirung der Inschrift nicht; von den solennen
tria noynina, wie sie zur regulären Namensbezeichnung des er-
14*
212 M. BANG
wachsenen römischen Bürgers seit dem Beginn der Kaiserzeit
gehören, bleibt gelegenthch einmal schon im ersten Jahrhundert i),
ziemlich häufig dann seit der Mitte des zweiten 2), auch auf Grab-
inschriften^), der Vorname weg. Z. 5 — 9 bilden ein Distichon,
das freilich nichts weniger als formvollendet ist. Lai(rii(m) fer(r)et
und inpiä mortc sind böse Schnitzer, aber bei dieser Art von
Poesie nicht eben verwunderlich. Z. 7 sind die ersten drei Buch-
staben getilgt (aus welchem Grunde, ist nicht ersichtlich), aber
noch gut lesbar.
Eine Erklärung der Inschrift hat Mommsen in einer längeren
Anmerkung zum Corpustexte zu geben versucht. Er denkt an eine
Befreiung Roms von einem feindlichen Angriff, bei welcher Gelegen-
heit unser lulianus sich, um Lorbeer zur Siegesfeier zu holen,
zu weit aus der Stadt gewagt habe und in die Hände der Feinde
gefallen sei, die ihn dann in ihr Lager geschleppt und dort getötet
hätten. Zugetragen habe sich dieser Vorfall vielleicht im Jahre 307,
gelegentlich einer der beiden damals gegen Maxentius, zuerst von
Severus, dann von Galerius unternommenen Expeditionen, die beide
erfolglos verliefen ; zumal zu der zweiten passe nach dem, was die
1) Beispiele bieten u. a. die Akten der Säkularspiele des Augustus
(Z. 107 Asinius Gallus; derselbe Z. 151 C. Asinius) und die Arvalakten
der Jahre 57 — 60 (Sulpicius Camerinus) und 72.
2) S. z. B. die Listen der equites singulares CIL VI 31150 (J. 142)
u. 225 (J. 200), das Dekurionenverzeichnis der fabri tiffnuarii VI 33856
V. J. 154 und die Arvalakten von 119. 155. 183. 186. 193; femer die
Weihinscbriften VI 791 (J. 11.5). 404 (1. Drittel). 1009 (J. 140). 31148
(desgl.). 631 "(J. 177). 861 (J. 181). Belege aus dem 3. Jahrb. anzuführen
erübrigt sich.
3) Von kaiserlichen Freigelassenen, die ihr Praenomen weglassen,
finde ich mehrere FlarAi (CIL VI 8610. 8971. 18185. 18395. 35310), Ulpü
(VI 8512. 8762. 8891. 8979. 29226. 29294), Aelii (VI 2997. 5308. 9008. 10718.
10853. 15983. 27099), zahlreiche Aurelii (VI 5339. 8511. 8697. 8745. 9057.
9087. 10209. 10840. 12989. 12994. 13060. 1.3084. 13181. 13221. 13256. 15860.
17920. 23272. 28283 u.a.m.), endlich einen Seinimius (VI 9028; Frei-
gelassene des Severus begegnen überhaupt verhältnismäßig selten). Seit
dem Ende der Severischen Epoche wird diese Form der Nomenklatur
die Regel, so daß die zweistelligen Namen (Nomen und Cognomen) im
allgemeinen ein Charakteristikum der Spätzeit bilden. Aber, wie gesagt,
ein unbedingt sicheres Kennzeichen dafür sind sie an sich nicht. Da
eine systematische Behandlung dieser nicht unwichtigen Frage meines
"Wissens noch aussteht, schien es mir nicht überflüssig, wenigstens mit
ein paar kurzen Worten darauf einzugehen.
GRABSCHRIFT DES PHILOSOPHEN lULIANUS 213
Schriftsteller darüber erzählten, die in dem Epigramm sich wider-
spiegelnde politische Situation. Dieser Deutung hat sich Dessau
angeschlossen, während Bücheier die Inschrift zeitlich noch um ein
volles Jahrhundert hinabrücken und auf die Vergewaltigung Roms
durch Alarich beziehen möchte.
Demgegenüber ist zunächst zu bemerken, daß, wie eingangs
hervorgehoben , der Stein dem Buchstabencharakter nach , der
mangels sonstiger genauerer chronologischer Indicien für die zeit-
liche Bestimmung in erster Linie maßgebend sein muß, nicht ins
vierte oder gar fünfte Jahrhundert, sondern spätestens in den Anfang
des dritten gehört. Alle Versuche, zwischen dem Epigramm und
den politischen Verhältnissen der Spätzeit eine Beziehung herzu-
stellen, sind somit gegenstandslos.
Aber auch davon abgesehen, fordert die Mommsensche Inter-
pretation zum Widerspruch heraus. Cum laurii{m) fer{r)et kann
unmöglich bedeuten 'cum extra urhem processisset ad petendam
laurum victoriae cclebrandae causa", sondern nur 'als er sich mit
dem festliclien Lorbeer geschmückt hatte' und ist, wie mir scheint,
in dem Sinne zu verstehen, daß lulianus, vom Taumel der all-
gemeinen Festesstimmung, die ob der 'Erleichterung' der Be-
völkerung Roms sich bemächtigt hatte, ergriffen, sich lebhaft an
den Freudenkundgebungen der Menge beteiligt habe. Worin diese
'Erleichterung' aber bestanden, kann meines Bedünkens nicht
zweifelhaft sein. Belevari heißt 'von einer Last, einem Druck
befreit werden', und wenn die Römer hier als relcvati bezeichnet
werden, so wird man dem Wortsinne gemäß eher an eine Befreiung
vom Tyrannenjoche als an die Vertreibung eines vor die Stadt
gerückten Feindes zu denken haben. Es ist das erleichterte Auf-
atmen eines von Despotismus niedergedrückten und gequälten Volkes,
das hier in diesem Worte zum Ausdruck kommt.
Was sodann die castra anlangt, in denen der Philosoph sein
Leben ließ, so kann bei dem Fehlen jeglichen Determinativs nur
an ein als allgemein bekannt vorausgesetztes Lager gedacht werden,
nämUch eine Kaserne der hauptstädtischen Garnison, und dazu
stimmt der Ausdruck reclusus, der entschieden eine reguläre Ver-
haftung und Einsperrung besagen will^). Daß in der Kaiserzeit
1) Wie bei lustin XXVI 1, 7 : {conmges liberique exulum Eleorum)
in carcerem reduduntur; vgl. auch TertuU. de idol. 17 a. E. : neminem
vinciat, neminem rcchidat mit torqueat.
214 M. BANG
im öffentlichen Sicherheitsdienst neben der bürgerlichen Haft, für
die bei schwereren Kriminalfällen in Rom vorzugsweise das Staats-
gefängnis am Markt in Frage kam, die militärische eine wesent-
Hche, wenn nicht die Hauptrolle gespielt hat, ist bekannt^), und
es liegt auf der Hand, daß die stadtrömischen Mihtärgefängnisse
in den Standlagern der Garnison zu suchen sind. So steht die
Verwendung der auf dem Caelius gelegenen castra peregrina für
die Inhaftirung festgenommener Civilpersonen außer Zweifel 2),
wie denn die hier in Quartier liegende Truppe, die frumentarii,
die Ausübung polizeilicher Funktionen zu ihren wesentlichsten
Aufgaben zählte^). Auch die Chefs der Municipalgarde und der
Feuerwehr, der Stadtpräfekt und der praefedus vigilum, haben
wie mit der Sicherheitspolizei so auch mit dem Gefängniswesen
erwiesenermaßen zu tun gehabt*), und Internirung von Häfthngen
im Prätorianerlager ist zum mindesten wahrscheinlich, wenngleich
sich direkte Belege dafür nicht beibringen lassen^). Welche von
den in Betracht kommenden Kasernen der hauptstädtischen Truppen-
körper — außer den genannten hatten auch noch die equites
singulares ihre eigenen castra — in unserer Inschrift gemeint
ist, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden. Am nächsten liegt
es, an das große Prätorianerlager zu denken, das, weil es an Alter
und Bedeutung alle anderen überragt, oft schlechthin castra heißt •'j.
1) Hirschfeld, Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1891 S. 858f. (Kl. Sehr.
S. 590f.); Mommsen, Strafrecht S. 315fi'.
2) Mommsen, Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1895 S. 501 (Ges. Sehr. VI
S. 552 f.), Strafr. S. 316.
3) Henzen, Bull. d. Inst. arch. 1884 S. 24 ff.; Hirschfeld a. a. 0. S. 856
(Kl. Sehr. S. 588). Über die eigentliche und ursprüngliche Aufgabe der
frumentarii äußert eine andere Auffassung Paribeni, Rom. Mitt. XX
(1905) S. 313ff.
4) Mommsen, Strafr. S. 316; v. Domaszewski, Rangordnung d. röm.
Heeres S. 18 (Nr. 16). 12 (Nr. 21). 14 (Nr. 30); vgl. Hirschfeld a. a. 0.
S. 848 ff. (KI. Sehr. S. 579 ff).
5) Die Charge des OjJtio carceris begegnet jedenfalls auch bei den
Prätorianern (v. Domaszewski a. a. 0. S. 24 Nr. 29). Über die ebenfalls
bei der Garde sich findende dienstliche Funktion a commentariis custo-
diarum s. Hirschfeld, Kl. Sehr. S. 591 A. 2; v. Domaszewski a.a. O. S. 21. 76.
6) So ganz allgemein bei den Schriftstellern, namentlich bei Tacitus ;
castra Av(j{usti) nennt es die Inschrift des Bronzegewichts Dessau n. 8639.
Zu vergleichen ist der nur von Centurionen des Prätoriums geführte
Rangtitel j^trinceps castrorum (so [seit Hadrian?] im Gegensatz zum
GRABSCHRIFT DES PHILOSOPHEN lULIANUS 215
Man vergegenwärtige sich also die Situation : Rom ist von
einem Alp befreit. Freudig erregt und demonstrirend zieht die
Menge durch die Straßen. Auch unser Philosoph wird von der
allgemeinen Begeisterung erfaßt und manifestirt mit. Es kommt
zu einem Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht. Die Haupt-
schreier werden festgenommen, unter ihnen lulianus. Er wird ins
Gefängnis gesteckt und läßt hier, ohne förmliches Verfahren und
ohne Richterspruch — das ist inpia morte — unter Soldatenhänden
sein Leben.
Wenn man nun die Zeit der Inschrift bedenkt, so ergibt sich
meines Erachtens unschwer die historische Beziehung für den in
ihr geschilderten Vorgang, Am 3L December des Jahres 192 fiel
Commodus von Mörderhand. Hoch und niedrig atmete auf, und
das allgemeine Gefühl der Erleichterung brach sich mit elementarer
Kraft Bahn. Wenn je etwas, so bedeutete sein Tod eine relevatio
für die Römer und ward damals von jedermann als solche empfun-
den^). Das Volk zog jauchzend und lorbeergeschmückt durch die
Straßen 2) und feierte mehr noch als den neuen Herrscher den Tod
des alten. Der Senat sprach den feierlichen Fluch über das An-
denken des 'Tyrannen' aus 3); er ließ Münzen mit der Aufschrift
Uheratis civibus schlagen *) und eine Bildsäule der Freiheitsgöttin
aufstellen ^). Allein das Militär, insbesondere die Prätorianer , ver-
hielt sich reservirt, ja feindselig. Ihm gefiel die Neuordnung der
Dinge nicht, und wenn sie sich auch äußerlich fügten, so machten
die Gardisten aus ihrem Bedauern über den Sturz des Commodus
kein Hehl^). Mit Not und Mühe wurden blutige Zusammenstöße
mit der Bevölkerung vermieden''), und es läßt sich sehr wohl
pi'inceps castrorum peregrinorum)'^ s. Mommsen, Eph. epigr. IV S. 241f.
(Ges. Sehr. VIII S. 378f.; vgl. ebd. S. 427 A. 1 u. Bd. VI S. 551 A. 2);
V. Domaszewski a. a. 0. S. 101 f.
1) S. die Schilderung Dios LXXIII 2, 1 — 4 und die ganz ähnlich
lautende Herodians II 2, 3—4 (vgl. dazu Baaz, De Herodiani fontibus,
Diss. Berl. 1909 S. 27ff.).
2) 'Er&ovGiojvTi ioixMg ißaxx^vEto (Herod. II 2, 3) — dacpvrjcpoQovvxes
(ebd. 2, 10).
3) Die LXXIII 2, 1; vita Comm. 17, 6; 18-20.
4) Cohen III 2 S. 393 Nr. 28. 29.
5) Herod. I 14, 9.
6) Die LXXIII 1, 3; Herod. II 2, 9; 4, 4; vita Pert. 6, 3.
7) Herod. II 2, 4-5. 9.
216 M. BAKG, GRABSCHRIFT DES PHILOS. lULIANUS
denken , daß die Soldaten , wo sie nur konnten , ihr Mütchen an
den anders gesinnten Bürgern gekühlt haben; zumal die mit poli-
zeilichen Befugnissen ausgestatteten werden ihrem Unmut über den
plötzlichen Wechsel durch zahlreiche Übergriffe und Verhaftungen
Luft gemacht haben. So wird auch unser lulianus ein Opfer der
Übellaune und Rachsucht des Militärs geworden sein^).
Über die Persönlichkeit und Bedeutung dieses 'Philosophen
ersten Ranges' sonst etwas zu ermitteln, ist mir nicht gelungen 2).
Er scheint wie alle die anderen römischen Berufsgenossen, von
denen die Steine uns Kunde geben ^), kaum mehr als ein mittel-
mäßiger Durchschnittsvertreter seines Faches, ein Schulprofessor, wie
sie zu Hunderten in der Hauptstadt lehrten, gewesen zu sein. Was
ihn für uns über dieses Niveau hinaushebt und interessant macht
ist lediglich sein tragisches Ende.
Berlin. M. BANG.
1) Man könnte auch an die gleichartigen Zustände in Rom nach
der Ermordung des Caracalla (vgl. Die LXXVIII 9; Herod. V 2, 1-2)
oder des ersten Maximinus (Herod. VH! 6, 7 — 8; Schiller, Kaiserzeit I, 2
S. 795f.) denken; aber die Beziehung auf Commodus' Tod paßt, wie mir
scheint, weit besser, und auch aus den oben S. 211 f. angegebenen äußeren
Gründen möchte ich an dem vorgeschlagenen Zeitansatz festhalten.
2) Der Name ist laut Ausweis der Inschriften so häufig in Rom,
daß sich aus ihm nichts entnehmen läßt.
3) CIL. VI 9784. 9785 (zwei philosophi Stoici). 37813 (pMlosophus
Epicureus); IG. XIV 1088 {[(pd]6ao(pog .-Tegi:iau]T[iy.6g]). 1149,1. 1589(9). 1887.
MISCELLEN.
DRUSUS GASTOR.
In dem Berichte, den Gassius Dio in zeitlicher Folge über die
Geschehnisse unter Tiberius geben zu wollen erklärt (LVII 14, 1),
werden auch über Drusus, den Sohn des Tiberius, einige für sein
ärgerniserregendes Wesen bezeichnende Züge erzählt, die in das
Jahr seines ersten Gonsulates (15 n. Chr.) fallen. Da heißt es unter
anderm (14, 9) rfj /uevroi ögyf] ovto) yaleTifi ixgfjro coore xal
jiXvjyäg innei enicpavei dovvai y.al diä lovio xal KdoTCog jcagco-
vvfjiiov laßsiv. Es handelt sich also um einen Spottnamen, der
dem jähzornigen Prinzen dafür beigelegt wurde, daß er sich von
seiner Leidenschaft so weit hinreißen ließ, einen vornehmen römischen
Ritter^) zu prügeln. Warum wurde er gerade Gastor genannt?
Ich finde bei den neueren Gommentatoren keine befriedigende Er-
klärung dieses Beinamens. Boissevain gibt zur Erläuterung die
Randnotiz „c/'. Hör. ep. 1,18,19'^. Wer nun die Horazstelle nach-
schlägt, findet sich enttäuscht. Horaz richtet in dieser Epistel eine
Mahnung an seinen jungen Freund Lollius (Maximus), sich im
Verkehre mit hohen Herren eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen
und z. B. Meinungsverschiedenheiten in geringfügigen Dingen nicht
auf rechthaberische Weise auszutragen: ambigitiir quid enim?
Castor sciat an Docilis 2^^'^s? So wählt also der Dichter als
Beispiel für einen solchen Gegenstand des zu vermeidenden Streites
die Frage, ob Gastor den Docilis an Können übertrifft oder um-
gekehrt. Die Genannten sind wohl Künstler, sei es Schauspieler
oder Pantomimen oder Gladiatoren. Was Porphyrio z. St. bemerkt,
1) Der Ausdruck iTiJievg Imq^avrjg ist Übersetzung der gebräuchlichen
Bezeichnung eques ülustris. An Seian ist hier natürlich nicht zu denken,
von dem Tac. ann. IV 3 berichtet, er sei von Drusus geohrfeigt worden ;
denn dies geschah erst im J. 23, und dieser Vorfall wird ja auch von
Dio (Xiphil.) LVII 22, 1 erwähnt, aber so, daß Drusus der leidende Teil
gewesen sei.
218 MISCELLEN
Castor aufem et Docilis ut alii dicunt histriones tunc temporis,
ut alii gladiatores fuerimt, hilft selbstverständlich nicht weiter, da
alles dies nur aus der Auffassung des Textes abgeleitet ist^). Man
könnte ja auch an Grammatiker oder andere Gelehrte denken, weil
in diesem Fall der Streit noch schwieriger zu entscheiden, also
noch müßiger gewesen wäre als bei Artisten, die ihre Leistungen
in öffentlicher Darbietung zeigen ^). Daß aber nun Drusus von
diesem Castor seinen Beinamen wegen einer Gewalttätigkeit be-
kommen haben soll, ließe sich zur Not bloß dann erklären, wenn
wir bestimmt wüßten, daß Gastor eben Gladiator war und noch
dazu ein so berühmter, daß sein Andenken, obwohl er schon in
der ersten Zeit des Augustus soviel von sich reden machte, noch
unter Tiberius lebendig gewesen wäre. Man sieht, diese Erklärung
ruht auf sehr schwachen Füßen und ist auch recht weit hergeholt.
Vor allem würde die Hauptpointe fehlen, daß Drusus den Spott-
namen erhalten hat, weil er einen angesehenen Ritter schlug.
Bei näherem Zusehen stellt sich übrigens Boissevains Glosse
als stark verkürzte Wiedergabe einer Anmerkung des Reimarus
heraus. Dieser hält (in seiner Dioausgabe z. St. II S. 860) Gastor
ohne weiteres Bedenken für einen berühmten Gladiator und beruft
sich dafür auf den Scholiasten zu Horaz. Er macht auch geltend,
daß bei Homer Castor und Pollux als tiv^ äyadoi bezeichnet
werden. In Wahrheit gilt dies nur von Pollux, II. F 237. Od. 1 300:
KdoTOQO. ^' innodafiov xal tiv^ äyadbv IJoXvöevxea. Daß aber
Castor von Gladiatoren etwa als Künstlername angenommen zu
werden pflegte, wie dies sonst üblich war, dafür besitzen wir kein
Beispiel, während uns eine ganze Anzahl anderer Künstlernamen
von Gladiatoren, Schauspielern, Musikern usw. bekannt sind^).
Kann also diese Erklärung der Dioherausgeber nicht zufrieden-
stellen, so tut dies noch weniger eine andere, die Rümelin in der
alten Paulyschen Realencykl. II (1842), 1274 gibt: „Das Volk hieß
ihn (Drusus) Castor, weil er gleich einem Ritter dieses Namens
1) Vgl. auch Pseudacr. zu v. 19 scilicet de gladiatoribus et pantomimis
und famosi ülius temporis gladiatores.
2) Der Ausdruck sciat ist allerdings nicht als Beweis dafür anzu-
führen, denn z. B. Seneca de benef. VII 1, 4 gebraucht dieses Verbum
sogar für die Leistungen eines luctator. Ebensowenig besagt der Name
Docilis (oder Dolichus), s. Pollack bei Pauly-Wissowa V 1295.
3) Vgl. Friedländer, Sittengesch. II » 634—641.
MISCELLEN 219
allzeit fertig war, Ohrfeigen und Schläge auszuteilen." Hier liegt
offenbar ein arges Mißverständnis des Diotextes zugrunde, ganz ab-
gesehen davon, daß in dieser sowie in der andern Erklärung die
Ausstattung des Drusus mit jenem Spitznamen ein ganz saft- und
kraftloser Spott wäre, der jeglichen Witzes ermangeln würde.
Und doch scheint mir dabei der Volkshumor in köstlicher
Weise schafi'end tätig gewesen zu sein. In dem Beinamen Castor,
der dem Prinzen Drusus für die Mißhandlung eines angesehenen
Ritters gegeben wurde, liegt eine ergötzliche Pointe, wenn man
sich daran erinnert, daß die Dioskuren als die Schutzherren der
Ritterschaft verehrt wurden ^). Daß Pollux hinter seinem Zwillings-
bruder immer mehr zurücktreten mußte, ist bekannt^), und so gilt
denn Gastor als eigentlicher Schützer der römischen Ritter. Der
Hohn, den für Drusus nach jenem Vorfall das Beiwort Castor birgt,
liegt also klar zutage, wenn dieser Name des Patrons der Ritter-
schaft auf jemanden angewendet wird, der die hervorragende Stellung
der equites Romani equo publico so weit mißachtet, daß er einen
seiner angesehensten Vertreter durch Schläge demütigt.
Es ist bezeichnend, daß der in dieser Verspottung hegende
Witz als Lustspielmotiv in der neueren deutschen Dichtung für eine
ähnhche Situation angewendet worden ist. Anzengruber ^) läßt im
, Pfarrer von Kirchfeld" (IV. Act, 4. Scene) den Wurzelsepp, der
den Schulmeister scheinbar gegen die auf diesen Eindringenden
deckt und ihm dabei heimhch Püffe erteilt, sagen: „Halt, laßts 'n
gehn, er steht unter mein' Schutz!"
Man könnte noch einen Umstand zugunsten unserer Erklärung
anführen. Wenn man schon zu der unwahrscheinlichen Annahme
greifen wollte, daß der Name eines in der frühaugustischen Zeit
1) Ich kann füi' die nähere Begründung auf Heibig in d. Z. XL
(1905) 101—115 verweisen.
2) Wissowa, Relig. u. Kultus d. Römer- 269. K. Meister, Lat.-gr.
Eigennamen I (1916) 113 — 127.
3) In dankenswerter Weise macht mich Siegfried Reiter auf diese
bemerkenswerte Übereinstimmung aufmerksam. Derselbe Gelehrte hatte
einen Augenblick auch daran gedacht , daß Castor eine Abkürzung von
castigator sein könnte. Freilich hätte der griechische Autor dann kaum
einen Hinweis darauf unterlassen, daß dies nur im Lateinischen ein Wort-
spiel ergibt, aber es wäre auch denkbar, daß ihm selbst dieser Anklang
entgangen ist, der neben der Hauptpointe immerhin hätte beabsichtigt
sein können.
220 MISCELLEN
populären Gladiators auch noch ein Menschenalter später im Volks-
munde geläufig war, so ist doch völlig undenkbar, daß ein solcher
Name auch noch in der severischen Zeit fortlebte, so daß Dio kein
Wort der Erklärung für nötig erachtet hätte. Daß hingegen jeder
seiner Zeitgenossen bei der Nennung des Namens Castor an den
Schutzpatron der Ritterschaft dachte und daher jedem das Witzwort
ohne Commentar sogleich verständlich war, finden wir begreifhch,
wenn, wie wir wissen, auch noch in dieser Zeit ^) die alljährlich
in Rom an den Iden des Juli stattfindende Ritterparade (die trans-
vectio equitum) und die damit verbundene Opferhandlung imCastoren-
terapel die Bedeutung Castors für den Ritterstand jedermann sinn-
fällig zum Ausdruck brachte.
Prag. ARTHUR STEIN.
EIN SOLONGITAT BEI LYSIAS.
F. Blaß sagt Att. Beredsamkeit I ^ S. 435 Anm. 2 zu folgenden
Worten der bei Dionysios Hai. de Lysia c. 30 citirten Stelle aus
dem köyog 'OXvjuTtiaxög (or. 83 bei Scheibe) : d-av/udCco de Aaxe-
Sai/bioviovg nävTOiv jLid?dOTa, rivi tiote yvcüfj.)] /ocojuevoi y.aiofxe-
vi]V TTjv'EXXdda neoioo&oiv ijyejuoveg ovzeg jcbv 'EXh]V(ov xtX.:
'§ 7 xaiofXEV7]v Tfjv 'EXXdda jisqioqcooi. möchte verderbt sein, da
auch bei andern Schriftstellern sich diese Metapher nirgends findet;
Dobree xa>covjuev)]v. Usener und Radermacher lassen y.aio/uevTjv
in ihrem Text stehen, notiren aber auch Dobrees Vermutung in
der adnotatio. Ich möchte glauben, daß hier ein Soloncitat vor-
liegt, und zwar handelt es sich um den Anfang der von Aristoteles
'Aßijv. jcoXiz. c. 5 citirten berühmten Elegie:
yivmaxo), y.ui juoi (pQevbg svdoßsv äXysa y.sTxai,
JiQEoßvTdT7]v egoQÖJv yaTav 'laov lag
y.Xivojuevijv.
Es muß also xXivojuevtjv bei Lysias wiederhergestellt werden.
In der Lesung y.Xtvouevrjv bei Solon (und danach jetzt bei
Lysias) folge ich dem scharfen Auge von Ulrich Wilcken in der
dritten Auflage der 'Aßrjvaiwv jioXizeia von Wilamowitz und
Kaibel, wozu Kenyon, Suppl. Aristotel. III 2 p. 6, 6 allerdings be-
1) Bis ins 4. nachcbristliche Jahrhundert läßt sich dieser Reiter-
aufzug nachweisen, s. Mommsen St. R. III 495.
MISCELLEN 221
merkt: xaivojuevijv] ita Icijit I]l(af>sius), rede tit vidctur- xXivo-
/biEvrjv Wn., quod verum esse potest, sed littcra altera a potius
quam l esse vidctur. Jedesfalls bleibt auch bei der Blassischen
Lesung das Soloncitat bei Lysias bestehen. Nach der Überlieferung
xaiofxevtp bei Dionysios aber das Solonfragment bei Aristoteles zu
ändern, wird sich schon deshalb nicht empfehlen, weil yMvo/j,evt]v
bzw. yaivo/iiEvrjv die ältere Überlieferung ist.
Halle a. S. 0. KERN.
DAS ALTER DER RÖMISCHEN MUNIGIPALBEAMTEN
(Nachtrag zu Bd. LI 1916 S. 65.)
In Bd. LI dieser Zeitschrift habe ich die Vermutung aus-
gesprochen und zu begründen versucht, daß der Verfasser einer
uns erhaltenen Biographie Gyprians, den man gewöhnlich, dem
Hieronymus folgend, Pontius nennt, ein und dieselbe Person sei
mit einem gewissen Helvius Honoratus mit Beinamen Pontius aus
Curubis bei Karthago, den seine Mitbürger, nachdem er alle ordent-
lichen und ein außerordentliches Amt bei ihnen bekleidet und sich
dabei sehr freigebig gezeigt hatte, durch die Inschrift CIL VIII 980
(auch in meinen Inscr. select. n. 6817) geehrt haben. Gegen diese
Vermutung hat P. Corssen (in der Zeitschrift für neutestamentliche
Wissenschaft XVIII 1917 S. 118ff.) einige Einwendungen erhoben,
deren Berechtigung ich nicht anerkennen kann. Richtig ist, daß
Pontius von Gurubis, wenn er wirklich der Verehrer Gyprians ist,
der in der erhaltenen Biographie zu uns spricht, seine curubitanische
W^irksamkeit hinter sich gehabt haben muß , als er in Karthago
in den Kreis Gyprians trat, richtig auch, daß der Verfasser der
Biographie anscheinend ein junger Mann war, wenn mir auch
Corssens Gründe dafür nicht alle einleuchten ^) ; aber im Irrtum
ist Corssen, wenn er meint, der Gurubitaner Pontius habe frühe-
stens im mittleren Lebensalter mit der Ämterlaufbahn seiner
Vaterstadt fertig sein können, und müsse deshalb verschieden sein
von dem, wie gesagt, in jüngerem Lebensalter schreibenden Ver-
fasser der Vita. Man konnte in der Kaiserzeit die Gemeindeämter
schon in recht jungen Jahren bekleiden. In den Gemeindestatuten
1) Die cura alimentorum des Pontius io das J. 252 zu versetzen, in
dem in Karthago die Pest wütete, liegt kein Grund vor.
222 MISCELLEN
der republikanischen Zeit war allerdings das 30. Lebensjahr für
Bekleidung der Gemeindeämter verlangt worden^); aber das hatte
sich offenbar als unzweckmäßig herausgestellt. Die Gemeindeämter
waren zwar eine Ehre, aber auch eine Last, zu der wohlhabende
Bürger lieber früher als später herangezogen werden sollten. Und
so hat z. B. für die Provinz Bith}T]ien Augustus das durch eine Lex
Pompeia vorgeschriebene Mindestalter von 30 Jahren auf 22
herabgesetzt^). Aber das war wohl eine Ausnahme. Im allge-
meinen verlangte man in der Kaiserzeit von den Bewerbern um
die Gemeindeämter ein Alter von mindestens 25 Jahren ^), wobei
aber mindestens seit Hadrian das begonnene 25. Jahr als voll ge-
rechnet wurde*). Daran wurde in den größeren Gemeinden, in
denen kein Mangel an leistungsfähigen Bürgern war, gewiß meist
festgehalten. Bemerkenswert ist der Fall eines im Alter von
23 Jahren 9 Monaten verstorbenen Mailänders, der schon eine ganze
Anzahl Reisen im Dienste seiner Vaterstadt gemacht und ver-
schiedene Priestertümer, aber noch kein eigentliches Gemeindeamt
übernommen hatte ^). In kleinen Gemeinden aber hat man offenbar
nicht ganz selten , sei es unter Dispens durch die Oberbehörde,
sei es rein willkürlich, ganz jugendliche Personen mit den Gemeinde-
ämtern beehrt. So finden wir in Antinum im Marserlande einen
Dreiundzwanzigjährigen, der sämtliche Ämter seiner Stadt ^), in
Aeclanum, bei Benevent, einen Zwanzigjährigen, der die Quästur
und das höchste Gemeindeamt (das eines duovir quinquennalis) dort
bekleidet hatte''); so in Lanuvium einen siebzehnjährigen Aedilen
(CIL XIV 2122). Es war eben in kleinen Orten nicht durchzuführen,
die Jugendlichen ein für allemal von der Übernahme der Ämter zu
1) Municipalgesetz der Tafel von Heraklea, trotz aller Einwendungen
siclier aus caesarischer Zeit (Inscr. sei. 6085) v. 89. Plinius ep. ad Tra-
ian. 79, 1 ; Cic. Verr. 11 122 bezieht sieb auf die Aufnahme in den
Gemeinderat.
2) Plin. ep. ad Trai. T9, 2; 80. Eine Ausnahme liefs übrigens auch
schon das caesarische Municipalgesetz zu, nämlich für diejenigen, die
den alten Bestimmungen gemäß ihrer Dienstpflicht im Heere genügt
hatten, eine Ausnahme, die von Beginn der Kaiserzeit ab keine prak-
tische Bedeutung mehr hatte.
3) Dig. L 4, 8. Stadtrecht von Malaca (Inscr. sei. 6089) cap. LIllL
4) Dig. XXXVl 1, 76, 1; L 4,8.
5) CIL V 5894 = Inscr. sei. 6732.
6) CIL IX 3839 = Inscr. sei. 6534.
7) CIL IX 1156 = Inscr. sei. 5878.
MISCELLEN 223
befreien. Die Gesetzgebung nahm schließlich auf diese Verhältnisse
Rücksicht; nur Knaben (inipuhcrcs) sollten unter keinen Umständen,
quamvis oiecessifas penuriae Iwminum cogat, Beamte werden,
erklärte Hadrian (Dig. L 6, 3) ^). Aber mag man sich in Gurubis
auch genau an alle Vorschriften gehalten haben: immer kann
Pontius, wenn er im begonnenen 25. Lebensjahre Adil wurde, als
beginnender Dreißiger alles hinter sich gehabt haben, was die In-
schrift von Gurubis von ihm rühmt 2), und, der Ehrenpflichten
gegen seine Heimatstadt ledig, sich nach Karthago begeben haben,
wo sich ihm bald eine andre Welt eröffnete ^).
1) Auch Ulpian Dig. L 5, 2 pr. sagt deutlicli, daß in nicht wenigen
Gemeinden der Gebrauch bestand und von der Behörde anerkannt wurde,
sich an die iusta aetas von 25 Jahren nicht zu kehren. Man hat sogar
in dem caesarischen Municipalgesetz eine besondere Berücksichtigung
der kleinen Gemeinden finden wollen. Daraus, daß in diesem Gesetz bei
den Vorschriften für die Wählbarkeit der Beamten (Z. 89 f. 98) nur
die Municipien, Colonien und Präfecturen, nicht, wie sonst meist, auch
die Fora und Conciliabula genannt werden, hat Kiene, Der röm. Bundes-
genossenkrieg (1845) S. 109 schließen wollen, für diese beiden Arten
gälten die Bestimmungen nicht, der Gesetzgeber habe ihnen größere
Freiheit lassen wollen, damit die Wählbarkeit nicht auf eine zu kleine
Zeit beschränkt werde (es ist Gradenwitz, Sitzungsber. der Heidelberger
Akademie 1916, Abh. 14 S. 6 A. 1, der diese alte, scharfsinnige, aber
schwerlich richtige Vermutung aufgestöbert hat. Jene Auslassung hat
eine andre — das ist Gradenwitz' Meinung — oder aber auch gar
keine, ich meine eine gleichgültige (für uns nicht erkennbare) Ursache.
2) Die Amterreihe ohne Unterbrechung zu durchlaufen war wohl
auch in größeren Gemeinden üblich, s. z. B. Inscr. sei. 6146 (aus Ostia).
Ein Verbot scheint nicht bestanden zu haben; es könnte sonst kaum in
dem oben angeführten Abschnitt des caesarischen Municipalgesetzes
(Z. 89fi'.~) und in Kap. LV der lex Malacitana fehlen. Nur für die mehr-
malige Übernahme des höchsten, des Bürgermeisteramtes war in Malaca
eine Pause, und zwar von 5 Jahren, vorgeschrieben; später genügte,
ne quis continuet Iwnorem (Dig. L 1, 18). Daß große Verschiedenheiten
auf diesem Gebiete bestanden, den Gemeinden also alle mögliche Freiheit
gelassen war, wird Dig. LI, 17, 3 angedeutet.
3) Ebenso wird Caecilius Natalis aus Cirta erst nach Erfüllung
seiner städtischen Pflichten nach Rom gegangen sein, wo er Christ
wurde und sich den Theodotianem anschloß; denn an seine Identität
mit dem von Eusebius, Kircheng. V 28, 8 erwähnten Natalis sowie mit
dem gleichnamigen Freunde des Minucius Felix glaube ich jetzt noch
fester als früher (d. Z. Bd. XL 1905 S. 879), nachdem ich Heinzes Aus-
führungen über die Beseitigung der Logoslehre im 'Octavius' (Berichte
der Sachs. Ges. d. Wiss. 1910 S, 389) gelesen habe.
224 MISCELLEN
Daß die Wärme, mit der der Biograph von Curubis spricht,
auch ohne die Annahme seines Ursprungs von dort erklärt werden
kann — einfach durch die Erinnerung an die dort mit Cyprian
verbrachte Zeit — , gebe ich zu; aber daß er, nicht zufrieden mit
dem Verdienst, das sich Curubis durch Hebenswürdiges Benehmen
gegen den Verbannten erworben hatte {civium caritatem, giiae
repraesentabat omnia, quihus videhatur esse fraudatus c. 12),
für die Stadt geradezu gewaltsam ein Anrecht auf den Märtyrer
Cyprian construirt ^) , das möchte ich jetzt noch bestimmter als
früher für ein Zeichen von Lokalpatriotismus, für einen Beweis von
des Verfassers Herkunft von dort erklären.
Charlottenburg. H. DESSAU.
NYSIUS?
Dieses seltsame Ethnicon führt bei Hygin fab. 71 Tlesimenes
{Thesimenes Fris.; verb. von Jacobi nach Paus. III 12, 9) Par-
thenopaei filkis ex Clymene nymplm. Was hat aber Parthenopaios
oder sein Sohn mit dem Märchenland des Dionysos zu tun? Nun
erzählt aber derselbe Hygin fab. 100, bekannthch nach Sophokles^),
daß der Sohn der Atalante den Telephos nach Mysien begleitet
habe. Dort wird sich die Nymphe Klymene in ihn verliebt haben,
und Tlesimenes ist kein Nysius, sondern ein 3Iysius.
Halle (Saale). C. ROBERT.
1) non praeteribo, . . . at imminentis martyrii pleniore fiducia non
exulem tanUimmodo Curubis sed et martyrem possideret. Vgl. d. Z. Bd. LI
S. 69.
2) Arch. Jahrb. II 1887 S. 246 f. III 1888 S. 53.
ZUM AOYKIO:^ // ONO^.
I.
Die Geschichte von dem Menschen, der in einen Esel ver-
wandelt wird und als solcher die wunderlichsten Abenteuer erlebt,
bis er endlich seine menschliche Gestalt wiedererlangt, hat nach
einer bekannten Notiz des Photios im Altertum eine dreifache Be-
arbeitung gefunden. Davon sind uns wenigstens zwei erhalten, eine
griechische, die unter dem Verfassernamen Lukians bekannt ist, und
eine lateinische, die uns bei Apuleius vorliegt. Die dritte Fassung
dagegen kennen wir nur durch die dürftige Charakteristik des Photios.
Es ist verständlich, daß dieser Tatbestand der Forschung
mancherlei Fragen aufgab, deren wichtigste vielleicht die nach
der gegenseitigen Abhängigkeit der drei Versionen war. Und als
man diesem Problem erst einmal näher getreten war, wollte sich,
weit entfernt von einer Lösung, vielmehr eine immer größer wer-
dende Zahl neuer Unsicherheiten und Fragen zeigen, da nicht ein-
mal mehr die Angaben des Photios unzweifelhaft bestehen blieben
und Lukian als Verfasser der erhaltenen griechischen Fassung im
Lauf der Diskussion in Zweifel gezogen werden mußte.
Inzwischen hatte sich aber doch eine Methode herangebildet,
mit deren Hilfe man die Schwierigkeiten lösen zu können hoffte.
Sie bestand in einer möglichst genauen logischen Interpretation und
in gegenseitiger Kritik des Inhalts der beiden erhaltenen Bear-
beitungen. Insbesondere suchte man durch dieses Vorgehen zum
Verständnis des griechischen Textes durchzudringen. Aber, wenn
diese Methode der Untersuchung auch eine ganze Beihe schätzens-
werter Ergebnisse zeitigte, so versank sie doch schließlich in öder
Hin- und Hererklärung der einmal aufgestellten Gesichtspunkte,
ohne neues Material zur Beurteilung herbeizuschaffen. Und auf
diesem toten Punkte angelangt, ließ sie eine endgültige und um-
fassende Lösung vermissen. Deshalb wandte sich W. Schmid ener-
gisch von der Methode der logischen Inhaltsvergleichung ab und
Hermes LIII. 15
226 H.WERNER
setzte seine Hoffnung auf eine „feinere sprachliche Untersuchung",
von der allein er die Lösung der Frage nach dem Verfasser des
„lukianischen" "Orog und damit natürlich einer Reihe damit ver-
knüpfter Probleme erwartete (Griech. Lit. -Geschichte^ 11 2 S. 575).
Er hat denn auch selbst einen seiner Schüler zu dieser Untersu-
chung veranlaßt. Sie liegt uns seit 1914 vor in der Dissertation
von V. Neukamm, De Luciano Asini auctore ^). Allein das erhoffte
Ergebnis ist ausgeblieben, wenn auch der Verfasser selbst sich und
uns glauben machen will , er habe die Autorschaft Lukians sicher
festgestellt. Das Unternehmen scheiterte daran, daß die Aufgabe
rein objektiv unlösbar und die Zuversicht W, Schmids eine trü-
gerische war. Das hätte auch Neukamm klar werden müssen,
wenn er das Problem in seiner ganzen Schärfe erfaßt hätte: ent-
weder ist Lukian der Verfasser, der in diesem Fall nicht einmal
seinen ihm eigentümlichen Stil entfalten konnte, weil er ja auch
im Stil seinen Vorgänger durch Nachahmung verspotten wollte:
oder aber die Schrift ist ein sozusagen wörtlicher Auszug aus je-
nem Vorgänger selbst, aus Lukios von Patrai, der ein ungefährer
Zeitgenosse Lukians gewesen sein muß und von dessen Stil wir
uns nur nach einem Zeugnis des Patriarchen Photios (bibl. cod. 129)
eine ungefähre Vorstellung machen können. Zum Überfluß war
dem Photios offenbar selbst die Ähnlichkeit des Lukios von Patrai
— den er äV.og Aovyuavög nennt — mit Lukian aufgefallen und
er schilderte daher den Stil jenes Lukios von Patrai als rr/v (podoiv
oafpYjg T€ xal y.a'&agög y.al cpilog ylvxvTfjxog , d. h. in einer
Weise, wie wir selbst etwa, so solches von uns gefordert würde,
den Stil des Lukian, den allein wir ja aus seinen W^erken beur-
teilen können , in milder Weise charakterisiren möchten. So be-
schaffen war das zu lösende Problem. Und da leuchtet es ohne
weiteres ein, daß unsere Kenntnis der Sprache längst nicht hin-
reicht, um die Zuweisung der Schrift an einen dieser Schriftsteller
zu rechtfertigen, die sich stilistisch scheinbar so sehr nahe standen,
ganz abgesehen davon, daß die Komplexität der Probleme des
Lukiosromans eine Behandlung auf ausschließlich grammatischer
Grundlage unter Beiseitelassung der übrigen Argumente, wie es
Neukamm versuchte, überhaupt nicht verträgt.
Nachträglich finde ich noch, daß bereits Rohde zum vorn-
herein alle Folgerungen aus einer grammatischen Untersuchung
1) Vgl. meine Rec. in Berl. ph. Wochenschr. 1916 Sp. 1516 ff.
ZUM AOYKIO:S H 0^01' 227
des "Grog auf dessen Verfasser abgelehnt hat, und ich setze seine
Worte gerne hierher. Sie stehen in der Jugendarbeit über Lukians
Schrift Aovxiog y övog, S. 40: „Selbst im günstigsten Fall würde
daraus (aus den Spracheigentümlichkeiten, die dem Verfasser des
"Ovog mit Lukian gemeinschaftlich sind) denn doch nichts weiter
folgen, als daß in diesen Ausdrücken und Wendungen der Ver-
fasser des "Ovog von Lukian nicht abweiche. Was will aber dieser
negative Beweis sagen gegenüber dem sicherstehenden Faktum,
daß in dieser Erzählung eine beträchtliche Anzahl nicht nur von
Lukians sonstiger Schreibweise, sondern von jedem correcten Aus-
druck abweichender Wörter und Gonslructionen sich finde?"
Die Hoffnung, dem Problem durch eine grammatische Unter-
suchung beizukommen, hat sich also ein für allemal als trügerisch
erwiesen. Daher wird es unabweislich sein , wenn wir im Ver-
ständnis des „lukianischen" "Ovog und damit der Eselerzählung
überhaupt vorwärts kommen wollen, zur alten Methode zurückzu-
kehren und eine Lösung der Fragen durch Betrachtung des Inhalts
und der dichterischen Technik zu erstreben. Vielleicht daß es uns
gelingt, dabei außerhalb der ausgetretenen Bahnen zu bleiben und
einige neue Gesichtspunkte aufzustellen.
Doch vorerst seien die Hauptpunkte zusammengefaßt, die schon
jetzt als gesicherte Erkenntnis betrachtet werden dürfen. So steht
fest, daß der verlorene Roman des Lukios von Patrai die gemein-
same Quelle der beiden unter dem Namen des Lukian und des
Apuleius erhaltenen Fassungen ist. Hinter diesem einen gesicher-
ten Resultat^) stehen freilich unmittelbar eine Reihe neuer, unge-
1) Freilich auch dieser Punkt wird wieder angefochten in dem 1915
erschienenen, sehr weitschweifigen Buche von Enrico Cocchia, Ro-
manze e Realtä nella vita e nell' attivitä letteraria di Lucio Apuleio,
das mir erst nach Abschluß meiner Arbeit in die Hände gelangt ist.
Ich kann mich deshalb nicht damit abgeben, die Ansichten des Ver-
fassers besonders zu widerlegen, wenn eine solche Widerlegung nicht
auch olme direkte Beziehung auf das Buch von Cocchia in der Auf-
fassung meiner Arbeit gefunden wird. Immerhin will ich die neuen An-
schauungen, die Cocchia glaubt gefunden zu haben, z. T. in der Über-
setzung seiner eigenen Worte, wiedergeben: Die verlorenen Metamor-
phosen des , Lukios von Patrai" waren nichts anderes als die erste
Fassung des Lucius Apuleius (also die Hypothese Diltheys aus der Göt-
tinger akad. Festrede 1879 neu aufgeputzt), welche dieser, Äovxiog Aovxiov
UaroEcog und Urenkel des Plutarch, nach seiner Gewohnheit zunächst
in der ihm geläufigeren Sprache auf griechisch verfaßte. Femer zeigt
15*
228 H.WERNER
löster Fragen, die alle miteinander verknüpft sind und etwa fol-
gende Hauptpunkte umfassen. Welchen Charakter trug das Werk
dieses Lukios von Patrai? In welcher Weise haben die erhaltenen,
abgeleiteten Versionen dieses Urbild benutzt und ist insbesondere
der „lukianische" "Ovog eine bloß handwerksmäßige Epitome des
umfangreicheren Lukios von Patrai, oder hat der Verfasser der Epi-
tome bei seiner Arbeit in irgendwelcher literarischen Absicht den
Charakter seiner Vorlage umgestaltete Die Lösung dieser letzten
Frage entscheidet gleichzeitig, ob Lukian der Verfasser der Epitome,
die ihm von der Überlieferung zugeschrieben wird, sein kann ; denn
nach allgemeinem Urteil darf dem Lukian eine rein mit der Schere
vorgenommene Verkürzung eines vorhandenen Werkes nicht wohl
zugetraut werden.
Die einzige Möglichkeit, in dem ,lukianischen" "Ovog gegenüber
Lukios von Patrai einen literarischen Eigenwert zu finden^), hat
Rohde in seiner bereits citirten Jugendschrift (S. 10 f.) gezeigt, in-
dem er sich von einer Bemerkung des Photios (bibl. cod. 129)
leiten ließ: yeuei de 6 exazegov Aoyog nkaofiaxeov fxkv juvd'ixcov,
sich, daß Apuleius im Puclentilla-Proceß von dei- Anklage auf Zauberei
nicht freigesprochen, sondern einfach mangels Beweisen entlassen wurde.
Da die Metamorphosen nun einen merklichen Fortschritt zeigen gegen-
über dem rhetorischen Stil der Apologie, sind sie erst nach dieser verfaßt
und müssen als ein persönlicher Roman des Apuleius angesehen werden,
in dem dieser ein Menge von Anspielungen auf seinen eigenen Lebens-
lauf gibt, um diesen darzustellen als y,viaggio d' espiaümic" , wodurch
er den schlechten Ruf bei der Nachwelt zu vernichten hoift. der seit
dem Zauberei-Proceß auf seinem Namen lastet. Soweit über die Con-
structionen von Cocchia , bei denen alles wie in einem Rechenexempel
aufs schönste aufgeht und die höchstens den Vorwurf allzugroßer Har-
monie gegen sich haben. Wer sich für den „simbolismo allegorico delle
metamorfosi'^ interessirt, mag das in dem 396 Seiten umfassenden Buch
selber nachlesen. Hier genügt es, zu bemerken, daß Cocchia mit seiner
symbolischen Ausdeutung der Eselsfigur schließlich bei dem palatinischen
Spottkrucifix und bei der „fite de Z'dwe" landet.
1) V. Arnims Versuch (Wien. Stud. XXII 1901 S. 168flf.), die litera-
i-ische Absicht des "Ovog in einer Übung zu suchen, die Philostrat (vir.
soph. I 20 p. 27 Eayser) als ßgayjcog sgimjVEveiv bezeichnet, hat Bürger
in einem Blankenburger Programm (Studien zur Geschichte des grie-
chischen Romans, 1902, S. 13 f.) mit Recht zurückgewiesen. Die Technik
des ßgayiojg EQ/irjvsvsiv ist eine ganz andere als die , welche unser Epi-
tomator anwendet, indem er , große Stücke wegläßt und dann wieder
andere einfach wörtlich herübernimmt ',
ZUM A0YKI02 H 0N02 229
aQQrjTOTiouag de aioy^gäg' 7iXi]v 6 jutv Äovxtavög oxcojitov xai
öiaovQOJv T)]v 'EkXrjviy.rjv dsioiöaijLioviav, coonsQ xäv zoTg
äkXoig, xal tovtov ovvhanev, 6 ök Aovxiog ottovÖuQcov rs xal
nioxäg vofu^ojv rag e^ uvdQomcov elg (VJJjkovg ^exafxoQfpcboeig
.... nageöidov javra xal avvvcpaivEv. Mit klaren Worten drückt
Photios aus, daß er „Lukians" "Ovog für eine Satire hält. Doch
stellen wir nun die Frage: eine Satire worauf? Da gibt Photios
die Antwort, sie ziele auf die ÖEioidaijuovia der Griechen. Davon
können wir beim besten Willen auch nicht die geringste Spur
finden, weshalb auch heute niemand mehr ernsthaft an dieser Mei-
nung des Photios festhält. Rohde stellte darum, nur den ersten
Teil von Photios Behauptung annehmend, die Hypothese auf, die
Parodie liege darin, daß der Verfasser des erhaltenen "Grog die
Schrift des Lukios von Patrai , die ja ernsthaften Charakter trug,
imitirend verhöhnt habe.
Auf Photios darf sich Rohde aber dabei gar nicht mehr be-
rufen, denn wenn einmal festgestellt ist, daß Photios nicht wußte,
gegen wen die Satire sich richtete, müssen wir auch seiner An-
gabe mißtrauen, daß die Schrift überhaupt eine Satire sei. Darum
soll Rohdes Hypothese hier nochmals geprüft werden, und zwar
im Anschluß an jenen vielbesprochenen cod. 129 der Bibliothek
des Photios, von dem Rohde ausgegangen ist und von dem immer
ausgegangen werden muß. Dort müssen auch zunächst alle
die Angaben, welche dokumentarischen Wert haben, von denen
geschieden werden, die Photios vermutlich durch eigene Gombina-
tionen gefunden hat.
Wenn ich hier eine allgemeine Bemerkung vorausschicken darf,
so scheint mir, daß des Photios Glaubwürdigkeit vielfach überschätzt
wird. Eine zusammenfassende Arbeit über diesen Punkt würde
sicherlich zeigen , daß der gelehrte Patriarch zwar keine bewußt
unwahren Angaben macht, daß er sich aber weit häufiger, als er
dies selbst zugibt, auf seinen Spürsinn und seine Gombinationsgabe
verläßt und bloße Rückschlüsse aus dem ihm vorliegenden, oft be-
reits lückenhaften Material als überlieferte Tatsachen auftischt, ohne
durch eine warnende Bemerkung den Leser darauf aufmerksam zu
machen, daß kritische Überprüfung nötig ist. Daß, wer zu lesen
versteht, den hypothetischen Charakter mancher Notiz trotzdem er-
kennt, ist nicht dem Photios zu danken.
Auf welchem Wege gerade in unserm Fall Photios dazu kam.
230 H.WERNER
den „lukianischen" "Ovog eine Parodie zu nennen, sah bereits Bürger
in seiner Dissertation De Lucio Patrensi (p. 8). Schon zu Photios'
Zeit stand das Werk im Corpus der lukianischen Schriften. Zu-
gleich kannte der belesene Mann eine ausführlichere Darstellung
des gleichen Stoffes, weiterhin aber besaß er keinerlei Nachrichten
über die Zeit und das gegenseitige Verbältnis der beiden Werke.
Dies gesteht Photios selbst ein (r/g ydo XQOvco TiQeoßvzeQog ovtzco
e^ojLiEV yvcovai). Daher muß von seinen Angaben einzig und allein
das für uns maßgebend sein, was er über Stil und Inhalt der beiden
Schriften sagt, ebenso, daß die Epitome den Inhalt der beiden
ersten Bücher des Lukios von Patrai ungefähr wiedergab^), d. h.
alles, was ein aufmerksamer Leser der beiden Werke aus diesen
selbst ohne Zuhilfenahme eigener Combination feststellen konnte.
Alles übrige hat Photios durch logische Schlüsse gewonnen, die
ihm selbst zwingend erscheinen mochten. Zunächst bekennt er
selbst, nicht zu wissen, ob die Schrift des Lukios oder die des
„Lukian" die ältere sei, entscheidet sich aber zuletzt dafür, daß
nLukian" eine Satire zu Lukios, folglich jünger sei. Wir vermögen
nun ganz genau zu verfolgen, auf Grund welcher Ideen Photios
zu diesem Ergebnis gelangte. Die in dem S. 228 f. wiedergegebenen
Photioscitat durch gesperrten Druck hervorgehobenen Worte geben
uns einen nicht mißzuverstehenden Fingerzeig. Es ist die all-
gemeine Anschauung, die Photios von der Schriftstellerei des
Lukian hatte, welche ihm seinen Schluß sozusagen aufzwang. Die
Behauptung, daß Lukian den Byzantinern, die seine Schriften ja
aufs eifrigste lasen 2), vor allem als ewiger Spötter und Verächter
1) Cocchia a. a. 0. p, 138 sucht das Wort /növov ov in der fraglichen
Photiosstelle auf eine neue Weise zu erklären, indem er es in Gegen-
satz stellt zu den einige Zeilen später folgenden Worten: elg sva rä
loina ovvaQj.t6aag löyov. Nach seiner Meinung beweist za loinä, daß
liövov ov hier nicht, wie allgemein angenommen wird, heißen kann:
lantum non = ungefähr, beinahe, sondern dafs der Satz bedeuten muß:
^Luciano omise di Iradurre rteW Asino soltanto i primi due libri e
compendib i rimanenti (rä Xoi:^d) in un lihro solo."' Und doch ist es
eine taube Nuß, die Cocchia hier gefunden hat. Wie die Betrachtung
des Zusammenhangs zeigt, steht rot loijiä so weit von /.lövov ov ab, daß
es niemals dazu in Gegensatz gestellt werden darf. Vielmehr steht es
den Teilen gegenüber, die durch Betrachtung des oty.sTog oy.onög gänzlich
ausgeschaltet werden. So steht auch in der Übersetzung der Photios-
stelle von Carlo Giussani zu lesen, die Cocchia selbst (p. 120) anführt.
2) Ein Zeugnis aus der Hadesfahrt des Mazaris (verfaßt um 1415),
ZUM AOYKIOS II ONOl' 231
alles Positiven galt, braucht wohl nicht besonders belegt zu werden.
Von dieser Auffassung Lukians und seiner Schriften ausgehend,
gab es jedoch für Photios nur eine einzige Möglichkeit, wie er in
Lukian den Verfasser des "Ovog sehen konnte: diese Schrift mußte
eine Satire sein, und die Satire mußte sich gegen die deioiöaijuovia
der Griechen gerichtet haben; denn auch dies galt als Privilegium
Lukians 1). Wenn wir dergestalt einsehen müssen, daß die Auf-
fassung, die Photios vom „lukianischen" "Ovog als einer Satire hatte,
durch bloßen Rückschluß erworben ist, verliert strenggenommen
auch die Charakteristik, die er von den Metamorphosen des Lukios
von Patrai gibt, ihren dokumentarischen Wert. Denn die Behaup-
tung, daß jene mit gläubigem Ernst vorgetragene thotol . . . juera-
jJLogqxboEig waren, ist offenbar entstanden als Folie zu der satiri-
schen Auffassung des „lukianischen" "Ovog. Wenn wir trotzdem
daran festhalten, daß die Metamorphosen des Lukios von Patrai im
ganzen mit gläubigem Gesicht vorgetragen waren, so tun wir das
auf eigene Gefahr, und Photios kann uns nicht als Stütze dienen.
Rohdes Annahme, daß der „lukianische" "Ovog eine Satire sei,
darf sich nach den vorstehenden Ausführungen nicht mehr auf
das Zeugnis des Photios berufen, und wir werden uns zu seiner
Ansicht nur dann bequemen, wenn es ihm selbst gelungen ist, in
dem erhaltenen "Ovog unzweifelhafte Spuren von Satire oder Parodie
die selbst eine Nachahmung Lukians ist, fiel mir neulich bei der
Lektüre auf und ist meines Wissens in der Lukianliteratur noch nicht
verwertet. Es mag beweisen , wie beliebt selbst im 15. Jahrb. unser
Eselroman noch war. Cap. 12 p. 214,11 Ellissen wird eine Reihe von
Hofschranzen aufgezählt und mit bissigem Hohn charakterisirt. Einer,
der offenbar Äovxiog hieß, muß es sich gefallen lassen als Aovxios i) ovog
citirt zu werden, eine Anspielung, die doch nur dann ihre volle Wirkung
hat, weun die Kenntnis der Eselgeschiclite vorausgesetzt werden konnte.
1) Es ist vielleicht interessant zu beobachten, wie in einer Dupli-
cität der Fälle der erste Übersetzer des "Ovog ins Lateinische, Poggio,
offenbar aus genau denselben Erwägungen heraus zu dem gleichen
Resultat gelangte, wie Photios fast 600 Jahre vor ihm. Er schreibt in
der Praefatio seiner Übersetzung, der er den Titel „Lucii philosophi
Syri comoedia quae asinus intitulatur" gibt, folgendes an Cosimo de'
Medici: laborern mihi dcsumpsi, tit eum facerem latinum .... ut ostenclereiii
hanc veterem et ab Apuleio veluli innovutam comoediam nequaquam ef^se
pro vero accipiendam; sed existimabam potius ab Lucio introductam studio
artes ehidendi magicas, p^rout suus 7nos est non tantuin homines, sed et
deos irridendi.
232 H. WERNER
nachzuweisen. Denn ein satirisches Werk mufa bei genauem Zu-
sehen auch dann noch als solches erkennbar sein, wenn das Urbild,
das zu der Verspottung Anlaß gab, verschwunden und unbekannt ist.
Schreiten wir also zu einer Prüfung der Gründe, die Rohde
und seine Anhänger veranlaßt haben, im ,lukianischen" "Ovog eine
satirische Tendenz zu suchen. Da reducirt sich die ganze vor-
gebliche Verhöhnung darauf, daß der Verspottete von sich selbst
in der ersten Person allerlei groteske, manchmal auch obscöne
Abenteuer erzählt. Und den Glanzpunkt der Satire sehen die
genannten Gelehrten darin, daß das Opfer sich zum Schluß durch
Nennung seines Namens und Standes samt seiner Familie selbst
an den Pranger stellen muß. Andere Spuren der Satire sind weder
von Rohde noch von seinen Anhängern geltend gemacht worden;
denn wenn Rohde zur Stützung seiner These aus den Worten des
Photios: xal yag cog anb Tildrovg TÖiv Aovxiov Xöycov 6 Aov-
xiavbg änolemvvag xal neQieXcöv , ooa /ni] Idoxei avtco TZQÖg
zöv oixeTov ygrjoiua oxotcov schließt, Lukian habe „im wesent-
lichen den Gang der Erzählung beibehalten", aber „wie ein
geschickter Zeichner mit kleinen scharfen Strichen die Physio-
gnomie des Ganzen aus einer ernsthaft feierlichen in eine schel-
misch lächelnde verwandelt" (a. a. 0. S. 11), so steht davon auch
nicht ein Wort bei Photios zu lesen. Rohde hätte vielmehr gerade
dieses beweisen und mit Einzelstellen aus dem „lukianischen" "Ovog
belegen müssen. Für Photios bestand der oixeiog oxonog lediglich
darin, daß die Erzählung kürzer sein und durch kein Beiwerk ge-
stört werden sollte, während im ganzen viele Wendungen und
Sätze herübergenommen waren. Dies beweist sein Satz: amaig xe
keieoi y.al owrä^eai aig k'va rd koind ovvaQj.i6oag Xoyov.
In einer dergestaltigen Satire, der als einziges Vehikel der
Verhöhnung die Icherzählung und die Namensnennung am Schluß
des Ganzen genügt, kann ich keine Spur einer geistreichen Ver-
höhnung durch den „verwegenen Spötter" sehen, von der Rohde
schrieb. Sie würde mir vielmehr recht grob vorkommen und
höchstens eines gemeinen Erpressers würdig scheinen.
Und es gibt noch weitere Anzeichen, die uns gegen Rohdes
Annahme einer Satire mißtrauisch stimmen müssen, indem gerade
jene Gelehrten, die seiner These teilweise zustimmten, andere Teile
der Hypothese zu entkräften suchten. Wie bei Photios geht der
Streit um die Frage, wer denn eigentlich der Verspottete sei und
ZUM A0YK102 H ONOS 233
in welcher der drei Fassungen die Parodie zuerst angewandt wurde.
Das Resultat der Diskussion, die ich in einer Anmerkung kurz zu-
sammenfassen möchte^), ist, daß jeder, der sich in der Frage
äußerte, das Ziel der Satire an einem andern Ort suchte und die
Vermutungen der übrigen zu widerlegen strebte, so daß keine ein-
zige der aufgestellten Thesen ohne Verdachtgründe geblieben ist.
Dieser Tatbestand muß das Bedenken erregen, ob überhaupt
jene Behauptung richtig ist, welche die Icherzählung und die
Namensnennung im 55. Capitel des „lukianischen" "Ovog als ein
Anzeichen der Satire auffaßt. Wir werden uns also zu einer
Prüfung der zwei in Frage stehenden Punkte verstehen müssen,
um zu erkennen, ob sie eine polemische Absicht enthalten oder
nicht. Diese Frage ist, wie bereits v. Arnim (Wien. Stud. XXII
1901 S. 172) schrieb, „identisch mit der Frage, ob man, ohne
eine solche Absicht anzunehmen, die Schrift befriedigend erklären
kann". In der folgenden Untersuchung holTe ich zeigen zu können,
daß jene beiden von uns herausgegriffenen Punkte, mit welchen
die Annahme einer Satire bisher gerechtfertigt wurde, in der Tat
sich ohne dieses Hilfsmittel erklären lassen. Diesen Nachweis
glaube ich zu leisten durch die Untersuchung und Zusammen-
stellung einiger tojtoi, die sich bei einer Gruppe von Erzählungen
1) Zuerst äußerte sich Rohde in seiner bereits genannten Abhand-
lung, Über Lucians Schrift .iovy.tog y ovog S. 11 f. in dem Sinne, der „luki-
anische" "Ovog sei eine Parodie auf die Metamorphosen des Lukios von
Patrai. Diese Ansicht wiederholte er 1885 in einem Aufsatz „Zu Apu-
leius" (Rhein. Mus. XL S. 66ff. = Kl. Sehr. JI 70ff.). Aber kurz hernach
traten ihm zwei Dissertationen entgegen: Bürger, De Lucio Patrensi
1887, p. 57f. und Rothstein, Quaestiones Lucianeae 1888, p. 137f. Durch
die Art des Abhängigkeitsverhältnisses, das von den beiden Gelehrten
zwischen „Lukian" und Lukios festgestellt wurde, ergab sich deutlich
die Unannehmbarkeit von Rohdes Hypothese. Trotzdem wurde sie
später — allerdings mit einigen Modifikationen — durch v. Arnim (Wien.
Stud. XXIl 1901 S. 171 ff.) wieder aufgenommen. Aber schon 1902 folgte
eine treffende "Widerlegung durch Bürger in der erwähnten Programm-
abhandlung von Blankenburg. Bürger gibt hier seine frühere Auffassung,
nach der er den Urheber der Satire in dem Verfasser der von Photios ge-
schilderten Meiafiogcpcoaeig gesucht und einen von diesem verschiedenen
Lukios von Patrai als ihren Gegenstand angesehen hatte, auf und nimmt
den Gedanken Rothsteins an, die Namensnennung in cap. 55 des ,luki-
anischen" "Ovog habe keinen satirischen, sondern ernsthaften Charakter.
Den Beweis für die Möglichkeit einer derartigen ernsthaften Auffassung
bleibt er allerdings schuldig.
234 H. WERNER
ausgebildet haben, zu denen nach meiner Ansicht auch der „luki-
anische" "Ovog und sein Vorbild, die Metamorphosen des Lukios
von Patrai, gerechnet werden müssen ^).
II.
Wenn der naive Mensch irgendeine Erzäfilung hört oder liest,
wird er nur selten zu fragen unterlassen, ob das Erzählte wirklich
geschehen und „wahr" sei. Und ein Nachlassen seines Interesses
wird in jedem Falle zu beobachten sein, wenn ihm auf seine Frage
mit Nein geantwortet wird. Infolgedessen muß eine ganze Gruppe
von Literaturerzeugnissen, zumal solchen, die auf die Masse der
Halb- und Ungebildeten zu wirken bestimmt sind, eines ihrer vor-
züglichsten Ziele darin suchen, dem Hörer oder Leser die „Wahr-
heit" und Realität des Erzählten glaubhaft zu machen. Nur dann wird
der Zweck, die iinixaycoyia, ganz erreicht werden, wenn es gelingt,
den Leser — zum mindesten während der Lektüre — so zu stimmen,
daß ihm an der Wirklichkeit des Gelesenen kein Zweifel aufsteigt.
Besonders schwierig ist diese Aufgabe natürlich für einen
Schriftsteller, der von Dingen berichtet, deren ganzer Charakter
dem gewöhnlichen Menschenverstand und den allerplattesten Er-
fahrungen des täglichen Lebens widerspricht. Nun gibt es aber
gerade eine Gattung von Geschichten, die sich mit voller Absicht
zu diesen Erfahrungen in Gegensatz stellt. Es ist die große Masse
der Wunder-, Zauber-, Spuk- und Gespenstergeschichten, die sich
beim Volk zu allen Zeiten der größten Beliebtheit erfreuen und die
in den Niederungen literarischer Produktion einen bedeutenden
Raum einnehmen, manchmal sogar, wie von einer unsichtbaren
Strömung emporgetragen, in den oberen Schichten der eigentlichen
Literatur auftauchen. Doch sind gerade sie nicht von jener Be-
dingung befreit, daß der Leser an sie glauben will und muß —
wenn dies natürlich auch nur der Fall wäre, solange die Lektüre
dauert und der unmittelbare Bann anhält. Von innen, aus dem
Inhalt heraus ist hier allerdings Glaubwürdigkeit nicht zu erreichen.
Also muß auf äußere Mittel zur Erreichung des Zwecks gesonnen
werden, und so hat sich um die Wundergeschichte herum all-
1) Wie sehr der folgende Abschnitt von R. Reitzensteins Buch
über die ^Hellenistisclien Wundererzähhingen", dessen Wert zu rühmen
mir nicht ansteht, beeinflußt ist, wird dem Kundigen nicht entgehen.
Immerhin sei es hier ausdrücklich gesagt.
ZUM AOYKIO^ 11 ONOI 235
mählich ein ganzer Kreis feststehender xünot, gebildet, welche alle
der Aufgabe dienen wollen, die „Wahrheit" des Wunders, Zaubers
oder Spuks zu bekräftigen.
Zweierlei können die Wundergeschichten bezwecken. Entweder
sollen sie lediglich der Ergötzung des Lesers dienen, oder aber
sie verfolgen daneben noch eine Tendenz, nämlich durch Erzählen
wunderbarer Taten das Wesen irgendeines Wundertäters — ob
dieser eine heidnische Gottheit, ein Philosoph oder ein christlicher
Wundermann sei, macht hier nichts aus — als heilig und mit
geheimnisvollen Kräften begabt hinzustellen. Die Wundererzählungen
können also entweder der reinen Unterhaltungsliteratur angehören,
oder aber sie können auch den Charakter religiöser Werbe- und
Erbauungsschriften besitzen. Einer Einteilung der Wundergeschichten
— denn es scheint mir, daß nur solche gemeint sind, trotzdem
der ausdrückliche Hinweis fehlt — nach diesem Princip begegnen
wir bei Palladios im Anfang des Prologs zum Aavoiaxöv (p. 9,1 ff.
Butler) : IlolXöyv nollä xal noixiXa xazd diacpoQOvg xaiQOvg
avyyQd/xixaxa reo ßico xaxaXeXoinoxoiv , rcöv juev ei ejimvotag Tfjg
ävw&EV idgiTog deodoxov elg oiKodojur]v xal äocpdXEiav xö)v nioxfj
jTQo&eoei ejiojuevo)v xdig doyjuaot xov oa>x)]Oog, xow de e^ dvdQCO-
Tzaqeoxov xal öieq)&aQfxevr]g jiQodeoewg vXojuav}]odvxa)v eig Jiaoa-
juv&iav rcöv xEvodo^iav xioacovrcov, exeqwv 6e ex xivog juaviag
xal EVEQyEiag xov jiiiooxdXov daijuovog xvcpco xal jLir]vidi im
Xv/ufj xojv xov(poyvajju6vcov äv&Qcojtwv xal oniXq) xfjg uy^Qdvxov
xal xa'&oXixijg ExxXrjoiag EneioqpQrjodvxan' xalg öiavoiaig xcbv
ävoTjxcov im iyxoxco xi]g OEtivfjg noXixEiag, eÖo^e . . . Eine
Besonderheit enthält diese Einteilung des Palladios allerdings. Sie
besteht darin, daß er die religiöse Wundergeschichte von seinem
christlichen Standpunkt aus in zwei Gruppen teilt, deren eine durch
Gottes Gnaden eingegeben zur Erbauung und Festigung im Glauben
für die Christen dient, während die andere vom Teufel veranlaßt
zu Schimpf und Schande für die leichtgläubige Menschheit und als
Stein des Anstoßes für die unbefleckte und eine Kirche erfunden
ist. Ob Palladios sich bewußt war, daß eine Reihe christlicher
Legenden und Martyrien heidnischen Quellen entnommen war, und
ob er sich mit dieser Unterscheidung selbst beruhigen und sein
Herz erleichtern will, wage ich nicht zu entscheiden, doch scheint
es mir wahrscheinlich. Die Erklärung hätte dann diesen Weg zu
gehen: Palladios setzt die beiden Gruppen der religiösen Wunder-
236 H. WERNER
erzählung, die heidnische und die chrisüiche, in Gegensatz zuein-
ander. Zwischen beide stellt er, offenbar vom Standpunkt der
Gerährlichkeit für die Kirche, diejenige Wundererzählung, die ledig-
lich der Unterhaltung dienen will, ohne sich um religiöse Tendenzen
zu kümmern, und die darum mit einer weniger scharf verurteilen-
den Bemerkung des Palladios davonkommt. Für uns , die wir
wissen, daß von der heidnischen zur christlichen Wundergeschichte
eine continuirliche Entwicklung geht, hat jene Einteilung in die
von Gott und vom Teufel eingegebenen Wunder keine Bedeutung
mehr, wohl aber darf uns interessiren , daß auch Palladios eine
außerreligiöse, rein unterhaltende Wundergeschichte kannte.
Reitzenstein (Hell. Wundererz. S. 8 ff.) faßt die beiden Zweige
der Wundergeschichte , den religiösen und den weltlichen, in eins
zusammen mit dem Nachweis, daß auch die antike Theorie beide
unter dem gemeinsamen Namen äoeia/.oyfa vereinigt habe. Das
ist ohne weiteres zuzugeben. Ich glaube sogar an einem Beispiel,
das von Reitzenstein nicht erwähnt wird, nachweisen zu können, wie
nicht bloß in der Theorie, sondern auch in der Praxis die Grenzen
zwischen rein unterhaltender („weltlicher") und religiöser „Areta-
logie" so sehr fließend wurden, daß eine Umpfropfung von dem
einen auf den andern Zweig ohne große Veränderung möglich
wurde. Ovid berichtet in den Metamorphosen (VI 313 ff.) von der
Verwandlung lykischer Bauern in Frösche. Diese Geschichte, die so-
wohl in ihrem Inhalt einen gewissen Gontrast zu den übrigen Erzäh-
lungen der Metamorphosen bildet als auch in Stil und Gomposition
.seltsame Eigentümlichkeiten aufweist, war ursprünglich, wie ich
glaube, eine bloß unterhaltsame Zaubergeschichte, die von Ovid
in eine Gotteraretalogie umgewandelt wurde, weil er sie nur in
diesem Gewand in sein Werk aufnehmen konnte. Der Inhalt der
bekannten Geschichte sei kurz wiedergegeben: Latona gelangt auf
ihrer Flucht vor Inno mit ihren zwei Kindern bis nach Lykien.
An einem kleinen See wünscht sie von Durst gequält zu trinken,
aber einige Bauern, die in der Nähe mit Feldarbeit beschäftigt
sind, verunreinigen boshafterweise das Wasser des Sees und ver-
weigern der Göttin höhnisch das erhoffte Labsal. Erbittert über
die ruchlose Grausamkeit verflucht sie deshalb die Bauern, und auf
ewige Zeiten müssen diese nun im Teich weiterleben als — Frösche.
Das ist offenbar eine agsTtj der Göttin, und daß Ovid hier mit Ab-
sicht zum ageTa?.6yog geworden ist, hoffe ich sogleich zu zeigen.
ZUM AOYKIOI H ONOS 237
Zunächst fällt auf, dafs die Geschichte als Gonlrast zu der
vorhergehenden, der hohen Mythologie entnommenen Niobesage
den Metamorphosen einverleibt und demgemäfa aus dem Schatz
volkstümlicher Motive entnommen ist. Das deutet Ovid selbst mit
seiner Entschuldigung an (v. 319f.): res obscura quidem est igno-
hilitate virorum, mira tarnen. Dieses Eingeständnis läßt uns
vermuten , daß das Motiv ursprünglich gar nicht an die Person
der Göttin geknüpft war, sondern erst von Ovid mit Latona ver-
bunden wurde. In der Tat finden wir eine geradezu verblüffende
Parallele in den Metamorphosen I 9 (p. 8, 24 f. Helm) des Apuleius :
eaitponem quoqtie vkinum afqur ob kl aemuhini deformacit [seil.
Meroc anus'] in ranam et nunc senex illc dolio innatans r^ini
sui advcntores pristinos in faece snbmissus officiosis roncis
raucus appcllat. Hier ist die Geschichte von der alten Hexe
Meroe erzählt, und so mag sie auch im Volk verbreitet gewesen
sein. Ovid aber machte, als er das Motiv übernahm, aus einer
humoristisch -gruseligen Spinnstuhengeschichte, in der von religiöser
Tendenz auch nicht die geringste Spur vorhanden war, eine humo-
ristisch-erbauliche Götteraretalogie, deren Zweck offen zutage tritt,
für die Macht der Gottheit Zeugnis abzulegen. Diese Umsetzung
muß der Dichter als ganz geringfügig empfunden haben, denn wenn
er etwas änderte, so tat er es nur dem Gharakter der Metamorphosen
zuliebe, insofern er das Ganze aus dem niedrigen Volkston in seine
literarische Sprache umsetzte. Daneben aber behielt er, so gut es
gehen mochte, die Icherzählung der ursprünglichen Fassung bei, die,
wie ich später zeigen werde, ein roTcog der Wundergeschichte war, und
die ihm eine dokumentarische Beglaubigung seiner Erzählung mög-
lich machte. Der Umstand aber, daß Ovid eine solche Beglaubi-
gung durch einen Augenzeugen^) bietet, zeigt deutlich, daß er als
Quelle eine Wundererzählung benützte; denn dort gehört auch die
ausdrückliche Bezeugung der Wahrheit zum festen Stil. Anders
verfährt Ovid in den Stoffen, die er aus der eigentlichen Mythologie
nimmt. Diese gehören nach einer Theorie, die von Aristoteles
(Poetik c. 9 p. 1451 b 15 ff.) ausgeht und der auch Ovid zu folgen
scheint, zum historisch Gegebenen , an dessen Tatsächlichkeit —
1) Beim Vorgang selbst kann der Erzähler natürlich nicht dabei
gewesen sein, also muß er wenigstens den Ort und die erhaltenen Spuren
des Wunders gesehen haben, vgl. v. 320 ff. Ganz ähnlich ist übrigens
die Topik in Met. VIII 618 ff.
238 H.WERNER
wenigstens insofern es Stoff zu Tragödien bietet — nicht gezweifelt
werden darf. Bei diesem Motiv braucht also Ovid den äußerlichen
Beglaubigungsapparat niemals, wohl aber muß in unserer Geschichte
derjenige, der das Ganze — und zwar soweit möglich als Ich-
erzählung — berichtet, zur Beglaubigung für seine Zuhörer den
Ort des Wunders und den offenbar infolgedessen erbauten Altar mit
eigenen Augen gesehen haben.
Im Schlußteil der Geschichte ist trotz der großen Kürze des
Apuleius am besten zu erkennen, wie eng sich Ovid an sein volks-
tümliches Vorbild angeschlossen hat. Nicht einmal die Idee des
berühmten Verses (376) qnamvis s'mt sub aqua, sub aqua male-
dicere temptant mit seiner Lautmalerei scheint Ovids Eigentum zu
sein, sondern schon aus der Volkserzählung zu stammen, wenn
wenigstens die ganz entsprechenden Worte des Apuleius {officiosis
roncis raucus appellat) als Beweis gelten dürfen. Apuleius wie
Ovid, beide malen mit größtem Behagen die Art und Weise aus,
wie die Verwandelten später weiter vegeliren, der eigentliche Act der
Verwandlung ist nur angetönt. Das also hat Ovid offenbar ebenfalls
seiner Vorlage entnommen. Dagegen mag es ein Witz aus seinem.
Kopfe sein , daß erst mit dem allerletzten Wort ranne die Gestalt
der Verwandelten ganz deutlich gemacht wird.
Dieses Beispiel soll nur bestätigen, was Reitzenstein nach-
gewiesen hat, daß die Gattung der „ Aretalogie " wirklich einen
doppelten Charakter, einen religiösen und einen rein unterhaltenden,
besaß. Ebenso richtig ist wohl, was jener (a. a. 0. S. 12) ausein-
andersetzt, daß der Titel ägexaloyta nur vom religiösen aufs welt-
liche Gebiet und nicht umgekehrt übertragen sein kann. Das geht
aus der Bedeutungsentwicklung des Wortes d.QExrj ^) direkt hervor.
Eine völlig unbewiesene Behauptung scheint es mir jedoch
zu sein, wenn Reitzenstein weiterhin schließt (S. 34 u. sonst), er
könne sich diesen Bedeutungswandel nur erklären unter der An-
nahme, daß die religiöse Wundererzählung sich allmählich ins rein
Unterhaltende umbildete. Am Anfang, so nimmt Reitzenstein
offenbar an, existirte eine religiöse Wundererzählung, aus der die
profane Wundergeschichte ohne erbauliche Tendenz sich erst ent-
wickelte, indem sie zugleich auch den Namen von jener adoptirte.
Ich glaube nicht, daß diese Erklärung alle Eigentümhchkeiten,
welche sowohl die profane wie die religiöse Wundergeschichte
1) Vgl. V. Wilamowitz, Gott. Gel. Nachr. 1898 S. 214 flf.
ZUM A0YKI02 H 0N02 239
l)esitzt, zu deuten vermag, und möchte daher den Gang der Ent-
wicklung anders erklären. Ich nehme an, daß anfänglich sowohl
eine religiöse wie eine rein unterhaltende Wundererzählung
bestand, also keine aus der andern sich entwickelte. Ich hfire
den Einwand: wie war es denn möglich, dafs die Bezeichnung
aQETaXoyia beide Arten von Erzählungen umfaßte, wenn diese doch
ihrem Ursprung nach nicht verwandt sind? Die Lösung dieses
Einwandes ist gegeben, sobald es gelingt, einen einzigen Berührungs-
punkt nachzuweisen, den die beiden Erzählungsgruppen gemeinsam
haben, wenn es außerdem möglich ist zu zeigen, daß die Über-
tragung der Bezeichnung ägeraloyla tatsächlich von diesem Be-
rührungspunkt ausgegangen ist.
Schon aus den Darlegungen Reitzensteins (a. a. 0. S. 8 ff.)
geht hervor, daß beide Gattungen, religiöse und profane Wunder-
geschichte, Dinge erzählten, die von einem gewissen Standpunkt
aus als if>8vöog zu bezeichnen sind. Daher heißt der arctnlogus
in der luvenalglosse fnlsidicus, niendax, artificiosus. Aber der
Aretaloge wird auch noch anders Charakter isirt. Bei Acron zu
Hör. sat. I 1, 120 heißt er loquacissiniits, und Porphyrio sagt
zur gleichen Stelle: Crispinus . . . carmina scripsit, secl tmii.
iHirrtile, nt arefah'ius diceretur. Fragen wir nun, woher der
Vorwurf der (jarridifas und Joquacitas kommen mag, so scheint
mir die Erklärung am nächsten zu liegen , daß man auf die wirk-
lich manchmal recht mühsame Beglaubigungs- und Dokumentirungs-
lopik hinweist, welche der religiösen und der profanen Wunder-
geschichte von Anfang an eigen war und die ich im folgenden
in ihren Einzelerscheinungen zu verfolgen haben werde. Hierin
liegt die garriditas des Aretalogen.
Doch ich stelle zunächst fest. An diesem gemeinsamen Punkte,
daß profane und religiöse Wundergeschichte ein yjevdog erzählten,
dieses ipevdog aber in vollkommen identischer Weise durch eine
weitschweifige Beglaubigungstopik zu verhüllen suchten, fand die
antike Theorie den Anhaltspunkt, um beide Gattungen, die einander
ursprünglich nicht gleich waren , zu vermengen und mit dem
gemeinsamen Namen der uQExaXoyia zu belegen. Ganz außer
acht gelassen wurde dabei der für uns wenigstens grundlegende
Unterschied, der von Anfang an und immer bestand, daß die
unterhaltende und die religiös erbauliche Wundergeschichte ganz
verschiedene Zwecke verfolgten. So konnte es kommen, daß das
240 H.WERNER
historische VerhäUnis der beiden Gattungen als ein Werden der
einen aus der andern angesehen wurde, während sie doch nur.
von Anfang an nebeneinander bestehend, schheßhch fast willkürlich
in eins zusammengeworfen wurden und einander auch in der
Praxis stark beeinflußten, so daß die Grenzen sich immer mehr,
auch für unser Auge, verwischten.
Auf diese Weise glaube ich den manchmal humoristischen * )
Stil der religiösen Wundererzählung viel besser erklären zu können,
als dies Reitzenstein gelingt. In der volkstümlich profanen Er-
zählung war er von jeher zu Hause und störte das Empfinden von
niemandem. Von da aus erst ist er aber in die religiöse Aretalogie
eingedrungen und hat die „erbaulich-obscöne" Aretalogie erzeugt, deren
Existenz nachgewiesen zu haben das Verdienst Reitzensteins -) ist.
Durch diesen Nachweis werden wir uns freilich nicht zwingen
lassen — und damit kehre ich zum Ausgangspunkt meiner Er-
örterungen zurück — auch den Eselroman des Lukios von Patrai
in die Kategorie der ,, erbaulich -obscönen" Aretalogien einzureihen,
wie Reitzenstein tut. Er glaubt diese Einordnung stützen zu können
durch den gewifs berechtigten und kritisch sehr fruchtbaren Hinweis
(a. a. 0. S. 34), daß die Erklärung des romanhaften Teils der Esel-
geschichte in einer Weise zu geschehen habe, aus der begreiflich
wird, wieso Apuleius diesen Teil mit dem von ihm hinzugefügten rein
erbaulichen Abschlufs „als hterarisch gleichartig empfinden konnte".
Dies vermag unsere obige Erklärung des Verhältnisses der er-
baulichen zur unterhaltenden Wundergeschichte sehr wohl zu leisten :
denn nach jenen Ausführungen hat die Übertragung der Rezeichnung
aQExakoyia gar keine Rücksicht genommen auf den erbauhchen
oder weltlichen Charakter der Wundergeschichten. Die Aretalogie
1) Das Volk empfand den fi'aglichen Stil in sehr vielen Fällen gar
nicht als „humoristisch"; nur uns, die wir von der gemessen sich aus-
drückenden Literatur herkommen, erscheint er so. In Wirklichkeit war
die Absicht nur eine drastisch derbe, wie sie das Volk liebt. Es ist
darum immer mißlich, bei solchen Geschichten aus dem Volke in einzelnen
Ausdrücken Satire und ähnliche Nebenabsichten zu suchen. Wir ver-
gessen dabei, daß in verschiedenen Gesellschaftsschichten die gleichen
Ausdrücke eine andere Wirkung haben. Bei Petron besteht eine großer
Teil des Witzes in der Ausbeutung dieser Tatsache.
2) Hell. Wundererzähl. S. 32, 2. Parallelen zu der dort angeführten
Episode gibt Rabbow (Wien. Stud. XVII 1896 S. 253) aus der Legende
des Martinian.
ZUM ÄOYKIOy H ONOE 241
im weitein Sinn umfaßte vielmehr beide verschiedenen Gruppen von
Erzählungen, erbauliche und rein unterhaltende. Ihr gemeinsames
Merkmal, das sie als Einheit erscheinen ließ, lag darin, daß beide
eine Darstellung wunderbarer Vorgänge ohne kunstmäßig dramatische
Disposition des Stoffes (s. Reitzenstein a. a. 0. S. 8411'.), aber mit Zu-
hilfenahme gemeinsamer xonoi zur Bekräftigung der Wahrheit des
Erzählten geben wollen. Wenn nun Lukios von Patrai eine solche
Verwandlung in einen Esel in rein unterhaltender Absicht
geschrieben hat — und der „lukianische" Aus/.ug läßt kaum einen
andern Schluß zu — und wenn dann Apuleius einen frommen
Schluß daran knüpfte, so sehe ich nichts, was ihn hätte hindern
können, die beiden Teile, die uns so gar nicht zusammen zu passen
scheinen, als literarisch gleichartig zu empfinden und zu einen Ganzen
zu vereinigen.
Was die starken Obscönitäten im Eselroman anbetrifft, so haben
wir nun auch nicht mehr nötig, die erbaulich-obscöne Aretalogie als
Erklärung zu Hilfe zu rufen. Viel einfacher ist es, wenn wir an-
nehmen, daß diese Obscönitäten zu den Beiträgen gehören, welche
die unterhaltende volkstümliche Erzählung bei der Synthese ge-
liefert hat; denn dort waren saftige Situationen von jeher beliebt und
von dort sind sie vom religiösen Wundererzähler übernommen wor-
den, als einmal die volkstümliche Wundergeschichte und die erbau-
liche unter der oben gegebenen Definition in eins geflossen waren.
Auf die Einreihung der Eselgeschichte wird später noch
zurückzukommen sein. Zunächst schulde ich noch die Betrachtung
der Stilmittel und jonoi im einzelnen, von denen oben behauptet
worden ist, daß sie beiden Arten von Wundergeschichten gemeinsam
gewesen seien und so ihr Zusammenfließen verursacht hätten. Daß
alle diese tÖjioi darauf ausgehen, die „Wahrheit" des Erzählten zu
bekräftigen, ist bereits gesagt.
Rohde (Griech. Roman S. 272 f.) hat zunächst den rönog be-
handelt, der ein altes Buch oder eine Inschrift als Wahrheitszeugen
anruft. Die Fiktion ist meistens die, daß irgendeine weise Persönlich-
keit in uralter Zeit die Ereignisse aufgeschrieben haben soll. Das
Schriftstück, in dauerhaftestem Material niedergelegt, blieb dann
nach der Fiktion lange Zeit verborgen, wurde aber schließlich auf-
gefunden. Und die Erzählung verspricht dann wahrheitsgetreu den
Inhalt des Dokumentes wiederzugeben. Aber dieser coTiog hat in
unserer Gattung von Geschichten eigentlich nicht gewirkt, sondern
Hermes LIII. 16
242 H. WERNER
nur in der als Roman bezeichneten Literaturgatlung beliebte Anwen-
dung gefunden. Darum soll auf ihn nicht weiter eingegangen werden ^).
Dagegen interessirt uns die Form des ronog, bei welchem die
Autorität irgendeines Menschen zur Bekräftigung der Wahrheit
in die Wagschale gelegt wird. Das kann in verschiedener Weise
geschehen. Der Erzähler kann für irgendein Ereignis, das ihm
selbst zugestoßen sein soll, sich auf die Bekräftigung seiner Aussage
durch Augenzeugen berufen, wie z. B. bei Lukian (Philops. c. 25)
der Philosoph Kleodem seinen Hausarzt Antigonos als Zeugen für
seine schwere Erkrankung anbietet oder Hieronymus (vita Hilarionis
c. 39) sich auf eine ganze zuschauende Menge beruft: cuncfa
spectante piche immnneitt hestiam coucremavit^).
Am allerverbreitetsten aber und für die Wundergeschichten
recht eigentlich charakteristisch ist eine weitere Variation des rojiog
geworden. Statt sich auf irgendeinen beliebigen Gewährsmann zu
berufen, von dem er die Geschichte, welche er erzählt, gehört haben
will, tritt der Erzähler oder Verfasser der Wundergeschichte mit
seinem eigenen Namen für ihre Wahrheit ein. Er behauptet, den
Vorgang selbst miterlebt zu haben, und gibt daher das Ganze als
Icherzählung in der ersten Person. An geeigneter Stelle nennt
er dann auch gelegentlich seinen — wirklichen oder wohl meist
fingirten — Namen und manchmal sogar die bürgerliche Stellung,
um seinem persönlichen Zeugnis mehr Nachdruck zu verleihen ^).
1) Einige Nachträge zu Rolides Darstellung gibt Reitzenstein a. a. 0.
S. 17 f. Zu vergleichen ist ferner Scliissel von Fieschenberg in d. Z. XLV
1910 S. 27ff.
2) Um die Beisjsiele, die im folgenden noch vermehrt werden, nicht
zu häufen, sei eine parallele Stelle aus der um 1150 verfaßten Visio
Tnugdali, die das Fortwirken des röjiog im Mittelalter beweist, in die
Anmerkung verwiesen, vgl. S. 7, 7 Wagner: tiavi, nt plnrimi Corcagcnsis
civitatis testanttir incolae, qni ei lunc aderant, iier trium diernm et iwctinm
spatitim iacuit morttiKS.
3) Selbst in die Geschichtschreibung ist der zö.-tog eingedrungen.
Dies beweist Lukian hist. conscr. c. 29: ä^J.og . . . ovök töv e'teqov nöda
EX Koolvdov jTQoßsßrjxojg .... oj8e tjg^aro ' ^sfivrj/iai yög ' mra o(p&a?.fiä>r
UTiiorÖTEoa' ygäfpoi zoi'vvv a eidov ovy^ a t'jy.ovoa. Auch eine Novelle, die
gar nichts Wunderbares enthält, beginnt Die von Prusa mit der Ver-
sicherung (Euboikos c. 1): x68e fiijv avrog iSojv ov trag' eieqojv dxovoag
öiijyijooiLiai. Durch Verkehrung ins Gegenteil beabsichtigt Lukian hist.
ver. I 4 eine Verspottung: yQdqpco toc'vvv negi <wv fii]T€ eISov firjXE enadov
IxryiE naQ a).).o)v sjtvßöfirjv, exi 8e /ttjis oXoyg ovxcov fir/xs xi]v dgyyv yEVEoßai
ZUM AOYKIOl^ II Oyo:^ 243
Wie dieser rojiog gewirkt hat, zeigt am besten das viel be-
handelte^) Beispiel von den Unterweltsvisionen, die Leute gehabt
haben wollen , welche irrtümlicherweise zu früh in den Hades
geholt und nach Erkennung der Verwechslung wieder an die Ober-
welt zurückgeschickt werden. Es sei daher gestattet, an diese be-
kannten Dinge kurz zu erinnern. Plutarch (erhalten durch Euseb.
Praep. ev. XI 36) läßt die Geschiclite durch einen persönlichen Be-
kannten des Auferstandenen erzählen. Bei Lukian (Philops. 25)
will Kleodem die Hadesfahrt selbst erlebt haben, und als weitern
Gewährsmann bietet er seinen Arzt Antigonos an, der ihn während
seiner Krankheit und seines Scheintodes behandelte. Augustin (de
cura pro mort. ger. 12, 15) behauptet, einer seiner Täuflinge habe
die Unterweltsvisionen und die Auferstehung vom Tod durchgemacht,
weil der Todesbote durch die Namensgleichheit von Curma dem
curialis und Curma dem faber ferrarius getäuscht worden sei. Bei
Augenzeugen der Krankheit und des Scheintodes will er sich die
Bestätigung geholt haben. Gregor der Grofse berichtet seinerseits
das Auferstehungswunder von einem seiner Freunde (Dial. IV 36
p. 384 A Migne). Es kann kein Zweifel sein. Immer wieder dieselbe
Geschichte wird uns erzählt, die von Mund zu Mund wandert. Und
immer soll sie vor kurzer Zeit und im engen Bekanntenkreis des
Erzählers geschehen sein. Dies ist die Kraft des rojiog, den diese
Männer, die die Umformung der Geschichte in ihre eigene Zeit vor-
nahmen, besser eingesehen haben, als wer sie wegen dieser „Un-
wahrheit" tadelt.
Auch sonst finden sich in den von Reitzen stein analysirten
Erzählungen auf Schritt und Tritt Belege für unsere Topik. Dieser
im Vorbeigehen zusammengetragenen Fülle von Material gegenüber
sei es gestattet, auf eine Reihe dort nicht behandelter volkstüm-
licher VVundergeschichten einzugehen, die sichtlich unter dem Banne
der gleichen Topik stehen.
Bei Petron fällt auf, daß von den verschiedenen Einschalt-
geschichten gerade die zwei in Cap. 61 — 63 erzählten, die von der
Verwandlung eines Werwolfs und von einem Spuk nächtlicher
dvva/LiEvon'. 8i6 Sei rovg h'zvy/ärovTag fu]8aficög -tiareveiv arroTg. Die Pa-
rodie in dieser Schrift Lukians geht bis auf das Stilistische.
1) Am vollständigsten ist die Literatur zusammengestellt bei Wend-
land, De fabellis antiquis earumque ad Christianos propagatione, Progr.
Göttingen 1911 S. 26.
16*
244 H. WERNER
sfrigae berichten, als Icherzählungen abgefaßt sind. Trimalchio und
Niceros berichten ihre Schauergeschichten ganz ernsthaft, genau
werden die einzelnen Örtlichkeiten, wo sie den Spuk erlebt haben
wollen, beschrieben, damit die Hörer ja nicht an der Wahrheit der
Geschichte zweifeln sollen. Und den Schlufs macht Niceros mit
einem derben Eid: viderint alii, quid de hoc cxopinissint; ego si
mentiar, gcnios vesfros iratos liabeam^). Trimalchio selbst gibt
ihm zur Bekräftigung nachher das Zeugnis, er sei certus et miniinc
linguosus. Die Geschichte von den sfrigae, die er dann seinerseits
als eigenes Erlebnis auftischt, soll nur dazu dienen, die Glaub-
würdigkeit seines Kumpans ins rechte Licht zu setzen. Es sind
wieder unsere alten rö:70i, aber Petron hat ihnen einige neue
Seiten abzugewinnen gewußt und ihnen vor allem ein persönliches
Leben gegeben, so daß die Typenhaftigkeit fast unerkennbar ist.
Daß schließlich der ganze Roman als Icherzählung abgefaßt ist,
darf vielleicht als nicht zufäUige Übereinstimmung mit der Erzählung
vom verzauberten Eselmenschen angesehen werden. Immerhin sind
bei dem trümmerhaften Zustand des Werkes weitere Schlüsse nach
dieser Seite nicht zu ziehen.
Noch interessanter gestaltet sich die Betrachtung unserer tötzoi
bei Apuleius, der ja in seine Metamorphosen eine ganze Reihe
von Novellen eingeschaltet hat, die gesondert von der Hauptfabel
betrachtet werden müssen. Alle Einschaltnovellen, die von Zauber
und Spuk berichten, sind auch hier als Icherzählungen stilisirt
und mit dem ganzen Beglaubigungsapparat umgeben, den wir nun
bereits kennen. Dabei macht sich allerdings an manchen Stellen
eine Stimmung des Autors fühlbar, die sich auf Kosten desjenigen
Lesers belustigen möchte, der die Wahrheitstopik und damit die
ganze Geschichte für bare Münze nehmen wollte. Met. I 5 ff.
wird von einem Menschen erzählt, der als Liebhaber einer Hexe
ganz heruntergekommen ist und bei einem Versuch der bösen sagu
zu entfliehen durch einen halb gruselig, halb lächerlich anmutenden
1) Auch der schülerhafte Historiker bei Lukian (bist, conscrib. 14).
der seine Geschichte mit der Beteuerung beginnt, daß er Dinge berichten
wolle, die er neulich in lonien von andern Geschichtsschreibern gehört
habe, möchte die Wahrheit seiner Darstellung mit einem Eid beteuern,
wenn dies nur mit dem Stil der Geschichtscbreibung zu vereinbaren
wäre : i^gog Xagizuv fxrjdsig aniorrjO]] xoXq ^.syüijoofidvoig ■ ort yÜQ aXrj&fj sari
y.av s:Ta>fioadfir]r, el darsTov i)v öohov i^iri&ivai ovy/od/nuari.
ZUM AOYKIOi: II 0x02: 245
Zauber jämmerlich sein Theben verliert. Die verschiedenen xonoi,
nach denen wir suchen, finden sich geradezu gehäuft in dieser so
eigentümlich anmutenden Geschichte, die den Ton des Volkes, das
über Gespenster bald spottet und lacht, bald aber doch wieder ein
heimliches Gruseln spürt, gar nicht schlecht trifft. Sie ist als Ich-
erzählung einem Bekannten des Behexten in den Mund gelegt.
Dieser halte den Unglücklichen zu retten versucht und war dadurcli
Zeuge unheimlicher Zaubereien geworden, die er uns schildert, nach-
dem er die übliche Wahrheitsversicherung gegeben hat: äeierabo
solem istam otnnividcnfon deum me vera ac comperta memorare,
nee vos idterins dtihitahitis, si Thessaliani proximam civitatem
pervenerifis, quod ibidem pmsim per ora popidi sermo iactef,
quae pnlani gesta stint^). Es folgt ein weiterer rojiog, indem der
Berichterstatter über sein Herkommen und seinen Beruf Auskunft
gibt: sed id prius noriiis, cuiatis sim: Äegiensis, audite et quo
quaestu me feneam: melle vcl caseo et liuiuscemodi cauponarum
mercihus per Thessaliani, Aefoliam, Boeotiam idtro citro dis-
currens. Dafs nur Stand und Herkunft, nicht aber der Name ge-
nannt wird, darf an dieser Stelle nicht befremden; denn Lukios,
dem der Hausirer seine Geschichte erzählte, mußte doch wenigstens
die Namen seiner Reisegefährten kennen ; diese also dem xojiog zu-
liebe nochmals wiederholen zu lassen, wäre sehr gekünstelt gewesen.
1) Es knüpft sich an diese Stelle eine kleine Controverse, die für
unsere Untersuchung niclit ganz ohne Interesse ist, indem Bürger in
seiner bereits mehrfach citirten Dissertation De Lucio Patrensi p. 28 be-
hauptete, die Worte stünden in Widerspruch mit der ganzen folgenden
Erzählung. Der Berichterstatter sei ja der einzige Überlebende, der jenen
nächtlichen Spuk gesehen habe, und er werde sich wohl gehütet haben,
den Stadtbewohnern etwas von seinem Abenteuer zu erzählen (vgl. Apul.
Met. I 14 p. 13, 10 Helm u. I 19 p. 18, 11 H.). Es sei demnach unwahr-
scheinlich, daß die ganze Stadt davon reden könne. Falls wir dieses
Bedenken Bürgers annehmen wollten, hätten wir ein Beispiel dafür, daß
der uns bereits bekannte xöjiog (vgl. S. 242 und Hieronymus vita Hilarion.
c. 2: hoc Epidaurus et omnis illa regio usqtie liodie jjvaedicut matresque
docent liberos suos ad memorium in posteros transmittendam) unbewußt
einmal an unpassender Stelle verwendet wäre. Doch halte ich diese
Annahme für unnötig. Die richtige Lösung scheint der von Bürger nicht
beachtete Zusatz: quae palam gesta sunt zu bieten. Aristomenes meint
damit die früheren Taten der Hexe, von denen er ja auch erzählt. Für
sie allein liegt die Beglaubigung in den Erzählungen des Volkes. Für die
nächtlichen Zaubereien steht Aristomenes mit seinem eigenen Namen ein.
246 H.WEBNER
Eine Untersuchung der übrigen Wundergeschichten bei Apuleius
würde zeigen, daß auch dort eine analoge Topik durchgeführt ist.
Ich brauche daher nur kurz darauf hinzuweisen, welche Stücke über-
haupt in Betracht kommen. Vor allem ist es die „gefährliche
Totenwacht" (II 21 ff.), dann gehören hierher die mit der Hauptfabel
verflochtenen Schwanke von dem wahrsagenden Chaldäer (II 13) und
von dem nächtlichen Kampf mit den Ziegenschläuchen (II 32 ff.) und
endlich die absonderliche Compilation von Wundern in IX 33 ff.
Mit Absicht habe ich die Geschichten, welche Lukian seine
philosophisch gebildeten fPiAo\pEv6eig ^) erzählen läßt, bisher beiseite
gelassen. Denn die von uns gesuchten tojioi liegen zwar in dieser
Schrift in den mannigfaltigsten Variationen vor und sehr oft mit
einer Deutlichkeit wie nirgends sonst, aber gerade hier ist ein
Mißdeuten derselben außerordentlich naheliegend. Lukian beginnt
seinen Dialog mit dem Ausdruck der Verwunderung darüber, daß
ernsthafte Männer nicht allein Wundergeschichten erzählen und
daran glauben, sondern sogar ihr Ehrenwort darüber abzugeben
wagen, daß das Wunder wirklich geschehen und von ihnen selbst
miterlebt worden sei c. 5: ov yäq dlod^a . . . oTa [xev elnev,
ojicog de amä eniaTCooaro, (bg de xal ejtcajuvvto xoTg nXeioxoig,
jiaoaoT}]odjuevog rd naidia ^). Wer daraufhin die einzelnen Er-
zählungen der Philosophen durchgeht, bemerkt in der Tat, daß
jeder das Wunder, das er vorträgt, selbst erlebt haben will und
demnach in der Ichform schildert und mit allen Mitteln zu be-
teuern sucht. An und für sich betrachtet liegt es sehr nahe, diese
Form dem Lukian auf die Rechnung zu schreiben und so zu er-
klären, als habe er die Ichform und die eidlichen Bezeugungen aus
seinem eigenen Geiste erfunden und verwendet, um die Philosophen,
die schon lächerlich genug sind, weil sie überhaupt an solche
Ammenmärchen glauben, dadurch doppelt dem Hohne preiszugeben,
daß sie mit so heiligem Ernste bezeugen, selbst solche Dinge erlebt
1) Die Verteidigung, die Reitzenstein a. a. 0. S. 2 implicite der
Titelform ^ü.oif'ev8)]g angedeihen läßt, scheint mir unhaltbar gegenüber
den Gründen, die Rothstein (Quaestiones Lucianeae, Diss. Berlin 1888
p. 6) zugunsten der Form ^doipsväsTg vorbringt ; denn daß der Dichter
wirklich sich selbst und seine Darstellung als (pO.oipevdrjg, mendax habe
hinstellen wollen, erscheint kaum denkbar. Die Lügeufreunde sind wirk-
lich die von Lukian verhöhnten Philosophen.
2) Über die Bedeutung dieser Wendung vgl. Dikaiomata, heraus-
gegeben von der Graeca Halensis S. 121.
ZUM AOYKIOI II OKOI 247
zu haben. Dafs dieses let/lere der Zweck Lukians war, ist gewiß,
und doch muß unsere Beurteilung der Icherzählung und der Be-
glaubigungstopik eine andere sein. Schon die Leute, welche vor
Lukian im Ernst Wundergeschichlen erzählten, hatten jene Topik
ausgebildet. Sie stammten aber meist aus den untern Volksschichten,
wo die ganze Gattung der Wundergeschichte ihre Wurzeln besitzt.
Der Spott Lukians besteht also darin, daß er seine gebildet sein
wollenden Philosophen nicht blofs die Stoffe zu ihren Geschichten
aus jenen Volksschichten entnehmen läßt, sondern zugleich auch
die ganze Art und den Stil der Darstellung. Mit der Anwendung
der Icherzählung und der Bezeugungstopik aber sagt Lukian nicht
mehr und nicht weniger, als daß die Philosophen in seinen Augen
auf der gleichen Stufe stehen, wie der letzte Lastträger, der die-
selben Geschichten mit genau der gleichen Technik erzählen würde
und schon oft erzählt hat.
Auf eine weitere Gruppe von Wundergeschichten, bei denen dem
Verfasser die bloße Ichform nicht mehr genügte und er daher nach
einer Verstärkung der Topik suchte, möchte ich zum Schluß dieses
Abschnittes noch kurz eingehen. Ich meine die drei ersten, litera-
risch ausgebildeten Kapitel von Phlegons Mirabiliensammlung. Von
diesen hat Rohde^) nachgewiesen, daß sie von der gleichen Hand
nach einem einheitlichen Plane gestaltet worden sind und zwar
durch Umgestaltung des StofTes in Briefform. Für die beiden ersten
Kapitel ist diese Einkleidung durch die Überlieferung direkt bezeugt,
während für die dritte Geschichte eine Bestätigung vielleicht nur
durch Zufall verlorengegangen ist. Was bezweckte der Verfasser mit
seiner Einkleidung in die Form des Briefes? Aus der Art, wie er
die Briefform benützt, geht deutlich hervor, daß nichts anderes als
eine Verstärkung der Beglaubigungstopik sein Ziel war ; denn die
Einkleidung erlaubte ihm, vornehme und berühmte Namen zu
Zeugen seiner Geschichte zu machen und überhaupt der ganzen
Topik einen gewissen juristischen Charakter zu geben. So ist
das erste Mirakel in seinem ganzen Verlauf von einer Reihe amt-
licher Feststellungen begleitet. Zum Schluß erbietet sich der
Schreiber des Briefes, der wohl als Vorsteher der Stadt gedacht ist,
eidliche Zeugen zum König zu schicken, falls das Ereignis für
wichtig genug angesehen werde, um zu seinen Ohren zu gelangen 2).
1) Kl. Schriften II S.lTÖfif., vgl. Wendland, De fabellis antiquis p.öff.
2) Einige Bemerkungen zum verlorenen Anfang von Phlegon
248 H. WERNER
Kurz, mau sieht auf Schritt und Tritt das Bestreben des Schrift-
stellers, jeglichen Skepticismus mit einer Flut amtlicher, beglau-
bigter Feststellungen förmlich zu ersäufen. Es ist eine höchste
Steigerung, zugleich aber auch eine starke Veräußerlichung unserer
Beglaubigungstopik , die wohl deshalb eintrat, weil, wie auch bei
Lukian festzustellen ist, die Anwendung der Ichform und die mehr
private Beglaubigung durch einen Schwur des Erzählers anfing so
abgegriffen zu werden, daß man sie leicht lächerlich machen konnte.
Mirab. 1 mögen hier Platz finden. Die wiedergefundene Epitume unserer
Erzählung bei Proklos im Commentar zu Piatons Staat (IIS. IKj Kroll)
erlaubt bekanntlich verschiedene Einzelheiten des Anfangs der Ge-
schichte, der bei Phlegon selbst zusammen mit den Blättern der Heidel-
berger Hs. zugi'unde gegangen ist, mit Sicherheit zu ergänzen. Aber
ein Punkt wird auch durch Proklos nicht aufgehellt: Warum kam Phi-
linnion überhaupt zu Machates in die Kammer V Rohde (und nach ihm
Wendland a.a.O. u. 5 p.l) hat die Frage zu lösen versucht, indem er Kl.
Schriften II S. 177 schrieb: „Hatte sie ihn etwa bereits im Leben geliebt
und war wider Willen mit Krateros vermählt worden? Vermutlich würde
uns hierüber, wäre er erhalten, der Eingang der Erzählung des Phlegon
aufklären." Ich kann weder jene Vermutung noch diese Hoffnung teilen.
Gegen jene nämlich erheben sich sachliche Bedenken aus dem Text des
Phlegon selbst. Wie kann Machates später wieder als Gast in das Haus
der Eltern gelangen, die ihn als Bräutigam ihrer Tochter abgewiesen
haben? Noch weiter geht die Bedeutung des folgenden Argumentes,
daß Machates, wie aus den Worten (p. 52, 9 Keller) : f.i6hg Se tioxe SiEod-
cpfjoev ort ^lUvviov sit] hervorgeht, das Mädchen früher gar nicht kannte,
geschweige denn umworben hatte. Ähnliche Bedenken mögen Hausrath
und Marx, Griechische Märchen S. 188 ff. bewogen haben, die von Rohde
vorgeschlagene Lösung in ihrer Übersetzung zu verwerfen und dafür eine
andere einzusetzen, zu der sie ohne Zweifel durch das Motiv des Liebes-
anfangs im Epyllion von Hero und Leandros angeregt wurden. Aber auch
dieser Ausweg vermag die genannten Schwierigkeiten nicht zu beseitigen.
Ich selbst dachte eine Zeitlang daran, die Begründung der Liebe der Philin-
nion könnte durch ein Traummotiv gegeben gewesen sein, wie es in der Ge-
schichte von Odatis und Zariadres (Athen.XlII p. 575) wiederkehrt. Doch
auch dies befriedigt nicht. Es bleibt darum wohl nichts andres übrig,
als anzunehmen, die Liebe der Philinnion sei bei Phlegon gar nicht
weiter begründet gewesen, und den Worten des Proklos, Philinnion
sei zu Machates gekommen dtä rov .toö? avröv e'gcoza, habe auch in der
ausführlichen Fassung keine weitere Motivirung gegenübergestanden.
Die Geschichte paßt dann in ihrem Mangel an psychologischer Feinheit
auch viel besser zu den beiden andern Briefen des Phlegon in cap. 2
und 3, die ja auch nur kruden Aberglauben in tollem Wirrwarr geben.
Die -Braut von Korinth" steht auch so noch weit über ihnen.
ZUM AOYKIOS H ONOS 249
Darum mufste der Tonog eine neue Wendung bekommen und wo-
möglich verstärkt werden. Dies erreichte der Redaktor der phle-
gontisehen Briefe, indem er seinen Beglaubigungen einen gewissen
amtlich-juristischen Anstrich gab.
III.
Nachdem wir in den vorstehenden allgemeinen Ausfiilu'ungen
einen Überblick über die Beglaubigungstopik der Wunder- und
Zaubergeschichte gewonnen haben, wird es an der Zeit sein, zum
Ausgangspunkt der Untersuchung, d.h. zu der Erzählung von dem
verzauberten Eselmenschen, zurückzukehren und die gewonnene Ein-
sicht auf sie anzuwenden.
Die ganze Erzählung ist voll von Zaubereien und geheimnis-
vollen, unglaublichen Abenteuern, bedarf also vom Standpunkt des
naiven Lesers aus unbedingt äußerer Beglaubigung. Ganz in her-
gebrachter Weise bekommt daher das Ganze die Form der Ich-
erzählung, und daran schließt sich als ebenso üblicher ronog die
Namensnennung dessen, der für die Wahrheit seiner Erzählung bürgt.
Sie braucht darum noch nicht den wirklichen Namen des Helden
und damit des Erzählers zu geben, weil ihr literarischer Zweck
darin besteht, die erzählten Abenteuer als tatsächlich geschehen zu
dokumentiren ^). Bereits v. Arnim (Wiener Studien XXII 173) streifte
ganz kurz die Möglichkeit, „daß solche genauen Angaben trüge-
rischer Art von dem Schriftsteller gemacht werden, um einen grö-
ßeren Schein oberflächlicher Glaubwürdigkeit hervorzurufen". Doch
weist er den Gedanken sofort ohne weitere Argumente zurück.
Sein Fehler besteht darin, daß er die topische Bedeutung der Stelle
nicht erkannte und diese isolirt betrachtete, statt sie mit analogen
Stellen anderer verwandter Geschichten in Beziehung zu bringen.
Bedenken gegen unsere Erklärung des fraglichen Abschnittes im
55. Kapitel des „lukianischen" "Orog könnte immerliin noch die
1) Es soll wenigstens erwähnt werden, daß vielleicht durch eine
bloße Zufälligkeit der Epitomirung im „lukianisclien" "Ot'og der Name
des Helden vor jenem 55. Kaj^itel gar nicht genannt ist und infolge-
dessen dort als überraschender Schlag wirkt. Apuleius wenigstens bietet
den Namen bereits früher im Verlauf der Geschichte zu wiederholten
Malen. War das schon in den Metamorphosen des Patrensers so? Dann
liegt die Idee einer Satire natürlich ganz fernab. Oder hat Apuleius
auch diesen Witz (der dann immerhin in dem röjiog liegt) wie so manchen
andern des griechischen Originals verdorben?
250 H.WERNER
krause Form erregen, in der die Namensnennung dort gegeben ist
und die eine Auffassung als Satire zu rechtfertigen scheint. Aber
zunächst ist uns ja die Beurteilung der Stelle durch ihre verderbte
und verstümmelte Überlieferung sehr erschwert, und außerdem ist
die zugegebenermaßen etwas bombastische Form durchaus kein
Grund, die ganze Stelle kurzweg als Parodie zu erklären '). Viel-
mehr gehört eine etwas schwülstige Ausdrucksweise auch hier zum
Stil des TOJiog. Ich verweise als Parallele nur auf die Art, w^ie
bei Phlegon Mirab. 1 der Priester Hyllos auch gleichsam zur Be-
glaubigung eingeführt vi^ird: ovdevög dvvajLievov xgTvai rä ngay-
juara, ngcorog "YXkog, ö vojui^ojuevog Ttag' fj/iuv ov juovov [idvTig
ägioTog, ä?dd xal olcovooxonog xo/iiyog elvai, rd re akXa ovv-
ecogatiCbg ev Ttj re^vt] jTSQnzcög, dvaordg sxskevev .... Diese
Stelle muß uns um so mehr interessiren, als wir hier zugleich
einen Beleg haben für den Ausdruck judviig äyaß^og^), der in
jenem 55. Kapitel des "Ovog so viel Anstoß erregte und mit dem
man hauptsächlich auch die ironische Auffassung der Namens-
nennung vor dem Prätor rechtfertigen zu können meinte. Ganz
besonders wichtig wird aber die Phlegonstelle für uns, weil man
auch dort eine ironische Absicht des Autors hat herauslesen wollen,
wobei freilich von vornherein zugegeben werden mußte, daß ein
Beweis für die Behauptung fehle ^). An beiden Stellen hat Un-
kenntnis der besonderen Topik den Irrtum herbeigeführt.
Wir werden also berechtigt sein, an unserer Erklärung fest-
zuhalten, daß Icherzählung und Namenstopos durchaus keine paro-
distische Absicht enthalten, sondern durch das literarische yevog
bestimmt sind, dem die Geschichte vom Eselmenschen angehört.
Es war außerdem oben (S. 243) zu sehen, in welcher Weise die
Topik wirkt, wenn die Erzählung von andern Autoren weitererzählt
1) Auch der Umstand mnfs gegen die Annalmie einer Parodie be-
denklich stimmen, daß, falls eine Verhölmung in der Stelle liegen soll,
der im Grund unbeteiligte Bruder des Lukios als 7rot»;r>)? eleyekov xal
/lävng aya-Oog viel schlechter wegkommt als Lukios selbst, der außer-
ordentlich gelinde als lorogiür aal äXXcov ovyyQacpsvg bezeichnet wird.
2) Reitzenstein a. a. 0. S. 33 A. 2 verweist als Parallele auf die be-
kannte Charakteristik des Ampliiaraos, womit nicht viel gewonnen scheint.
3) Wendland, Festschr. d. Schles. Ges. f. Volkskunde, Breslau 1911,
.S. 33. Er wiederholte seine Ansicht De fabellis antiquis p. 8 n. 3: quani-
quam fateor rem comprohari non posse, taincn ironiaui qitandam odorari
viüii videor, qua prüca fabula utehutur in describendo vate.
ZUM AOYKIOI II 0X0^ 251
wird. Jeder übernimmt die totzoi niclit einfacli unverändert, sondern
bezieht sie auf seine eigene Zeit.und Person, frischt also den Wahr-
heitsbeweis immer wieder neu auf. Für die Eselgeschichle ist es
uns nun möghch, die Probe aufs Exempel zu machen, da Nach-
ahmungen und Übersetzungen aufgewiesen werden können, welclio
sich der Topik genau in der angegebenen Weise bedienen. Von
Agnolo Firenzuola, der die erste Übersetzung von Apuleius' Meta-
morpliosen ins Ilahenische verfaßte (L'asino d'oro, Venezia 1550).
erklärt Lorenzo Scala in der Dedikation des Werkes, der Übersetzer
habe in seiner Übertragung etwas getan, was sonst nicht üblich
sei, nämlich far memoria della vita sud. In der Tat zeigt eine
Betrachtung der „Übersetzung", daß Firenzuola mit seinem Original
sehr frei umgesprungen ist. Nicht genug daran, daß er die Ein-
führung, die Apuleius zu Beginn seines Werkes über seine eigeno
Person gibt, auf sich selbst bezieht und Daten aus seinem Leben
statt der apuleianischen einsetzt: Firenzuola verlegt auch den Schau-
platz der ganzen Abenteuer in seine eigene Zeit und nach Italien.
Er selbst will die ganze Geschichte erlebt haben, erzählt also in
erster Person und in Anführung seiner Lebensumstände. Das doch
wohl nicht, w^eil er sich selbst an den Pranger stellen wollte, son-
dern weil er instinktiv die Macht des xonog erkannt hatte ^).
Vielleicht nicht ganz soviel Beweiskraft wird man einem zweiten
Fall zuschreiben wollen, doch ist er immerhin typisch genug, um
erwähnt zu werden. Bei Martin Zeiller ist der Inhalt des Aovxioq
zum Erlebnis eines „ Kriegsbediensteten " geworden, das dem Be-
richterstatter von einem „Herrn Obristen" erzählt wurde, der im
30 jährigen Kriege gedient hatte. Praetorius (Newe Weltbeschrei-
bung, anderer Theil, Magdeburg 16(57, S. 452 ff.) verbreitet die
Geschichte nach der Darstellung Zeillers weiter, indem er Aus-
schmückungen anbringt. Er bezeugt aber, das Ganze von „unter-
schiedlichen glaubwürdigen Leuten" gehört zu haben 2). Auch in
diesem ganzen Vorgang wird man unsere Topik wiedererkennen.
1) Misch (Geschichte der Autobiographie I 224) zeigt, wie es auch
im sophistischen Liebesroman möglich war, daß der Verfasser seine
eigene Lebensgeschiebte in den Roman einfügte, an dem Beispiel von
Jamblich (Photios Bibl. cod. 94 p. 329 D Migne). Halbwegs vergleichbar
findet er die von Cervantes in den Don Quijote eingeschobene Erzählung
von seiner Gefangenschaft in Afrika.
2) Die beiden Texte des Zeiller und Praetorius waren mir nicht
zugänglich. Ich kann daher nur die Angaben Rohdes (Kl. Schriften 11
201) reproduciren.
252 H. WERNER
Doch nunmehr sollen die Folgerungen, die wir zu ziehen be-
rechtigt sind, zusammengestellt werden. Der Gedanke, daß die
Icherzählung und die Namensnennung im Eselroman parodistisch
gemeint seien, muß endgültig fallen. Weil außer diesen keinerlei
Anzeichen für eine satirische Absicht geltend gemacht werden
können, darf nicht mehr zweifelhaft sein, daß auch die „lukia-
nische" Fassung des "Ovog ernsthaft und „gläubig" vorgetragen
ist. Damit wird der ganze unfruchtbare Streit wesenlos, wo
die parodistische Absicht zuerst auftrete und wer ihr Opfer sei.
Andrerseits gewinnt eine bereits citirte Feststellung Bürgers über
die Art und Weise der Epitomirung (vgl. S. 228 A. 1) erhöhte
Bedeutung. Der unter Lukians Namen erhaltene "Ovog wird zu
einem bloßen handwerksmäßigen Auszug aus den umfangreichen
Metamorphosen des Lukios von Patrai, und Lukian kann nach dem
allgemeinen Urteil der Verfertiger eines solchen Auszuges nicht sein.
Sinkt so der griechische pseudolukianische AovyAog r) ovog in
unserer Wertschätzung als selbständiges literarisches Produkt be-
denklich herab, so kann er uns andrerseits um so wertvollere
Dienste leisten zur Beconstruction und Beurteilung jener Metamor-
jihosen des Lukios von Patrai, denen eine besser fixirte Stellung
innerhalb der Literargeschichte anzuweisen, als sie bisher inne-
hatten, nun vielleicht gelingt.
Als man von dem Begriff des antiken Romans erst vage An-
schauungen besaß, war es vielfach üblich, auch den Lukios „roman"
dieser Gattung zuzuzählen. Dies ist wohl nicht mehr haltbar, seit-
dem W. Schmid (N. Jahrb. f. klass. Altert. XIII 1904 S. 470 ff.) Klar-
heit über die Gattung geschaffen hat, indem er den ernsthaften
antiken Roman definirte als fiktive Prosaerzählung von dem unab-
änderlichen Schema, daß ein liebendes Paar nach wohlbestandenen
Prüfungen glücklich vereint wird. Davon ist in unserer Erzählung
keine Rede. Bürger allerdings (Progr. Blankenburg 1902 S. 21 f.)
läßt es sich viel Mühe kosten, ähnlich wie Heinze in einem be-
kannten Aufsatz es für Petron versucht hat, dieses Schema im
Lukios aufzudecken und einzelne Stellen als Parodie auf jene ernst-
haften Liebesromane zu deuten. Dadurch glaubt er überhaupt die
Lukiosabenteuer mit Petron auf eine Linie stellen zu können.
Wenn aber schon Heinze mit seiner These über Petrons Werk
fast allgemein auf Ablehnung gestoßen ist, so sind bei den Lukios-
abenteuern die Beziehungen zum ernsten Roman erst recht lose,
ZUM AOYKro:S II ONOI 253
so daß Bürgers Versucli unbedingt als mißglückt betrachtet werden
muß. Wieweit trotzdem eine Beeinflussung wenigstens eines Ab-
schnittes der Eselsabenteuer durch den ernsthaften Roman — aller-
dings in anderer Weise als Bürger annimmt — anzunehmen ist.
wird noch besprochen werden müssen.
Auf einen weitern Versuch, die Eselsabenteuer literarisch ein-
zuordnen, den Reitzenstein (a.a.O. S. 32f.) unternommen hatte,
wurde bereits (S. 240) hingewiesen. Es ist dabei besonders die
Folgerung zu bekämpfen, als habe Lukios von Patrai seine Meta-
morphosen „mit vollem Ernst, also zu religiösen Zwecken**
verfaßt. Mit vollem Ernst, gewiß, das scheint richtig. Aber des-
halb zu religiösen Zwecken? Solange Reitzenstein keine weiteren
Gründe beibringt, die ihn berechtigen, in den Lukiosabenteuern eine
„erbaulich-obscöne" Aretalogie zu sehen, müssen wir seine Annahme
als bloßen Notbehelf betrachten; denn was vielleicht für die Meta-
morphosen des Apuleius zugestanden werden darf, findet durchaus
keine Stütze in der pseudolukianischen Fassung und ist somit nach
unsern Feststellungen auch für die Metamorphosen des Lukios von
Patrai durchaus von der Hand zu weisen.
Ausführliche Besprechung erfordert noch eine weitere Beob-
achtung, die ebenfalls Reitzenstein gemacht und neuerdings (Das
Märchen von Amor und Psyche 1912) vorgelegt hat. Da sie ihn
zu den weitgehendsten Hypothesen angeregt hat, darf sie in diesem
Zusammenhang nicht unwidersprochen bleiben. Reitzensteins Ab-
sicht läuft auf nichts anderes hinaus, als uns neben den drei
antiken Fassungen der Eselsabenteuer, die wir kennen, noch eine
vierte zu schenken, die in den Milesiaca des Aristeides, jenem in
seiner Eigenart heute noch unfaßbaren Werk, enthalten gewesen
sein soll. Den Ausgangspunkt von Reitzensteins außerordentlich
fesselnden Deduktionen bildet die Übereinstimmung der Worte:
neQißdViETai fie xal aqaoa et'ooj öXov nagede^azo im 51. Kapitel
des pseudolukianischen "Ovog mit dem 10. Fragment der Milesiaca
des Sisenna : ut cum {ut eum Bücheier, totum Reitzenstein) penitus
utero suo recepit^). Aber Reitzenstein geht im Suchen nach Über-
1) Es täuschen sich übrigens Reitzenstein so gut wie Weinreich
(Trug des Nektanebos S. 37 A. 1), wenn sie behaupten, die Verwandtschaft
der beiden Stellen sei bisher literarisch nicht vorgebracht. Ein aller-
dings sehr vorsichtig gehaltener Hinweis steht bereits bei Bürger (d. Z.
XXVII 1892 S. 355 A. 1).
254 H.WERNER
einslimmungen noch weiter. Er findet, daß auch fr. 4 des Sisenna,
wo von einem Tier die Rede ist, das nicht vorwärts gehen will,
sondern sich hin und her dreht und an der Stalltüre scheuert, in
die Erzählung von dem Esel trefflich passen würde. Schließlich
ordnet er noch das einzig erhaltene Fragment aus den Milesiaca
des Aristeides (Harpokration s. v. öeQßr]OT)'jg) in das 25. Kapitel von
Pseudolukian ein. Dadurch gelangt er zu dem Schluß (S. 61):
„Ich kann die seltsame Tatsache, daß sich von elf kurzen Frag-
menten des Sisenna und Aristeides drei so wunderbar gut in die
Erzählung des Esels einfügen, nicht dem Zufall zuschreiben." Die
Folgerung also ist die, daß die Geschichte von dem Eselmenschen
längst vor Lukios von Patrai bereits durch Aristeides und Sisenna
in den Milesiaca behandelt worden ist.
Es liegt mir durchaus fern, zu leugnen, daß in fr. 10 des
Sisenna wahrscheinlich eine ähnliche wüste Scene geschildert war,
wie bei Pseudolukian ''Ovo? 51. Auch verkenne ich durchaus nicht
den Wert der von Reitzenstein gegebenen Nachweise über stilistische
Ähnlichkeiten zwischen Sisenna und Apuleius, die wohl sicher zeigen,
daß Apuleius dem Sisenna in dieser Reziehung sehr viel zu ver-
danken hat. Aber woher wissen wir, daß in fr. 10 des Sisenna ein
Esel die Hauptrolle spielte, wer sagt uns, daß in fr. 4 von einem
störrischen Esel die Rede war? Das Wichtigste, eben die Erwäh-
nung dieses Tieres, fehlt in allen Fragmenten. Erst sie würde aus
dem geistreichen Versuch mehr als einen phantasievollen Einfall
machen. Es muß also trotz Reitzenstein dabei bleiben, daß wir über
den Inhalt der Milesiaca im einzelnen nichts wissen und daß insbe-
sondere das Vorkommen der Eselsabenteuer darin ganz unerwiesen ist.
Eine wirkliche Einreihung der Lukiosabenteuer in die Literatur-
geschichte wird aber nur geben können, wer die einzelnen Mo-
tive, die das Ganze ausmachen, auf ihre Herkunft und Zugehörig-
keit prüft. Es gilt also zunächst nicht eine Einreihung des Werkes
in seiner Gesamtheit, sondern der einzelnen Abenteuer. Denn dieses
scheint unzweifelhaft, daß in der Lukioserzählung Elemente aus ver-
schiedenen Literaturgattungen zusammengeschweißt, manchmal auch
nur ganz äußerlich aufgelötet sind. Vor allem aber ist das Gesamt-
werk etwas ganz anderes geworden, als die einzelnen Restandteile
ursprünglich waren.
Weitaus den Löwenanteil an den Motiven, welche die Ge-
schichte vom Eselmenschen ausmachen, beanspruchen Volkserzäh-
ZUM AOYA'IOS II OXOi: 255
Jungen und kurze Anekdoten, die, bevor sie durch den Redaktor in
eins getragen wurden, ihr selbständiges, zum Teil heute noch nach-
weisbares Einzelleben l'ülirten. Eine ganze Reihe derartiger Motive,
die in den Fabelsammlungen als Organismen mit eigenem Leben
wiederkehren, notirte bereits Crusius in einer Miscelle des Philo-
Jogus (N.F. I 1889 S.448). Weitere Beiträge lieferten Bürger (d. Z.
XXVII 1891 S. 356 A. 1) und Wendland (De fabellis antiquis p. 20f.).
Es liegt mir daran, im folgenden diejenigen Stellen des "Orog, welche
meiner Ansicht nach auf Fabeln, Sprichwörter und verwandte Volks-
erzählungen zurückgeführt werden können, zusammenzustellen.
Die Grundfabel, um die sich alle übrigen Episoden als ver-
zierendes Rankenwerk gruppiren, handelt von einem irgendwie in
ein Tier verwandelten Menschen, der nach verschiedenen Abenteuern
seine menschliche Gestalt wiedererlangt. Sie wird bereits von
Rohde (Kl. Schriften II 72 ff.) und dann von Weinhold (Sitz.-Ber.
Berl. Ak. 1893 S. 475 ff.) unter Anführung einer ganzen Reihe von
Parallelen bei den verschiedensten Völkern als eine weitverbrei-
tete Volkserzählung erwiesen. In unserm Zusammenhang noch nir-
gends erwähnt ist die Tradition, welche durch den bei Mone (Anz.
f. K. d. A. YIII 1839 Sp. 551ff.) abgedruckten Asinarius vel Dia-
dema repräsentirt wird. Diese Fassung, die fast völlig mit Grimm,
Kinder- u. Hausmärchen Nr. 144 übereinstimmt, wird von Gröber
(Grundriß d. rom. Phil. II 1 S. 415) dem 14. Jahrhundert zugewiesen.
Jedoch erwähnt bereits Hugo von Trimberg an einer bisher über-
sehenen Stelle seines Registrum (v. 886) einen nsinarkis, und da
V. 892 f., welche den Anfang des Gedichtes wiedergeben, mit dem
Anfang des bei Mone zu lesenden Asinarius übereinstimmen, kann
kein Zweifel sein, daß dieser bereits dem Hugo von Trimberg vor-
lag. Es ergibt sich also das Jahr 1280 als terminus ante quem für
die Abfassung. Diese Monesche Fassung ist einerseits sicher aus einer
Volkserzählung hervorgegangen, andrerseits verrät sie Kenntnis der
Antike, z. B. in den fast allzu breit ausgesponnenen Motiven, die sich
aus dem Sprichwort övog Xvoag (asinns ad Jyyam) ergeben.
Ich glaube zwei Klassen der Grundfabel, die wenigstens in einem
constitutiven Element verschieden sind, unterscheiden zu müssen.
In der ersten Klasse ist das Gerippe der Fabel folgendes. Ein
Ehepaar bekommt nach langer Kinderlosigkeit endlich ein Kind,
doch dieses hat Tiergestalt (Schlange, Schwein, Esel). Dieses lernt
das Leierspiel und erhält in der Fremde durch die Liebe einer Frau
256 H. WERNER
schließlich seine menschliche Gestalt. Diese Klasse ist in der Haupt-
sache vertreten durch unser lateinisches Gedicht bei Mone, durch eine
Geschichte im Pantschatantra, durch Grimm Nr. 144. Wie unser latei-
nisches Gedicht beweist, braucht Strapparola, Piacevoli notti (II. Nacht,
1. Nov.) seinen Stoff nicht aus dem Orient entliehen zu haben.
Die zweite Klasse unterscheidet sich dadurch, daß der Held der
Geschichte nicht als Tier geboren, sondern von Hexen erst verwan-
delt wird, nachdem er als Fremder in irgendeine Herberge gelangt
ist. Die älteste Version dieses Typus bietet neben unserem Esel-
roman Augustin Civ. dei XVIII 18: nani et nos cum essenius in
Italia, audichamiis talia de qtiadani rcgione illarum partium,
nhi stdbiüarias midieres imhidas his maUs artihus in caseo
dare soler e dicehant, quibus vellent seu posseni viatoribuSj undc
in iumenta illico vcrterentur et necessaria quaeque portarent
postquß perfunda opera iterimi ad se redirent, nee tarnen in
eis meutern fieri hestialem, scd rationalem humanamque ser-
vari, sicut ApuJeins . . . aitt indicavit aut finxit. Auch bei
Vincenz von Beauvais (Spec. nat. III 109) kehren die eine Herberge
haltenden Weiber wieder. Da auch sonst offenkundige Anleh-
nungen zu finden sind, ist seine nach dem verlorenen 35. Buch
von Helinands Chronik erzählte Geschichte nichts weiter als eine
ausgeschmückte und durch eigene Zutaten erweiterte Reminiscenz
an Augustin. Aus dem gleichen Grund sehe ich auch das von
H. Reich (Shakespeare -Jahrbuch XL 1904 S. 124) beigebrachte
Gitat aus Higdens Polychronicon ^) als bloße Ausstrahlung der
Auguslinstelle an, wodurch sie die von Reich behauptete Wichtig-
keit verhert. Daß dort der von den Weibern verwandelte Menscli
ein histrio (in der englischen Übersetzung a joculer other myn-
strelle) ist, scheint mir durchaus belanglos und nur gewählt, weil
bei einem solchen die Möglichkeit des Reisens und Übernachten s
in einer Herberge ungezwungen gegeben war. Eine Beziehung zum
Eselmimus herzustellen ist ganz unmöglich.
Speciell in diesem zweiten der angeführten Typen möchte ich
die Urzelle sehen, aus der heraus Lukios von Patrai die Grund-
fabel seiner Eselsabenteuer entwickelte; denn vielleicht haben sich
Überreste der Urzelle in den beiden uns noch vorliegenden Ver-
sionen erhalten, ohne gänzlich widerspruchslos in denselben auf-
1) Britannici scriptores II 525. Die Originalstelle hat mir leider
nicht vorgelegen.
ZUM AOYKIO:^ H OA^O^" 257
zugehen, und bis heute der Erklärung Schwierigkeiten bereitend.
So wird bei Pseudohikian und bei Apuleius der Haushalt, in dem
Lukios vor seiner Verwandlung einkehrt und wo er seine Verwand-
lung erlebt, an manchen Stellen mit geheimnisvollen oder mifs-
günstigen Andeutungen geschildert, es wird von einem scheinbaren
Geiz des Hipparchos bei Pseudolukian und von dem wirklichen
Geiz des Milo bei Apuleius gesprochen^). Es wäre denkbar, daß
dies Züge aus der Vorlage sind, die in der Bearbeitung nicht mehr
recht passen wollen, die der Bearbeiter aber nicht sorgfältig genug
beseitigte. In der Volkserzählung war davon die Bede, daß die
verwandelten Menschen den Hexen, die sie verzaubert hatten, dienen
mußten. Dies sagt z. B. Vincenz von Beauvais ausdrücklich. In
irgendeiner ausführlichen Version, die dem Bearbeiter des Lukios-
abenteuers vorlag, könnte davon die Rede gewesen sein, daß die
nichtsahnenden Nachbarn sich über die geringe ständige Diener-
schaft der Hexen verwunderten und dies als Geiz deuteten. Davon
könnte bei Pseudolukian und Apuleius ein ungeschickter Rest stehen-
geblieben sein. Doch soll dieser Erklärungsversuch nicht mehr als
eine Vermutung sein.
Die Beobachtung einzelner Episoden des pseudolukianischen
"Ovog und ihre Zurückführung auf Motive der Volksliteratur ergibt
etwa folgenden Ertrag:
In einer bekannten äsopischen Fabel (177 Halm) weigert
sich ein Pferd, einem schwerbepackten Esel etwas von seiner Last
abzunehmen. Zur Strafe muß es sich, nachdem der Esel vor Er-
schöpfung gefallen ist, dazu bequemen, die ganze Last samt dem
Fell des Esels weiterzuschleppen. Bei Pseudolukian ist natürlich
die moralische Absicht geschwunden, die Situation (19) aber doch
ganz ähnlich, so daß der Verfasser des "Oi>og sich die Inspiration
wohl in der Fabel geholt haben mag.
Sozusagen völhg übereinstimmend (natürlich mit Ausnahme
der Moral) sind Luc. 28 und die etwas kärglich ausgeführte Fabel
Babrios 83. An beiden Stellen handelt' es sich um ein in der
Mühle arbeitendes Tier, dem sein Meister ungerechterweise das
Futter unterschlägt.
Wenn zu Luc. 30 auch keine antike Parallele aufzuweisen ist,
so sei doch wenigstens auf ein französisches Sprichwort hingewiesen,
das ebenso wie die Situation der Eselgeschichte aus unmittelbarer
1) Vgl. Bürger, De Lucio Patrensi p. 31.
Hermes LIII. 17
258 H.WERNER
Anschauung einer gebräuchlichen Tierquälerei geschöpft sein mag:
Colcre comme un dnc, ä qni Von attnche une fusee aux fesses
(Leroux de Lincy, Proverbes frangais I 141).
Ein sehr beliebtes Motiv der Fabeldichter muß der Esel bei
den Bettelpriestern gewesen sein, wie ja überhaupt die letztern im
Volksmund schlecht wegkamen und einen außerordentlich üblen
Ruf genossen (vgl. Dieterich, Kl. Schriften S. 486). Unter den äso-
pischen Fabeln findet sich die Geschichte von dem Esel, der, weil
er die Gottheit der herumziehenden Bettelpriester tragen darf, sich
selbst als göttlich vorkommt (324 Halm, vgl. Babrios 128). Wenig-
stens die Situation ist übernommen in 37 {eycb juev 6 d^EocpoQYjxog
lojdfujv). Von der elenden Lage solcher Bettelmönche berichten
außerdem Babrios 126 und Phaedrus IV 1,
Neben fab. Aesop. 331 Halm wird bei Babrios 131 in aus-
führlicherer Darstellung von einem Esel erzählt, der, einen Hund
nachahmend, seinen Herrn zu liebkosen versucht; aber dieser wird
erschreckt durch die tölpelhaften brutalen Schmeicheleien und läßt
den unglücklichen Esel durch seine Diener aus dem Speisesaal peit-
schen. Besonders die babrianische Fassung (vgl. vor allem die Verse
13 — 16) stimmt mit der Episode im pseudolukianischen "Ovog 37
stark überein. Eine mittelalterliche Replik, deren Quelle ich aller-
dings nicht aufzuweisen vermag, hat auch noch das im Aovxiog
sich findende Motiv erhalten, wonach der Esel für tollwütig ge-
halten wird (Gesta Roman. 79 S. 396 Oesterley: servi hoc videntes
credehant asinum in furia conversum, acceperunt eum et egrcgie
verhernverunt et sie ad stahidum rcduxerunt eum).
Wenn die Lukiosepisode wirklich aus dieser selbständigen Ge-
schichte genommen wurde, so findet vielleicht auch eine Contro-
verse, die sich an jene Stelle im AovKiog knüpft, ihre Erklärimg.
V. Arnim (Wien. Stud. XXII 157) hält nämlich gegen Bürger (De
Lucio Patrensi p. 17) daran fest, daß zu Beginn von Cap. 41 keine
Lücke anzunehmen sei, daß also die Erprobung der Vernunft des
Esels , wie sie bei Apuleius (Met. IX 1 ff.) am folgenden Tag vor-
genommen werde, ein Zusatz des Apuleius sei. Möglich ist diese
Annahme, wenn man überlegt, daß diese Verstandesprobe in der
selbständigen Fabel sich nicht fand, da sie ja hier nicht nötig war,
und daß der erste Compilator der Eselgeschichte eben nur die
Fabel übernahm, ohne daß ihm jener Zusatz nötig geschienen hätte.
Unzweifelhaft scheint mir eine weitere von Wendland (a. a. 0.
ZUM AOYKrOS H ONOI 259
p. 17) nachgewiesene Entlehnung. Bei Luc. 41 stehlen die Bettel -
mönche aus einem Tempel einen Becher, der nachher auf dem
Weg von den sie verfolgenden Bauern in ihrem Gepäck vs^iedei-
aufgefunden wird. Das ist sicher eine Reminiscenz an jene Ge-
schichte^), die am bekanntesten ist in der mit Joseph in Ägypten
verbundenen Version des A. T. (I. Mos. 44), die aber auch in grie-
chischer Literatur vorkommt und an die Namen verschiedener
Männer, vor allem des Äsop geknüpft ist.
Der Schluß von Gap. 42 des pseudolukianischen "Ovog macht
auf den Unbefangenen ganz den Eindruck, als ob die Reflexionen
des in die Mühle gespannten Esels aus einem Sprichwort oder einer
Fabel stammen. Trotzdem es nicht gelingen will, etwas genau
Übereinstimmendes nachzuweisen, zeigen doch die beiden äsopischen
Fabeln 174a und b Halm, daß die Vermutung eine richtige war,
indem die Figur des nach einem tatenreichen Leben in der Mühle
melancholischen Gedanken nachhängenden Pferdes wirklich ge-
prägt war. In der Schilderung der Situation stimmt ferner Luc. 43
sehr gut überein mit der äsopischen Fabel 329 Halm. Es handelt
sich in beiden Fällen um den Esel beim armen Gemüsegärtner, der
vor Hunger fast umkommt. Luc. 45 spricht der Verfasser selbst
den Zusammenhang seiner Geschichte, die er eben erzählte, mit
einem Sprichwort (e^ övov naQaxvi^'Ecog) aus. Parallelen dazu
sammelte A, Otto, Sprichwörter der Römer s. v. asiniis 8, S. 41.
Weniger sicher ist die Vermutung von Wendland (a. a. 0. p. 20),
daß auch der Ausdruck asinus in tegidis bei Petron. 63 in den
Zusammenhang der gleichen Fabel gehöre.
Die Übereinstimmung von Luc. 46 mit der vom Tode des
Komikers Philemon (Lucian Macrob. 25. Valer. Max. IX 12 ext. 6) und
des Stoikers Chrysipp (Diog. Laert. VII 185) erzählten, als selbstän-
diger Organismus auftretenden Geschichte benutzte Wendland (a. a. 0,
p. 20) für den sehr gewagten Nachweis, daß nicht einmal Lukios
von Patrai der erste war, die Eselsabenteuer zusammenzustellen;
denn, so argumentirt er, die Episode kann nur aus den gesamten
Abenteuern in die Viten, aber nicht umgekehrt gewandert sein.
Uns genügt es, daß die Übereinstimmung von Luc. 46 mit einer
im Volke verbreiteten Erzählung nachgewiesen ist.
Ein Überblick über dieses — wie ich wohl weiß — noch längst
1) Literatur über das Motiv bei Wendland, De fabellis antiquis
p. 17 n. 2.
17-
260 H. WERNER
nicht vollstcändige Material zeigt sofort, welche Fülle von Motiven
der Verfasser der Eselsabenteuer den herrenlos von Mund zu Mund
gehenden Schwänken des Volkes zu verdanken hat. Ich stehe darum
auch nicht an, eine Reihe von Episoden, deren Ursprung wir nicht
mehr nachweisen können, auf derartige Volksgeschichten zurück-
zuführen. Um nur ein Beispiel anzuführen, so stammen sicher
sämtliche drei Erlebnisse des Esels bei den Galli c. 38 u. 39 ^) aus
volkstümlichen Spotterzählungen über die Bettelmönche.
Als zweites Ergebnis geht aus der Betrachtung des vorgelegten
Materials eine genauere Einsicht in die Technik der Erzählung bei
unserm Autor hervor. In gewissen Teilen gehört dem Redaktor
der Eselsabenteuer nicht viel mehr zu eigen als die Verknüpfung
der längst selbständig für sich bestehenden Einzelerzählungen.
Im großen ganzen jedoch bedient sich der Redaktor dieser Einzel-
vorlagen in sehr kluger Weise, ja sie dienen oft nur dazu, seiner
eigenen Phantasie den ersten Impuls zu geben, von wo aus er
dann zu ganz freier schöpferischer Ausgestaltung des Gegebenen
gelangt. Unbarmherzig wird in der einzelnen Episode das heraus-
geschnitten, was, in der selbständigen Erzählung nötig, in der
Gesamtheit der Abenteuer nur störend gewirkt hätte. Andrerseits
werden Motive, welche die Einzelerzählungen gar nicht oder nur
schwach angedeutet haben, vom Verfasser der gesamten Abenteuer
neu erfunden oder weiter ausgebaut.
Unser Urteil über Lukios von Patrai oder wer sonst die Esels-
abenteuer als erster zusammengefaßt hat, kann nur ein gutes sein;
denn er hat es verstanden, aus einer zersplitterten Vielheit von Er-
zählungen eine nicht unharmonische Einheit zu bilden. Ja mehr
als das! Es kommt eine weitere Beobachtung hinzu, die ein gutes
Zeugnis für seine Belesenheit abgibt und zugleich sein Stilgefühl
beweist. In der Gattung von Erzählungen, auf die wir soeben die
meisten Abenteuer zurückgeführt haben, ist ein derber Ton sehr am
Platze, stammen doch alle die Schwanke aus dem Volk. Der ent-
sprechende Ton fehlt daher auch weder im pseudolukianischen "Ovo^
noch bei Apuleius. Besonders bei Pseudolukian sind oft ganze
Kapitel — von der sprachlichen Färbung ganz abgesehen — in die
ärgste Obscönität getaucht, so daß selbst französische Übersetzer sie
nicht vollständig zu übertragen wagten (z. B. cap. 9 — 10. 51). Um
1) Luc. c. 38 ist in den Worten xainoxe elg xcöfirjv rivä avrcöv elaßaXöv-
zo)v rjixöjv . . , slaäyovai wohl avzä>v als Glossem zu beseitigen.
ZUM AOYKIOS H ONO 2 261
so mehr wundern wir uns, wenn in andern Partien, wo derselbe
Ton zu erwarten stand, die Obscönitäten vollständig, aber auch voll-
ständig fehlen. Das ist in verblüffender Weise der Fall bei der
Scene in der Räuberhöhle, wo die gefangene Jungfrau eingebracht
wird und wo die Räuber über ihr weiteres Schicksal ratschlagen
(22. 26). Nun hat bereits Bürger (Programm S. 21 f.) gezeigt,
wo die Vorlage dieser Räuberepisode zu suchen ist. Und wenn
er auch in seinen Folgerungen zu weit gegangen ist, indem er
den gesamten Esel„roman" auf die gleiche Quelle zurückführen
wollte, so bleibt doch dies bestehen: die lUiuberepisode der Lukios-
abenteuer hat ihr Vorbild nirgends anders als im ernsthaften
Liebesroman, speciell in einer Schilderung, der Xenophon von
Ephesos in den 'Ecpeoiayd (IV 6) sehr nahe kommt. Diese Episode
hat der Verfasser der Lukiosgeschichten seiner Darstellung einver-
leibt und dabei das Verfahren beobachtet, die Sprache zu vulgari-
siren, damit sie mit den übrigen Scenen stilistisch im Einklang
stünde, die Stimmung im ganzen jedoch unverändert zu lassen.
Davon ist nirgends etwas zu bemerken, daß der ernsthafte Roman
etwa gar parodirt werden soll, wie Bürger (a. a. 0. S. 21) meint.
Es liegt vielmehr ganz einfach eine stoffliche Entlehnung vor.
Der Verfasser des "Ovog nahm seine Stoffe, wo er sie fand, und
fügte sie seiner Schrift ein, ohne die Stimmung der Vorlage zu ver-
ändern. Eine gewisse äußere Vulgarisirung genügte ihm für die
Einheitlichkeit seines Werkes.
Zürich. HANS WERNER.
STUDIEN ZU DEN ALTEREN GRIECHISCHEN
ELEGIKERN.
(S. oben S. Iff.)
II. Z u M i m n e r m o s.
Das neuerdings mehrfach besprochene frg. 9 des Mimnermos
steht am Schlüsse der allgemeinen geographisch - historischen Ein-
leitung des Strabonkapitels über lonien (XIV 1, 2 — 4), und zwar
in dem angehängten Paragraphen über die lonisirung Smyrnas,
dessen Quellenverhältnis meines Wissens noch nicht erkannt ist.
Strabon hat hier, wie ja häufig, in seine Hauptquelle Notizen aus
einer zweiten eingeschoben, wobei er so wenig sorgfältig verfuhr,
daß man nicht ohne einen Schein von Recht zu der Anschauung
gelangen konnte, es seien diese vielfach am Schlüsse eines Abschnittes
stehenden, oft aus Dichtercitaten bestehenden Zusätze gar nicht sein
Eigentum, sondern Randnotizen eines gelehrten Lesers, während
andere mit Annahme von Gorruptelen des Strabontextes zu helfen
suchten, womit derartige Schwierigkeiten kaum je zu heben waren.
Ich setze den § 4 her ; die Zusätze aus der Nebenquelle sind petit
gedruckt und eingerückt:
1 avrai juev dcodey.a 'Icovixal noXeig. TiQOOElrjcpdr] de ygövoig
voxEQov y.al HfjiVQva, elg t6 'lojviy.ov evayayövrcov 'Ecpeoicov.
rjoav yäo avtdig ovvoiy.oi ro Jia?.ai6v,
yp'iy.a xai Sj-ivova ixaleixo i) "Ecpsoo? ' xai KaXlivög utov (2 Bgk.)
5 uvrcog <hv6}iay.Ev avTi'jv, SjxvQvaiovg rovg 'Erpsolovg xa'/.iöv sv xü>i
TiQog Aia ).6ycoi'
Sf-ivQvaiovg i?Jt]oov
xal Tiähv •
/iivfjaai d' si xote toi /tojgia y.af.a ßocöv
10 {Zf-ivgraToi xaxExrjm'Y).
SfivQva 6' i)v 'jfiaQcov ?) xaTaa^ovaa zt/v ^'E(feaov, a.<f i]g zovvofia
xal roTg av^QuiJioig xai Tfji no/.ei, wg xai ano 2iavQßi]S ZiovQßlxai
xiveg cöjv 'Ecpeoicov e}.eyovzo.
1) Schöne Ergänzung von Casaubonus.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 263
xal xojiog de Tis tTj^ ^Ecptoov ^juivova txaXeiro, cbg örjXoT
15 'IjiTiwva^ (47 Bgk.)-
(oixe.i d' ojiioOf T/yg Jiuh]og tv ^fivQvi]i
/.leia^h Tgtjyjujg re xal Ae7i())~]g äxrfjg'
ExaXeljo yäg Aengi] juev äxri] 6 tiqkov 6 vjieQxetjuevog rfjg
vvv jioXecog, eycov jiiSQog rov jsr/ovg avzi]g' tu yovv ojiioßev
20 i:ov JiQicovog xxj'jjuaTa en vvvl Xeyszai iv Ttji 'Omo&oXenQiai.
Tgayela 6' exuXeIto fj vjisq tov Koqyjooov Tiagcogeiog. fj de
TioXig f]v x6 jiaXaiov jieqI ro 'A&rjvaiov t6 vvv k'^co rfjg noX^eoig
bv xarä Trjv xaX^ov iJ,evi]v 'YttÜmiov, wotb i) ZfxvQva f/v xazu
t6 vvv yvfjLvdoiov öjiiod^EV /.dv rfjg vvv nöXECog, fXExa^v öh
25 TQr]yßh]g te xal ÄETtQpjg äxzijg. änEXdovxEg öe Tiagä tCüv
'Eq)£oicov ol 2!/iivQraioi oxQaxEvovoiv im tov totiov, ev cbi vvv
EOTiv fj 2!/LivQva, AsXEycov xars/övrojv. ExßaXovxEg 6' amovg
EXTioav T)]v TzaX.aiav 2!juvQva)', öiE/ovoav rfjg vvv jieqI ei'xooi
oraöiovg. voteqov öe vjio AioXecov ixjiEoövxEg xaxEcpvyov Eig
30 Ko?M(pcüva xal justo. töjv evOevÖe ijxiovxEg xyv ocpszEgav äjisXaßov.
xaüäjiEQ Hai MifiveQf^iog er rT/i NavvoT (f^ä^ei firtjoßsig lij? SfivQvrjg,
Sil jiEQi/Lid/tjzog uel
ijTSirs JJvXov N}]h)iov aozv h:n:6vTEg
ifiSQTTjv ^Joirjv vrjvoiv aq>ix6[XEda,
35 sg S" EQarrjv KoXocpwva ßirjv vtieqojiXov UyovxEg
st,6iiE{y , dgya^Jrjg vßgiog i'jyE/uövEg,
xeT'&ev i" diaar/jEVTog äjioQvv/itEyoi TroxaiioTo
d^Ecöv ßov}S}i 2/uvQvtjv El'?Mfj,Ev AtoXiÖa.
Man pflegt nun die ganze ionische Vorgeschichte jetzt auf
Artemidoros von Ephesos zurückzuführen ^); und gewiß mit Recht.
Ihm gehört also auch der Hauptbericht in unserm Paragraphen,
der ja seine Herkunft deutlich genug durch das Bestreben verrät,
Smyrna als Tochterstadt von Ephesos zu erweisen. Das liegt in
der gleichen Richtung wie die betonte Vorrangsstellung von Ephesos
in 1, 3, ist aber sachlich noch weniger begründet. Denn auch
wenn die auf den in Ephesos vorkommenden Namen ^jLwgva ^) ge-
stützten Ansprüche von Ephesos älter sein sollten, so ist doch die
Version, die Artemidor hier gibt, die Annahme einer uralten ephe-
sischen Gründung Smyrnas vor der anerkannten aeolischen, sicherlich
jung. Die Verdoppelung der lonisirung in der Folge Leleger —
1) S. zuletzt Daebritz, De Artemidoro, Diss. Leipzig 1905 p. 36f.
2) S. noch Stepli. Byz. s. "EqpEoog" eKalEiio dk xal Säi-ioQva; Hesycli.
s. Aif.iovia und Zafj.ovia; Plin. N. H. V 115.
264 F. JACOBY
ephesisches Altsmyrna — aeolische Okkupation — kolophonisches
Smyrna stellt sich als ein Compromiß dar, das mit dem feststehen-
den Verhältnis zwischen Kolophon und Smyrna^) als mit einer ge-
gebenen Tatsache rechnet 2).
Von dem Hauptbericht sondert sich ohne weiteres die zweite
Einlage, das angehängte Citat aus Mimnermos, das immer Anstoß
erregt hat ^). Daß der Text Strabons in Ordnung ist, hat Wilamo-
witz^^) freilich gezeigt, nachdem Niese die Überlieferung festgestellt
hatte ^). Aber inhaltlich widerstreiten die Verse von der 2!f.u'ovi]
1) Herodot. I 16 2!/iivQi't]v zip' äno KoXocpön-og xnoßeTaav. I 150. Pausan.
VII 5, 1. Vgl. noch Paus. VII 3, 4 und Wilamowitz, Sber. Berl. Ak. 1906
S. 52, 2. Das Datum, das Paus. V 8, 7 gibt — xqiti]i Sh dlvfuiiddi xai
slxootfji :^vyiiiig aß).a oiTiidoaav ' 'Oyofiaarog de IvIhijoev ex 2fivQvt]; ovvzskovatjs
}]8t] T7]vixavza ig "Icovag — ist, wie der Wortlaut und die Formulirung
als terniinus post quem in Übereinstimmung mit der Umgebung, in der
es sich findet, lehren, ein Schluß des Pausanias aus seiner Olympioniken-
liste. In ihr war Onomastos, ein bekannter Mann, von dem die Regeln
über den Faustkampf herrührten (Eusebius, Die Chronik S. 91 Karst),
als "Icov and üfivgvtjg bezeichnet. Solehe Heimatsangaben hat die Liste
des Africanus noch gelegentlich bewahrt: Ol. 132 'der Aetolier aus Am-
phissa'; Ol. 158 'der Lesbier aus Antissa'. Verschieden davon sind die
Zusätze bei homonymen Städten: Ol. 144 'der Salaminier von der Insel
Kypros'; Ol. 186 'der Alexandrier aus Troas'. Das meiste ist fortgefallen.
Ob es ein genaues Datum überhaupt gab, bleibt fraglich; für Pausanias
war es jedenfalls nicht bequem zu finden. Ich schließe aber daraus, daß
die Aufnahme Smymas in den ionischen Bund vor 688 erfolgt ist. Wie
lange Zeit nach der Einnahme durch die (pvyddeg zwv Kolorpcorlcov (Herod.
I 150) sie erfolgte, sagt Pausanias VII 5, 1 nicht.
2) Ein anderer, wohl gleichfalls später Versuch , den ursprünglich
ionischen Charakter Smymas zu erweisen, ist seine Anknüpfung an den
Athener Theseus (vgl. Rohde, Kl. Sehr. I 12f.). Ein Theseus ist der
Stadtgründer auch in der Herodoteischen Homervita § 2, aber zwv zrjv
Kv/iit]v xtiodvzcov Iv xoXg jiQonotg OeaaaXöiv ano Eifit'jXov zov ^Jd^rjzov, der
die Stadt nach seiner Gattin nennt. Die Nachricht dürfte Wilamowitz,
Die Ilias und Homer 420 (s. auch Karl Otfried Mueller, Gesch. d. gr. Lit.*
I 69, 4) richtiger gewertet haben, als Rohde a. 0. 14. Hier hat man ein-
fach die Homonymie benutzt, um die echte Tradition durch den be-
kannten Namen zu verdrängen. Ich bezweifle, daß einer dieser Versuche,
die Aeoler ins Unrecht zu setzen, älter ist als die Neugründung Smymas
in der frühhellenistischen Zeit.
3) Kramer hielt nur die Verse für Randnotiz, "^cum parum quadrent
ad ea quae Strabo ipse tradiderat in proximis^.
4) Sappho u. Simonides S. 282 f.
5) Ind. lect. Marburg. 1878 S. XII. F hat in^ehe, C aL-rvrs; »'jf/eTg ist
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 265
ÄloXig doch so ollenkundig der geschlossenen Beweisführung von
dem ursprünghch ionischen Charakter der Stadt, daß Artemidor sie
unmöghch citirt haben kann. Also ist das ein Zusatz, den Strabon
an die ursprünglichen deutlichen Schlußworte des Beweises t>)v ocpere-
gav aneXaßov gehängt hat und der sich allein auf das Verhältnis von
Kolophon und Smyrna bezieht. Der Autor, dem er den Beleg ent-
nahm, kannte gewiß nur die kolophonische lonisirung Smyrnas.
Nicht so augenfällig und beim oberflächlichen Lesen kaum an-
stößig ist der erste Zusatz. Aber auch er zerreißt den geschlossenen
Zusammenhang des Beweises, daß Smyrna eine alte ephesische
Gründung ist. Die These des ganzen Anhanges lautet, daß die
Smyrnaeer gvvoixoi t6 TiaXaiov der Ephesier waren ; und sie wird
ganz sachgemäß durch den Nachweis begründet, der sich auf ein
sorgfältig interpretirtes Citat aus dem ephesischen Lokaldichter Hip-
ponax stützt, daß ein Teil von Altephesos Zf.ivQva geheißen habe.
Das war natürlich der Stadtteil, wo die späteren Smyrnaeer ursprüng-
lich gewohnt hatten. Der Satz, der diesen Nachweis einleitet, xal
TOJtog de m; T>)g 'Ecpeoov ^/.ivQva ey.aXeXzo schließt grammatisch
gut an die These selbst an, und er ist mit Bücksicht auf sie formu-
lirt. Dadurch erweist er sich als zum Hauptbericht gehörig. Man
constatirt daher gern die wiederholten Berufungen auf den gegen-
wärtigen Zustand von Ephesos, ohne daß man daraus allein Arte-
midoros als Autor behaupten würde. Nicht die gleiche Bücksicht
auf die These zeigt nun die weitere, zwischen den genannten Sätzen
stehende Erörterung. Die zweite, an sich als Beweis für ein
zwischen Ephesos und Smyrna bestehendes Verhältnis ebenfalls wohl
geeignete, mit Gitaten aus Kallinos belegte Feststellung rjvixa xal
2juvQva exaleho f] "Eq)soog ist nicht als Glied einer Beweiskette
formulirt, sondern ist eine These für sich, die hier als Zeitangabe
an die Hauptthese gehängt wird. Das klingt nicht nur sonderbar;
es widersprechen sich auf diese Weise die beiden Sätze fjvixa
xal SjuLVQva exakeiro y "Ecpeoog und xal ronog de rig rtjg 'Ecpe-
eine Vermutung Xylanders und scheint überhaupt ohne handschriftliche
Gewähr. Daraufhin hat Hiller aL-rsTdr ts gegeben, was jetzt zur Vulgata
geworden ist, obwohl schon Hoftmann, Gr. Dial. III 1 S. 123 Belege für
das temporale L-rsirs aus ionischer Literatur gab. Er schlug avzäg
ejtsize oder ai.-rvv ejceire vor. In V. 1 ist IJvÄov überflüssige Änderung
Bergks nach Od. y 485 IJvkov aiJiv TiroXis^Qov. In V. h sind so viele
Möglichkeiten, dafs man besser keine in den Test setzt.
266 F. JACOBY
oov ZjxvQva txalelTO geradezu. Also haben wir es auch hier mit
einem Einschub Strabons zu tun; und dieser Einschub stammt
offensichthch nicht aus einer Erörterung über das Verhältnis von
Smyrna zu Ephesos, sondern aus einer solchen über die alte Ge-
schichte und die Namen von Ephesos. Die ganze Stadt hieß ur-
sprünglich auch HfxvQva; 2!juvgvaIoi und "Ecpeoioi sind identisch,
nicht jene ein Teil von diesen. Ausdrücklich heißt es jovvojua xai
roTg ävd^Qcojioig y.al rrji nöXei. Der alte, später verschwundene
Name wird von der stadtgründenden Amazone abgeleitet ^), und
für die alte Amazonenherrschafl wird als Beleg noch ein weiterer
Name genannt, der nun nicht die ganze Stadt, sondern nur eines ihrer
Quartiere deckt-). Das hätte Artemidor gut als Analogie für seine
Behauptung, daß die 2^^uvQvaioi ursprünglich ein jLieoog xfjg 'Ecpe-
oov gewesen wären, verwerten können. Nötig für seinen Beweis
war es nicht ; und wenn er es nicht verwertet hat , so war das
wohl Absicht. Seinem ausgesprochenen Lokaipatriotismus mag die
Feststellung, daß ganz Ephesos einst auch Smyrna hieß, nicht gelegen
gekommen sein. Ließ sie doch schließlich sogar eine umgekehrte
Deutung des Verhältnisses zwischen beiden Städten zu. Wie der
zweite, von Strabon benutzte Autor die Gleichnamigkeit von Smyrna
und Altephesos erklärte, wissen wir nicht. Es können bei ihm
beide Tatsachen mit ihren Belegen aus Kallinos und Hipponax —
Smyrna Name von ganz Ephesos und eines Quartiers — gestanden
haben '^). Dann entnahm ihm Artemidor nur die eine, ihm besser
passende. Er kann aber auch die Hipponaxverse, falls er sie kannte,
als weiteren Beleg neben Kallinos für den alten Namen Smyrna
1) In diesem Zusammenhang kami eine Ableitung auch des Namens
"E<peoo; nicht gefehlt haben. Sie hat Strabon als für seinen Zweck
unwesentlich übergangen.
2) Vgl. Steph. Byz. s, Ziovoßa i^ieqo; 'E(psnov, d.io Siovgß)]? 'Aiia^övog.
xo xo::tix6v 2iovQßixi}g.
3) Beide vertragen sich nicht mit der vulgateu Ansicht, die Smyrna
direkt von einer Amazone genannt sein läßt. Kohde a. 0. 10, 1 beur-
teilt das falsch. Ob und was Mimnermos von Smyrnas Gründung be-
richtete, wissen wir nicht. Wenn er 'von den Amazonen erzählte', was
ich auf Grund des recht zweifelhaften neuen Fragments aus den Par-
oemiographica des Atheniensis 1083 (Sber. Bayr. Akad 1910. 4. S. 15,
vergl. darüber auch Wilamowitz a. 0. 282, 1) nur mit Bedenken annehme,
so verbietet Inhalt und Ton des Fragments, an eine Behandlung der
Sage von der Stadtgründung zu denken.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 267
angeführt haben. Dann war Artemidors genaue Interpretation
dieser Verse polemisch gemeint.
Als Quelle für die Zusätze kommt in diesem Teile des Strabo-
nischen Werkes wohl nur der Skepsier Deniotrios ^) in Betracht, dem
Strabon so ziemlich alle seine Citate aus der alten Elegie verdankt.
Für das Verständnis der Mimnermosverse kommt freilich auf
die somit festgestellte Herkunft des Fragmentes nur insoweit etwas
an, als mit der Erkenntnis der Einlage auch die letzten Bedenken
beseitigt sein dürften, die gegen Strabons Text geltend gemacht
worden sind. Die Einlage ist ohne Rücksicht auf den sonstigen Inhalt
des Paragraphen aus sich selbst zu erklären. Das Wesentliche hat
da Wilamowitz gesehen : Strabon hat die Verse in seine Rede ver-
flochten; das Gitat setzt mit ejisite mitten im Verse ein. Nun
verlangt die Zeitangabe etieite "^nachdem, seit" einen Satz, auf den
sie sich bezieht. Er kann voraufgehen oder folgen ^j. Hier war
das erstere der Fall. Denn mit xEldev u7ioQri\uEvoi ist die Con-
struction verlassen. Es wird der Nachsatz als selbständiger Satz
fortgesetzt. Daraus ergibt sich , daß Strabon mit den Worten
juvijo^Eig xfjg ^J/uvQvrjg ou JiEoi/nd/jjzog uei den Sinn eines Vorder-
satzes wiedergibt. Nur den Sinn, nicht die Worte; denn der Name
Smyrna, der den emphatischen Abschluß der Reihe bildet, kann hier
noch nicht gestanden haben; nur ein Vir kämpfen hier, seit' o.a.
Wir fragen nun zuerst, welches der Sinn der überlieferten
Verse ist; dann, in welchem Zusammenhange sie gestanden haben.
'dewv ßovXfji haben die lonier den Aeolern Smyrna entrissen. Wer
das so ausdrückt, der kennt wohl und widerlegt stillschweigend
ionierfeindliche Darstellungen des Vorganges, wie sie z. B. Herodot
1) Vgl. Schwartz, Real-Encykl. IV 2810, 19. 2811,43. Daebritz a. 0.
p. 37 hatte die Möglichkeit offen gelassen, daß Artemidor seine Belege
einem gelehrten Grammatiker verdankt.
2) Herodot, III 117 i.-rshs 8e Uegaai e^ovoi x6 XQdtog, eozl rov ßaai-
Xeog O^ II 43 sied iari sjTiaxioxi^ua , . ., ijrsize ix rcöv ohzco ■&EÖiv oi dvcö-
Ssxa ■&Eoi iyEVOvzo; IL M 562 anovdfji t' k^rjlaooav, Enti t' ixoQsooazo (pog-
ßfjg. HofFmann wollte den Nachsatz zu dem temporalen Vordersatze
schon mit V. 3 beginnen lassen. Dann schon eher mit V. 5 : vergl. die
ähnlich formirte Stelle Od. u 1 avzäo ijisl jrozafioTo )dTiEi> qöov 'QxEavdto
vr]vz, dnb ö' Xkezo HVfia daldaorjg evqvjiÖqoio rfjaov t' Aiaü]v . . . vqa juev
evif ik&övzsg Ixskao^iEv iy tfa^iddoioiv. Das ändert sachlich nicht viel;
nur daß man dann Strabons nsgiixdxrizog dsi nicht als Wiedergabe des
Vordersatzes, sondern als kurze Inhaltsangabe des ganzen Gedichtes
ansehen müßte.
268 F. JACOBY
I 150 uns aufbewahrt hat ^). Es liegt in dieser Richtung, daß er,
wenn anders der durch Strabon gebotene Zusammenhang der Verse
richtig ist, woran wir zu zweifeln keinen Grund haben, den Vorgang
offenbar absichtlich in eine ferne Vergangenheit rückt, ihn eng
verbindet mit der ersten Festsetzung der kolophonischen Ansiedler
in Asien. Der Dichter ist ein Mann, der ein starkes Stammesgefühl
besitzt, einen lokalen Patriotismus. Er fühlt sich mit Stolz als
lonier und Nachkomme der Pylischen Auswanderer. Um so auf-
fälliger wirkt demgegenüber die Art, wie er das Verfahren dieser
Auswanderer charakterisirt. Sie besetzen Kolophon ßh]v vjieqotiXov
e'xovTeg als ägyakhjg vßgiog '^yejuoveg. 'Ein übles Gompliment*,
sagt Wilamowitz von diesem zweiten Ausdruck; 'denn wer denkt
nicht sofort an Theognis 1103 vßgig xal MdyvrjTag aTiuiXeoe
xal KoXocpcbva xal ZixvQvrjv", und mit feinem Gefühl hat er em-
pfunden, daß sie einer Zeit angehören müssen, 'die Rückschläge er-
fahren hatte', daß es die Worte eines Mannes sind, der 'einen
Schaden der Gegenwart aus den Sünden der Väter herleitet'. Dann
aber geht seine Erklärung in die Irre. 'Wird nicht' — so fragt
er — 'wer an die jQvcprj der Kolophonier denkt, die Xenophanes
schildert, und an die Oligarchie der 1000, die Aristoteles beschreibt,
in diesen Worten die Stimmung eines Mannes aus dem Volke
finden, der den Adel seiner Zeit, der ihn drückt, mit der Gharakte-
risirung der Ahnen treffen will'?' Die Verse sollen uns lehren,
'wie der Kolophonier über die Aristokratie dachte, die zwar ihre
Macht rücksichtslos zu genießen, aber dem Lyder gegenüber das
Feld nicht zu behaupten verstand und Smyrna zugrunde gehen
ließ'. Der Streit, ob Mimnermos Kolophonier oder Smyrnaeer war,
ist bekannt^). Bekannt sollte auch sein, daß die äußeren Zeugnisse,
die im ganzen mehr für Kolophon sprechen, in dieser Frage nicht
1) Man tut niclit gut, diesen Bericht einfach als historisch richtig
zu unterstellen. Es ist oifenbar über Recht und Unrecht der Sache wie
über die Salamisfrage u. ä. hin und her gestritten wordeu. Die Behauptung
der ursprünglich ionischen Ansiedelung ist auch nur ein Argument in j
der Diskussion.
2) Die Entscheidung für die erstere Heimat ist jetzt ziemlich allein
herrschend (Bergk, Gr. Lit.- Gesch. IT 259. Christ- Schmid, Gesch. d. gr.
Lit.« I 172, V. Wilamowitz a. 0. Lübkers Reallex. » s.v.). Das richtige
sagte Otfr, Mueller a. 0. 70 'Mimnermos stammte von diesen Kolophoniem,
die sich zu Smyrna niedergelassen hatten (frg. 9).' Ebenso E. Meyer,
G. d.A. II §891A.
1
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 260
entscheiden können. In Betracht kommt in erster Linie die Auf-
zählung im ßioq des Mimnermos bei Suidas : Kolocponnog i) Z/xvq-
vaiog i] ' ÄoTVJiaXaievg ^). Daneben die Erwähnungen bei Strab.
XIV 1, 28 ärdoeg 6' eyevovro KoXocpdiVLOi tcüv fxvr}^ovEVO[XEVO)v
Mi/uvegaog . . und Prokl. Chrestom. Phot. bibl. 239 p. 319 b 6 Uyei
de xal ägiOTSvoai tcüi /lutocoi KaXXivov rt rov ' Ecptaiov xal Mlu-
veQfioy Tov KoXocp(DVio%' . Möghch, ja wahrscheinlich, aber keines-
wegs zu beweisen ist, daß auch Hermesianax (Athen. XIII 597 F
V. 37 ff.) den Dichter für Kolophon in Anspruch nahm; und kein
Zweifel, daß Nikandros ihn ev rcöi negl xcbv ix KoXo(pa)vog Jtoii]ra)v
nannte. Die Zahl spricht also für Kolophon. Aber das berechtigt noch
nicht, von 'geltender Lehre der alexandrinischen Grammatik^ zu
sprechen; höchstens von der bevorzugten Ansicht. Und diese Be-
vorzugung kann sich leicht daraus erklären, daß Kolophon eine Tradi-
tion hatte, die ungebrochen bis in die hellenistische Zeit dauerte, während
Smyrna tot war, und daß, wenn eine Annexion des Dichters durch
Kolophon erfolgt ist, dies sicherlich vor der Zeit der alexandrinischen
Biographie geschehen ist. Sie stützte sich natürlich auf die Gedichte.
Es bedarf gar nicht der an sich möglichen Annahme, daß Mimner-
mos sich nach Smyrnas Vernichtung nach Kolophon gerettet hat (s. u.
S. 278). Wer die Interpretationsweise der älteren Literaturgeschichte
kennt, wird nicht bezweifeln, daß sie aus dem Satze 'wir haben uns
in Kolophon niedergelassen und Smyrna genommen' kolophonische
Abkunft ohne weiteres herauslesen konnte, wenn ihr aus irgend-
welchen Gründen daran lag. Es war das um so leichter, als Mim-
nermos' Dichtungen auch sonst Beziehungen zu Kolophon verrieten.
Er hat den Gründer der Stadt genannt (frg. 10). Sehr möglich,
daß er manches für Kolophon gedichtet hat , daß er sich noch
deutlicher, als in frg. 9, auf seine Abkunft von den kolophonischen
Ansiedlern Smyrnas berief. Alles das beweist aber nicht das
geringste für den Geburtsort , wenn die Gedichte bei unvorein-
genommener Interpretation für Smyrna sprechen. Wenn weiter
der Stein, der das yvjuvdoiov MifxvEQfxeiov erwähnt (GIG II 3876),
wirklich aus Smyrna stammt, so kann man ja zur Not sagen, daß "^in
1) Dies letztere versucht Heinemann, Stud. Solonea, Diss. Berlin 1897
sent. contr. 2 durch Verweis auf ri}v jralaiäv Sfivgvm' Strab. XIV 1, 4 zu
erklären. Wohl möglich. Aus den Gedichten selbst wird auch diese
Heimat irgendwie genommen sein. Man braucht aber nicht allein an
frg. 9 zu denken, das allerdings Kolophon und Smyrna liefern konnte.
270 F. JACOBY
der Kaiserzeit Smyrna, die Großstadt, einen berühmten Kolophonier
annektirte, weil Kolophon ganz verkommen war'; aber die natürliche
Annahme ist doch erst einmal die umgekehrte, daß das wieder-
aufgeblühte Smyrna sich — und schwerlich erst in der Kaiser-
zeit — auf seine großen Söhne , deren es aus alter Zeit nicht gar
viele hatte, besann und den von Kolophon annektirten Mimnermos
zurückforderte, wie Halikarnaß den Herodot ^). Alle diese Judicien,
die historischen und literarischen Möglichkeiten, sind doppelt zu
verwenden, lassen sich erklären, wenn Smyrna den Kolophonier und
wenn Kolophon den Smyrnaeer annektirt hatte. Entscheiden kann
allein die Interpretation der erhaltenen Verse. Geben sie eine un-
zweideutige Antwort, so haben sich die äußeren Zeugnisse zu fügen
und die Erwägungen über Möglichkeiten haben zu schweigen. Und
sie geben eine unzweideutige Antwort, ich will kein großes Gewicht
darauf legen, daß ein hochberühmtes Gedicht des Mimnermos die alten
Waffentaten der Smyrnaeer, ihren Sieg über Gyges und seine Lyder
verherrlichte (s. u. S. 296f.); daß vielleicht ein anderes einen Smyr-
naeer, der sich auch in den Lyderkämpfen ausgezeichnet hatte, in Schutz
nahm gegen üble Nachrede (s.u. S. 287 ff.). Ganz ohne Bedeutung ist
auch dies nicht; und es ist in keinem Falle eine glückliche Analogie,
wenn man fragt 'ist Archilochos nicht aus Faros , weil er sagt :
y.Xaicj xä Qaoioov, ov rd Mayv^rcov naxd?^ Archilochos hat diese
Verse doch wohl nicht in Faros, sondern eben in Thasos gesprochen ;
und mindestens ganz besondere persönliche Beziehungen des Mim-
nermos zu Smyrna müßten wir immer annehmen ; Beziehungen,
die über eine etwaige Waffenhilfe Kolophons für die Tochterstadt
hinausgehen. Aber wir brauchen das nicht. Denn unser Bruchstück
allein zeigt unwiderleglich, daß sein Sprecher — und Sprecher und
Dichter dürften, wie in der Elegie so gut wie ausschließlich, so sicher-
lich hier eine Ferson sein — ein Smyrnaeer ist. Oder kann ein
Kolophonier in Kolophon von Kolophon sagen xeldev äTioovvjuevoi?
Die Frage stellen heißt sie verneinen. Es bedarf nicht des
Hinweises auf gleiche und ähnliche Anwendungen der Formel;
1) Aus dem Sdiweigen des Aristides würde ich nicht wagen, irgend
etwas zu schließen. Und ganz ablehnen muß ich das Argument, daß
Mimnermos' 'Elegie nicht auf dem ursprünglich aeolisehen Boden von
Smyrna wachsen konnte'. Smyrna war seit fast oder mehr als einem
Jahrhundert ionisch. Wie sollte es nicht einen ionischen Elegiker haben
hervorbringen können?
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 271
et heöv jiie coqoev äva^ Aiög vlog ujioqvvjusvov ÄvyM]'&EV sagt
Pandaros im troischen Gefilde (II. £"104); l'v&ev aTzoovvjLievai . .
evvvxiai oreTyov Hesiod. Theog. 9 von den Musen, die den Helikon
verlassen; evOev äjioQvvjuevai xovgai Aiög . . ■))deUT7]v xil. sagt
Homer (epigr. 4,8), der von Smyrna gekommen ist, in Kyme;
l:v§ev (von Delos) djroQvvjuevog näai '&}n]ToTon' ävuooEig der Dichter
des Hymnos auf den Delischen Apoll (v. 29). Endlich in gleichem
Zusammenhang wie Mimnermos Pindar Pyth. I 65 l'oyov ö' 'A/wx-
Xag öXßioi. IJivdo&ev OQvvfxevoi ^). Man erkennt diesen formel-
haften Charakter der Worte gut, wenn man die freiere Gestaltung
in dem Bruchstück der Tyrtaiischen Eunomie (frg. 2 Bgk.) vergleicht,
von dem in Beziehung auf unsere Verse noch die Rede sein wird.
Wilamowitz allerdings behauptet, daß 'jedes natürliche Verständnis"*
den kolophonischen Sprecher erschließen müsse aus dem 'ganz
unzweideutigen Gegensatz von s^ofisda und eUojiiev^. Ich muß
gestehen, daß ich diesen Gegensatz überhaupt nicht finden kann.
Jedes natürliche Verständnis wird zunächst die drei Verben ärpixo-
f,ie^a — e'Q6f,ie§a — eilofiev als drei parallel stehende Aoriste
fassen 2). Und das mit Recht. Es bedarf nicht der Fickschen Gonjec-
tur elCojuE^a; hier auch nicht der sprachwissenschaftlichen Diskussion
über die Form eCojLujv und über das Verhältnis der Stämme iC -
und sC-; es genügt die empirisch beobachtete und seit Buttmann ^)
anerkannte Tatsache, daß mit vielleicht einer Ausnahme *) e'Ceod^ai
im Epos und überhaupt in der älteren Literatur aoristische Bedeutung
hat. Sie kommt unzählige Male vor; oft an gleicher Versstelle
und einmal auch in der gleichen Person wie hier: 11.^48 e^sr'
sjzsit' äjidvsvße vemv, juerd d' Ibv ei]xe; 0(\. x 63 eWovreg d^
1) Prosaisch heifst das ey. ravzijg, Evzsrßsv 6Q/.id)fieroi. Sehr häufig;
z. B. Herod. V 125 ejisixa ex ravnjg ogftcöfisvov xarsXsvaeo&ai ig rrjv Mü.rjxov.
2) Ich nehme an, daß Wilamowitz, wie auch seine Paraphrase 'wir,
die Auswanderer von Pylos, die nun in Kolophon sitzen' andeutet, einen
sprachlichen Gegensatz meint. Ein sachlicher zwischen si^eoßai und
elsTv ist ja auch durch das dritte Verbum ausgeschlossen.
3) Ausführt, griech. Spracht. II ^ 202.
4) Od. X 378 Ticp&' ovxmg, 'Odvaev , xax' aq k'^eai; Die Stelle spielt
in allen Grammatiken eine Rolle. Vielfach hat man e^eo geschrieben.
Doch siehe Delbrück, Vergleich. Syntax II 96; vergl. auch Leaf zu
II. N 285. Nicht in Betracht kommt hier, daß in späterer Literatur ein
praesentisches e^oi^ml aufgekommen zu sein scheint. Es ist von sCoßtjy
gebildet, setzt dieses voraus.
272 F. JACOB Y
ig dcüjua nagä oxad j^ioioiv in' ovdov eCojueda. Daß für Mim-
nermos die gleiche Bedeutung anzusetzen ist, ist gar nicht zu be-
zweifeln. Wird es doch zum Überfluß hier noch bestätigt durch
den Accusativ des Zieles oder der Richtung ig ö' ioaxijv Kokocpöjva,
dessen Eigenart zuerst Bach notirte und mit der Annahme einer
Ellipse 'quasi siqjplcndiim sit sig KoAocfcova äcfixotiEvoi erklären
wollte, während Wilamowitz' Paraphrase darüber hinweggleitet.
Wenn es im Zusammenhang der Verse überhaupt eines Beweises
bedarf, so gibt ihn dieser Accusativ : nicht von einem in die
Gegenwart fortdauernden Zustande spricht der Dichter mit iCo/us^a,
sondern, wie im Epos, von der augenblicklichen Handlung des
Niedersitzens , von einem einmaligen Ereignis der Vergangenheit.
'Wir setzten uns nach Kolophon hinein" — das ist ein Stadium auf
dem Wege, der die Pylier nach Smyrna führt; und nicht absichts-
los ist es, daß der Dichter das Ende des Weges, die letzte Station,
in der Form selbständig gestaltet hat. Denn darauf will er hinaus.
Mit der Feststellung, daß nur ein Smyrnaeer diese Verse
sprechen konnte, fällt die Haupt- und einzige Stütze von Wilamo-
witz' Auffassung, die im Grunde wohl auch nur auf seiner Inter-
pretation des frg. 14 beruht, auf der Bergkschen Conjectur h]dn'
im V. 9. Denn von frg. 9 aus wäre er schwerlich auf sie ge-
kommen. Nichts im Texte dieser Verse deutet auf eine Stimmung
und einen Gegensatz , wie er ihn findet. Aber auch zwischen
den Zeilen kann man ihn nicht lesen. Das verbietet die Form.
Wollte Mimnermos die herrschende Aristokratie tadeln, so konnte er
die direkte Anrede brauchen — l^iiy.Qt? ^£i' y.ardxeio&e ; — oder
er konnte erzählen, wie Xenophanes (fr. 3), der fern der Heimat
mit Bitterkeit sich erinnerte, wie die herrschende Bürgerschaft ihr
Geschick selbst verschuldet hatte — äßgoGvvag öe jua&dvzeg ävco-
cfE/Jag jiaoä Avöcov . . . ijEoav elg dyoo/p'. Er konnte den
Gegensatz zwischen dem besitzenden Stande und den unterdrückten
Volksschichten, zwischen drjfxov rjyejuövsg und d)]/j,örai, geradezu
aussprechen , sei es in Anrede — vjueTg d' fiovydoavreg . . iv
jUETOioioi TiÜEode juiyav vöov ovxe yäo i)f.i£7g . . ovd^' vfxiv (Solen
^Äd. 71. 5, 3) — oder im Bericht — äorol juev yäg id^ oTöe oa6(poo-
veg, fjyefioveg dk XErgäcparai tioDJjv ig y.ay.oxr^ja tieoeXv (Theogn.
41 f.; vergl. Solon 4). Aber unmöglich konnte er, wenn er den
Adel von Urzeit her bescheiten will, sich selbst so mit einschließen,
wie er es tut 'wir sind von Pylos nach Asien gefahren, wir haben
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 273
uns in Kolophon festgesetzt, wir haben Smyrna erobert*. Mag im
Verlaufe des Gedichtes ein Gegensatz aufgestelU worden sein zwischen
Vergangenheit und Gegenwart — wir kr»nnen das nicht behaupten
und nicht leugnen — , es kann dann nur der Vergleich zwischen
dem ganzen Volke der Auswanderer und. sei es dem ganzen Volke,
sei es — das will ich als möglich unterstellen — dem herrschenden
Stande der eigenen Zeit gezogen sein. Was der Dichter aber von
den Vorfahren sagt, das trifft unmöglich nur die öi'jfwv {jye/ioveg,
das trifft die Gesamtheit der Ansiedler. Sie, nicht der Adel, nicht
ihre Führer, haben sich in Kolophon eingelassen als üßgiog yys-
fxoveq. Undenkbar, daß der Dichter selbst sich als ein Opfer dieser
vßQig fühlt — er müßte denn überhaupt kein Bürger, sondern ein
Angehöriger der Unterworfenen, ein Beisasse oder ein Höriger sein.
Sonst gibt es hier auch nicht die Andeutung eines Gegensatzes
innerhalb der eigenen Gemeinde; ganz abgesehen davon, daß der
Dichter ja ein Smyrnaeer ist, die vßQig aber mit der Niederlassung
in Kolophon verbunden ist, während die Einnahme von Smyrna
Beöw ßoidfji geschah. Wilamowitz will freilich einen Gegensatz
finden in der Charakteristik der Vorfahren überhaupt: "^gewaltige
Kraft, ßü] vTiegoTrlog, hatten sie; aber sie gingen auch voran auf
dem Wege der Zuchtlosigkeit.^ Ich muß auch hier widersprechen.
Die beiden Appositionen ßü]v vtieqotiXov E^ovisg und vßgiog dg-
ya/Jt]g yyejiioveg umschließen keine Antithese, sondern geben zu-
sammen eine einheitliche unfreundliche Charakteristik des Wesens
und des daraus entspringenden Verhaltens der Ansiedler: im' Über-
maß der Gewalt, die sie besaßen, haben sie angefangen damit,
andere zu schädigen, ihnen Unrecht zu tun; deivoi tf xgcxregoi
re, ßitp vTTEOojiXov eyovTsg sind die Titanen (Hesiod. Theog, 670),
die von den Göttern vernichtet werden vßgiog dvz' öXoiJg xal dra-
oßaXujg vjTsgojiXov (Fragm. Orph. 103, 2 Abel). Wohl mag Mimner-
mos den etymologischen Zusammenhang des Epithetons mit oTr/la
empfunden und an die 'Waffengewalt' der griechischen Ankömmlinge
gedacht haben. Aber sicher hat das Wort auch für ihn den tadeln-
den Sinn, den es wie alle ähnlichen Zusammensetzungen mit vjieg
in der älteren Poesie überhaupt hat^): 11.0185 (P170) oj nojioi,
1) S. die Zusammenstellungen bei Martin Hoffmann, Die ethische Ter-
minologie bei Hesiod und den alten Elegikern und lambographen I
(Diss. Tübingen 1914) S. 11 ff'. Merkwürdig, wie unzureichend er gerade
Mimnermos (II S. 125) behandelt. Frg. 9 erwähnt er nicht einmal, wie
Hermes LIII. 18
274 F. JACOBY
?y g dya&og Jieg ecov vtieootiXov eecnsv. A 205 fjig vjteoonUtjioi
jd^' äv noxe &vjuöv 6XeGat]i. Hesiod. Th. 516 Eive>c äxao^aXJrjg
re xal fjvogerjg vueqotiXov. 618 ff. örjoev xgaxEQcbi evl deojucbi yjvo-
QErjv vneQonXov äycöjiiEvog tjÖe xal eldog xal fieyE^og. Schon ßlrj
allein ist selten lobend oder anerkennend gemeint und wird es immer
weniger, je häufiger das Wort fast wie vßqig den Gegensatz zu öixrj
bildet. Das Epitheton aber ist entscheidend für die Auffassung.
Der Ausdruck yyEf.i6vEg aber setzt voraus, daß andere da waren,
die zurückschlugen. Wer sind diese andern? Wer hatte die
ßit] und die vßgig der Einwanderer zu spüren bekommen? Die
Aeoler können nicht gemeint sein. Denen hat Kolophon nicht
gehört, und Smyrna haben sie durch der Götter Willen verloren.
Ist die zweite Hälfte der Charakteristik eine leere Phrase allgemeiner
Natur ^) oder eine verstärkende Wiederholung ohne besondere
er überhaupt zu Problemeu der Interpretation nur ausnahmsweise Stel-
lung nimmt. Wesen und Verhalten der Einwanderer entsprechen dem
der Freier in der Odyssee, die angeredet werden als v.-Tsoßiov vßgtv syovreg
a 368, 6. 321. Über die Bedeutung von yyefioreg als derer, die mit etwas
anfangen, hat wohl niemals ein Zweifel bestanden. Auch Wilamowitz
weist auf Theogn. 1081 f. dfdoiya 8k /nr] tExrji ävöga vßQioxrjv, ;yaA£.T?}s
tjysfiöva oxäoiog. Sehr häufig auch in Prosa ist die Bedeutung 'Weg-
weiser' in übertragenem Sinne; Archeget, wir wir gern sagen. Vergl.
z. B. Plat. Rep. X 595 C jtocöto; didäanaXog xal rjyEfio'iv.
1) Man könnte ja die vßgig erklären in Erinnerung an 11. A'' 631 ff,
jenen merkwürdigen Stoßseufzer des Menelaos: 'wie kannst du, Vater
Zeus, die Troer gewähren lassen, die ävögsg vßgiorai, mv jLiivog aikv dord-
aßalov, oi'ös Svvavzai (pvlönidog xoQsaaodai öfiou'ov jio?Jfwio.^ Der Schluß
der nicht gerade logisch gedachten Reihe jidvro)v fisv xdgog toxi . . .
J'QöJeg 6h fidyjjg dxöoijToi saaiv zeigt , daß der Dichter dieser Verse die
unersättliche Freude der Troer am Kampfe als vßoig empfindet. Man hat
das mit Recht merkwürdig gefunden, und es läßt sich schwer mit dem
Sinne von ösirfjg dxöorjzoc uviijg in der voraufgehenden Scheltrede ver-
einigen, wie der ganze Stoßseufzer von dem Charakter dieser Rede selt-
sam absticht. Man hat ihn meist für eine Interpolation erklärt (anders
Wilamowitz, Die llias 226, 1). Dann gibt er einen hübschen Beleg für den
Mangel an eigener Kampfesfreude und damit dann an Verständnis für
das heroische Wesen bei einem Rhapsoden, der doch diese Dinge berufs-
mäßig immer wieder vortragen mußte. Auch Mimnermos könnte so über
den kriegerischen Sinn gedacht haben. Für die Auffassung des ganzen
Stückes würde das kaum viel ändern. Aber ■^ysfiövsg spricht für die
andere Erklärung. Es liegt kein allgemeiner Tadel vor, der wirklich
keinen Sinn hätte, sondern eine bestimmte Beziehung, die den tadelnden
Ausdruck rechtfertigt.
i
zu DEN ÄLTEREN (JRIECH. ELEGIKERN 275
BedeulimgV Schon um der /jysjuoveg willen wird das niemand
glauben. Also bleibt nur die Annahme übrig, daß Mimnermos
wirklich das Verfahren der Ansiedler gegen die früheren Besitzer
von Kolophon, gegen die Ureinwohner des Landes hat treffen
wollen ^). Als jirj/ua Kagot (Avöolg) sind die Einwanderer einst
gekommen. Dieser Ausdruck der Orakelsprache 2) gibt die Empfin-
dung, die der Charakteristik zugrunde liegt, und zeigt zugleich den
1) Soweit hat Immisch, Klares 143 recht, der die rßQic; auf das
Verfahren der Pylischen Kolonisten bezieht, freilich auf etwas, worauf
in dieser knappen Zusammenfassung wohl nur der moderne Gelehrte ver-
fallen konnte, nämlich auf ihren Conflict 'mit der kretisch-karisehen. als
hellenisch betrachteten Colonie ; denn von einem Kampfe gegen die Karer
allein würde der lonier schwerlich das Wort vßgtg gebrauchen'. Wilamo-
witz' Polemik Sapph. u. Sim. 283,1, die Imraisch 'seltsames Mißverständnis'
vorwirft, hat diese Erklärung übersehen und wird damit gegenstandslos.
Aber gezwungen und künstlich ist die Erklärung von Immisch allerdings,
und gerade sein Versuch zeigt, daß man das Problem überhaupt anders,
weiter fassen muß. Die vßgig richtete sich nun einmal gegen Barbaren.
Um diese Tatsache kommt man nicht herum. Also muß man constatiren,
daß diese weichere Zeit die Roheit der alten Colonisationsmethode — näv
tÖ ägoev djiexTsivav, yvvaixag ös y.ai ßvyaisgag rag gxeivcov ya/,iovai Pausan.
VII 2,5 vergl. Herod. 1 146 — nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit
aufzufassen vermag, mit der sie einst geübt wurde. Wie anders noch
der Dichter, der den Odysseus das Kikonenabenteuer (Od. i 39 fi.) erzählen
ließ. Der sah in Mord und Brand, wenn sie gegen Barbaren geübt wurden,
keine vßgig, und nur eine Torheit darin, wenn man der Rache der Ge-
schädigten nicht schnell genug sich entzog. Es ist ein Fortschritt des
ethischen Denkens, der freilich wohl durch äußere Umstände befördert,
wenn nicht hervorgerufen ist.
2) Diodor. VIII 22, 3 SaxvQiöv roi f'8(oxa Tdgavxd ze Tilova Sfjf^ov
olxfjoai xal nt'jf^im 'lajrvysooi ysvsaßai oder das Verlangen der Neleus-
tochter nach dem fisyag avrjg, ög o' iul MlXrjxov y.azd^st 7r»/^ara Kagoi. Der
Ausdruck ist gebildet nach II. A'' 454 f. vvv 8' ivd'dds vfjsg sveixav aoi rs
xaxov y.ai .TCtrpt xai älXoiai Tgo'jeooiv und B 352 f. (ft]/ul ydg ovv y.arai'svaai
vjiegfievsa Kgovicova tjfiazi xwi, oze v»]vaiv sv wxv.-iögoioiv Pßaivov 'AgysToi
TgcÖEooc (pövov xal xfjga cpEgovzeg. In der Orakelsprache ist das formel-
haft geworden und allmählich wohl nicht mehr in seiner ganzen Be-
deutung empfunden worden. Aber vorhanden war diese Bedeutung doch
einmal, und der Ausdruck setzt das Verfahren voraus, das in der Wander-
zeit an unzähligen Orten gegen die Eingeborenen geübt worden ist und
das eben das übliche war, wo es sich nicht um Handels-, sondern um
Siedlungscolouien handelte. Es war aber in Mimnermos' Zeit, wo die
ersteren überwogen , ja in seinem Gesichtskreis fast allein noch vor-
kamen, aus der Übung gekommen.
18*
276 F. JACOBY
Wechsel der Anschauung. Der ist allerdings 'ganz besonders merk-
würdig', aber in einem ganz andern Sinne, als es Wilamowitz
will. Denn mit ihm fällt ein blitzartiges Streiflicht auf die geistige
Haltung der lonier oder doch eines Teiles von ihnen um die Wende
des siebenten und sechsten Jahrhunderts, auf die Stimmung einer
Gesellschaft, als deren Exponenten wir den Mann betrachten dürfen,
in dem uns, um einen glücklichen, wenn auch vielleicht nicht ganz
zutreffenden Ausdruck von Reitzenstein zu brauchen, *^die ionische Frivo-
lität lehrhaft entgegentritt'. Denn mit Frivolität ist des Mimnermos
Wesen, wie es uns in den erhaltenen Gedichten entgegentritt, doch
wohl nicht ausreichend getroffen. Es zeigt vielmehr jene complicirte
Mischung von Stimmungen, wie sie in dem auch nicht nur frivolen
apres nous le deluge sich ausspricht, deren Hauptelement ein Gefühl
der eigenen Schwäche ist. Man hat den Widerstand aufgegeben
und läfst die Dinge treiben ; man sucht sich in Genufs und Erotik
bewußt hinwegzutäuschen über drohende Gefahren, über unhebsame,
der eigenen Vergangenheit und Stellung unwürdige Zustände der
Gegenwart. Wer so empfindet, der mag wohl, weil es die Literatur-
gattung oder der Beruf mit sich bringt, noch einmal den Ton des
Kampfgedichtes erklingen lassen — wir werden noch zu fragen
haben, ob es wirklich geschehen ist. Er mag, sei es auf eigenen
Antrieb sei es auf Wunsch und im Interesse eines Parteiführers
oder sonstigen Machthabers, seine Dichterkraft auch einmal in den
Dienst der Politik stellen und in Erinnerung an die grofae Ver-
gangenheit der Heimat das Volk zu neuer kriegerischer Anstrengung
aufrufen. Tut er es, so ist der Ton doch nicht mehr rein. Wider
Willen vielleicht des Dichters schleicht sich ein fremdes Element
hinein. Ihm fehlt die naive Selbstverständlichkeit, mit der ein
Kallinos, ein Solon und Tyrtaios von dem Rechte ihrer Stadt über-
zeugt sind , mät der die Orakel den Goloniegründer auffordern , in
die Fremde zu ziehen und Schrecken und Verwüstung ins Land
der Barbaren zu tragen. Ihm fehlt die Zuversicht, dafs er zu einem
auserwählten Volke gehört, dem die stadtschützenden Götter zur
Seite stehen; denn er glaubt nicht mehr an diese Götter. Ihm
fehlt vor allem die Siegesgewilsheit; denn er lebt in einer Zeit,
die 'Rückschläge erlitten hat'. In der zweiten Hälfte des siebenten
Jahrhunderts ist in lonien der Widerstand gegen die wachsende
Macht Lydiens geringer geworden. Eine Stadt nach der andern
fällt den immer wiederholten, planmäßig ausgreifenden Stößen der
l
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 277
Mermnaden zum Opfer. Kroisos hat alle Festlandsgriechen der
lydischen Küste unterworfen ; und als um 540 Kyros die lydische
Macht über den Haufen warf, da gehörte lonien zur Beute des
Siegers. Auch damals hat es noch Männer und ganze Städte ge-
geben, die den Untergang und die Verbannung der noch so leichten
Fremdherrschaft vorgezogen haben. Aber es sind Ausnahmen;
50 — 80 Jahre früher Nvar ihre Zahl sicherlich viel grofser, bildete
vielleicht noch die Mehrheit; aber schon damals gibt es auch andere,
tritt jene Gesinnung zutage, die sich die Fremdherrschaft gefallen
läßt, wenn sie nur das Geschäft und das Vergnügen nicht stört.
Und wo nicht gemeine Interessen die Kraft des Widerstandes schwä-
chen und aus dem lonier den weichlichen, disciplinlosen Menschen
machen, den die Athener des fünften Jahrhunderts verachten, da
ist es die Folge der geistigen Entwicklung, des schrankenlosen
Individualismus, der in Archilochos' Elegien einen vielleicht ersten,
aber auch gleich überragenden Ausdruck gefunden hatte. Archi-
lochos hatte alle Convention angegriffen ^) ; und Mimnermos ist als
1) Einen Angriif auf conventioneile Moralbegriffe enthält wahrlich
nicht nur eine Gnome, wie die au Aisimides frg. 8 Bgk., wo man dei'-
gleichen immer am ersten und oft allein sucht. Als solcher zu verstehen
ist das berühmte Stück auf den Verlust des Schildes so gut wie die
Elegie an Perikles — und wenn sie noch so oft und immer wieder als
Trauergedicht figurirt; als solcher doch wohl auch das schöne 'Ev öogc.
Alle Versuche, in dem Scbildgedicht einen 'Grund' für .'ijchilochos'
'Gleichgültigkeit' zu finden, verkennen den Ton. Nur der versteht die
Fassung der zwei Distichen, in denen ich gern den Schluß einer Elegie
sehe, die das Abenteuer erzählte, und erkennt auch den Zwiespalt in der
Seele des Dichters, der einsieht, daß er sich hier mit der Convention
auseinandersetzt und gleichzeitig Angriffen auf seine Ehre zuvorkommen
will. Unlösbar ist das persönliche Erlebnis mit dem allgemeinen Ge-
danken verbunden. Denn dieser erwächst aus jenem. An dem, was ihm
selbst passirt ist, erkennt der Dichter die Nichtigkeit der Convention.
Er sucht nicht wie der gewöhnliche Mensch nach einer Entschuldigung,
die vor dem harten Gesetze der alten Kriegerehre doch keinen Bestand
gehabt hätte. Aber er stellt sein ovy. Idshov eindrucksvoll an das Ende
des Distichons, um dann mit dem frechen Witze des zweiten jedem Urteil
zuvorzukommen, es unmöglich zu machen. So leichtfertig der Schluß
klingt und klingen soll — man sieht den Dichter deutlich ein Schnipp-
chen schlagen, das sich in der Interpolation ti (.loi /us?.si verkörpert hat — ,
leicht gedacht ist er wahrlich nicht. Wir dürfen es Archilochos zutrauen,
daß er wußte, was seine Worte sagten auch über das hinaus, was
persönlich bedingt war und ihn allein anging. Wir wissen hier auch
278 F. JACOBY
Dichter der Erbe des Archilochos. Bei diesen beiden vollzieht sich
die Entwicklung der kriegerisch-politischen Elegie, des bürgerlichen
Gelegenheitsgedichtes, das im Gegensatz zu den epischen Erzäh-
lungen von vergangenen Zeiten entstanden war, um zum Volke
über die höchsten Interessen der Gegenwart sprechen zu können,
zur Gedankenpoesie und zum privaten Gelegenheitsgedicht, dessen
Inhalt alle menschlichen Interessen umfafst, aber auch schon zwei
Hauptrichtungen erkennen läßt, die erotisch - sympotische und die
philosophisch - lehrhafte Elegie, die nicht ohne mannigfache Kreu-
zungen seit der Mitte des sechsten Jahrhunderts doch deuthch sich
abheben. Man mag Anakreon und Xenophanes als Typen dieser
zwei Richtungen betrachten.
Mimnermos steht mitten in der Entwicklung, halbwegs zwischen
den ersten Versuchen des Gyges und der vollständigen Einverleibung
loniens in das lydische Reich. Er hat das Vorrücken der Lyder
feststellen können; die Mutterstadt Kolophon war schon von Gyges
teilweise erobert worden ^). Die Eroberung und Vernichtung Smyrnas
erfolgte vielleicht in des Dichters eigener Zeit ^). Jedenfalls war die
zufallig einmal, daß das cynische Wort durchgeschlagen und in lite-
rarischen Kreisen Nachahmung erweckt hat. Das heißt: die Diskussion
war eröfihet über einen Satz des Ehrencodex, der bisher keine Diskussion
zugelassen hatte. In der Praxis hat es dann noch lange gedauert, bis
man ernsthaft auch nur den Vorschlag machen konnte, das Gesetz zu
ändern und zu unterscheiden zwischen Qhpaojrig und anoßoXsvg onX<ov,
zwischen dem äfpaigedei? /<£r' sixvia? ßiag und dem d<felg sy.o'iv (Plat. Leg.
XII 944). Es sind viele Gedanken, die für uns in der sophistischen Literatur
aufzutauchen scheinen, zuerst in der Elegie ausgesprochen und sind dann
weiter behandelt worden in den ethischen Diskussionen des ionischen
Kulturkreises. Von ihnen wissen wir nur zu wenig. Aber gefehlt haben
sie, so sehr die 'Naturphilosophie' überwog, nicht. Das lehrt die Erschei-
nung Heraklits.
1) Herod. 1 14 KoXocpöjvog x6 äorv eUe. Was äozv bedeutet, ist be-
stritten. Aber die Besetzung scheint nur eine vorübergehende gewesen
zu sein. Vergl. Schubert, Gesch. d. Kön. v. Lydien 1884, 36; v.Wilamowitz,
Sber. Berl. Ak. 1906 S. 52, 2.
2) So die Vulgata (Otfr. Mueller a. 0. 190; Bergk, Gr. Lit.- Gesch.
II 259, 37; Ed. Meyer G.d. A. II 391 A; Wilamowitz, Sapph. u. Sim. 281).
Smyma ist nach Herod. I 16 (vgl. Strab. XIV 1, 37) allerdings durch
Alyatte.s genommen worden, was nicht bezweifelt werden soll. Aber ob
Mimnermos überhaupt unter Alyattes oder doch so tief in seine Regierung
hinein gelebt hat, das wissen wir nicht und können es mit unsem
Mitteln nicht feststellen. Mit dem antiken Datum — es gibt nur eines —
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 279
dem Lyder besonders wichtige Stadt, die schon Gyges angegriffen
hatte, schwer bedroht. Wenn er in seiner Poesie sonst einer Lebens-
anschauung Ausdruck gibt, die Aphrodite für Ares, die Evvt) für
die aQET)] eingetauscht hat, wenn er nicht den Tod für das Vater-
land preist, sondern die Angst vor dem AUer, vor Krankheit und
ist, wie gewöhnlich, nicht viel anzufangen: die ay.f.iii) wird auf Ol. .37.
632/29 gesetzt und ist bestimmt entweder nach dem Regierungsanfang
des dritten Mermnaden Sadyattes (Rohde, Kl. Sehr. I 158) oder, worauf
der Zusatz wg .-rgoTsoeven' zwv si^iä aotpön' wohl eher führt, nach dem
Yerhältnis zu Selon, dessen Archontat bei Eusebios-Suidas auf Ol. 47 ver-
schoben ist (Diels in d. Z. XXX VII 1902 S. 482). In beiden Fiillen liegen der
Berechnung die Gedichte zugrunde. Im ersteren Mimn. frg. 14: wer von der
Zeit des Gyges so spricht, wie es hier geschieht, gehört in die zweite Gene-
ration nach ihm. Es ist keine schlechte Rechnung, wenn man erstens
berücksichtigt, daß die Daten der antiken Chronogi-aphie für die älteren
Mermnaden zu hoch sind; und zweitens, daß sie das erste Jahr setzen, wo
sie die ganze Regierung meinen. Wir könuen nicht viel anders rechnen:
wer von den Kämpfen, die doch wohl nicht in die ersten Jahre des ver-
mutlich G52 gestorbenen Gyges fallen, nur durch die Erzählungen älterer
Zeitgenossen weiß, der kann nicht wohl vor 630, sondern wird eher gegen
600 gedichtet haben. Aber man könnte zur Not auch ein und selbst
zwei Jahrzehnte herabgehen. Im zweiten Falle beruht die Rechnung auf
Solon frg. 20 ulV eI' fioi y.av vvv hi jieioem y.il., die von den Alten immer
so interpretirt worden zu sein scheinen, daß der jüngere Solon sie an den
älteren Mimnermos richtete. Dieses allseitig angenommene Verhältnis
hat man neuerdings bestritten. Eduard Meyer a. O., der frg. 14 auf den
Endkampf der Lyder gegen Smyrna bezog und diesen Endkampf um 575
ansetzte, findet in den Versen nur 'Sinn, wenn Mimnermos jünger war
als Solon', und Wilamowitz a. 0. 280 stimmt ihm zu. Es sei 'die
Mahnung des berühmten alten Mannes an den jungen Mann, der sich
deu Tod mit GO Jahren wünschte, weil er für ihn noch so weit in der
Ferne lag'. Ein seltsamer Trugschluß. Zweifellos richtig ist hier näm-
lich die Auffassung der Todeswünsche des Mimnermos, die nicht der
Erfahrung von den Leiden des Alters, sondern einer bestimmten Lebens-
auffassung entspringen. Ebenso richtig die des Solonischen Gedichtes.
Da spricht der kernige Alte, der frei von den Geschäften in ungebrochener
Frische Geistes und Leibes das Leben und seine Güter genießt. Kein
Zweifel, Mimnermos schrieb seine Verse als viog, Solon die seinigen als
ysQwv. Aber wie darf man diese absoluten Daten in relative verwandeln!
Niemand schließt heute mehr aus diesen Versen auf persönlichen Verkehr
ihrer Dichter. Man hält Solons Antwort vielfach für Improvisation beim
Symposion, wo ein anderer den Wunsch ai yäg äieg vovocov vorgetragen
und sich zu eigen gemacht hatte (Reitzenstein, Epigr. u. SkoL 62, 2;
Diels a. 0. 482). Wohl möglich; freilich auch nicht mehr als möglich.
Aber wo und wie auch Solons Gedicht entstanden ist, es verlangt nie
280 F- JACOBY
Not hören läfst, so wird man den merkwürdigen Ausdruck im
politischen Gedicht vielleicht verstehen. In der schwülen Stimmung
der dem Untergange zutreibenden Stadt ist diesem lonier das
Gefühl aufgegangen von dem alten Gegensatze zwischen Asien und
Europa. Er spürt es in seinem Innersten, und es ist ein Zeichen
der Schwäche, die sein ganzes Wesen durchzieht : jetzt nimmt Asien
Rache für das Unrecht, das die Griechen ihm angetan haben, als
sie die Grenzen überschritten, die die Gottheit zwischen den beiden
IjjieiQot gesetzt hat. Niemand sieht heute wohl noch diesen Gedanken
als einen Einfall Herodots an. Die Argumentation seines Prooimions
— TO de äjio Tovrov "EXXtp>ag di] ixeydXcog alriovg yeveo^ar
TTQoregovg ya.Q äg^ai OTgaTsveoi^ai ig rijv 'Aoi'rjv )) ocpeag ig t7]v
EvQü}ji)]v — führt uns durch die Verlegung in den Mund persischer
Xöyioi, durch die Aufzeigung der einzelnen Stadien des Gegensatzes
an und seine Ableitung aus der rationalisirten Mythhistorie ohne
weiteres in die Kreise der anfangenden ionischen Geschichtswissen-
und nimmer die Annahme, daFs Mimnermos auch nur noch am Leben war.
Das 'noch jetzt' hat sein Recht, und wenn es y.al siv "Aidao döfwiocv be-
deutet. Es sagt uns nichts über die Zeit des Mannes, an den das
Wort gerichtet ist. Er kann längst tot sein, älter, jünger oder gleich-
altrig mit Solon. Das wird dieser selbst nicht gewufat haben. Oder
wenn es etwas sagt, so ist es das Gegenteil von dem, was Meyer und
Wilamowitz glauben: als Solon jene Verse schrieb, da war — dies ist
der natürliche Schluß — Mimnermos, den er ehrend Aiyvaoidörjg nennt,
ein berühmter Mann, dessen Gedichte schon nach Athen gelangt sind,
die man dort kannte und citirte. Nicht die 'Mahnung des berühmten
Mannes' liegt in Solon s Antwort, sondern der Protest gegen das berühmte
Wort eines berühmten Mannes. Das haben die Alten richtig empfunden.
Ein absolutes Datum für Mimnermos gewinnen wir daraus doch nicht,
weil wir Solons Gedicht sowenig datiren wie seinen Zeitabstand von
Mimnermos' Versen abmessen können. Wir können auch weiterhin nicht
sagen, ob er noch im siebenten oder erst im ersten Drittel des 6. Jahr-
hunderts gedichtet hat. Das Judicium, das für das spätere Datum sprechen
sollte, hat sich als trügerisch erwiesen, und ein anderes gibt es nicht.
Denn frg. 14 ist keines (s.u. S. 293f.); die ziemlich unsichere Erwähnung
einer Sonnenfinsternis (frg. 20 Bgk.) erst recht nicht. Denn dafs das gerade
auf 'die Sonnenfinsternis des Thaies 585' geht und daß also 'der Ansatz
recht hat, der Mimnermos auf die Epoche der sieben Weisen datirte',
ist schon deshalb unrichtig, weil es einen solchen Ansatz nie gegeben
hat: (bg j-iqotsqev stv xcöv C ooqDcöv sagt Suidas. Möglich bleibt es natür-
lich, daß Mimnermos diese Finsternis erlebt und erwähnt hat. Aber
gerechnet haben die Alten nicht danach.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 281
Schaft. Es stimmt dazu, daß Xerxes, als er den großen Zug nach
Griechenland antritt, ig ro IJgidjuov UeQyajuov dveßr] ijuegov e^Mv
&e)']oaoßai und daß er hier der Athena von Ilion und den Heroen
opfert ^). Es ist die Anschauung, die auch Aischylos hatte, als er den
Traum der Mutter des Xerxes dichtete. Asien gehört den Barbaren,
Europa den Hellenen, und die vßgig, die die gottgesetzten Grenzen
überschreitet, straft sich selbst. Wir sehen jetzt, daß der Gedanke
noch um ein volles Jahrhundert älter ist, daß in den Diskussionen
über den mythischen Ursprung der Feindschaft schon die Über-
tragung eines ursprünglich sehr viel lebendigeren Gefühles auf das
Gebiet der historischen Spekulation vorliegt. Denn ein bezeichnender
Gegensatz besteht zwischen Mimnermos und Herodotos. Der ältere
lonier denkt nicht an lo Medeia Helena, nicht an den Krieg um
Troja, wenn er die Rache Asiens zu spüren glaubt; sondern an
das, was ihn und seine Landsleute näher angeht, an die xrioig
'Icoviag, an die Zeit, als man sich in dem Lande festsetzte, dessen
Herrschaft den Besitzern jetzt zu entgleiten droht. Herodot erwähnt,
mit einer für den modernen Historiker kaum verständlichen und
doch von seinen Interpreten nicht beachteten Auslassung, die Zeit
der Wanderungen überhaupt nicht, springt sofort vom Kampfe um
Troja zu den Zeiten über, von denen er selbst 'etwas weiß'.
Das ist der Einfluß seines Quellenmaterials : die Genealogien schlössen
mit den Nostoi ab. Aber noch ein zweiter Unterschied, der sachlich
bemerkenswert ist, besteht zwischen den beiden Männern. Dem
Halikarnassier ist die Berechtigung jener Teilung der Welt, die
Asien den Asiaten vorbehält, wieder zweifelhaft geworden. Es ist
ihm nur noch ein persischer Anspruch: t))v ydg 'Aolrjv xal zd
ivoixeovTa edvea ßdgßaga oixrjievvxai ol Uegoai, Tr]v de Evqcöjiyjv
xal ro 'EXhp'ixbv )]y)]vzai y.Fycogiodai. Er selbst ist über diese
Anschauung wieder hinausgewachsen in Athen, das lonien, wovon
Mimnermos noch nichts weiß, als seine Gründung und seinen Be-
sitz ansah, den es mit den Waffen zu schützen imstande und bereit
war. Die Beratung in Samos jieqI ävaoxdoiog rS]g 'Icovirjg, bei
der die übrigen Hellenen gemeint sind r7]v 'Icüvit]v dneivai roiot
ßagßaQoioi (Herodot. IX 106), mag sie in den Einzelheiten historisch
sein oder nicht, gibt doch genau den Standpunkt und die Anschauung
Athens wieder, die zu der geltenden Anschauung von der ionischen
1) Herodot. VII 42 — 43. Das beabsiclitigte Gegenstück dazu ist
Alexanders Besuch und Opfer in Ilion: Arrian. anab. I 11,7 — 8.
282 F. JACOBY
Wanderung geführt hatten und die Herodot zu der seinigen gemacht
hat. Für lonien , wie es damals war, bedeutet das nur einen
Wechsel der Herrschaft. Aber noch im 6. Jahrhundert war das
anders; und deutlich ist noch innerhalb des Herodoteischen Werkes
der Wandel der Zeiten und des Gedankens in ihnen. Als Harpagos
lonien für Kyros unterwarf, da sprach Bias von Priene bei einer
Versammlung von Vertretern der ionischen Städte eine Meinung
aus, die der Historiker (I 170) von seinem vorathenischen Stand-
punkt aus "'Toioi '/or]oijiWJTdT7]v nennt, n)« ei s7ieh%vT0, nagelye
äv oq>i £vdaijuoveIv 'Ellrjvcov ixdhoTa ' og sxeleve y.oivaji oröXcoi
^Icovag äeQ'&EVTag nkeeiv ig Zagdo) y.al e'jieira juiav nohv yaiCeiv
jidvTCOv 'loQvcov , y.al ovrco änaXXayßEVjag oqpeag öovXoovvrjg
£vdai/uov}]0£iv . . . juh'ovoi de 0(pi h> zrji 'Icoviiji ovk e(p}] ivogäv
elevdEQirjv hi eoojuevrjv. Die Beratung und der Vorschlag, der
in modificirter Form ^) im ionischen Aufstand als Rat des Hekataios,
der auch an einen erfolgreichen Widerstand gegen die Barbaren
nicht mehr glaubte (Herod. V 36), wieder auftaucht (Herod. V 125),
sind in derselben Weise historisch, wie die Beratung in Samos
sechs Jahrzehnte später. Sie sind ein Zeichen der Stimmung, die
um 540 soviele der besten lonier in die Fremde trieb: sie ver-
zweifelten an dem Schicksal ihrer Heimat. Der Gedanke, daß lonien
den Asiaten gehört, ist in die Blüte geschossen. Dem Mimnermos
war er noch etwas Neues. Er erscheint ihm von ferne als ein
drohendes Gespenst, dem Widerstand zu leisten er vielleicht noch
auffordert, aber in dem dumpfen Gefühl, dafs dieser Widerstand
vergeblich sein wird und daß die übermütigen Eroberer sich vertraut
machen müssen mit dem Schluß des Schicksals, das jetzt die ver-
achteten Asiaten zu ihren Herren macht: ex ydg 'Ogeorao iioig
eooeiai 'Argeldüo oder, wie Solon den allgemeinen Satz ethisch
formulirt, der dieser Anschauung zugrunde liegt, ov yotg öi]v ^vijJoTg
vßoiog egya neXei.
Die Versreihe lehrt uns nichts über die bürgerliche Stellung
und die politischen Überzeugungen des Mimnermos, aber als der
Ausdruck einer Stimmung, die damals in lonien entsteht und die,
obwohl sie sich stetig wandelt, nicht wieder verschwunden ist, ge-
winnt sie, wenn ich nicht irre, ein besonderes historisches Interesse.
1) Auch die hofiiiungsvollere yvöiiir} Oaleco . . og ixe/.evs sv ßovXevz^Qiov
"lonag sHtfjoßai, to ös eJvai h Tscoi , . rag dk aX/.ag :j6/.iag otxeojxh'ag /iit]8kv
rjooov vofii'QEoßai y.arä jieq al br]fj,oi ehv gehört hierher.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 283
Und aucli für die Erkenntnis vom Wesen des Dichters ist sie in
diesem Falle nicht ganz bedeutungslos. Das politische Schwüche-
gefühl, das sich in dem Gedanken ausdrückt, paßt besser zu dem
Bilde, das wir uns aus seinen übrigen Dichtungen von dem Menschen
Mimnermos machen, als eine prononcirte politische Stellungnahme
gegen die herrschende Klasse, mit der man sich den berufsmäßigen
Auleten ^) lieber in guten Beziehungen denkt. Auch damals mußte
ja der Sänger mit dem König gehen, wenn er die Freuden des
Lebens genießen wollte. Gewiß kann man sich vorstellen, daß
sich ein Wandel in Mimnermos' politischen Auffassungen vollzogen
hat von hoffnungsfreudigem Jugendmut zu resignirtem Pessimismus.
Man kann auch schließlich umgekehrt glauben, daß der Prediger
der Frivolität sich aufraffte, als die Gefahr für die eigene Heimat-
stadt drohender und drohender wurde, daß er jetzt neue Töne an-
schlug und das Volk zum Kampfe aufrief in Liedern, die doch un-
willkürlich verrieten, daß der Dichter selbst an den Erfolg nicht
mehr recht glaubte. Wir wissen von der Chronologie seiner
1) Daß er das war, wird man glauben, obwohl Strabons (XIV 1, 28)
avXrjTrjg ä^n xai jTon]rijg ilsysiag nic4it viel besagt. Auch Tyrtaios heißt
in der Suidasvita sXeysiojioiog xal avh}x'/}g, und den hält man doch gemein-
hin für einen Mann von Stand. Dergleichen geht auf die ältere Bio-
graphie zurück, deren Schlüsse selten viel Wert haben. Darum kann
ich auch auf Hermesianax' Schilderung wenig Wert legen. Die Anrede
Solons an den Aiynaorädijc, die Diels erklärt hat, die aber noch immer
mißbraucht wird, Mimnermos aus einem Musikergeschlecht abzuleiten,
konnte genügen, ihn zu einem Berufsmusiker zu machen. Dem Glauben
Nahrung gab dann, daß man Compositioneii unter Mimnermos' Namen
oder doch Noten für den Vortrag seiner Dichtungen besaß, die man
natürlich auf den alten lonier selbst zurückführte ; solche Noten kannte
Chamaileon (Athen. XIV 620 C; vgl. 632 D): fislondtj&rjvm 8k ov fidvor
xä 'Ofti'jQov, ciVm y.al tu. ^HaiöSov y.ai l4()/j}.6yoi< xai ^orxvUbov. Schwerer
wiegt das Zeugnis des Hipponax: [Plut.] De mus. 8 p. IISSE xai aXkog
S' eoriv dg/aiog vofiog xa/.ov^isvog Kgaöiag, ov (pijotr '/nr.TÖij'a^ MifivEQi/ov
avlfjoai. ^-'elbst wenn eine Bosheit dahinter steckt, kann man es nicht
ganz beiseite werfen. Ich vermute, daß Mimnermos Aulode war. Wir
würden wohl mehr wissen, wäre er, wie Polymnestos, nach Hellas ge-
kommen, wo die Daten der Musikgeschichte mit etwa 600 einsetzen.
Eigentlich entscheidend sind auch hier die Reste der Poesie. Die zeigen,
daß er nicht mehr deQÜ.-iwv ^Evva/.ioio xai Movaojv war, sondern nur noch
das letztere. An seiner Bürgerqualität braucht man darum nicht zu
zweifeln; und seine sociale Stellung hing von den Kreisen ab, in denen
er verkehrte.
284 F. JACOBY
Dichtungen, von Zeit, Ausdehnung, äußeren Umständen seines
Lebens zu wenig, um solche Möglichkeiten von der Hand zu weisen.
Ob der Wandel glaublich ist bei dem Wesen des Mannes, das wir
kennen und das so gar nichts an sich hat von dem eines politisch
gesinnten oder gar eines Vorkämpfers der Volksrechte gegen die
Anmaßung und den Druck des Adels, das ist freilich eine andere
Frage. Und wie dem sei, immer bleibt die Charakteristik bestehen,
die er von den eigenen Vorfahren bei der Einwanderung gibt und
damit die Schlüsse, die wir daraus ziehen zu dürfen glaubten.
Der Sinn der Verse dürfte festgestellt sein. Gern würden wir
nun auch etwas von dem Zusammenhang wissen, in dem sie standen.
Vielleicht wird der Versuch, ihn zu erraten, beeinflußt durch die
bisherige Erkenntnis. Aber das muß im voraus gesagt werden —
diese Frage läßt sich nicht mit auch nur annähernd gleicher Sicher-
heit beantworten. Es sind nur Möghchkeiten, die aber erwogen
werden müssen.
Durchaus zweifelhaft ist zunächst die vulgate Verbindung von
frg. 9 mit 10, obwohl dieses in der gleichen ionischen Vorgeschichte
bei Strabon XIV 1, 3 und wahrscheinlich als Zusatz Strabons aus
dem gleichen Demetrios erhalten ist: Koloq)ö)va (5' "AvÖQai'juojv
ITv?uog (sc. xriCsi), a>? (pi]oi y.al MijuveQ/uog ev Navvöi. Denn
auch wenn frg. 9 nicht von einem Smyrnaeer in Smyrna gesprochen
wäre, in jedem Falle verbietet die Gestaltung der Verse jeden Versuch,
sie als Rest einer y.rioig KoXocpcbvog (oder selbst 2^/uvovi]g) zu
erklären, wobei ich hier ganz von der Frage absehe, ob es derartige
Gedichte in elegischem Maße damals oder später überhaupt gegeben
hat ^). Denn der Dichter erzählt hier nicht die alten Geschichten ;
er behandelt sie als bekannte Voraussetzung, die er in ihren
einzelnen Stadien schnell rekapilulirt; offenbar doch zu einem be-
stimmten Zwecke, der wohl sicher in der Tatsache zu finden ist,
die den Schluß des Rückblickes bildet: dsdn' ßovhji ZjxvQvriv
ellojuev. Von Smyrna und den Kämpfen um Smyrna handelte die
1) Die Sicherheit, mit der man gemeinhin von ihnen redet, ist
unberechtigt. Ich behandle die Frage, die sich im Vorbeigehen nicht
erledigen läßt, an anderer Stelle. Man begegnet hier oft merkwürdigen
Schlüssen. Auch ein Vers wie Ions »;)' :tots Oijasiötjg exzioev Oho.-itMv
kann doch nie in einer Xi'ov xzioig gestanden haben, sondern gehört als
schmückender Füllpentameter — den Schmuck verlangt der Stil (vgl.
Homer, epigr. 4, 3 ff.) — zu einer gelegentlichen Erwähnung der heimischen
Insel.
zu DEN ÄLTEREN GRIEOH. ELEGIKERN 285
Elegie, in der diese Verse standen. Das lehrt ja auch der von
Strabon prosaisch wiedergegebene Vordersatz, wenn es nur der
Vordersatz, nicht die kurze Inhaltsangabe des ganzen Gedichtes ist.
Man wird gern mit Wilamowitz folgern, daß 'andere genannt waren,
denen Smyrna begehrenswert war', und wird auch gern glauben,
daß es die Lyder waren, obwohl sich das aus diesen Versen allein
nicht mit Sicherheit entnehmen läßt. Warum aber und wie sprach
der Dichter von den Kämpfen um Smyrna? Wie wir die alte
Elegie kennen, denken wir zunächst an Form und Ton der kriegerisch-
politischen Paraenese, die den Ausgangspunkt und den ersten Inlialt
der Elegie überhaupt gegeben zu haben scheint und die wir in
typologisch sehr ähnlicher Ausgestaltung bei Tyrtaios finden, dessen
echte Stücke naturgemäß noch archaischer wirken, als selbst Kallinos.
Denn älter noch als dieser muß ja der Dichter gewesen sein, der
die Elegie nach Sparta brachte. In den Versen der Eunomie:
avrog ydg KqovUov, y.aXXioxEq)dvov noaiq "Hgi^q,
Zsvg 'ÜQaxXf Idaig r/jvdf öeöcoy.E nohv,
oloiv äfxa TiQoXiJiovxeg 'Eqiveov yve/uöevia
evQsiav Tlelonog vfjoov äq^iy.ofzeßa
haben wir die gleiche Berufung auf die Zeiten der xtioig, die nicht
um ihrer selbst willen und in der Form der Erzählung erfolgt,
sondern hier geradezu als Argument, als Begründung gegeben wird,
offenbar für etwas , was der Dichter in den inneren Wirren des
Gemeinwesens den Spartanern einzuschärfen wünscht. Und das
kann kaum etwas anderes sein, als daß er Gehorsam verlangt gegen
das Geschlecht, dem Zeus selbst die Herrschaft verliehen hat; also
eine Mahnung im Sinne des vom Orakel bestätigten Grundsatzes
der Verfassung
ägyeiv ^ukv ßov?Sjg dEorijuijiovg ßaodrjag,
otoi jUEAsi S7i6.QT}]g ijiiEQÖeooa Jiöhg.
Ähnlich könnte bei Mimnermos auf die Constatirung 'durch Gütter-
schluß haben wir Smyrna gewonnen" die Mahnung gefolgt sein:
'halten wir fest' oder 'erobern wir zurück, was uns gehört', 'kämpfen
wir um Smyrna', ein Aufruf wie Solons Yoiiev ig ZaXajuiva,
juax^oo/uEvoi jieqI vfjoov, der wohl auch nicht nur dem spartanischen
Schiedsgericht erzählte, wie Salamis athenisch geworden war (Plut.
Sol. 10). Die 100 Verse boten Raum genug zu solchem historischen
Argument ; und die erhaltenen Distichen zeigen, wie umfangreich solche
Paraenese werden konnte, ohne den enthusiastischen Ton des un-
286 F. JACOBY
mittelbaren Aufrufes zum Kampfe zu verlieren. Einer Begründung be-
darf ein solcher Aufruf in jedem Falle, wenn er im Gedicht erfolgt.
Wir kennen sicher nur die Begründung durch Gedanken von all-
gemeiner Natur oder durch solche, die aus den kriegerischen Ereig-
nissen selbst hergenommen sind. Aber unser Material ist gering
und der Möglichkeiten sind viele. Wir würden sicherer sprechen
können, wenn wir wüßten, ob das Tyrtaiische Distichon 5,1 — 2
fjLisreooji ßaoiliji, d^eoToL cpiXcoi Qeoji6[X7icch,
ov diä Meööf]V7]v eikofXEv evQv^oQOv,
das ja im Ausdruck an den letzten Pentameter unseres Fragmentes
erinnert, mit der Berufung auf die Eroberung Messenes eine Mahnung
verband, um seinen Besitz den Kampf nicht zu scheuen. Gehörte
dieses Distichon, was durchaus nicht unmöglich ist, in die Eunomie
oder gehörte es zusammen mit der Erzählung, wie Messene gewonnen
wurde — 5, 3 ff. äjucp' avjip' ejiidyovr evveaxaideyJ' et)] — und
mit der Schilderung des Zustandes, in den die Eroberer die Unter-
worfenen versetzt hatten — 6 öjojieq övoi jueydloig äy&eoi rsigo-
juevoi; 7 ÖEOJiorag oijiicoCovTeg? War letzteres der Fall, so hätten
wir die ausführliche Erzählung eines Krieges der Vergangenheit in
der Form des Paradeigma und mit paraenetischer Abzweckung.
Die Tapferkeit, die Ausdauer, der Erfolg der Großväter sollte die Enkel
zu gleichem Verhalten begeistern. Das sticht sehr ab von den beiden
kurzen, schemalischen Ermutigungen des zum Kampfe aufgestellten
Heeres (s. oben S. 29). Aber die Möglichkeit, daß es solche Elegien
neben dem Typus, den Kallinos 1 bietet, gegeben hat, wird niemand
bestreiten. Denn die Vorlage auch für sie ist in den Reden des
Epos gegeben, die das Paradeigma mit bewußter, freilich noch un-
geschickter Technik handhaben ^). Dann wäre es auch denkbar,
daß Mimnermos den Satz ^^juvori] äel jiEQijua.p]Tog in ausführlicher
1) Eines der instruktivsten, aber durchaus nicht das einzige Beispiel
längerer paradeigmatischer Erzählungen bietet die große Phoinixrede im
/ der Ilias. Man hat hier viel zu viel mit Annahme größerer und kleinerer
Interpolationen gewirtschaftet und zu wenig einerseits den deutlichen
Gesamtaufbau beachtet, anderseits die naive Freude bei Dichter und
Hörer an der Erzählung als solcher, die sie oft weit über den unmittel-
baren paradigmatischen Zweck ausdehnt. Ebensooft liegt freilich in
dem weiten Ausholen gleichzeitig eine gewisse technische Ungeschicklich-
keit. Aber für unser Urteil muß immer maßgebend sein, daß noch
Herodot in der großen Korintherrede (V 92) diese Technik in gleicher
Weise übt.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 287
Erzählung durchgeführt liat und daß unser frg. 9 'aus dem Ge-
dichte über die Kämpfe mit Gyges stammte', dessen Existenz Pau-
sanias bezeugt (s. u. S. 296) und dem man gewöhnlich das frg. 14
zuweist. Ob mit Recht, ist freilich auch eine Frage, die sich nicht
einfach und in keinem Falle mit Sicherheit entscheiden läßt:
ov fxev öij y.sivov ye jLth'og y.al äyrjvooa d'vfxbv
xoiov iftev JTQoreQOJV Jiev&o/uai, oi fiiv l'dov
Avöcbv ijiJiof.id/^cov iivKivag xXoveovia qjdXayyag,
"Eq/uiov äjii ;^EÖiov, (pcora (peQejujusUr]V.
5 rov juev äg' ov tiote JidjUJiav ejuejuifaro IlaXkäg 'A'&i]VT]
ÖQijuv jiih'og xQadi)]g, svß'' 6 f dva. nQOfxdiovg
oevaid"' aluaToevixog ev) vofxiv^ii nolefioio
jiiy.Qo. ßiaCojuevog övojuevecov ßeXea.
ov ydg xig xeirov fdqioyv eTiajueivoTegog (pojg
10 eoxEV enoiyeo&ai q)vl67ndog xoareQrjg
egyov, ot avyfjioiv cpeget wxeog i]ehoio^).
Das von den Zusammenstellern der Florilegien rücksichtslos
aus dem Zusammenhange herausgerissene Bruchstück feiert die
Tapferkeit ^) eines bestimmten, vorher zweifellos namentlich genannten
oder seiner Stellung nach bezeichneten Mannes mit Ausdrücken,
die im ganzen und einzelnen in stärkster Weise homerisiren. Bis
auf die Kampfesweise des Unbekannten, die ohne Rücksicht auf
die damals sicher existirende ionische Phalanx mit homerischen
Farben gemalt wird. Ich lasse das einzelne beiseite^), führe aber,
1) inaßstvÖTEoog (pV dii - Stob.) ist eine schöne Besserung von Wila-
mowitz, der für die Überlieferung in V. 8 und V. 11 mit Recht eingetreten
ist. Nur ßiaCouirov ist längst in ßia'Qofisvog geändert. Zum Ausdruck
vgl. 11. A 558 wg 6' ör' övog Jiao' ägovgav Ion' ißujaaro :TaTöag (Scliol. B*
ävzt zot' ßiai srixTjosv) und das alte attische Epigramm Kaibel 749 b 4
ßiai Ueqoöjv fihvä/iisvo[i dvvafuv] ; Xenoph. Anab. I 4, 5 ö:iUTag . . . ßiaoofidvovg
Tovg no/.efiiovg. V. 6 stammen o y' (ö'z' Stob.) und osvaiß' {aevrjß'^ Stob.)
von Schneidewin. Alle sonstigen Änderungen, darunter so erstaunlich
kecke wie Meinekes og /luv i'Sor' V. 2, fallen fort.
2) Es steht bei Stob. 111 7, 11 im Abschnitt .-teqI äröosiag.
3) Wir finden die bekannten Verschiedenheiten von der einfachen
Übernahme epischer Floskeln, der Vereinigung mehrerer zu einer schein-
bar neuen, bis zur Um- und Fortbildung von Sinn und Form und zu
Neubildungen nach epischer Analogie. Bemerkenswert ist die vielfach
knappere Fassung des breiten epischen Ausdrucks und das Zurücktreten
der Odyssee gegenüber der Uias. Das letztere liegt natürlich z. T. am
Stoffe, gilt aber für die ganze ältere ionische Elegie. V. 1 : Od. /. 562
288 F. JACOBY
weil es die Frage nach dem Zusammenhange angeht, aus der diese
Verse stammen könnten, die Scene an, die dem Mimnermos bei
der Gestaltung des Ganzen vorschwebte. Ich wenigstens zweifle
nicht, daß es die Worte des Agamemnon an Diomedes in der
'E7n7io'}h]oig waren, J 364 ff.
(hg eijiojv rovg juev ?u7iev avrov, ßi] de just' äXXovg.
365 EVQE. de Tvöeog vlbv vjieg^vjuov AiojuijÖea
368 xal xöv /.th' veixeooev idcov Hoeicov 'Aya/Liejurwi' . . .
370 '(5 juoi Tvöeog vie öaicpQovog l7iJiodd/.ioto,
zi nro'jooeig, ri d' öjitJteveig TioXefxoio yefjjvgag ;
ov juev Tvöei y' cböe (pi/.ov JiTOioxa'Qefxev t]sv,
dV.d noXh JTQO (piXcov irdgcov drjioioi jLid'/^eodai.
ojg (pdoav oX iiiv Xbovxo Tiovevfievov ' ov ydg eyoj ye
ijvrrjo' ovde l'dov ' Tiegl d' äXXcov cpaol yeveo&ai.
Es folgt die Erzählung einer besonderen Heldentat des Tydeus,
öäuaoov 8's fisvog aal äyyvoQa &vfi6y. IL Y 174 fiero; xal ßv/iiög dy/jvcog und
Q 42 dyi'jvoQi ßi'nwi (Hex. - Schlüsse) V. 2: II. Ä^124 vvv 8' i/uso aoozsQog.
V. 3: zu iJiJTOfid/cor s. S. 289. II. £"93 <bg i'.to Tv8ei'8i]i :jvxivai y.).o%'iovTo (fä-
Xayyeg Tqcocov ... 96 ßvvovz' diu JTs8iov jtqÖ t'ßey x?.orsovTa <fdlayya?. V. 4
<fSQSf.ifis?Jt]g oi eviiifis?.it]g II. A 47; 'Aa^rig 368 ; qpegEooaxtjg 'Ja:zcg 18 u. ä.
V. 5: IL i\' 761 rovg 8 sog' ovy.Exi nd^Jiav; Od. X 528 xeTvov 8' ov Jiozs Jiä/ii7iar
(Hex.- Anfänge). — IL JV 126 dfi<pi «5' ofß' Aiavxag 8oiovg l'oxavjo cpdXayysg
y.aoTEQal, dg ovz' äv xe%' "Jgi]g orSoano i^iexeXdxov oi'xs h ^Aßrjvairj Xaoooöog '
Ol yäo OLQioxoi xxk. P397 tieoI ö' avxov [iw'/.og öoojQsi äygiog ' ov8e i<"Agr]g
'/.aoaaöog ov8s y.' 'J^tp-?] xöv y l8ova' dvöoan .... xoXov Zevg y.x).. A 539 ff.
N 287 ff. ov8e xev Evßa rsöv ys f^iEvog y.al xsTgag övoixo. si'jxsg ydg xe ß/.Eio . . .
jToöoaoi lEfiEvoio fiExä Tcgofidjfojv oagioxm'. Positiv A 73 ^'JEgig 8' äg' s'xaigE
jto/.voxovog Eiaogöcoaa u. ö. Danach wird man hinter der als Zeugnis
angerufenen Athena nichts Besonderes suchen. Für den Dichter ist die
Göttin schwerlich noch lebendig. Er bedient sich der epischen Floskel
aus dem bereiten Vorrat des Rhapsoden an Stelle eines schmucklosen
ov8Elg avxov inif^iifaxo. Erst bei Aischylos fällt die Verkleidung ohne
Beeinträchtigung der Wirkung: Sept. 507 f. oy'r" e/öog ovxe üvfwv ov8' öjiXmr
a^Eoiv fia)/.i7]x6g. 1010 f. öoiog cov f4.6,u<pTjg axEg xE&rrjy.Ev. V. 6: Od. O) 319
8gi/iw fXEVog (Hex.-Anf.). — 'Aamg 164f. evxe fid/oixo 'Afi(pixgvcovid8rjg. V. 7
II A 462 u. ö. ivi xgaxEg^i vai-dvrji. Y 245 ev /uEootjt vofu'vr^t 8t]ioxtjxog.
1 650 7io?.Efioio . . atfiaxÖEvxog. V. 8 IL 77 102 ßid'CExo ydg ßElsEGOi.
V. 10 — 11 11. Z 401 f. y.a.i d^i(fi:iö}.oioi heXeve k'gyov i.-roi'/soßai; 2*242 (Od.
n 268) q:v/.6.-n8og ygaxEgfjg (Hex. - Anf.) ; 77 208 (fv?.ö,-ii8og fiiya sgyov.
V. 11 Od. X 498 ov ydg iywv ijiagojyog v:x' avydg ijEXioio. 619 ov :TEg iydtv
v/Jeoxov vn avydg rjEXloio. o 349 fj nov sxi 'Ccöovaiv ivt' avydg rjsXloio rj
tj8rj xEdväai. ß 181.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 289
deren Entsprechung beim Elegiker mit der Erwähnung des Lyder-
kampfes kürzer vorweggenommen ist, und der Abschluß
399 TÖiog h]v Tvdehg Ahcoliog' uXXä rov vlov
yeivaxo elo yjgeia judyjji, uyogfji dt t' äfxetvcov.^
Wer dieser Held war, wissen wir natürlich nicht mehr. Aber
daß er nicht aus Kolophon stammte, können wir auch hier mit
Bestimmtheit behaupten. Der wesentlichste Satz in Wilamowitz'
Behandlung der Verse — 'der Mann, von dem Mimnermos spricht,
war ein (pege/ujLieÄnjg, ein Hoplit: die Kolophonier waren vorwiegend
Reiter, und nur die zahlreiche liochbegüterte Bevölkerung besafs die
bürgerlichen Rechte' — enthält eine für die weitere Auffassung ver-
hängnisvolle petitio principii. Wir sahen oben schon (S. 272), daß der
Dichter von frg. 9 kein Kolophonier, sondern ein Smyrnaeer war.
Dort lehrte es der Text mit voller Sicherheit. Auch hier scheint
ein kolophonischer Dichter ausgeschlossen durch die Bezeichnung
der Gegner als Ävdol mjidjiiayot. Das Wort ist eine Neubildung^),
die aus den Verhältnissen geboren ist. Daß die Lyder in ihrer
Glanzzeit ein Reitervolk waren, sagt Herodot I 79 in der Darstellung
des Kyroskrieges in einer kleinen Einlage, die auch in den vö/uoi
I 94 ihren Platz verdient hätte, wenn dieser Anhang nicht etwas
hastig abgemacht wäi'e: yv de xovrov rov ygövov edvog ovöev
ev XTji 'Aoh]i OVIS ävÖQfjioxsQov ovxe d?Mijud)X€Qov rov Avdiov
fj de p-dyYj ocpecov t]v acp ('ttjxcov, dogaxa xe ecpogeov fxeydXa,
aal avxol f]oav Inneveo^ai dyw&oi^). Die letzte große Feldschlacht
vor Sardes ist eine Reiterschlacht und wird von Kyros durch eine
darauf berechnete Kriegslist gewonnen (Herod. 1 80). Also das
stimmt. Aber es ist ein schlechter Gegensatz gegen die reisigen
Kolophonier; und ein Dichter, der aus dieser Stadt stammt und
von der kolophonischen Heeresmacht spricht, wird kein neues Wort
bilden, um die Gegner gerade mit diesem Zuge zu bezeichnen, der
für ihn nichts Besonderes hat. Für Smyrna und für jede andere
1) Jedenfalls ist es nicht alt, wenn es auch in epischen Gedichten
vorgekommen sein mag. Als Lesung Aristarchs ist es überliefert in der
Dolonie (v. 431), wo die Handschriften xal ^Qvyeg ijrjiödafioi xal Mi'jtovEg
InjioxoQvoTai haben. Unsere Ausgaben nehmen das auf. Aber mir scheint,
daß eher ein in ionischer Dichtung für die Barbaren typisch gewordenes
Wort das gewöhnliche epische verdrängt hat.
2) Schob T zu Tl. K 431 (s. vorige Anmerkung) i'jdi] xa&' "Ofujgov
ijlQCOtSVS tÖ AvdlOi' ITlfllxÖV.
Hermes LIII. 19
290 F. JACOBY
ionische oder überhaupt griechische Stadt steht es natürhch anders.
Da haben wir einen den Tatsachen entsprechenden Gegensatz
zwischen dem ionischen Hoplitenheer mit seiner geschlossenen
Phalanx und den Schwärmen der barbarischen Reiter, den die
späteren Epigramme auch auf den großen Perserkrieg übertragen
haben ^). Der Unbekannte kann aus jeder beliebigen ionischen Stadt
stammen, wenn es auch gewiß am nächsten liegt, in ihm einen
Smyrnaeer und Landsmann des Dichters zu sehen.
Haben wir aber keine Veranlassung, ja erscheint es auch für
frg. 14 ausgeschlossen, an Kolophon und kolophonische Verhältnisse
zu denken, so entfallen natürlich auch die Folgerungen, die Wilamo-
witz doch im Grunde allein hieraus auf die sociale Stellung des
Gefeierten und in der Folge auch für Mimnermos gezogen hat.
Denn der Text selbst gibt dafür keine Stütze. dr]i(jjv V. 9 ist ja
wohl sicher falsch 2). Aber gegen Irjöiv, das Bergk trotz der
Leichtigkeit der Änderung mit Recht in den Text zu setzen sich
scheute^), während Wilamowitz 'den lonismus mit besonderer
Freude" begrüßte, habe ich formell und sachlich schwere Bedenken.
Gewiß kommt der Singular Arjog bei Hipponax in nicht näher zu
bestimmender Bedeutung vor; ich will selbst zugeben, daß Hekataios
den 'Mann des Eurystheus' nicht Evgvo&ecog lediv, sondern )a]öv
nannte*). Aber der sichere Beleg aus dem lambos des besonders
1) Anth. Pal. VI 2 (unter Simonides' Namen sm To'^oig avarEÜsToi iv
zü>i xfjg 'Aßrjväg vawi ) jio/Jmxi 61/ aiovöevia y.aza >i/.6%'or> ir öat cpcozcöv IJeo-
GMv iTiTtof^ä/cov aifiart Xavodfieva.
2) Wenigstens wenn es als einfacher Genitiv von tI; abhängt. Bergks
8?]ia)v ETI "^coram hostibas" verwirft Wilamowitz als ungriechisch. Viel-
leicht ist drjioiv fih' möglich 'mitten unter den Feinden', mit eay.Ev
i.-ioi'/Eoßm xtX. zusammengehörig und einem homerischen h aiviji dtjiÖDjn
entsprechend. Die Corruptel ähnlich wie Xenophan. 2, 15 P.aoTon' sV eh]
statt fiezEiT]; aber die Stellung wäre befremdlich. An eine Verbalform
von dtjioo} ist auch nicht gut zu denken. Der Fehler liegt wohl tiefer.
3) Daß er die weitere Änderung in kacov für nötig hielt und deshalb
an der Probabilität der Änderung zweifelte, ist aus seiner Bemerkung
V. e. /.amv' kaum zu schließen. Es störte ihn wohl eher das nach der
Beseitigung von öjjiojv ihm unerklärliche eti.
4) So schreibt Wilamowitz, während Lentz, Herodian. I 108,9 ).a6v
setzte. Aber ist die Corruptel glaublich, da das Hipponaxfragment mit
P.t]6g und das Hekataiosfragment mit ?.ecog im gleichen Artikel der
Epimerismen (Gramer An. Ox. 1265, 6flF.) nebeneinander angeführt werden,
jenes um den Unterschied im Vokalismus gegen Homer zu belegen bei
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 291
plebeischen Dichters und der unsichere aus der ältesten Prosa, die
im wesenthchen der reinen Sprache des Lebens sich bediente, be-
weisen wenig für die Elegie im ganzen, die sonst von Kallinos bis
Theognis ?.a6g hat^), und noch weniger im besonderen für ein
so stark episirendes Gedicht, wie das in Frage stehende. Was in
dt]icov steckt, dafür sind eine Reihe von Vermutungen möglifh, von
denen keine sich zur Sicherheit erheben läßt. Ich glaube immer,
daß hier doch eine nicht wiederzugewinnende Herkunftsbezeichnung
stand, der Name zwar nicht einer Stadt, aber einer Phyle, eines
Ttvgyog, daß Ahrens mit ö)] "Icov wenigstens auf dem Wege zum
Richtigen war. Wer aber an h]ci)v glaubt, der muß es eben
interpretiren nicht im Sinne des EvQvoßewg Xrjög, sondern in
dem des Kallinos 1, 18 ?Mcbi yag ovjUjiavri Jto'&og xQaregöcpQovog
uvÖQog als Ausdruck für das Gesamtvolk und Synonymon zu dfjfxog,
ebd. 16 di]jucoi q)'dog'^). Aaog hat eben in den ionischen Städten
dem tö }.a6g äxQSJTTog FßEivs, dieses um der von Homer abweichenden Be-
deutung willen, öri ov)r ojtXwg xov ox^ov orjf.iaivEi, alXa xov v:ioxezay(iivov'i
Herodot hat Itwg und Xa6g\ jenes auch die feste Formel ledig avxoixog
(GDI 5533 e Zeleia) neben den sonst gewöhnlichen Xaoi.
1) Kallinos 1, 18. Tyrtaios 11, 13 oaovai Sk laov onioaoi. [12, 24 aoxv
TS y.al Xaoi'g xai ^laxeg' Ev>c?veiag]. Xenophan. 2, 15 Xaoioi /Liersirj. Natür-
lich auch Theogn. 53 u. ö. und das Epigramm. Hoffmann, Gr. Dial. HI 1
S. 305 verlangt mit Fick für Kallinos und Tyrtaios (!) X.tjög, während er
für die 'jüngeren' Elegiker den'Horaerismus' gelten läßt. Das wird niemand
glauben. Wäre der Begriff 'Mann des Volkes' unentbehrlich, so würde
ich öifi'oiv immer noch lieber in ).i]öjv als in dtjfwjv ändern: H. ^"213
ö^l-iov Eovxa (Schol. A ö>]fic>xt]g, Idicozijg. Apoll, lex. Hom. 58, 9 Bekk.
8)]fioxiy.6r ävöoa. Steph. Byz. s. öP/tiog); Bentleys, von Leaf gebilligte
Conjectur 8i]/:wv idvxa wird man ablehnen, da dieser Gebrauch von 8fj[xog
eine genaue Analogie an dem von Aew? bei Hekataios hat.
2) Ich möchte bei dieser Gelegenheit doch der Deutung von Immisch
Philol. XLIX 1890 S. 206 widersprechen, der auch in diesem Gedicht eine
Art Stellungnahme gegen den Adel findet und daraus ein Argument gegen
die ja mehrfach behauptete Zuweisung an Tyrtaios entnimmt. V. 13f.
ov yoLQ Hcog ßävaxöv yE (pvysTv ai/^iaQfisvov ioxlv äv8g\ ovo' et .-Tooyovcov ^i
ykvog aßaväxov soll eine Exemplifikation auf den Adel sein, 'die nicht
gerade von hoher Achtung getragen ist'. Aber der Fortgang der
Argumentation verbietet, in dem Distichon etwas anderes zu finden, als
einen ganz allgemeinen Gedanken, einen Erfahrungssatz, denselben, den
II. .S" 117 ff. paradeigmatisch ausdi'ückt: aiiga 6' iyco xöxe ös^ofiac, d.T.Tore
HEV 8rj Zsiig E&sXrji xsXiaai .... * ov8e yag ov8s ßit] 'HgayArjog (pvye xtiga,
og nsQ (piXxaxog eoxe Au Kqovuovi avaxxi' dXXd i iioXo' iSäfiaoas xai äoyaXsog
yoXog "Hgrjg.
19*
292 F. JACOBY
doch noch einen anderen hihalt gewonnen, als in der Sphäre des
Epos; daß es nicht mehr notwendig einen Gegensatz des Volkes
gegen die Herren^), die ßaodrjeg, indicirt, nicht nur die Bürger
minderen Rechtes — denn an einen solchen, nicht etwa gar an
einen Hörigen könnte man doch hier allein denken 2); die gehen
überhaupt nicht in den Kampf; am wenigsten ävä TiQOjudxovg und
als Hopliten — bezeichnet. 'Wer dem drjiLiog lieb ist, wessen der
Xaog sich mit Sehnsucht erinnert" — sagt Kallinos — rov d' öXiyog
OTEvdxei y.al /ueyag, fjr ri nd^)]!, was doch gewiß nicht "^groß und
klein', sondern 'hoch und gering' heißt ^). So nur könnte man
die }.aoi aus sachlichen Gründen auch hier verstehen. Denn mögen
die Minderberechtigten auch als Hopliten zu Felde gezogen sein, so
liegt doch eine starke Unwahrscheinlichkeit schon in der Annahme,
man habe noch in der dritten Generalion über Wesen und Ver-
halten eines 6j^/<0Ti;g so diskutirt, daß ein Dichter öffentlich zu
seiner Verteidigung auftreten und dafür Interesse erwarten konnte.
Eine öffentliche Verteidigung setzt Angriffe voraus. Man müßte
schon glauben, daß Mimnermos an diesem Manne ein ganz persön-
hches Interesse nahm, daß der Unbekannte, was ja wohl vermutet
worden ist, sein Vorfahr, Vater oder Großvater, war. Und selbst
dann ist die Sache unwahrscheinlich. Der Ton des Ganzen, der sich
dem Epos so weit nähert, wie kaum eine andere Elegie, will zu so
persönlichen Dingen nicht stimmen. Und sobald wir nicht die
1) Die Entwicklung beginnt schon im Epos. Vgl. z. B. S 509 dvco
OToazol eiUTO Xacöv.
2) An einen solclien denkt auch v. Wilamowitz nicht, da er den
Mann einen ötjfiörrjg nennt. Die barbarischen Hörigen, die ^^aoi, gab es
aber gewiß schon in Mimnermos' Zeit, wie wir sie im 5. Jahrhundert
finden. Es würde also die Lesung ?.}]cdv, wenn sie richtig wäre, keines-
wegs 'in die Verbältnisse der Zwischenzeit hineinsehen lassen', sondern
höchstens in die lexikalische Entwicklung des Wortes. Denn schwerlich
hätte Mimnermos den Bürgerhopliten 'den besten der ?.t]oC genannt,
wenn das schon zu seiner Zeit der Terminus technicus für die Hörigen
gewesen wäre.
3) Dieses uUyog ist bei Kallinos viel angefochten und sogar zur
Verdächtigung der ganzen Elegie benutzt worden. Aber 'gering' Immilis
heißt es, wie Wilamowitz, Ilias und Homer 423, 2 gesehen hat, auch in
dem kaum viel jüngeren 'homerischen' Plpigr. 4, 16 /.isyag de /he ■öv/nog
ijisi'ysi dfjfiov ig äk).o8aji6v tivai, oXiyov ueq iövza. Auch da sind törichte
Conjecturen gemacht worden. Aber der Gegensatz ist der gleiche, wie
der bei Kallinos ebenfalls zu Unrecht beanstandete.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 293
kolophonisclien Verhältnisse voraussetzen, die auf Smyrna zu über-
tragen nichts berechtigt, fällt eben die Voraussetzung für alle solche
Vermutungen. Der cpojg (peQeajuekujg mag wirklich prosaisch ge-
sprochen ein Fußsoldat gewesen sein. Aber das setzt ihn an sich
nicht social herab. Es heifst im Gegenteil, daß er nicht zu dem
verlorenen Haufen gehört, sondern zu den Vollbürgern, die als
Hopliten kämpfen und den Kern des Heeres bilden, das die lydischen
Reiterschaaren abgewehrt hat. Ja, nichts spräche in diesen Versen
gegen die Annahme, daß mit diesem rühmenden Ausdruck, der der
allgemein homerisirenden Sprache des Gedichtes angemessen ge-
wählt ist, selbst der Feldherr gemeint ist, der das Heer zum Siege
führte, daß er es ist, den der Dichter hier mit homerischen Kampfes-
vorstellungen und mit homerischen Ausdrücken preist, den er
q)eQejujUE^J}]g nennt, wie Homer den Agamemnon ar/ju]Tijg — dies
der gewöhnlichste Ausdruck, auch in den Grabepigrammen ^) —
und den Priamos Evui.iElü]g. Aber das führt schon auf die Frage
nach Art und Zweck der Elegie, der die Versreihe entnommen ist.
Die allgemeine Annahme scheint, wie gesagt, zu sein, daß sie
in das Gedicht über die Schlacht zwischen Gyges und den Smyr-
naeern gehört. Bewiesen ist diese Annahme aber nie und kann es
auch kaum werden. Für sie spricht, daß auch der hier erwähnte
Lyderkampf mindestens eine, eher in der zweiten Generation vor
der Zeit des Dichters stattfand ^) ; gegen sie zunächst einmal , daß
man sich wirklich — um Wilamowitz' Worte zu brauchen — 'nicht
leicht denken kann, daß die Ehrenrettung eines einzelnen sich in
ein solches Gedicht fügte'. Leichter wäre das, wenn es sich nicht
um eine solche, sondern um den Preis eines einzelnen Kämpfers
handeln würde ^); und so fragt man doch zuerst, ob die Verse
1) Neu wie immer im Ausdruck Aischylos, der in den Elegien
einen Krieger {tiq xöiv .-zo?.suip<o)v Plut. Quaest. conv. II 5 p. 640 A) ßoißhg
djihxon:ct}.ag , däiog ävzijialoig nennt. Der \'ers wird von Plutarch oft citirt;
zur Charakteristik Alexanders (De Alex. fort. II 2), der römischen Helden
(die ävÖQsg a.Qrji(paxoi, ßeßgozM^iva xsvy^E k'yr^vzsg De Rom. fort. 3), des
ganzen römischen Volkes (Cic. et Demosth. comp. 2).
2) Es war ein ganz unmöglicher Einfall Bachs, das Fragment auf
Andraimon, den Gründer Kolophons zu beziehen.
3) Die Frage stellt sich ähnlich für den eben (A. 1) erwähnten
Aischylosvers, den man auch gern in dem Schlachtgedicht über Mara-
thon sucht.
294 F. JACOBY
denn durchaus eine Ehrenrettung sein müssen? Die Formuhrung
des Ganzen scheint es doch zuzulassen, daß man den Ton nicht
auf die dreimahge Negation , sondern auf das dreimal gesetzte
Demonstrativum legt. 'So ist uns seine Tapferkeit nicht geschildert',
wie Wilamowitz übersetzt, oder 'seine Tapferkeit wird uns nicht so
erzählt; an ihm hatte Athene nie etwas auszusetzen; er war der
beste Mann seiner Zeit'. Das erfordert dann einen Gegensatz zu
anderen. Und gerade wer die Verse in das erzählende Schlacht-
gedicht stellt, müßte in Berücksichtigung der homerischen Vorlage
hier sehr ernsthaft die Möglichkeit erwägen, daß gar nicht Mimner-
mos der Sprecher ist, sondern der Stratege, der einen der Kämpfer
durch den Gontrast mit den Leistungen etwa auch seines Vaters
in früheren Lyderkämpfen zu höchster Tapferkeit spornt. Also eine
nicht ernsthaft gemeinte Bescheltung. Aber vielleicht könnte es
auch eine ernsthafte sein. Es ist eigentlich wunderlich, daß Wila-
mowitz, der im frg. 9 die Unzufriedenheit des Dichters mit den
derzeitigen Leitern des Staates erkennen wollte, nicht hier die doch
immerhin naheliegende Möglichkeit angenommen hat, daß der Dichter
hier die Männer oder auch einen Feldherrn seiner Zeit, der den
Kampf mit den Lydern nicht aufzunehmen wagt, beschämt durch
den Hinweis auf den ihm vielleicht verwandten Mann, dessen Tapfer-
keit die Stadt vor Gyges gerettet hat^). Es sind das, wie gesagt,
Möglichkeiten. Wenn ich sie nicht weiter verfolge, so bestimmt mich
vor allem die Überzeugung, daß dieses Fragment gar nicht aus dem
Gedicht über den Gygeskampf stammen kann. In einem ausführ-
lichen Stück, das sich diesen Kampf als eigentliches Thema stellt,
nur von ihm handelt, scheint mir die Art, wie hier der Ort und
die W^eise des Kampfes angegeben wird, wie etwas Neues, noch
nicht Erwähntes, undenkbar 2). Aber sehr passend ist das in einer
Elegie, deren Zweck und Inhalt darin bestand, einen bestimmten
Mann zu feiern oder sein Andenken zu verteidigen ^). Denn auch
das scheint mir unzweifelhaft: der Unbekannte wird nicht allein
wegen seiner Tapferkeit in jener einen Schlacht gepriesen, sondern
1) Diesen Gegensatz suchen Otfried Mueller, E. Meyer u. a. in den
Versen.
2) Ein weiteres Argument u. S. 295.
3) Man denkt dann an die Möglichkeit, daß frg. 15 y.ai jxiv ijr'
äv&Qcöjiovg ßd^ig i'/ji yalEni) in dieses Gedicht gehört. Aber solche
Combinationen sind zu unsicher.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 295
ganz allgemein. Die drei Versgruppen von 4 -[- 4 -j- 3 Versen , die
sich durch die Anapher ov jutv dij heivov — rov juev — ov yctg
rig xEivov zusammenschließen, zeigen einen deutlichen Gedanken-
fortschritt vom Besonderen zum Allgemeinen, wobei das Besondere,
die Leistung im Lyderkampf, gewissermaßen paradeigmatischen
Charakter hat. 'So war sein Mut nicht', sagt der Dichter; 'das
bezeugt sein Verhalten in der Hermosebene, von dem die Alten
berichten'; 'niemals, so oft er im Vorkampf stand' - — ehV ö y'
dvd jTQojudyovg oevacro kann sich auf wiederholtes Vorbrechen
in der gleichen Schlacht, aber auch auf alle Kämpfe beziehen, an
denen der Mann teilnahm — 'war etwas an seiner Tapferkeit aus-
zusetzen"; und abschließend 'er war eben Zeit seines Lebens' —
dieser Ausdruck ist eigentlich schon entscheidend — 'der beste Krieger .
Vielleicht ging das weiter; vielleicht sprach der Dichter nicht nur
von dem Krieger, sondern auch vom Ratsherrn und Staatslenker,
von Kriegs- und Friedenstaten, um die grundlegende Scheidung des
späteren rhetorischen Enkomions anzuwenden, die letzten Grades
doch auf die epische Distinktion ovr svt ßov)S]L ovre tcot' Iv
7toXe/.icoi (II. J/ 213 f.), ßaodsvg t' äyadög Kgaregog t' alxjutptjg
oder wie sie sonst formulirt wird, zurückgeht. Das läßt sich nicht
beweisen. Aber auch ohne das muß man in solchem Gedicht, das
sich mit einem einzelnen Manne befaßt, mag es enkomiastischen Zweck
oder den der Ehrenrettung oder schließlich selbst den einfacher
Erzählung gehabt haben, ein neues elöog sehen, das wesensver-
schieden auch ist von den Angriffen oder Lobpreisungen in Archi-
lochos' Tetrametern — vvv Aeaxpdog juev ägy^ei u. a. — , die Personen
betreffen, die den Dichter selbst angehen, mit denen er in freund-
lichen oder feindlichen Beziehungen steht. Daß der Mann, von dem
Mimnermos hier erzählte, ein vornehmer war, den die Stadt kannte,
das scheint mir selbstverständhch. Und wenn er solch Gedicht
über einen längst Gestorbenen schreibt, so folgern wir weiter, daß
es im Interesse der Familie geschrieben war , der aus recht prak-
tischen Gründen an dem Rufe ihres nächsten Vorfahren, der ihr
eigener war, gelegen sein mußte. Die Parallele mit dem Rhap-
soden, der am Fürstenhofe seinen Gönner in der Person eines
Vorfahren verherrlicht, meist durch Einführung in die troische
Sage, drängt sich auf. Die Parallele wie der Unterschied, der
darin liegt, daß der Elegiker nicht indirekt, sondern direkt zu
Werke geht, nicht von einer sagenhaften Vorzeit erzählt, sondern
296 F. JÄCOBY
von den Dingen, die noch die älteren Zeitgenossen erlebt haben,
deren unmittelbare und politische Bedeutung für die eigene Zeit
leicht kenntlich ist.
Den Wert der Versreihe sehe ich vor allem in dem, was sie
uns für Mimnermos selbst lehrt. Ein solches Gedicht ist die
Produktion eines berufsmäßigen Dichters, der in einer ursprünglich
für andere Zwecke bestimmten Gattung das vorträgt, was seinen
Gönnern genehm ist und was ihm den Lebensunterhalt einbringt.
Die Elegie ist in die Hände des Berufsdichters geraten; und sofort
beginnt das Experimentiren mit der Form ; nicht die Erweiterung
des Inhaltes allein, sondern ihre Verwendung zu neuen, durch das
materielle oder ideelle Interesse des Dichters bestimmten Zwecken.
Denn ob der Dichter eine Absicht auf persönlichen Gewinn mit
seinem Gedichte verbindet, ob er es überhaupt nur um dieses Ge-
winnes willen schreibt, ist schließlich ziemlich gleichgültig. Die
Hauptsache ist die literarische Neuerung. Und was die eben be-
sprochene Versreihe mit einem doch nur annähernden Grade von
Sicherheit vermuten läßt, das wird zur Gewißheit durch die Be-
trachtung des Gedichtes, von dem wir sie getrennt haben. Von
ihm gibt uns Pausanias (IX 29, 4) den Titel und eine wichtige
Angabe über das Prooimion: Mi/.ivegjnog de, eleyela is r^]v fJ-d/jjv
noiYjoag t)]v SfivQvaicov Jioög Fvyip' re xal Avdovg, rptjolv h>
Toji jTQOoijukoi d'vyareQag Ovgavov rag äg^aioregag Movoag,
rovrojv ök aXlag veonegag elvai Aiog nalöag. Ein Bruchstück
aus dem Gedicht haben wir nicht. Aber auf das gleiche bezieht
sich wohl sicherlich derselbe Pausanias IV 21, 5 : ivrav&a 'Agioro-
juevrjg xal ©eoxXog ETreigcovro eg Jiäoav äjiovoiav jroodyew rovg
Meao}]viovg, älla rs öjiöoa eixög rjv diddoxovTeg xal Z^vQvaiüiv
rä xol/jirji-iaTa ävajui/uv^oxovTEg , cbg 'Icvrcov juoioa övrsg Fvyrjv
röv Aaoxvlov xal Avdovg l'xovrag ocpcov rip' nöhv vnb ägeriig
xal TtgoßviAiag exßdXoiev. Die Situation scheint, wie im Vorbei-
gehen bemerkt sei, eine andere als die der offenen Feldschlacht
im frg. 14, was nicht weiter verwunderlich ist, da Smyrna des
öfteren sich der Lyder zu erwehren gehabt haben wird und nichts
zwingt, den Unbekannten von frg. 14 gerade in einem der sonst
bekannten Kämpfe sich auszeichnen zu lassen ; mit der kurzen Notiz
Herodots (I 14) eoEßale fxev vvv orgaTirp' xal ovrog, eneixe fjQ^e, eg
TS MilrjTOV xal ig ZfivQvi]v xal Ko?M(fcovog t6 äoxv elXe, wonach
von Gyges' Angriffen nur der auf Kolophon größeren Erfolg gehabt
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 297
zu haben scheint, verträgt sie sich^). Das Gedicht hatte also ein
Prooimion, das mit dem Anruf der Muse begann, wie der Vortrag
des Rhapsoden. Aber nicht mit dem einfachen Anruf, den wir im
Epos finden, sondern es wurde — an der Richtigkeit der in gelehr-
ter Umgebung stehenden Angabe des Tansanias ist nicht zu rütteln
— der Charakter der Musen definirt, wurde unterschieden zwischen
älteren und jüngeren Musen. Diese Tatsache, die recht zu einem
literarisch - berufsmäßigen Wesen des Dichters paßt, läßt allerdings
einen Schluß zu auf den Umfang des so eingeleiteten Gedichtes.
Aber fast wichtiger noch erscheint die Frage: was will der Dichter
mit dieser eigenartigen Unterscheidung? Schwer glaublich, daß es
sich einfach um eine genealogische Spekulation ohne weiteren Zweck
handelt, zu dem ein solches Gedicht keine rechte Veranlassung bot.
Aber unwillkürlich bringt man sie zusammen mit Art und Inhalt
der Elegie. Prooimion und Musenanruf weisen sie gattungsmäßig
in die erzählende Poesie. Selbst wenn ein paraenetischer Zweck
vorhanden war, was man weder behaupten noch leugnen wird, so
kann er kaum unmittelbar, sondern nur mittelbar zutage getreten
sein , wie denn ein jedes Gedicht , das in der Not der Gegenwart
die ruhmreiche Vergangenheit darstellt, geeignet ist, die Stimmung
der Hörer in einer bestimmten, vom Dichter oder seinem Auftrag-
geber gewünschten Weise zu beeinflussen. Das Gedicht bleibt doch
episch nach Form und Stoff; nur daß der Stoff wieder genommen
ist nicht aus der fernen Vergangenheit, von der die Rhapsoden
vortrugen, sondern, wenn auch nicht aus der unmittelbaren Gegen-
wart und den Erlebnissen des Dichters, so doch geradezu und ohne
Einkleidung aus der neuen Zeit und aus der im Gedächtnis der
Mhlebenden haftenden Geschichte der eigenen Stadt. Das ist ein
Schritt von großer Kühnheit , ganz gleichartig dem , den Herodot
tat, als er die Sagengeschichte beiseite ließ, um zu erzählen von
dem, 'was er selbst weiß', vor allem von dem größten Kriege der
unmittelbaren Vergangenheit, aus der Zeit der Väter und Großväter.
War es darum, daß Mimnermos die jüngeren Musen anrief? Recht-
fertigte er durch einen geistreichen Einfall , ein Vorgänger des
Xenophanes, der die jiMojuaTa rwv tiqoteqoov aus der Unterhaltung
1) Von Mimnermos fernzuhalten ist, was Ps.-Plut. Parall. 30 aus
einem Scliwindelautor Dositheos ev f Avdiaxon' über das ahtov des Eleu-
therienfestes in Smyrna erzählt, «' Tji ai dovXai rov xoofiov tojv iX.svßsowv
(fOQOVOlV.
298 F. JACOBY
beim Symposion verbannt wissen will, das Wagnis, mit dem Epiker
und seinen abgebrauchten Themata in Concurrenz zu treten? Wie
dem sei, was er hier brachte, die Übertragung der epischen Weise in
die Elegie, die Schöpfung eines elegischen Epyllions mit historischem
Inhalt war ein literarisches Experiment, war etwas Neues, ganz
verschieden sowohl von dem Kampfruf des Kallinos ^) wie von
der politischen Paraenese der Eunomie und der Solonischen Gedichte;
aber verschieden auch von der persönlichen Weise des Archilochos,
der in den Tetrametern von eigenen Erlebnissen erzählte — knxa
yaq vexQcbv neoovzcov u. a. — und das gleiche auch in der Elegie
getan zu haben scheint. Wir wissen nicht genug von der elegischen
Produktion des 6. Jahrhunderts in lonien, um sagen zu können, ob das
neue eldog besondere Nachwirkung gehabt hat. Ganz ohne Nach-
kommenschaft aber blieb das Gedicht über die Gygeskämpfe nicht. Zu
ihm stellen wird man und auf seinen Einfluß zurückführen die Schlacht-
gedichte, in denen Simonides und Aischylos einzelne Großtaten der
Perserkriege dargestellt haben. Ihr erzählender Charakter steht fest;
ihre elegische Form aber findet von hier aus ihre Erklärung ^).
Ein neues eldog hat Mimnermos hier geschaffen ^), das sich
aus der Masse der elegischen Poesie, die alle Stoffe aufnehmen
konnte, die den Dichter oder seine Hörer interessirten , so scharf
heraushebt wie die mehr oder minder aktuelle Mahnung zu tapferem
Kampfe für die Heimat; schärfer als die halb- und schließlich ganz-
1) Übrigens hat schon Kallinos nicht mehr nur die Form des
Kampfrufes und der mahnenden Rede an das Gesamtvolk oder die vioi,
die der echte Tyrtaios allein kennt. Daneben tritt das Gebet, die Rede
an die Götter, der Ugög tov Aia Xöyo; (Strab. XIV 1,4), mit dem typolo-
gisch Solons löyog noog Movoag zusammengehört. Auch diese Form stammt
aus dem Epos. Mit Kallinos' Ufivgvaiovg 8' ikhjaov und fivijoai d' si xozi
roi i.ir]oia y.aXa ßoöjv {2/ivovatoi xazitcriav) vergleiche man Nestors Gebet
IL 0 372 ff. Zev TtärsQ, ei jtoiF. zig toi. ev "Joyei . . . ?] ßodg ?} uiog y.axa niova
/.u]Qia xakov er/ero voozfjaai .... tojv fivfjaai xal afivvo%> . . .
2) Die Zeugnisse für diese Gedichte bieten Schwierigkeiten, die
hier nicht behandelt werden können. Aber die Tatsache, daß es solche
Elegien gab, steht durch die Fragmente fest.
3) Gern wüßte man, woliin frg. 17 ITaiovag ävdgag äyov, Iva zs
yJ.Firov yevog innon' gehört. Die Form, die aus dem Schiffskatalog stammt,
spricht für ein historisches Gedicht. Der ähnliche Vers des Kallinos
Tm']ozag avbqag uywv stand wohl, wie sicher frg. 4 vvv 8' ejiI KijqieQicov
ozfjazog sQ/szai oßgt/iosQycüv, in dem Gebet an Zeus. Doch läßt sich für
Mimnermos auch an eine Elegie mit sagengeschichtlichem Inhalt denken.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 299
philosophische Paraenese beim Symposion, die den ursprünglichen
lehrhaften Charakter des yevog sonst noch am reinsten im Tone,
im Stoffe ft-eilich verändert und sehr mannigfaltig bewahrt hat; schär-
fer auch als die erotische Elegie, die von den persönlichen Liebes-
verhältnissen ihrer Dichter mit Anrede und Namennennung der
Geliebten handelte. Dieses elöog, das am nächsten herantritt an die
erotisch-sympotische Lyrik der Lesbier und augenscheinlich in stärk-
ster Weise von ihr beeinflußt ist, begegnet uns sicher bei Anakreon,
ist aber sonst in seiner Entwicklung und seinen Anfängen am
wenigsten kenntlich '). Ich will die Frage nicht wieder aufvverfen,
wie weil die persönliche Note bei Mimnermos ging, ob und wieviel
Liebeslieder bei ihm standen neben den betrachtenden Stücken über
den Wert des Lebens und der Liebe, die doch für alle Folgezeit
die Auffassung von dem Erotiker Mimnermos bestimmt haben und
auf die sich alle beziehen, die mit ihm den q:ih'idovog ß'iog erwählen
oder ihn charakterisiren. Es fehlt uns hier eben das Material, gerade-
so wie es uns für die Frage nach der Entstehung und Existenz
einer erzählenden Elegie mit mythologischem Inhalt fehlt, die man
jetzt um so eher dem Mimnermos vindiciren möchte, als erzählende
1) Über das, was wir wissen, an anderer Stelle. Die Frage kann
nicht gut getrennt werden von den Erotica des Archilochos. Seine
lamben und Ei:>oden sind voll von persönlicher Erotik, freilich aus einer
anderen Sphäre, als die es ist, in der sich wenigstens die ionische
Liebesdichtung zu bewegen scheint. Es sind doch Dichtungen ganz
eigener Art. Leider scheint auch nicht zu entscheiden, ob nur eines
dieser Gedichte aus der Zeit des Liebesglückes stammt, ob sie nicht
vielmehr sämtlich aggressiver Natur waren. Die Reste der Elegien,
die allerdings äußerst spärlich sind, weisen nichts dergleichen auf. Das
kann Zufall sein: aber ich bezweifle es. Denn daß für diese Zeit Elegie
und lambos durchaus nicht als gleichwertige und gleichbehandelte
Ausdrucksformen empfunden werden, lehrt der Sotonische Nachlaß, der
bei oft ganz gleichem Inhalt den Unterschied in Stil und Ton deutlich
erkennen läßt. Das Gegenteil wäre auch wunderlich. Umgekehrt
würde man iur Mimnermos gewiß 'kräftige lamben in archilochischer
Art' glauben und Nannos Namen in ihnen suchen. Daß nur Elegisches
; aus der 'Nanno' citirt wird . wäre kein Hindernis. Die Ausgabe hätte
I eben wie die der Solonischen Gedichte beides enthalten. Die Buch-
teilung, wenn sie bestand (s u. S. .302 A. 3), ist ja doch erst alexan-
driuisch. Aber es fehlt nun einmal in den Resten jede sichere Spur
von lamben (über eine scheinbare Wilamowitz, Sapph. u. Sim. 282, 1);
und aus Hermesianax' Versen sie mit Crusius zu erschließen, geht
nicht an.
300 F. JACOBY
Elegien historischen hihalts für ihn feststehen ^). Soweit wir sehen,
steht die Erotik des Mimnermos dem Liebeshed noch fern. Das
mag man entwicklungsgeschichtlich erklären oder als einen be-
sonders tückischen Zufall der Überlieferung betrachten. Das Faktum
bleibt doch, daß wir auch nicht die Spur eines Ausdrucks persön-
licher Liebe in den Resten der Gedichte finden. Wir wissen von
seiner Nanno nichts, als was Hermesianax sagt ^) und was der Buch-
titel^) lehrt oder vielmehr nicht lehrt. 'Daß das Ganze nur novelH-
stische Erfindung ist, vielleicht aus falsch verstandener Überlieferung
1) Auch darüber an anderem Orte. Hier sei nur auf einen bemerkens-
werten Gegensatz hingewiesen zwischen den ionischen Elegikem Kallinos
und Mimnermos, von denen auch jener möglicherweise schon zu den
Bevufsdichtern gehörte, auf der einen, den mutterländisehen Solon und
Tyrtaios auf der anderen Seite. Dort zum mindesten starke Berück-
sichtigung der Sage, wenn nicht in eigenen Gedichten, so doch in An-
spielungen und ausgedehnteren Paradeigmata; hier nichts dergleichen.
Das kann nicht Zufall sein. Wie sich Archilochos stellte, ist mit Sicher-
heit nicht zu sagen. Aber es scheint , daß er zu Tyrtaios - Solon tritt.
2) y.aiEzo fth' Navrovg. Dazu der gleich zeitige Poseidippos AP XII
168 Nav7'ovg xal Avdtjg stti/si ovo. Bei den Späteren ist sie vergessen;
wenn Athenaios XIII 597 A xrjv Mifivegfiov avXtjzQida Navvdi unter den
svSo^oi haTgat nennt, so ist das eben aus dem gleich dazu citirten Herme-
sianax genommen. Auch hier steht sie neben Lyde, und gerade die
Zusammenstellung weckt den Verdacht, daß die ganze Geschichte aus
einer einzigen P]legie herausgc^ponnen ist, die man sich schließlich als
Anregerin des Antimacheischen Gedichtes denken könnte. Die Bücher
waren jedenfalls so verschieden, wie nur denkbar. Vielleicht wüßten
wir Bescheid, wenn Suidas den ßlog des Mimnermos nicht am Schlüsse
gekürzt hätte (s. S. 302 A. 3).
3) Daß dieser Buchtitel hellenistisches Fabrikat ist, nach der
Avdtj gegeben auf Grund und infolge der Heraushebung des oder der
Nannogedichte , wie wir .sie bei Hermesianax und Poseidippos fiuden,
denen nicht am Buch, sondern an einem Frauennamen lag, scheint mir
selbstverständlich. Wie Wilamowitz, Sapph. u. Sim. 287 zu dem zweiten
Teile seines Schlusses 'die Alexandriner haben also die Gedichte des
Mimnermos weder zusammengestellt noch den Titel erfunden', gekommen
ist, ist mir nicht klar geworden. Textg. d. gr. Lyriker 58 urteilt er
anders. Der erste Teil ist selb.stverständlich. Gelesen worden ist Mimner-
mos nicht nur in hellenistischer Zeit, für die die von Kaibel aufgezeigte
Benutzung durch den Rhodier Aiiollonios an hervorragender Stelle sehr
wesentlich i.st. Auch in Athen ist Eurip. Herakl. 638 doch nicht 'der
einzige Beleg für seine Geltung'. Die beginnt mit Solon und reicht bis
zu den Theognideern.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 301
combinirt'^), bleibt freib'ch nur Vermutung. Aber ausscbließen kann
man diese Mögliclikeit aucli niclit unbedingt; und jedenfalls tut man
gut, sich nicht zu weit auf dem entgegengesetzten Wege vorzu-
wagen. Wer garantirt uns, daß, wenn der Name Nanno einmal
oder öfter in den Gedichten vorkam, es in anderer Weise geschah,
als wenn Archilochos seine Gedanken über das conventionelle Trauer-
wesen an Perikles richtet, oder Alkaios, dessen Poesie manche Spuren
Archilochischen Einflusses zeigt, seine Trinkerphilosophie an den
Namen Bykchis hängt: ov yQij xay.oToi ßvjuov tTinoETtip'. jioo-
x6y>0juev ydg ovdh' äodfievoi, w Bux^i ' (paQ/iaxor d' äginTov
olvov Iveixafievoig uE&vadi]v. Durch den Namen allein wird die
Reflexion doch nicht zum lyrisch gestimmten Liebeslied, Gewiß
ist es möglich, daß schon bei Mimnermos diese Pieflexionen z.B.
über das Alter einmal so persönlich gewendet waren, wie etwa bei
Anakreon 14 Z(faLQi]L öevte jlie jxooq~>vQEt]i oder in den Elegien
frg. 96 ovxEXi &Q'>]ixit]g {ndolov) EJiioxQEqjofxai. Glaublich scheint
es nicht. Ich wage auch nicht, in den gut klingenden Namen
Pherekles und Hermobios und Hexamyes, die Hermesianax gewiß
den Gedichten entnommen hat und die man nicht benutzen darf,
um Mimnermos' Leben in einer möglichst niedrigen Stufe sich
abspielen zu lassen, mehr zu sehen als freundliche und feindliche
Anreden dieser Art. Solche Anreden tragen fast schon den Cha-
rakter von Widmungen 2), wenn sie auch noch nicht als solche
gemeint sind, sondern nur dem Dichter das äußere Recht geben,
die Gedanken, die sein Inneres bewegen, auch vor die Öffentlichkeit
zu bringen. Nachdem die Form gefunden und anerkannt war,
werden diese Anreden seltener •'). Ich bezweifle, daß man auch
1) Bethe bei Gercke- Norden I 288. Die naive Vorstellung, daß
Mimnermos' 'dichterisches Talent geweckt oder doch vorzugsweise ge-
nährt wurde durch die Liebe zur Nanno' teilt heute wohl schwerlich
noch jemand.
2) Besonders da , wo keiue Beziehung des Angesprochenen zum
Inhalt des Gedichtes zu erkennen ist. Die Formen der Widmung sind von
Stephan, Quomodo poetae . . carmina dedicaverint, Berlin 1910 nament-
lich für die älteste Zeit nicht vollständig und, wie mir scheint, auch
nicht überall richtig behandelt.
8) Daß sie bei Mimnermos fehlen, wird Zufall der Überlieferung
sein. Denn die Anrede hat auch er noch. Solon scheint die Namen nur
in echter Ansprache zu verwenden, wie an den kyprischen König und
an Kritias. Dafür geht diese aber bei ihm schon an den nicht körperlich,
302 F. JACOBY
nur ein Recht hat, aus solchen Äußerlichkeiten auf die Situation
zu schließen , in der der Dichter seine Stücke zuerst vorgetragen
hat oder sich vorgetragen denkt. Jedenfalls macht es für das
Gedicht keinen Unterschied, ob Archilochos eine Elegie im älteren
Typus mit der Anrede beginnt
Aioijuid}], dijjLiov juev ^) emQQrjoiv jueXsdaivcov
ovdelg äv judXa nöXk' i/uegoEvra nddoi'
oder wenn Mimnermos einen ähnlichen Gedanken frei ausspricht
in einem Distichon, das Wilamowitz von der häßlichen Entstellung
der aus den Theognidea schöpfenden Ausgaben befreit hat^):
Tt]v oavTOv cpQEva TSQJie ■ dvorjXeyecov dk tioIitcöv
aXXog rig os xaxcbg, äXXog äjiieivov sgei.
Was wir aber gerne wüßten, wäre, ob diese Distichen das sind,
was sie vielfach scheinen, selbständige Gnomen, die als Skolien
gedacht und entstanden sein können , aber nicht brauchen , oder
Stücke aus einem größeren Zusammenhang.
Es sind viele Fragen, die zu beantworten uns die Dürftigkeit
der überlieferten Reste nicht gestattet. Aber sowenig wir von
den zwei Büchern des Mimnermos oder wieviele es sonst waren ^)
sondern nur im Liede Anwesenden. Wenn er in seinem größten Gedicht
seine Gedanken in die Form des Gebetes kleidet, so dient das der feier-
lichen Wirkung. Die Elegie Mrrj/uoovv}]? ist sein Glaubensbekenntnis.
1) So Elmsley schön aus überliefertem 6ijXovi.iev. dedov /hev Schneide-
win und Srjtov ^ev HofFmann kommen dagegen nicht auf.
2) Dasselbe hat, wie im Vorbeigehen bemerkt sei, zu geschehen
für das schöne Solonische frg 24 'laöv toi nlovzovoiv. Die vier bei Theogn.
719 — 28 hinzugefügten Verse bringen zwei dem Selon fremde Gedanken
hinein. Es ist späte Fortdichtung, in der Mimnermos benutzt zu sein
scheint.
3) Dnos lihros bezeugt Porphyr, zu Horat. epist. II 2, 101. Die
Teilung des umfangreichen Buches in hellenistischer Zeit ist glaublich.
Auch für Simonides gibt die vita slsyeiav iv ßißUoig ß, vor den ^'lafißoi. multa
Ps. Acro. zu Hör. epist. I (>, 65 in zweifelhafter Umgebung. tioVm steht
jetzt auch bei Suidas, dessen ßio? mit syQaips ßißXia zavra jioD.ä schließt.
Änderungen wie Bernhardys EQonixa ra jiollä sind unglaublich. Vielmehr
leitete ravza ursprünglich die Aufzähhmg der Werke ein und blieb ver-
sehentlich stehen, als sie gestrichen wurde. Wenn der Verküizer aber
7io?J.ä dafür setzte, so standen da eben nicht bloß zwei Bücher Elegien,
sondern vermutlich eine Reihe von Sondertiteln, wie in den ßioi des
Solon und Tyrtaios. So lief das Lydergedicht sicherlich so gut unter
einem Sondertitel, wie Solons 2a)Mfxig und Tyrtaios' Evroi^ila, die doch
auch beide in der Sammlung standen.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 303
besitzen, das Wesen des Mannes ist doch wolil etwas deutlicher
geworden. Der Pohtiker Mimnermos — oder wie man das nennen
will — , der adelsfeindliche Demokrat, der doch keinen anderen
Anteil am Staate hat, als dafs er unter ihm leidet, ist wieder ver-
schwunden. Dafür ist der Berufsdichter hervorgetreten und die
literarische Bedeutung des Mannes gestiegen. Er war nicht nur
'Prediger und Verkünder einer Lebensanschauung'; diese Erkenntnis
bleibt und vertieft sich vielleicht noch. Er war ein Dichter, der
auf seinem Gebiete Neues versuchte und der die Elegie auf Bahnen
führte, die Archilochos noch nicht betreten halte. Wir mögen
zweifeln, ob uns die Erhaltung des ganzen Werkes viel Persönliches
für sein Leben lehren würde; für alle Fragen, die sich mit der
weiteren Entwicklung der Elegie verknüpfen, wäre sie von höchster
Bedeutung. Dieses Werk, in dem so verschiedene Stücke neben-
einander standen, wie das betrachtende Gedicht mäßigen Umfanges,
die ausführliche epische Schlachtschilderung, das Enkomion auf einen
vornehmen Mann der näheren Vergangenheit, vielleicht auch der
kurze Sinnspruch, persönliche Gedanken und bestellte Arbeit, hat
gewifs nicht ausgesehen wie der 'Theognis'^), diese Sammlung-
kurzer Tischlieder, in die wie aus Versehen ein paar längere Stücke
und wirkliche Elegien geraten sind, sondern etwa wie die Sammlung
der Solonischen eXeyeia. Bei der Geltung, die sie in hellenistischer
1) Der auch in seinem ec-hten Bestand, soweit er kenntlich ist, nie
'KvQvog' hätte heißen können, sowenig wie Hesiods "Eoya 'Perses'. Es
ist ein Unfug, den Megarer Theognis immer unter die Elegiker zu stellen.
Er war, wenn man ihn schon mit einem Fachwort bezeichnen will,
Gnomiker, Lehrdichter, und steht, so stark er namentlich von Solon
beeinflußt ist, doch literarisch ganz in der Nachfolge Hesiods, wie das
Friedlaender in d. Z. XLVIII 1913 S. 572 zutreffend ausgeführt hat. Unser
'Theognis' aber gehört zur Skolienpoesie, die mit der Elegie gattungs-
mäßig soviel und sowenig zu tun hat, wie die Gnome, die schon vor
Theognis einmal das distichische Gewand angezogen zu haben scheint,
oder wie das auch mit Vorliebe ins elegische Maß gefaßte Epigramm.
Über den Unterschied zwischen distichischen Skolien und Elegie darf
weder die Existenz einer sympotischen Elegie hinwegtäuschen noch die
Tatsache, daß man seinen pflichtmäßigen Trinkspruch gern aus elegischen
Gedichten nimmt, die so viel Gnomisches enthielten, das sich infolge der
Geschlossenheit des Distichons leicht ausschneiden ließ. Aber Lyrik
und gnomische Poesie spielen als Quellen dieser dilettantischen Tisch-
poesie kaum eine geringere Rolle. Oft kommt es auch bei Zusammen-
arbeit der Lesefrüchte zu hybriden Bildungen.
304 F. JACOBY
Zeit gewonnen hat, und weil die Möglichkeit, daß noch die Römer
sie in Händen gehabt haben, nicht bestritten werden kann^), fragt
man sich immer wieder, wie deren Elegie zu dem alten lonier ge-
standen haben mag, wagt man immer wieder Rückschlüsse von
dem Erhaltenen auf das Verlorene. Das ist gefährlicher Boden.
Und nur zu leicht kommt man dazu. Unvergleichbares zu vergleichen.
Formell hat ein Properz- oder überhaupt ein römisches Elegien-
buch sicherlich sehr wenig Ähnlichkeit mit der Sammlung von
Mimnermos' Elegien gehabt. Daß inhaltlich manche Berührungen
bestanden, die hinausgingen über das Citat eines berühmten Wortes,
das man nicht aus eigener Lektüre zu kennen brauchte, ist sehr
möglich. Aber das Verhältnis ist kein einfaches, direktes. So tritt
die Klage über das Alter, das der Liebe ein Ende macht, zuerst in
der Elegie bei Mimnermos auf. Aber wie vollkommen anders be-
handeln die Römer das was für sie ein rönog ist. Es ist alles ent-
weder persönlich gewendet oder in der Weise der Komödie auf be-
stimmte menschliche Typen gestellt. Dagegen ist die für Mimnermos
so charakteristische Reflexion ganz verschwunden; aus der Gedanken-
ist Gefühlspoesie geworden, wenn man Schlagworte brauchen darf.
Man merkt, wieviel an Literatur dazwischen liegt, wie oft das
Motiv hin und her gewendet ist. Was für Mimnermos etwas Neues
war, dessen er sich mit Schmerzen bewußt wurde, die Gedanken,
die ihn zur poetischen Aussprache zwangen, sind banal geworden
und bieten nur noch den selbstverständlichen Hintergrund für die
Anwendung auf die persönlichen Empfindungen des späteren Dichters.
Man constatirt die Fortbildung zur persönhchen Anwendung hin
schon bei einem Vergleich etwa des Platonischen Epigramms AP
V 78 mit Mimn. frg. 5. Laus in amore mori mag ja '^denseiben
(pürjdovog ßiog atmen" wie rig de ßiog, rl dk teqtivöv — näher
steht freilich nach dem äußerlichen Wortlaut die ovidische Ver-
wendung des berühmten Satzes als 'Motto': ^vive" dciis ^posito' si
qnis mihi dicat ''amore' — aber die Fortführung, die von diesen
Worten nicht zu trennen ist und die mit ihnen zusammen erst den
eigentlichen Wesenszug nicht nur der Properzischen, sondern über-
1) Allerdings ist es auch nicht zu beweisen. Daß Eusebs Chronik
Mimnermos nicht hat, ist Zufall. Er steht in bezeichnender Verbindung
mit Antimachos bei Solin. 40, 6 p. 167, 1 Momms. ingenia Aaiatica inclita
per gentes fuere: poetae Anncreon, indc Mimnermus et Äntimachus, deinde
Hipponax, deinde Älcaens, inter quos etiam Sapplio mulier.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 305
haupt der römischen Elegie gibt — laus altera, si datiir uno passe
frui, fniar o soiiis amore meo — zeigt doch wieder, wie ganz
Verschiedenes der Satz und der Gedanke bei den beiden Dichtern
bedeutet. Bei dem Römer handelt es sich um die Person der Ge-
liebten — und wer die Erotica des letzten Buches kennt, der weiß,
daß diese Liebe zu einer bestimmten Frau bei aller conventioneilen
Form, bei aller Aussingung in den späteren Büchern, nichts Gleich-
giltiges ist für diesen Dichter — , bei dem lonier um die Liebe.
Hier haben wir eine Lebensanschauung, die zum ersten Male dichterisch
ausgesprochen und vertreten w^rd; dort die Benutzung dieser längst
anerkannten, gleichberechtigt neben anderen stehenden Anschauung,
die aufs literarische Gebiet übertragen dem Dichter das Recht gibt,
einen ihm nicht zusagenden Stoff abzulehnen. Nichts steht in diesen
Gedichten, das uns veranlassen könnte, eine direkte Beziehung
zwischen ihnen und der alten ionischen Elegie herzustellen. Und
doch war sie vorhanden. Wir fassen die römische Elegie ja doch
auf als die klassicistische Erneuerung einer klassischen Gattung ^).
Dann war Mimnermos ihr Archeget. Denn die römische Elegie be-
schränkt sich als Ganzes auf das erotische eJdog , und Mimnermos
hatte die Liebe für die Elegie entdeckt. Das M'ar die hellenistische
Lehre des Kreises um Philitas^). Kein Zweifel, daß Mimnermos
in den theoretischen Diskussionen der jungen Dichter des Proper-
zischen Kreises eine große Rolle spielte; vermutlich eine sehr viel
größere als in der Praxis der Studirstube und des dichterischen
Betriebs. Der junge Properz hat in seinem Erstlingsbuche (I 9)
1) Rh. Mus. LX 1905 S.98ff. LXV 1910 S. 73ff. Es ist wesentlich,
daß die Literatur :tfqi fuii^joeoig auch die Elegie berücksichtigt hat.
2) In der Titelfrage ist, auch wenn es sich um die Kömer handelt,
Navvw nicht von Ävdi] und Aeöviiov und vermutlich auch nicht von
'Jgrjri] zu trennen. Diese ausschließliche Hervorhebung der erotischen
Elegie, die Mimnermos sogar zum Erfinder der Gattung macht, steht
eigentlich in unüberbrückbarem Gegensatz zu der vom Peripatos accep-
tirten Lehre von dem ursprünglichen Trauercharakter der Elegie, wie
sie Horaz in der Ars 75 versibus impariter iunctis querimonia primum ver-
tritt, der doch Properz mit Mimnermos vergleicht, weil beide Erotiker
sind. Die Brücke schlug gar nicht Mimnermos, der auch für die Hellenisten
mehr Name war, sondern Antimachos mit der Avdr^, die zugleich erotisch
und trauernd war. Daher dann die flebiUs elegia, die den Römern Dogma
ist, sowenig sie von Antimachos haben. Daß ihre, oft gar nicht klagenden
Lieder als flebiks gelten müssen, ist nichts als die "Wirkung der literar-
historischen Construction.
Hermes LIII. 20
306 F. JACOBY
mit der Kenntnis des großen Namens renommirt: plus in amore
valct 3Iininermi versus Honiero. Er mag sich wirklich einmal
für den römischen Mimnermos gehalten und diese Bezeichnung als
Gompliment empfunden haben '), Vielleicht ist er auch so weit
gegangen, daß er mit dem Titel dieses Erstlingsbuches an Mijuveouov
Navvdb erinnern wollte, wenn es tatsächlich, was ich immer noch
nicht glauben kann, als Properti Cyntliia erschien 2). Dann war
das aber eine persönliche Sache, eine Jugendeselei. Er hat sich
schnell eines Besseren besonnen. Und als Horaz ihm boshaft das
optivum cognomen bewilligte, da nannte er selbst sich bereits
Momanus Callimachus und strebte nach dem Ruhme, in der Gesell-
schaft der großen Hellenisten genannt zu werden. Er wußte es,
daß seine Elegie, mochte an der Spitze der Reihe Mimnermos stehen,
daß Gallus, dessen Nachfolger er sich nannte (II 34), und Tibull,
mit dem er concurrirte^), aus anderen Quellen getrunken, an anderen
Vorbildern sich inspirirt hatten; disccdo Älcaeus puncto Ulms;
nie meo quis':^ quis nisi Callimachus? si plus adposcere visus,
fit Mimnermus et optivo cognomine crescit — das hätte er vielleicht
auch damals noch als Steigerung empfunden, eben weil der klassische
1) Rh. Mus. LX 1905 S. 43, 3.
2) Wilamowitz, Sapph. u. Sim. 301 f.
3) Die Annahme, daß 'Tibull die klassische Elegie studirt hat', wird
so richtig und so falsch sein wie die gleiche Annahme für Properz. Daß
er ihr aber etwas Besonderes, seine von Properz verschiedene Weise der
Gedankenfübrung verdanken soll, scheint mir eine nichtige Behauptung.
Weder ist der Vergleich dieser Weise mit der Solonischen gerechtfertigt
— man wolle denn die Ähnlichkeit in dem großen Umfang suchen, der
doch gewiß nichts für Solon Charakteristisches war, sowenig wie die
andern Ortes zu besprechende Gedankenführung der großen Elegie in
allen seinen Gedichten die gleiche war — noch ist der erste attische
Dichter, der sich mühsam die Technik erwerben mußte und den die
Römer nicht lasen, ein geeigneter Vertreter der klassisch-ionischen Elegie,
noch kann man endlich behaupten, daß Properzens Weise keine Ana-
logien in der klassischen Poesie gehabt hätte. Die ionischen Elegiker
haben sicherlich nicht alle den gleichen Stil gehabt; es wird Unter-
schiede gegeben haben, nicht geringer als die zwischen Tibull und
Properz. Was wir von Mimnermos' persönlichen Gedichten haben, sieht
Properz viel ähnlicher als Tibull, wenn man überhaupt vergleichen darf.
Tibull aber ist gerade in der Composition der Einzelelegie wie in der
des Buches, in dem seine Gedichte ihre Selbständigkeit nicht verlieren,
so hellenistisch wie möglich, hellenistischer als Properz, wenn das möglich
ist; vgh Rh. Mus. LXV 1910 S.73if.
zu DEN ÄLTEREN GRIECH. ELEGIKERN 307
Name in der allgemeinen Schätzung dieser Epoche mehr galt als
der hellenistische. Aber daß er jemals dem Mimnermos ein Studium
gewidmet hätte, wie Horaz dem Alkaios, und daß dieses Verhältnis
eine Analogie böte, das ist nicht erweislich und nicht glaublich.
Darum kann man auch von seinem Werke aus keinen Rückschluß
auf das des Mimnermos machen, ohne sich der Gefahr allerschwerster
Irrtümer auszusetzen. Auch das Gesamtwerk des Mimnermos mag
'ein Lebensbild' geboten haben; das tut schließlich jede Sammlung
von Gedichten, die nicht rein episch oder mimetisch sind. Aber
ob dieses Lebensbild so beschaffen war, wie das aus den Dichtungen
eines Archilochos, Alkaios, Anakreon, Catull, Horaz, Properz zu ge-
winnende, ob es wirklich ein Bild seines äußeren, nicht nur oder
doch vorzugsweise ein solches seines geistigen Lebens war, aus
dem man nur vereinzelt und indirekt die äußeren Verhältnisse er-
schließen kann, das ist und bleibt für uns zweifelhaft. Daß dieses
Lebensbild des Mimnermos aber gar in erotischen Elegien sich
aufbaute, das möchte ich fast nicht einmal zweifelhaft nennen.
Kiel - Kitzeberg, z. Zt. Itzehoe. F. JAGOBY.
20=*
DIE PARTEISTELLUNG DES THEMISTOKLES.
Jeder, der sich wissenschaftlich mit der Geschichte des V.Jahr-
hunderts beschäftigt, wird das Erscheinen von Belochs Griechischer
Geschichte II 2 (1916) freudig begrüßt haben. Das Buch bringt
wieder eine Fülle von neuen Gedanken und fördernden Erkenntnissen.
Andrerseits fordert es freilich auch manchmal zu Widerspruch heraus.
Besonderes Interesse wird wohl die überraschende neue Auffassung
des Themistokles erregen, die Beloch vorträgt. Er sucht zu be-
weisen, daß Themistokles kein radikaler Demokrat, sondern im
Gegenteil ein Führer der attischen Aristokraten gewesen ist. Bei
der großen Wichtigkeit des Gegenstandes hielt ich es für angebracht,
hier eine Prüfung von Belochs Theorie vorzulegen. Um Raum zu
sparen, sind im folgenden die bekannten Belegstellen in der Regel
nicht wieder angeführt; wer sie sucht, wird sie ohne Mühe bei
Beloch selbst, dann auch bei Ed. Meyer und Busolt finden.
Zunächst sei kurz wiedergegeben, wie sich Beloch (a. a. 0.
S. 130) den Gang der attischen Parteipolitik von der Vertreibung
der Peisistratiden bis zum Zuge des Xerxes denkt. Es gab in
Athen um 500 drei Parteien, zunächst die Tyrannenfreunde, sodann
die vom Alkmeonidenhause geführten Demokraten; endlich eine
dritte Partei, die sich aus der „großen Menge der übrigen Adels-
familien" — neben den Alkmeoniden — zusammensetzte; dies
war die Partei des Isagoras. Die letztere Partei sind die sogenannten
yvo'jQifxoi. Nach der Vertreibung der Peisistratiden und der Nieder-
lage des Isagoras haben zunächst die Alkmeoniden die Leitung im
Staate, bis der Mißerfolg des ionischen Aufstandes zu ihrem Sturz
führt. Nun kommen die Tyrannenfreunde ans Ruder, was in der
Wahl des Hipparchos, Sohn des Gharmos, zum Archon für 496/5
seinen Ausdruck findet. Nach einigen Jahren werden sie aber von
den yvwQijuoi abgelöst, deren Führer Themistokles 493/2 Archon
ist. Die Leitung dieser Partei muß Themistokles freilich bald dem
Miltiades überlassen, der gerade im J. 493/2 in Athen eintrifft.
PARTEISTKLLUNG DES THEMISTOKLES 309
Beide Männer arbeiten indessen zusammen, und auch Aristeides ge-
hört dieser Richtung an. Die yvojQijuoi bleiben am Ruder bis zu
dem Mifaerfolg des Miltiades vor Faros. Dann werden sie wieder
von den Alkmeoniden verdrängt, die im J. 4887 eine Verfassungs-
reform „im ultrademokratischen Sinne" durchführen, die in der
Einführung des Loses für die Archontenwahl und des Ostrakismos
besteht. Aber schon im folgenden Jahre werden die Alkmeoniden
wieder gestürzt, wohl infolge der Niederlagen gegen Aegina. Sie
müssen von neuem den yvcbgi^ioi unter Themistokles und Aristeides
Platz machen. Die Eintracht zwischen diesen beiden Häuptern
der jetzt herrschenden Partei bleibt aber nicht lange erhalten. Es
kommt zwischen ihnen um das Flottengesetz zum Gonflict, in dem
Themistokles siegt. Er bleibt allein der maßgebende Staatsmann,
bis dann der drohende Xerxeszug zur Versöhnung der Parteien und
damit zur Rückkehr des Xanthippos und Aristeides führt. W^ährend
des großen Perserkrieges stehen die Häupter der verschiedenen
Parteien einträchtig nebeneinander.
Dies ist die Auffassung Belochs. Zunächst ist die Scheidung
der drei Parteien, von der er ausgeht, ohne Zweifel richtig. Aber
wir müssen ihre Zusammensetzung und Tendenz etwas schärfer be-
stimmen. Über die Freunde der Tyrannis besteht ja keinerlei
Unklarheit; es bleiben die Demokraten und die yvo)Qii.ioi. Auf den
ersten Blick könnte es scheinen, als fände man schon in den Gedichten
Solons die gleichen beiden Parteien wie fast 2 Jahrhunderte später
in der 'A&rp'aicov Tiolneia des Archidamischen Krieges, nämlich
den „Demos" und die „Reichen". Aber der Demos, mit dem
Solon zu tun hatte, war ein anderer als der des Kleon. Der
, Demos" des Peloponnesischen Krieges, als politische Partei, ist
die Gemeinschaft der Besitzlosen, die — weil sie die Majorität der
Bürgerschaft ausmachen — wünschen, daß der Staat in ihrem Interesse
regiert wird. Ihnen steht gegenüber die Minorität der Besitzenden,
aber der Besitzenden im weitesten Sinne, einschließlich des Mittel-
standes, der Handwerker und kleinen Bauern. Diese, die önXa
nagexojuevoi, wehren sich dagegen, daß der Staat und sie selbst
von den Massen ausgebeutet werden. Bei Solon indessen sind die
Gegner des „Demos" die „Reichen" und „Mächtigen" im engeren
Sinne. Zwar einen Geburtsadel als politisch-sociale Partei gibt es
in dem Athen des Solon — wie vor allem W^ilamowitz mit Recht
betont hat (Staat und Gesellschaft der Griechen S. 70) — nicht mehr.
310 A. ROSENBERG
Aber der Adel assimilirt sich fortgesetzt die reichen Bürgerlichen,
Großkaufleute und größere Gutsbesitzer, die seine Lebensideale und
gesellschaftlichen Formen annehmen. Diese Oberschicht hat die
Regierung in der Hand; was ihr als „Demos'' gegenübersteht, sind
nicht nur die Besitzlosen, sondern auch der ganze Mittelstand. Am
besten kann man den Unterschied mit den solonischen Klassennamen
ausdrücken. Im G.Jahrhundert stehen die injzeTg gegen die Zeugiten
und Theten; seit Perikles dagegen die ItuieXq und Zeugiten zu-
sammen gegen die Theten. Zu der großen Veränderung des Be-
griffs der Demokratie, wie sie in Athen um 460 eintritt, bietet das
heutige Rußland einen hübschen Vergleich. Dort annektiren die
Socialisten die Bezeichnung „Demokraten" für sich und sprechen
von einer „demokratischen" Gonferenz, wenn die Vertreter der
socialistischen Parteien, mit Ausschluß des Bürgertums, zusammen-
treten. Auf der anderen Seite nehmen aber auch die Bürgerlichen,
die „Kadetten", den Demokraten-Namen für sich in Anspruch.
In Athen hatten auch nach Solon die „Pieichen" und „Mäch-
tigen" die Regierung im Staat behalten, was zwar aus den Gedichten
Solons selbst hervorgeht, aber den Theorien der Späteren wider-
spricht; denn die „Reichen" stellen nach wie vor den Präsidenten
der Republik, den Oberbefehlshaber des Heeres und die Mitglieder
des Staatsgerichtshofs. Der „Demos" dagegen hatte im wesentlichen
nur das Wahlrecht in der Volksversammlung, und das bedeutete
praktisch kaum etwas, da die Wahlen ja doch immer auf einen
der reichen Herren fallen mußten. Irgendeine Möglichkeit, die
Exekutive zu beeinflussen , hatte die Masse der Bürger nicht. Die
Unzufriedenheit des Demos mit der solonischen Ordnung hat ja
ohne Zweifel der Tyrannis den Weg gebahnt. Erst nach dem
Sturz der Peisistratiden schränkt Kleisthenes die Macht der „Reichen"
auf Kosten des Mittelstandes ein, indem jetzt der Rat der 500,
der Repräsentant des gesamten besitzenden Bürgertums, dem Präsi-
denten der Republik controUirend zur Seite steht. Die Partei der
„Reichen" unter Isagoras hatte vergeblich diese Reform zu hindern
gesucht. Nach Belochs Meinung hat diese Partei der yvwQijuoi
sich nach ihrem Mißerfolg auf den Boden der kleisthenischen Ver-
fassung gestellt; sie suchte aber weitere demokratische Reformen
zu verhindern. Nun ist es zwar sehr wahrscheinhch , daß die
Reichen und Adligen in Athen einer weiteren Demokratisirung des
Staates wenig sympathisch gegenübergestanden haben. Es fehlt uns
PARTEISTELLUNÜ DES THEMISTOKLES 311
aber jeder Beweis dafür, daß eine derartige geschlossene Reaktions-
partei in Athen nach Isagoras überhaupt bestanden hat. Es ist
uns aus der Zeit von 500 — 460 keine einzige Situation bekannt,
in der eine Partei der Reichen die Interessen der bürgerhchen,
im Rat der 500 verkörperten Demokratie bekämpft hätte. Wir
müssen vielmehr aus dem uns zu Gebote stehenden Material
schließen, dafs der Adel sich nach der Niederlage des Isagoras von
der Unmöglichkeit überzeugte, weiter eine Klassenpolitik zu treiben,
Belochs Partei der yvwQijuoi schwebt also für die Periode 500—460
völlig in der Luft. Es müßte uns erst bewiesen werden, daß diese
Partei überhaupt existirt hat, und zwar nicht aus den Angaben,
die spätere Autoren, denen die Parteiverhältnisse der Perserkriege
völlig unklar waren, über die politische Stellung einzelner Persönlich-
keiten machen, sondern aus irgendeinem tatsächlichen Fall heraus.
Mit den angeblichen yvcüQijuoi fällt aber auch die Zugehörigkeit
des Themistokles zu dieser Partei.
Aber wenn wir selbst annehmen wollten, die Partei der yvo')-
QifÄOi habe in jener Zeit existirt, so läßt sich doch die Zugehörig-
keit des Themistokles zu ihr nicht erweisen. Wenn wir uns noch
einmal die Lage in Athen um 500 vergegenwärtigen, so kann kein
Zweifel bestehen , daß nach dem Sturz der Tyrannen zunächst die
Alkmeoniden als Führer der bürgerlichen Demokratie die Leitung
des Staates hatten. Ebenso herrscht Einmütigkeit darüber, daß
die Stellung der Alkmeoniden durch den Mißerfolg des ionischen
Aufstandes erschüttert wurde, und daß die Wahl des Hipparchos,
Sohn des Gharmos, zum Archon für 496/5 ein neues Hochkommen
der Peisistratiden - Partei bedeutet. 493/2 jedoch finden wir als
Archon Themistokles. Wie ist dies zu erklären? Beloch schließt
so (S. 134): Zu den Tyrannenfreunden hat Themistokles sicher
nicht gehört; da die Alkmeoniden später seine Feinde sind, habe
er ihrer Partei auch nicht angehört; folglich müsse Themistokles
der Partei der yvcoQijuoi angehört haben. Daß dieser Schluß nicht
zwingend ist, wird wohl jeder Leser zugeben. Themistokles kann
ein persönlicher Feind der Alkmeoniden gewesen sein und doch
sachlich ebenso wie sie auf dem Boden der Demokratie gestanden
haben. Beloch selbst (S. 141) nimmt keinen Anstoß daran, daß
sich in den achtziger Jahren Themistokles und Aristeides erbittert
bekämpften, obwohl sie beide der gleichen Partei — nach ihm den
yvcoQif^oi — angehörten. Zur Stütze seiner kühnen Theorie führt
312 A. ROSENBERG
Beloch noch an, es lasse sich aus der ganzen poh tischen Laufbahn
des Themistokles keine einzige Maßregel im Sinne der , fortschritt-
lichen Demokratie" anführen. Darin hat Beloch recht, wenn mit
, fortschrittlicher Demokratie" die Demokratie der Besitzlosen im
Sinne des Ephialtes und Perikles gemeint ist. Durchaus zutreffend
betont Beloch gegenüber der herrschenden Ansicht, daß das Flotten-
gesetz des Themistokles an sich kein radikal demokratischer Schritt
gewesen ist ; denn es gab der Masse der armen Bürger nur eine neue
schwere Last, aber keine weiteren Bechte. Erst eine spätere Generation
hat aus dem Flottendienst der Armen den Schluß auf die Gleich-
berechtigung aller Bürger gezogen. Aber solche radikal-demokratische
Tendenzen sind vor 460 in Athen nicht nachzuweisen. Wir haben
keinen Anhalt dafür, daß irgendeiner der Staatsmänner der Perser-
Icriege schon politische Überzeugungen im Sinne des Perikles gehabt
hat; also auch nicht Themistokles. Soweit werden wir mit Beloch
gehen müssen, aber nicht darüber hinaus.
Wenn man unbefangen, nur auf Grund der feststehenden Tat-
sachen, die innere Geschichte Athens in der Zeit der Perserkriege
betrachtet, so findet man nur zwei wirkliche Parteien : auf der einen
Seite die Anhänger der Tyrannis und auf der anderen die Bepubh-
kaner, die auf dem Boden der Verfassung des Kleisthenes stehen, die
Vertreter der bürgerlichen Demokratie. Wenn nun in den Jahren
493—489 die Alkmeoniden von der Leitung des Staates verschwinden,
aber doch die Demokratie sich kräftig behauptet, so ist daraus nur
ein Schluß möglich : die Bürgerschaft hatte das Vertrauen zu den
Alkmeoniden verloren, sie war auch einen Augenblick an der
Republik irre geworden, wie die Wahl des Hipparchos zeigte. Aber
dann bekannte sie sich wieder zu den Grundsätzen des Kleisthenes,
jedoch unter neuen Führern , welche die Stelle der Alkmeoniden
einnahmen, nämlich Themistokles, Miltiades und Aristeides.
Von Miltiades behauptet Beloch ebenfalls, daß er ein Führer
der yvdiQijiioi gewesen ist: ,er nahm dieselbe Stellung ein, die
später sein Sohn Kimon eingenommen hat" (S. 136). Aber diese
Auffassung des Kimon ist abzulehnen. Kimon ist viele Jahre hindurch
von der attischen Bürgerschaft zu ihrem Strategen gewählt worden,
er hat notwendigerweise die ganze Zeit hindurch mit der ßovXrj
zusammen gearbeitet. Soll man annehmen , daß die Bürgerschaft
zu ihrem Vertrauensmann eine Persönlichkeit machte, die often
einer antidemokratischen Partei angehörte? Damit verträgt es sich
PARTEISTELLUNG DES THEMISTOKLES 313
sehr wohl , daß Kimon die Bestrebungon eines Ephialles , den
Staat den besitzlosen Massen in dic^ Hand zu spielen, entschieden
bekämpfte. Er war eben der Vertreter der bürgerlichen Demokratie
im Sinne des Kloisthenes. Das gleiche gilt aber auch von Miltiades,
der auf dem Schlachtfeld von Marathon die Schöpfung des Kleisthenes
verteidigt hat. Auch hier fehlt jeder Beweis, ja sogar jede Wahr-
scheinlichkeit, daß Miltiades ein Gegner der kleisthenischen Demokratie
gewesen ist.
Wir finden indessen in den achtziger Jahren die demo-
kratische Partei in zwei Richtungen gespalten , von denen die
eine — unter Themlstokles — die Großmachts- und Flotten-
politik vertritt, während die andere — unter Aristeides — diesen
Weg nicht mitgehen will. Mit Beloch die eben charakterisirte
Spaltung in die yvcogi/ioi hineinzutragen , fehlt jede Veranlassung.
Es bleibt nun aber die recht schwierige Frage nach den Partei-
verhältnissen von 489 — 484. Es seien zunächst die ganz sicheren
Tatsachen hervorgehoben : wir beobachten einen scharfen Kampf
der demokratischen Republikaner gegen die Peisistratidenpartei und
die Tyrannengefahr überhaupt; Hipparchos, der Sohn des Gharmos,
wird durch den Ostrakismos aus Athen entfernt. Zweitens sehen
wir ein neues Aufkommen der Alkmeoniden, repräsentirt durch die
erfolgreiche Anklage des Xanthippos gegen Miltiades, und ein paar
Jahre darauf einen neuen Sturz dieser Familie (Ostrakismen des
Megakles und Xanthippos). Nach der Tradition bei Aristoteles zählt
Megakles in diesen Jahren zu den Tyrannenfreunden {'Äß. jx. 22);
eine Auffassung, die noch um 430 in Athen so lebendig war, daß
Herodot ihr in der bekannten Verteidigung der Alkmeoniden (VI
121 ff.) entgegentreten muß. Wenn man hier — mit Ed. Meyer —
der Tradition folgt, wird der politische Zusammenhang ganz einfach.
Die Alkmeoniden hatten etwa seit 493 die Führung der Demokratie
eingebüßt. Um wieder zur Macht zu gelangen, trugen sie kein
Bedenken, sich der anderen Partei, den Tyrannenfreunden zu nähern.
Aber die Republikaner behaupten sich, und Megakles und Xanthippos
werden nach Hipparchos ins Exil geschickt. Beloch verwirft indessen
diese Gombination. Er nennt die angebliche Tyrannenfreundlichkeit
der damahgen Alkmeoniden eine politische Verleumdung (S. 139),
Ein direkter Beweis, daß Beloch unrecht hat, läßt sich in diesem
Falle nicht beibringen. Wer an die Verbindung der Alkmeoniden
und Peisistratiden nicht glauben will , mag annehmen , daß die
314 A. ROSENBERG
Alkmeoniden in diesen Jahren, gestützt auf ihren großen Anhang,
eine rein persönliche Intriguen - Pohtilc zu treiben suchten , aber
dabei scheiterten. Dagegen bleibt es wieder eine völlig unerweis-
liche Annahme Belochs, daß die Alkmeoniden — also in erster
Linie Megakles — das Gesetz über die Erlösung der Archonten
488/7 veranlaßt haben. Beloch schreibt, daß in dem genannten
Jahr eine „ ultrademokratische " Verfassungsreform erfolgt sei durch
die Einführung des Loses für die Archontenwahl und des Ostrakismos
(S. 139). Auf die Frage nach der Geschichte des Ostrakismos
möchte ich hier nicht näher eingehen, so viel ist aber klar, daß der
Zweck des Ostrakismos ursprünglich nur gewesen sein kann, einen
für den Bestand der Verfassung gefährlichen Mann aus dem Staat
zu entfernen. Es liegt also eine Schutzmaßregel der Republik
vor; sie ist aber an sich nicht „ ultrademokratisch ", weil sie in
keiner Hinsicht der breiten Masse mehr Nutzen bringt als dem
besitzenden Bürgertum.
In der Beseitigung der Archontenwahl hat man bisher freilich
durchweg einen „ ultrademokratischen " Schritt gesehen. Auch
Ed. Meyer z. B. betonte (Gesch. d. Altertums III 342), daß die Reform
„jedes verfassungsmäßig zur Leitung der Regierung berufene Amt
beseitigt" habe. „Nur das Volk selbst bleibt übrig, um in den
ordnungsmäßigen Formen der Volksversammlung seinen Willen
kundzugeben".') Aber es bleibt doch zu erwägen, ob wirklich
die Reform von 488/7 gleich von Anfang an die Macht der Volks-
versammlung, d. h. der breiten Masse, gestärkt hat. VVir wissen
zwar so gut wie nichts Sicheres über die Gompetenzen des Archon
vor 488/7. Aber so viel ist doch klar, daß er — als Präsident
der Republik — ein aasführendes und kein gesetzgebendes, be-
schließendes Organ gewesen sein muß. Die rein beschließende
Volksversammlung gewinnt also durch eine Veränderung der Exekutive
zunächst nichts. Vielleicht läßt sich aber doch, wenigstens mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit, ermitteln, wer damals vor allem
der Erbe des Archon geworden ist.
Aristoteles berichtet ('A'd: ti. 44) von dem merkwürdigen Ein-
tags - Präsidenten der attischen Demokratie, dem eTiiGxdxy^q der
Prytanen (vgl. dazu Schoemann-Lipsius I 402. Wilamowitz, Staat
1) A.a.O. 344 sagt Ed. Meyer: „Wenn durch, die Verfassungsänderung
Ernst gemacht wird mit dem Gedanken, daß in Athen tatsächlich wie
rechtlich niemand anders regieren soll als das Volk selbst . . .".
PARTEISTELLUXG DES THEMISTOKLES 315
u. Ges. 101. Szanto Real-Encykl. VI 200). Der Mann führt während
seines Tages u. a. das Staatssiegel und die Schlüssel zur Staatskasse.
Nun ist es doch sicher, daß der Archon, solange er noch der wirkliche
Präsident der Republik, der Repräsentant des attischen Staats nach
außen und innen gewesen ist, auch das Staatssiegel selbst geführt
hat. Diese Funktion hat er also 488 7 an den Vorsteher der
Prytanen abgegeben. Damit gewinnen wir wenigstens einen Weg-
weiser für Weiteres. Die permanenten Prytanen haben später vor
allem die laufenden Alltagsgeschäfte des Staats zu erledigen. Auch
dies ist eine Aufgabe des Präsidenten der Republik, solange es
einen solchen gibt. Ferner hat die ßovh) in späterer Zeit merk-
würdige Exekutivrechte, die sonst antiken Ratsversammlungen nicht
zukommen: ihr untersteht die Polizeitruppe, und sie kann Verhaftungen
anordnen (vgl. Wilamowitz a. a. 0.). Auch das sind sonst Gompetenzen
eines regierenden Magistrats. Wenn auch im einzelnen bei dem
Versagen der direkten Überlieferung sich wenig Sicheres sagen läßt,
so viel ist doch klar, daß durch die Reform von 488/7 die Exekutiv-
gewalt des Archon in w^eitem Umfang auf Fiat und Prytanen über-
gegangen sein muß.
Kleisthenes hatte von Anfang an dafür gesorgt, daß sein Rat
der 500 nicht vom guten Willen des Präsidenten der Republik ab-
hängig war, indem nun neben den Archon der ständige Rats-
ausschuß der Prytanen trat. Wie sich in der Praxis vor 488/7 das
Verhältnis des Archon zu den Prytanen gestaltete, ob diese nur zu
controlliren oder auch schon mitzuregieren hatten, wissen wir nicht.
Aber Reibungen und Gegensätze zwischen beiden Faktoren dürften
nicht gefehlt haben. Die Reform von 488/7 stellte nun den Archon
kalt und ließ die Prytanen allein am Ruder. Es ist nur eine
Hypothese, aber sie verdient wohl ausgesprochen zu werden, daß
der £71101(1x7]? der Prytanen erst damals geschaffen worden ist,
der Eintags- Präsident als Ersatz für den Jahres-Präsidenten. Im
V. Jahrhundert beruft der ETnordr)]? Rat und Volksversammlung.
Wenn unsere Hypothese zutrifft, würde daraus folgen, daß ursprüng-
lich der Archon dieses Recht gehabt hat. Dann hätten also weder
Rat noch Volksversammlung in Wirksamkeit treten können, wenn
der Präsident es nicht gewollt hätte, und der Archon würde vor 48 3/ 7
eine ähnliche Amtsgewalt besessen haben wie der römische Consul.
Seit der perikleischen Zeit setzen sich Rat und Volksver-
sammlung aus denselben socialen Schichten zusammen, so daß ein
316 A. ROSENBERG, PARTEISTELLUNG DES THEMISTOKLES
Gegensatz zwischen ihnen im allgemeinen nicht zutage tritt. In
der Zeit der Perserkriege dagegen, als die Ratsdiäten noch nicht
existirten, war die ßovXr] ein Ausschuß des besitzenden Bürgertums.
Eine Reform also, die der ßovh) die Regierung des Staats in die
Hand gab oder doch geben wollte, war 488/7 nicht „ultrademo-
kratisch", sondern sie stärkte die bürgerhche Demokratie im Sinne
des Kleisthenes. Daneben sicherte sie die Republik davor, daß irgend-
ein kühner Mann die Amtsgewalt des Archon ausnutzte, um zur
Tyrannis aufzusteigen. Die Einführung der Archontenlosung ergänzt
also die Anwendung des Ostrakismos. Auf welchen attischen Staats-
mann speciell diese Reform zurückging, wissen wir nicht. Belochs
Theorie, daß die Alkmeoniden die Urheber der Archontenlosung
waren, ist zumindest völlig unbeweisbar.
Abschließend sei noch einmal betont, daß von ultrademokratischen
Tendenzen im Athen der Perserkriege nichts zu beobachten ist.
Von keinem der damaligen Staatsmänner läßt sich mit triftigen
Gründen behaupten, daß er eine Herrschaft der besitzlosen Masse
anstrebte. Mit vollem Recht hat Beloch eine derartige Auslegung
des themistokleischen Flottengesetzes abgelehnt. Aber von der Be-
schränkung der Archontengewalt und vom Ostrakismos gilt das
gleiche.
Berlin. ARTHUR ROSENBERG.
zu XENOPHONS KYNlirETlKOl.
Ein Fragment.
[Als mein Bruder Gustav merkte, daß die Zunahme seiner Krankheit
ihm die weitere praktische Ausübung der geliebten Jagd allmählich
verbiete, beschloß er, dem von ihm begeistert gepflegten Jagdsport mit
der Feder zu dienen. Er plante eine Schrift „Die Jagd im Altertum"
und legte für sie im letzten Jahre seines Lebens eine umfassende Material-
sammlung aus Schriftstellern und Denkmälern an. Eine Skizze des ge-
planten Werks legte er in seinem letzten Vortrag seinem Göttinger
wissenschaftlichen Kränzchen vor. Leider hat er für diesen sehr beifällig
aufgenommenen Vortrag nur die Stichworte zu Papier gebracht, und
dies Gerippe eignet sich nicht zur Drucklegung. Ausgearbeitet fanden
sich in seinem Nachlaß nur nachfolgende weidmännische Bemerkungen
zu Xenophons Schrift über die Jagd. Auch ihnen fehlt offenbar der
Abschluß, aber sie enthalten so viele für die Beurteilung des umstrittenen
Buchs wertvolle Beobachtungen, die schwerlich ein anderer Altertums-
forscher zu geben vermöchte, daß die Hinterbliebenen glauben, sie den
Fachgenossen nicht vorenthalten zu sollen. Sollte ein Forscher den
Wunsch haben, die von meinem Bruder begomiene Arbeit über die Jagd
im Altertum aufzunehmen, so wird seine Witwe ihm gern das gesammelte
Material anvei trauen.
Leipzig. ALFRED KÖRTE.]
Als älteste und wichtigste Quelle unserer Kenntnis des Jagd-
wesens bei den Griechen gilt der unter Xenophons Namen gehende
Traktat von der .Jagd (Kvv)]yeTiy.6g). Das ganze Altertum hin-
durch ohne Widerspruch für ein echtes Werk Xenophons ge-
halten, ist er neuerdings, namentlich durch die vortreffliche Unter-
suchung von Radermacher (Rh. Mus. LI 1896 S. 596 — 629 und
LH 1897 S. 13—41) einwandfrei als untergeschoben erwiesen
worden. Denn , überall liefäen sich deutliche Unterschiede gegen-
über der Sprache und dem Stile Xenophons nachweisen" (a. a.
0. LI S. 622). Nach Radermachers Darlegung kann die Schrift
nicht vor der ersten Hälfte des IV. Jhs. vor Chr. verfaßt sein, das
Prooemion nicht vor dem III. Wenn diese Ansetzung im allgemeinen
richtig ist, so bleibt der Wert der Schrift als der ältesten theo-
retischen Abhandlung über die Jagd bei den Griechen allerdings
bestehen.
318 G. KÖRTE
Eine andere Frage aber ist, ob sie in der Tat in der Absicht
geschrieben worden ist ^), ein praktisches Handbuch der Jagdausübung
zu geben-) (wie es Xenophons Schrift :rteQl inmy.fjg auf einem
andern Gebiete des Sports wirkhch ist) und ob ihr Verfasser als
Fachmann, als „echter Weidmann" gelten kann, wie Radermacher
(a. a. 0. LI S. 627) als ausgemacht hinstellt. Eine eingehende sach-
liche Prüfung vom Standpunkte des praktischen Jägers aus läßt
das bezweifeln.
Zunächst kann die Schrift auch nicht entfernt als eine er-
schöpfende Darstellung des Stoffes angesehen werden. Denn sie
behandelt zum weitaus größten Teile nur die Jagd auf den Hasen,
dessen körperliche Eigenschaften und Gewohnheiten ; in einem
Kapitel (IX) ist sodann die Rotwild-, im folgenden (X) die Schwarz-
wildjagd behandelt, endlich ganz kurz die Jagd auf reißende Tiere,
welche auf fremde Länder außerhalb Griechenlands beschränkt ist
(Kap. XI). Sehr breit handelt der Verfasser in den beiden Schluß-
kapiteln (XII. XIII) von dem Nutzen der Jagd für Jugenderziehung
und Staat.
Die Disposition des Ganzen muß als recht mangelhaft be-
zeichnet worden , Zusammengehöriges ist auseinandergerissen , die
Darstellung im einzelnen ist alles andere als klar und präcise. So
beginnt die Auseinandersetzung über das, was zur Jagd gehört, ganz
unvermittelt mit dem Netz wart {aQy.vcoQÖg) und dessen notwen-
digen Eigenschaften (II 3). Dann folgt eine sehr ausführliche Be-
schreibung der verschiedenen Netze. Erst viel später wird über
die Ausrüstung des Netzwartes und die Aufstellung der Netze
gehandelt (VI 5 ff.). Eingeschoben ist eine ganz allgemein gehaltene
Besprechung der Hunderassen (III), ohne Angabe, ob es sich um
die speciell für die Hasenjagd gebrauchten oder um Jagdhunde
überhaupt handelt (jenes scheint gemeint, denn bei der Schilderung
der Jagd auf Rot- und Schwarzwild werden die hierzu erforderlichen
Hunderassen wieder nur summarisch erwähnt). Daran schließt sich
die Schilderung des Spürens der Hunde, der hierbei zu vermeidenden
1) Der Verf. tut so: c. II 2 oaa ök xal ola dsT ^aosay.Evaausvov
eX^sTv E7i' avTO cpodaco y.al aviä xal trjv EJiiotrjiirjv Exdozov , i'va nooEidcbg
EyXElofj TW EQyO).
2) Kaibel in d. Z. XXV 1890 S. 582 f. Jn Wirklichkeit aber ist der
Kynegetikos weit entfernt davon , ein Handbuch für Jäger , oder nur
dies zu sein. Er ist in erster Linie eine Lobrede auf die Jagd."
zu XKNOPHONS KYNIIFETIKOl^ 319
fflileiliaften und der erforderlichen Eigenschaften sowie des Körper-
baus (IV). Wiederum getrennt hiervon wird das Gerät zur Füh-
rung der Hunde beschrieben (VI), an andrer Stelle das Wölfen
und die Aufzucht der Hunde (VII 1) und deren Benutzung zur
Hasenjagd.
Zwischendurch ist von der Ausrüstung des Jägers und seiner
Tätigkeit bei der Jagd , im wesentlichen der Führung der Hunde
(daher der Name xvvf]yeT'i]g, d. i. Hundeführer) gehandelt. Wiederum
für sich steht die Anweisung zur Jagd bei Schnee in Kap. VIII, am
Schluß des ersten und Hauptteils der Schrift, was allerdings in-
sofern gerechtfertigt erscheinen mag, als sie ohne Hunde vor sich
gehen soll.
Diese das Zusammengehörige auseinanderreißende Gliederung
des Stoffes trägt sicherlich nicht zur Klarheit der Darstellung im
ganzen bei und erschwert deren Anwendung in der Praxis. Aber
dieser Fehler kann auf die geringe schriftstellerische Übung und
Begabung des Verfassers zurückgeführt werden. Anders steht es
mit der Unvollständigkeit der Darstellung, dem Fehlen von Angaben,
die man in einem Handbuch der Jagd zu suchen berechtigt ist,
endlich einer ganzen Reihe von solchen, welche so offenbar irrig
sind, daß man sie einem praktischen Jäger unmöglich zutrauen
kann. In erster Hinsicht (Unvollständigkeit) fällt auf, daß von der
Jagd zu Pferde (ohne Netze und Schlingen), welche Plato Leg. VII
824 A allein billigt, überhaupt nicht die Rede ist. Der Einwand, Ver-
fasser sei eben kein vornehmer Mann (Radermacher a. a. 0. LI S. 627),
ist nicht stichhaltig, denn was er als Voraussetzung für den Jagd-
betrieb hinstellt: die Haltung einer Anzalil von Hunden (diese
ist durchgehends vorausgesetzt, namentlich VI 12), eines eigenen
Sklaven als Netzwart, der verschiedenen Arten von Netzen, setzt
doch, selbst wenn nur die Hasenjagd in Betracht gezogen wird,
einen nicht unbeträchthchen Aufwand voraus, zu welchem nur
Reichere imstande waren. Und ferner: von der Niederjagd sollte
wenigstens die auf den Fuchs nicht ganz mit Stillschweigen über-
gangen sein. Das Tier selbst wird aber nur an zwei Stellen bei-
läufig erwähnt (VI 3 und V 4) , aus denen hervorgeht , daß es
nicht selten gewesen sein kann. Auch erscheint der Fuchs auf
Monumenten neben dem Hasen als Jagdbeute ^), und ein Vasenbild
1) z. B. Berlin. Vas. 2053. Brit. Mus. Cat. of gr. and etr. vases
II B 52 (Walters) und ebenda 421.
320 G. KÖRTE
des V. Jhs.^) lehrt uns, daß sein Fang mittels Fallen (Schwanen-
hals) schon damals geübt wurde.
Die äußerst summarische Behandlung der Hunderassen ist schon
erwähnt worden. Von einem Handbuch für Jäger dürfte man gerade
über diesen wichtigen Punkt, über Rasseeigenschaften und Verwend-
barkeit der einzelnen , genauere Angaben erwarten. Auch über
Aufzucht und Abrichtung der Hunde erfahren wir nur sehr wenig,
und doch kann die letztere nicht ganz gefehlt haben. Wenn (VII 9)
empfohlen wird, junge Hunde, welche (ausnahmsweise) einen Hasen
gefangen haben, diesen zerreißen zu lassen, so ist kaum zu glauben,
daß dieser Rat von einem praktischen Jäger ausgeht, denn so
würden die Hunde ja zum Anschneiden geradezu erzogen, während
sie doch der Regel nach den Hasen nicht fangen, sondern in die
Netze jagen sollen.
Als einziges Ausrüstungsstück des Jägers wird eine Keule,
QOJialov, genannt (VI 11), offenbar identisch mit dem sonst als layco-
ßoXov bezeichneten und häufig abgebildeten Gerät, einem kurzen,
nach oben keulenartig verdickten und meist etwas gekrümmten
Knüppel, der zum Schlagen und , wie der Name sagt, zum Wurfe
diente. Über seine Anwendung wird nichts gesagt, namenthch
nichts über den Gebrauch als Wurfholz. Nur einmal heißt es
(VI 17), der Jäger solle das oonaXov y.ard. rov laydo erheben, aber
nicht dem flüchtigen Hasen entgegentreten, weil dies zwecklos sei.
Und doch muß in der Praxis das Lagobolon zur Erlegung des kurz
vor dem Jäger aufstehenden oder ihm flüchtig nahekommenden
Hasen häufig gedient haben , wozu es wohl geeignet war. Der
Netzwart muß mit einem ähnlichen Instrument ausgerüstet gedacht
werden, denn ihm fällt es zu^ den ins Netz geratenen Hasen zu
töten^). Es wird aber bei der Ausrüstung des Netzwarts (VI 5)
1) Panofka, Gab. Poux-tales pl. 29. danach Schreiber, Bilderatlas
Taf. 80, 3.
2) VI 18 scheint mir die Lesart der Handschrift: ziuiaäico naXg. .^ais
drj, :iute dfj, mit einer Lücke davor, die vom Sinne geforderte. Denn
Dörners Lesmig avTO) aaTg ,, hierher, Bursch" und dann jiaT 8)j, .-zaT ö/j
,Bm\sch höh, Bursch höh" stimmt nicht zum Zusammenhang. Im
Augenblick, da der Hase, nach dem Ort, wo er aufgestoßen worden, sich
zurückwendend, den Netzen nahe kommt, ruft der Jäger dem Netzwart zu,
(aufzupassen und) zuzuschlagen. Daß er ihn zu sich heranrufen soll, ist
sinnlos, da der Netzwart eben an den Netzen aufpassen und im gegebenen
Moment einzugreifen hat, während der Jäger die Hunde dirigirt.
zu XENOPHONS KYNHrETIKOS 321
nicht erwähnt. Wie hier eine der Natur der Sache nach geforderte,
für die Jagdausübung nicht unwichtige Anweisung fehlt, so wird
wiederum bei der Schilderung der Jagd auf Rotwild (IX 20) die
Angabe vermißt, auf welche Weise dies im Sommer ohne Schlinge
eingeholt und erlegt werden könne: offenbar doch nur durch
Hunde, welche das oder die Stücke „stellen". Von der Anwendung
von Netzen, die doch auch für die Jagd auf Rotwild bezeugt ist ^),
erfahren wir nichts, dagegen finden sie wieder ausführliche Er-
wähnung bei der Jagd auf Schwarzwild (X).
Auffallender als dieses Fehlen von notwendigen Angaben und
für die Beurteilung der ganzen Schrift wichtiger sind gewisse Un-
klarheiten der Schilderung sowie Angaben , die von einem prak-
tischen Jäger und Zeitgenossen des Verfassers unsrer Schrift nicht
herrühren können. Gleich der Beginn der ausführlichen Anwei-
sung zur Hasenjagd läßt es unklar, ob es sich um Feld- oder
Waldjagd handelt. Nur die Vorschrift , man solle zunächst die
Hunde ,am Walde" anbinden^), weist auf die erstere, wie auch
der weitere Verlauf der Jagd.
Eine große Rolle spielt für diese das Wort Yivoq. Es wird
in zwei Bedeutungen angewendet. Einmal (V 1 und wiederum
VI 4 in dem abgeleiteten Tätigkeitsworte l'yvevoig) bedeutet es die
der Fährte des Hasen anhaftende Witterung, an anderen Stellen
(häufiger) die Spur oder Fährte selbst. Eine Anzahl von Vor-
schriften nun läßt sich nur so verstehen, daß der Verfasser meine,
diese Fährte des Hasen sei dem Jäger durch das Auge wahrnehmbar.
So V 6, wo es heißt „im Winter, Sommer und Herbst sind die
Spuren in der Regel gerade, im Frühhng dagegen verschlungen",
weil in diesen vorzugsweise die Rammelzeit des Hasen falle und
ihn zum Umherschweifen veranlasse. Oder VI 20 : „Falls sie (die
Hunde) aber nicht auf der Spur sind, sondern sie überschießen, so
rufe er sie an: Nicht weiter, meine Hunde! Und falls sie (21) neben ^)
der Spur stehen, so führe er sie in vielen und dichten Kreisen
herum. Wo ihnen die Spur undeutlich ist, da mache er sich ein
Zeichen für sich selbst, und von diesem aus halte er sie zusammen,
1) Pollux V 77 Sixrvoig fih ei rig oyfisvaag (mit Treibern) avzäg
avveXäoEiEv.
2) VIll EX ri]g vlrjg. Dömer übersetzt falsch: „außerhalb des
Gehölzes", was vielmehr exrog r. v. heifBen müßte.
3) So Dömer; jtqootcöoi roTg l'xvsoi eigentlich vor der Spur,
Hermes LIII. 21
322 G- KÖRTE
bis sie (die Spur) deutlich erkennen." Aber noch mehr wird dem
Jäger zugetraut. Der Verfasser unterscheidet (V 9) zwischen La-
ger- und Wechsel -Hasen {evvaiog und ögofinTog). Dörner über-
setzt so und meint, es werde im modernen Sinne zwischen Stand-
und Wechselwild unterschieden. Im Sinne des Verfassers unsrer
Schrift richtig, wie V17 beweist: ^Die allerorten herumschweifenden
1 Wechselhasen] aber sind schwer im Laufe zu fangen {^(^alejTol
TiQog Tovc ÖQOjiwvgY ; sachlich gewiß nicht zutreffend, denn der
Begriff von Stand- und Wechselwild ist auf den Hasen nicht an-
wendbar: Wechselhasen in diesem Sinne hat es im Altertum und
auf griechischem Boden sowenig gegeben wie heutzutage. Der
Verfasser scheint eine zu seiner Zeit verbreitete Meinung wieder-
zugeben, und aus deren Irrigkeit ist kein Schluß auf seine Uner-
fahrenheit in der Jagdausübung zu ziehen.
Aber, wenn (VI 14) gesagt wird: „sobald aber der Hund
(nämlich der zuerst losgelassene, im Spüren sicherste) die gerade
Spur unter den verschlungenen angefallen hat, löse er (der Jäger)
einen zweiten", wenn aber die Spur weiter geht^), in kurzen
Zwischenräumen auch die übrigen nacheinander, so muß der Leser
annehmen, der Jäger sei imstande, aus eigener Wahrnehmung
die gerade Spur unter den verschlungenen zu erkennen und das Ver-
halten der Hunde danach zu beurteilen oder zu corrigiren. Noch
deutlicher geht dies aus VII 6 hervor: „Man soll die jungen Hunde
auf die Lagerspuren nicht lösen, sondern sie am langen Kiemen
halten und den spürenden Hunden folgen lassen" und VII 9: „Auf
den Laufspuren dagegen lasse man sie fortsuchen, bis sie den
Hasen fangen." Woran, so fragt man, soll der Jäger erkennen,
ob es sich im Einzelfalle um Lager- oder Laufspuren (nämlich
die des angeblichen Wechselhasen) handelt, wenn ihm selbst die
Spur nicht wahrnehmbar ist? Der Hase hinterläßt aber, außer bei
Schnee, keine erkennbare Fährte, es sei denn etwa auf einer betauten
Wiese oder einem glatt gewalzten Ackerstück. Diese Anweisungen
können demnach von einem praktischen Jäger nicht herrühren.
Vollends aber gilt dies von der Anweisung zur Jagd bei Schnee
(Kap. VIII), Sie soll ohne Hunde mit einem Begleiter und mit
Benutzung der Stellnetze betrieben werden. Hat man eine nach
vielfachen Absprüngen bzw. Wiedergängen des Hasen gerade, ohne
1) Die Worte JisQaivofiivov öh tov l'p'ov? können nicht mit Dörner
übersetzt werden „wenn er die Spnr aufnimmt''.
zu XENOPIIONS KYNIIFETIKOI 323
abzweigende andre Spuren, auf einen Punkt (das Lager) fortführende
Spur ausgemacht, so gehe man nicht gerade hin/.u, um den Hasen
nicht rege zu machen, sondern umkreise ihn: er wird ruhig sitzen-
bleiben. Dann suche man weiter. Schhefshch kehre man zu dem
erst gefundenen zurück, umstelle ihn mit den Netzen und mache
ihn dann rege. Sollte er sich aus den Netzen frei machen, so
sehe man, wo er im Schnee sich drückt und umstelle ihn aufs
neue. Drückt er sich nicht, so verfolge man ihn; denn er wird
auch ohne die Stellnetze sich fangen lassen : er ermattet nämlich
bald wegen der Tiefe des Schnees und weil sich ihm unten an
den behaarten Läufen eine große Masse anhängt. Bietet schon
die ganze Anweisung Unwahrscheinliches , so , daß der einzelne
vom Jäger festgestellte Hase ruhig sitzenbleiben solP), bis er mit
Netzen umstellt ist, so ist der Schlußpassus, daß der Hase im tiefen
Schnee schnell ermatte und von zwei Männern gefangen werden
könne, ganz ungeheuerlich. Gerade bei Schnee ist der Hase, der
die Hälfte der Hinterläufe aufsetzt und dadurch den Vorteil hat wie
ein Mensch auf Schneeschuhen, nicht nur dem verfolgenden Jäger,
sondern auch den Hunden beträchtlich an Schnelligkeit überlegen.
Denselben Vorteil hat er bei der Flucht über Sturzacker.
Göttingen. GUSTAV KÖRTE t.
1) [Hier möchte ich den Verfasser des xmnp/Exixög auf Grund von
Jagderzählungen meines Vaters verteidigen, mein Bruder hat das xvxXo)
ExnsQuivm nicht genügend bewertet. Mein Vater erzählte oft, daß in
seiner Studentenzeit ein alter Förster auf dem Gut seines Schwagers,
wenn er den Gästen seines Herrn einen „sichern" Hasen verschaffen wollte,
in früher Morgenstunde das Lager eines Hasen umkreiste , worauf der
Hase stmidenlang sein Lager nicht verließ. A. Körte.]
2V-
PY0MO:S
Um hinter den Ursprung eines metaphorischen Ausdrucks zu
kommen, vollends eines früh in die Conventionelle Sprache wissen-
schaftlicher Terminologie übergegangnen , soll man nicht mit Hi-
storikern und Philosophen wie Herodotos und Demokritos beginnen.
Überhaupt gilt es erst einmal alles zu vergessen , was wir heute
mit einem Wort wie Rhythmus ^) verbinden. Wohl uns , daß der
Zufall uns für Qv&juog (gvo/xög) einen Beleg aus Archilochos be-
schert hat. In dem Tetrameterfragment der Selbstparaenese (fr. 66),
OvfiE, &vjii^ a/jn-jy^dvoioi xijdsöiv xvxcojiieve lauten die Schlußworte:
(als Sieger nicht prahlen, als Besiegter nicht jammern!)
äXkd laQxoioiv re x^^Q^ ^^'^ >iOL>iOioiv äny^dla
jui] Xh]V yiyvcooy.E d' olog ov&juög ävßowTiovg e^ei-
Wer hier bei ovüjuog an einen Charakter der Menschenseele denkt,
hat sich nicht die Mühe genommen, auch nur die vorhergehende
Zeile anzusehn. Gemeint ist, auch von niemand bisher mißver-
standen: 'das Menschenleben steht unter dem Zeichen eines steten
Wechsels von Glück und Unglück, von Schmerz und Freude', ein
Gedanke, der allen Dichtern vertraut, von ihnen mit allen möglichen
Bildern illustrirt wird, am liebsten wohl mit der Vorstellung
wechselnder Winde (Find. Olymp. VII 95, Pyth. III 104, Isthm. IV 5;
'Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind', Goethe), aber
auch von Wellenbewegung ('auf der steigenden, fallenden Welle
des Glücks', Schiller). Wenn nun heute die Etymologen einig sind
in der grammatisch allein glaublichen Ableitung von qeco — ohne
sich übrigens die Schwierigkeiten des Bedeutungsübergangs zu ver-
hehlen — , w^ie soll man sich die Situation des Mannes vorstellen,
dem zuerst bei einem Fließen der Gedanke gerade an Wechsel von
Glück und Unglück gekommen wäre, oder umgekehrt? Der in der
Formel jiävza qeX in die geflügelten Worte übergegangene Satz
des Herakleitos bezeichnet einen ebenso unmerklich als rasch sich
vollziehenden Wandel der Gegensätze, wie Feuer und Wasser, und
1) Eug. Petersen, Rhytlimus. Abh d. Gott. Ges. cl. Wiss. N. F. XVI 5.
PYeMü:>: 325
deutet damit mehr pliilosophiscli als bildhaft anschaulich aul' ihre
höhere Einheit. So fehlt denn auch bei ihm das Wort Qvo/iög
vielleicht nicht zufällig: geTr rd liXa TioTUfiov dixi]v lautet seine
Lehre (nach Diog. Laert., Diels Vorsokr. P 69, 5).
'Daß der ov^jnog von den Griechen dem Meere abgelauscht
ward, steht mir fest', urteilte Georg Gurtius, Lübecker Kind
(Grdz. d. gr. Etym. ^ S. 353). Aber für die Wellenbewegung des
Meeres ist ge7v nicht der übliche Ausdruck, wenn man absieht von
Bildungen wie äjuquQvrog, JiEQiQQvrog, und der sehr gewählten Um-
schreibung für das Meer, äXiQQvrov äXoog bei Aischylos (Hiket. 868);
y.ax' ' Qxeavbv Tioxajudv cpege xv/xa qvoio sagt die Odyssee am
Schluß der Nekyia (X 699), und in Dareios' Rede (Aisch. Pers. 745)
gedachte Xerxes den heiligen Hellespontos o^rjoeiv geovra Boono-
Qov §6ov deov. Okeanos und Bosporos sind dem Griechen eben
Ströme. Woher also das Bild? 'Der Main bei Frankfurt wird es
keinen lehren', schreibt mir ein Freund, Svohl aber jeder Bach in
einem Taunustal; immer neues Wasser, immer an den selben
Steinen des Grundes sich hebend und dann wieder sich senkend:
wirklich das anmutigste Bild der Dauer im Wechsel!' In der Tat,
das anmutigste Bild! 'Seele des Menschen, wie gleichst du dem
Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du' — den zum
Auf- und Niedersteigen zwingenden Steinchen des Flußbetts! Wen
für das nach Archilochos den Menschen bald erfreuende, bald nieder-
drückende Schicksal das Bild doch zu idyllisch anmutete, der brauchte
nur für den Taunusbach einen Bergstrom zu setzen, deren es ja
in Griechenland und Kleinasien reichhch gibt:
Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Dem Griechen würde das wohl eher ein gva^ sein, ein Wassersturz,
als ein Qvdjuog.
Doch sehen wir uns weiter um: das nächste Beispiel in der
uns erhaltnen griechischen Dichtung bietet Anakreon (74):
eyco de luioeoo
Jidvxag, oooi '/poviovg ey^ovoi gvß^juovg
xal yaXETiovg' iJ,Efid&r]xd o\ co MEyiorrj,
(so Bergk, überl. juef^ad'tjxaatv ws M.)
Tü)v äßaxi^ojUEVCov.
326 0. SCHROEDER
Hier steht das Wort wirklich in der weiteren Übertragung auf
menschhche Charaktere. Doch verweilen wir einen Augenblick bei
der überaus schwierigen Interpretation des Fragments. Was ist
dem Dichter ein yßöviog Qv&juög xal '/^aXenoq im Gegensatz zu
den dßaxiCojuEvoi, als deren einen er den Megistes zu liebkosen
scheint? äßaxeco kennt schon die Odyssee; Helene gebraucht es
von den Troern, die den Odysseus im Bettlerkleid unbeachtet lassen:
ol ^' äßdxr]oav
nävxeg, eycb de juiv oYrj äveyvcov roiov eovra
{6 249). ejLi(jogdv'&t]oav rjyvöfjoav '^ov^aoai', sagen die alten Er-
klärer. Und Sappho hat rißaxijg, im Gegensatz zu jiaXiyxorog, (72) :
dXM rig ovx ejn/LU naXiyxorog
dgydv, äXX' äßdx}]v räv (pgev' e'x(o (Lesung Bergks).
Nimmt man dazu Hesychios: äßdxt]V afpEkrj dovverov fjov^iov,
ferner äßaxYjg' äßa^ äcpcovog dovvExog, dann Suidas : äßa^og'
yovyog, so ergibt sich die Ableitung von ßdt,co ßeßaxrai, und es
ist nicht einzusehn , was dieser Ableitung irgend im Wege stehn
sollte. Eine neuere Herleitung von ßdxrgov, haculum, ßaxöv
Tieoov hat Bechtel gebilligt (Lexilog.), Boisacq (im Dict. Etym.)
wohl mit Recht abgelehnt. Gleichviel ! Des Megistes kindlich stilles
Wesen hat es dem Anakreon angetan, während er allen 'verdrießlich
schweren Narren" aus dem Wege geht, denn das wird 'z^&oviog in
Verbindung mit yalenog hier heißen, yßovia' vjioyeia xexgvjujueva
ßagea (poßeqd jueydXa bietet Hesych, woraus Bergk (in seiner
Doktorarbeit 1834 S. 203) occultos entnommen hat; nicht unbedingt
einleuchtend, da xexQvjujueva nichts anders wird besagen wollen
als, rein räumhch, vjioyeia vjioy'&ovia. Auch auf ßagsa möchte
ich kein Gewicht legen: neben cpoßsQd jjiEydXa scheint es, wenn
auch shlecht genug, Ausdrücke zu interpretiren wie ßgovrij/uara
ydovia (Aisch. Prom. 996). Lehrreicher ist das leider bis zur
Unkenntlichkeit verstümmelte Anakreonfragment (64) , yßoviov (5'
e/uavrdv rjqa, von Härtung sinnreich verändert in yßoviov (5'
eIöov övEiQov, das der Scholiast zu Hes. theog. 767 anführt, um
seine, freihch auch falsche, Interpretation von i^eov y&oviov zu be-
legen, (avTi) Tov orvy EQOv. Genug, man wird nicht fehlgehn
bei den hassenswerten yßövioi qv&juoI xal yahjioi, wenn man an
die yafiYjXd TivEovxEg Pindars denkt, also an den durch Niedrigkeit
der Gesinnung widerwärtigen Charakter von Krittlern und Neidern,
PVOMOI 327
im Gegensatz zu dem unergründlich liefen Schweigen kindliclicr
Einfah des Jidig nagderiov ßXeJicor.
Doch dies alles nebenbei: die Bildhaftigkeit der Metapher wird
aus diesen ins Geistige übergegangnen Verwendungen nicht an-
schaulich. Das selbe gilt von dem dritten Beleg, bei Theognis (964):
fUjTzOT^ tJiau'i]0)]g tiqIv äv eidf/g uvdga oo(pi]veo)g
oQytp' Tial QV&juo^' xal rQonov övnv' eyßi.
Merkwürdig ist, wie Herodotos bei der Erzählung von den Freiern
der Agarisle (VI 128: man denkt überhaupt an poetische Vorlagen),
in deutlicher Anlehnung an den Theognisvers, das Wort §v§ju6g
vermeidet : zur Bezeichnung einer Gemütsart mocht' es ihm nicht
mehr ganz mundgerecht sein; drum setzt er dafür, in Erinnerung
vielleicht an ^vdjut^eiv (ox^juariCeiv diaivjiovv Schol. Soph. Ant. 318),
'Wohlerzogenheit^: Tfjg ögyfjg xal jzaiösvoiog je xal rgönov.
Mein- Licht in die Metaphorik des Wortes bringt ein Aischylos-
fragment, nach Pollux aus den 0a?i.ajuo7ioioi (78 N. ^):
älX' {eT) 6 juev iig Aeoßiov (parvcof.iaxi
xvju' ev xQiymvoig exjtsQaiverco Qvd-fxoTg.
Wer hierin wegen der 'Dreiwinkligkeit'' der Qvüfioi eine Bestätigung
findet für eine auf 'Schriftzüge' zurückgehnde Bedeutung (ovo/uog,
iovojnog [vgl. übrigens Demeterliymn. 230j von igvco 'ziehe"), der
hat nicht einmal den Vers ganz gelesen : da steht ja die lang-
ersehnte Welle! Das lesbische xv/iia, noch heute beliebt in den
Hohlkehlen unsrer Bilderrahmen, zeigt im Profil wirklich eine dreimal
geschwungne Wellenlinie. Aischylos hat also, ein echter Dichter,
das Wellengewoge in Qv^/uög noch durchgefühlt.
Und nun denkt man bei dem Auf und Ab der JVIenschen-
schicksale doch wohl lieber an jiöriov xvjuaivovra oder xvjuara
jiavToicov dvsjucov als an Taunusbach oder Bergstrom. Doch
nehmen wir den Unterlauf eines Stroms , da wo er zum Meere
wird, wo er TiveujuaTog ejUTieoovTog xvjuariag yiyverai (nach Herod.
II 111, Find. Pyth. IX 42 f.), etwa KavoxQiov äfiq)l geei^Qo., und
warum nicht gerade in der Heimat des Herakleitos?, denken uns
dort einen lonier — und ionisch ist das Wort (guß/xog, gvojuog,
Qvojuog) schon wegen der Endung (Otto Hoffmann, Ion. Dial. 599;
bei Wolfg. Aly p. 12—18 fehlt es unter den ionicae voces des
Aischylos) — , denken ihn uns dort dem Spiel der Wellen zuschauend,
wie der Wind oder die vom Meere kommende Dünung sie empor-
328 0- SCHROEDER
treibt, xvord (paXi]Qidovja, oder lassen wir ihn lieber noch in einem
Segelboot die Weilen durcheilen, mit ihnen in regelmäßigen Ab-
ständen steigend und fallend und das Anschlagen der Wellen an
den Bug des Nachens vernehmend, so hätten wir den Keim, der
im alten gv^/uog noch vereinigten Begriffe "^Gewoge' und 'Taktschlag\
sichtbar und hörbar zugleich , und körperlich fühlbar obendrein :
ich meine, das wäre griechisch gedacht; und ungefähr so denk ich
wird es auch Archilochos gemeint haben, olog gvo/uög dvdQOjjiovg
s'xsi- Denkbar wäre freilich, daß auch er schon wie Herakleitos
an ein immerwährendes Ab- und Zuströmen gedacht hätte, wo-
durch unmerklich Gegensätze wie Glück und Unglück ineinander
übergingen, wenn erega xal exega ijiiggei (Diels P 80,13), und
die Elemente der irdischen Substanz immerfort y.al Tigoosioi xal
uTiEioi (Diels P 96, 5). Aber dem Dichter, vollends dem vorhera-
kleitischen Dichter, scheint es doch besser anzustehn, wenn er das
seelisch fühlbar Erlebte,
Von der Freude zu Schmerzen
Und von Schmerzen zur Freude
Tieferschüttemden Übergang,
lieber im Bilde des Auf- und Abwogens der Wellen, also einer
Peripetie, als eines gleichmäßig ab- und zuströmenden W^assers vor
Augen hat. Erfreuhche Bestätigung ergibt ein Fragment aus
Menanders Georgos
x6 xrjg Tvyrjg ydg gsvjua (.lejamTuei xayv.
Wenn schon das einzelne gev/ua /uexamTixov ein Bild des Glücks-
wechsels darbietet, so doch der gv^juog erst recht, wenn er eine
Vielheit von gev/uaxa vertritt. Und wie steht es denn mit der
Bedeutung der Wörter auf -dj^iog {-ojuog)? Niemals bezeichnen sie
doch einfach einen gleichmäßig verlaufenden Vorgang: xvvC'>]^/ii6g
ist nicht xvv^i^oig, €?.x)]'&jn6g nicht eXxvoig, jLivxi]d^f.i6g nicht /uvxr],
ein Gebrüll ist nicht einfaches Brüllen. Dagegen ließe sich gv&juög
wohl unschreiben mit goai (bei Homer stets im Plural, wie gev/j.axa
bei Herodot), xw^rj-dixog mit xvvCijjnaxa (ebenfalls bei Homer nur
im Plural), xlav&fxog mit xXavfiaxa (überall nur im Plural).
Wir sehn, wie man sich behalf, ehe die Endung -&ju6g durch-
gedrungen war.
Hiermit ist für gv^juog der Begriff eines in sich gegliederten
und motivartig sich wiederholenden Gebildes ebenso sicher fest-
gestellt als der Ursprung der Metapher aus der Vorstellung eines
PYGMOI 329
flüssigen Elements. Von jenem Wogengang aber zur Gangart des
Pferdes (ocpCojuevov Qvß/nov Aisch. Choepli. 797), und dann auch
des Menschen (Scliol. Heph. 83, 6 Gonsbr. , Anonym. Amin-, bei
Studemund, Anecd. var. I 229, 26) ist für die Phantasie des Griechen
nur ein kleiner Schritt.
Ein scheinbar neues Gesicht zeigt der gir^fiog yQafXfidrxov des
Herodotos (V 58). Hier ist, wie längst in der archaischen Bildkunst,
die xm]oig zum ox^pa geworden , das Auf- und Abwogen zu
dauernd im Gedächtnis haftender und fürs Auge festgehaltner Ge-
stalt. Das ist denn auch übergegangen in die Terminologie der
atomistischen Physiker, unter denen Leukippos ()vo/i6g = a/fj/ta
auch grade von Buchstabenformen gebraucht (Diels IP 3). Doch
verdanken wir seinem großen Schüler Demokritos noch ein helles
Licht über die ursprüngliche Metapher in ov&/tiög. Wohl verwendet
er jueTaQvojLiovv schon in der Bedeutung jLieraox^j/Ltari^siv /lera-
fWQcpovv, wenn er lehrt, y diöayjj uETaQvojLioI xov äv&QWJiov,
jueraQvofiovoa de cpvoiOTrom (Diels 11 ^ 71 f.), dagegen eniQvofdrj
noch im Sinne von Zuströmen: erefi ovöev 1'of.ier negl ovöevog,
äXX' ejiiQVOjuhj exdozoioiv fj öo^ig (Diels II ^ 59, 18), was er an
einer andern Stelle (60, 12) erläutert durch rä enEiotovxa.
Endlich freut es, mit einem Distichon des Tragikers Phrynichos
schließen zu können, des von Aristophanes am Schluß der Wespen
als oxelog ovqdviov }'' ExXaxril^mv verspotteten, während es von
einem andern heißt, ev gvß'jLia) yoiQ ovöev eoriv. Phrynichos {Tiegl
eavrov cprjoiv, sagt wenigstens Plutarch quaest. symp. VIll 9, 3)
schreibt da seinen Tanzfiguren ebensoviel oyr]ixax<x zu, als den von
stürmischer Winternacht erregten Wellen des Meeres (PLG* 111 561):
o^rif^nra «5' ogxt]otg xooa juoi nogev, ooo' evl jxovxo)
xvjiiaxa jioieTxai yeijuaxi vv$ oXorj.
Charlottenburg. OTTO SCHROEDER.
DIE RHAPSODEN UND DIE HOMERISCHEN EPEN.
Auf die Frage, wie die berufsmäßigen Deklamatoren der
homerischen Epen zu ihrem seilsamen Namen gaycoSoi „ Nähsänger "
gekommen sind und was derselbe eigentlich bedeutet, ist meines
Wissens eine wirklich einleuchtende Antwort bisher nicht gefunden
worden. Die Ableitung von gaTireiv a.oidrjv ist ja ganz augenfällig,
und so wird sie denn auch, wie in den Versen, in denen angebhch
Hesiod selbst von seinen und Homers Hymnen auf Apollo in Delos
erzählte ^), so von Pindar Nem. 2, 2 durch die Umschreibung Qan-
x(bv ejiecov aoiöoi befolgt. Aber einen vernünftigen Sinn damit zu
verbinden war nicht leicht, und so gibt schon Pindar selbst an einer
andern Stelle, Isthm. 4, 63 f. , die Erklärung „Stabsänger" von
odßdoq , dem Stabe, den der Deklamator beim Vortrag statt der
Kithara in der Hand hält: „Des Aias Ehre hat Homer verbreitet
bg avrov Txäoav oo^ojoatg ägsTav xaxä gdßdov ecpQaoev -äeoTis-
oioiv enecov, loiTtoTg ä'dvQsiv." Dieselbe Etymologie hat Kallimachos
in dem in den Pindarscholien ^) citirten Fragment 138 Schneider
befolgt :
xal xov tTil Qaßdcp /uvß^ov vcpaivofxsvov
fjvexeg äeidco deideyjuevog,
ebenso Menaichmos von Sikyon, nur daß er den Stab als Verszeile
deutet : Mevaiyjiog de loToget rovg Qaii'coöovg orixcpdovg xaXeXo'&ai
diä x6 xovg oxiyovg odßSovg Myeo'&ai vjio xiveov^). Aber mit
Recht hat Philochoros diese Etymologie verworfen und die einzig
1) Schol. Pind. Nem. 2, 1 aus Philochoros:
iv ArjXcp TOTE TiQWTov kycb Hai "OfirjQO? äotdol
fieXüiofisv, SV vsagoTg vfivoig gdipavTsg doidtjv,
<PoTßov 'AjidkXoyva xQvodoQov, ov tsxs Arjxcb.
2) Daraus Eustathios zur Ilias p. 6.
3) Die Ableitung von gdßdog findet sich auch schol. Plat. Ion 254,5:
ixhjdtjoav de ovTcog, sjiel gdßdovg xaTs/ovreg dacpvivag djr/t'jyyED.ov. Femer
schol. Pind. Lsthni. 4, 63: tÖ 8e xaTa gdßSov oi fisv dvri tov xaxd Qatpq)8iav . , .,
Ol b'e . . dvTi TOV xaTo. oxi^ov.
DIE RHAPSODEN UNI) DIE HOMERISCHEN EPEN 331
mögliche wieder aufgenommen: <Pd6yoQog de änb rov ovvn&evai
xal fjuTireiv rijv cpörjv oikoj cpijolv avrovg xcQooxexXrjoß'ai.
Aber daß man das „ Verseschmieden " durch §d7iT€iv ausge-
drückt habe, oder daß dies Wort, wie Bergk (Gr. Literaturgesch.
I 490, der sich auf d6?iOv oujtjsiv und contexcre eanncn beruft)
meint, „Sänger gebundener Rede" bedeuten solle, ist eine unhalt-
bare Verlegenheitsauskunft. Auf richtigerem Wege waren die von
den Schollen nicht mit Namen aufgeführten Erklärer, welche bei
QOLTixeiv an die Verbindung der einzelnen Teile des Epos dachten : ol
de (paoiv Tfjg 'Ojut^qov Tioiijoewg /ut] vfp' ev ovvrjyjuevrjg, onogadriv
de äXXcog xal xaxä /.leoog di't]g'>]juevr]g, andre gaipcoSoTev avrrjv,
etg/uco rivi xal gacpfj Jiagajrh'joiov Jioielv, elg ev avxijv äyovxeg.
Dasselbe besagt die anschließende Erklärung des Dionysios von
Argos: ursprünglich, als sie ein beliebig ausgewähltes Stück der
Dichtung vortrugen, hätten diese Leute nach dem Siegespreis dgvrpöoi
geheißen, avi}ig de exaxegng xrjg 7tou)oecog eioevey&eioijg xohg äyco-
vioxdg, olor axovjuevovg ngbg äXh]?.a rd fiegt] xal r)]v ovfiTiaoav
jioh]Oiv emovxag, gaycodobg Jigooayogei^&rjvai. Also sie haben
ihren Namen erhalten , weil sie die einzelnen Stücke aneinander-
nähen und so die Einheit wiederherstellen.
Auf diese Erklärung führt nun auch die schon erwähnte
Äußerung Pindars, die bei scharfer Interpretation viel mehr besagt,
als was man gewöhnlich in ihr sucht. Timodemos hat, sagt er,
durch seinen Sieg an den Nemeen seine Athletenlaufbahn eben
damit begonnen , womit auch die Homeriden, die Sänger genähter
Epen, zumeist anheben, mit dem Prooemion an Zeus:
0'&e7' jreg xal "Ojui^gidai
ganxcov enecov xd nol'K doidol
ägyovxai, Aibg ex TTgootjuiov.
Pindar erläutert Homeriden durch Rhapsoden; aber auch umgekehrt
sagt er, daß keineswegs alle doidoi Homeriden sind — denn dann
wäre der Zusatz überflüssig — , sondern nur „die Sänger genähter
Epen". Damit wird zugleich die Eigenart der von den Homeriden vor-
getragnen Poesie im Gegensatz zu andern Dichtungen charakterisirt.
Wilamowitz hat sehr mit Recht betont, daß ein umfang-
reiches Epos, das für den mündhchen Vortrag bestimmt ist, eine
Gliederung und Ruhepunkte erfordert , bei denen der Vortragende
abbrechen kann, um an einem andern Tage oder bei anderm Anlaß
ebendort einzusetzen, daß daher auch solche bei fortlaufender Lektüre
332 E. MEYER
unerträgliche Härten und unvermittelte Übergänge, wie sie zwischen
dem Schluß von A und dem Anfang von B und ähnlich z. B.
zwischen X und W klaffen , keineswegs eine Verschiedenheit der
Dichter oder Interpolationen erweisen, sondern bei dem Zweck, dem
das Epos dienen soll, ganz naturgemäß, ja geradezu notwendig
sind ^). Das sind eben die Nähte, die die einzelnen Teile zu einem
größeren, trotzdem einheitlichen Ganzen verbinden.
So erklärt sich sowohl Pindars Äußerung wie der Name Rhaps-
oden. Die Homeriden sind im Besitz solcher gajird fn-/; , zusammen-
genähter Gedichte" , aus denen sie je nach Bedürfnis bald dieses,
bald jenes Stück, oder auch fortlaufend vielleicht mehrere Tage
hindurcli eine ganze Reihe vortragen, hnmer aber steht, was sie
deklamiren, im Zusammenhang nicht nur des Ganges der Sage,
der oi'jH7], sondern auch der Form, als Teil eines größeren Ganzen.
Die Art, wie Demodokos aus der oi'/urj der momentanen Inspiration
folgend ein beliebiges Stück herausgreift ('& 73 K 499 ff. 6 d' 6g-
jufj'&elg -deov iJQXsro ^), q)aTve (3' aoiÖifp', ev&ev eXcov cbg ol juev . .
aTiEnleiov y.x),., vgl. Phemios a 326), bildet die Vorstufe des
großen Epos. In Athen ist bekanntlich die bald dem Solon, bald
dem Peisistratos oder Hipparchos zugeschriebene Bestimmung ein-
geführt, daß die Rhapsoden nicht nach Willkür ein beliebiges
Stück auswählen, sondern sich ablösend der Reihe nach das ganze
Epos vortragen sollen.
Dem entspricht die ursprüngliche Einteilung der Epen in Rhaps-
odien, Einzelgesänge nach Art der Aventiuren des Nibelungenliedes,
die inhaltlich eine kleinere Einheit innerhalb des großen Rahmens
bilden. Es war ein durchaus berechtigter Gedanke von Christ —
so armselig im übrigen seine Iliasausgabe ausgefallen ist — , diese
ältere und sachlich allein berechtigte Gliederung an Stelle der
künstlichen, von rein äußerlichen Gesichtspunkten beherrschten Buch-
einteilung der Alexandriner wieder scharf hervortreten zu lassen.
Auf der anderen Seite kann nicht scharf genug betont werden,
daß ebenso wie die beiden Epen Hesiods nur in einer durch die
alexandrinische Kritik am Schluß verstümmelten Gestalt auf uns
1) Wilamowitz, Die Ilias und Homer S, 107. 260. 322 f.
2) Die Scholien geben die beiden Erklärungen ix dsov iii.irevadEig,
7] d.TÖ rov &eov rrjv OQfirjv noirjoüfiEvog ' sd'og yäo ijv avzoTg äjio &sov
jTQooi/iidueaOai. Ich halte es für sehr wahrscheinlich , dafa die zweite
die richtigere ist und das übliche Prooimion gemeint ist.
DIE RHAPSODEN UND DD-: HOMERISCHEN EPEN 333
gekommen sind, mit Erhaltung der Verse, welche zu dem weg-
geschnittenen Teil überleiten, so auch sowohl Ilias wie Odyssee ihren
ursprünghchen Schluß verloren haben. Der Schlußvers unsrer Ilias
lautete bekanntlich „nach einigen"^):
öjg Ol 7' äjnq)i€Jiov xdq)ov "Ektoqoq ' y^Xde ^' 'Afia^cov,
"ÄQfjog ß-vydniQ /iieyah'jxoQog avÖQocpovoio.
Der „homerische" Becher D^) illustrirt diese Verse und die un-
mittelbare Verbindung von Ilias und Aithiopis: auf die Lösung
der Leiche Hektors folgt unmittelbar, am rdcpaq "Exrogog, die Be-
grüßung des Priamos durch Penthesilea und dann ihr Kampf mit
Achilleus. Wer beim Vortrag hier aufhörte oder die Ilias hier
abschloß, sagte statt dessen natürlich
cog Ol y äficpiETiov jdrpov "Exxooog mjioddjuoio,
und so steht daher in allen Handschriften und in unsern Texten.
Der Übergang zu der neuen Episode ist rein äußerlich, aber nicht
härter als an zahlreichen andern Stellen der beiden Epen, z. B.
dem schon angeführten Eingang von W oder etwa d 620 ff. ;
und daß diese Gestaltung des Schlußverses der Ilias in unsern
Texten das sekundäre und die Anfügung der Amazone das ur-
sprüngliche ist, zeigt eben seine Fassung, die für einen solchen
Übergang stereotyp ist (vgl. z.B. II. Ml. ^ 1. t] 1. v 185), da-
gegen einen wirklichen Abschluß in keiner Weise bildet. Wie eng
die letzten Rhapsodien der Ilias inhaltlich und formell mit der
Fortsetzung in Aithiopis und Iliupersis verknüpft sind, wie sie mit
diesen einmal eine Einheit gebildet haben müssen, ist bekannt
und zuletzt noch wieder vt)n Wilamowitz ausgeführt. Allerdings ist
dann die Lostrennung der Fortsetzung schon verhältnismäßig früh
erfolgt, wesentlich aus ästhetischen Gründen, weil die Einfügung
neuer Gestalten die innere Einheit der Dichtung zersprengte, die
man jetzt verlangte. Daß dies Moment für die Scheidung zwischen
dem echten Homer und den äXXoi maßgebend war, spricht Ari-
stoteles in der Poetik c. 8 und 23 deutlich aus ^). Aber wenn bei
Plato der Rhapsode Ion immer wieder betont, daß ihn nur Homer
1) Schol. T zu ß 804.
2) Robert im 50. Berliner Winckelmannsprogramm S. 26.
3) Wie weit daneben sachliche Widersprüche, wie sie Herodot
zwischen Ilias und Kyprien hervorhebt, und stilistische Anstöße mitge-
wirkt haben mögen, läßt sich bei unserm ganz dürftigen Material nicht
erkennen.
334 E. MEYER
innerlicli packt und er sich nur mit diesem beschäftige, und dann
Sokrates unter seiner Zustimmung davon redet, welche Wirkung
er erziele, wenn er den Freiermord des Odysseus vortrage j) '^yj^-
Xea im xbv "Exioga oQjucdvTa T] xal zcbv Tiegl "Avögofidyiiv
i?i.eeirc7)v xi i] tzeqI 'Ey.ußi]v T] tieqI Ugiafiov, so hat offenbar auch
Plato noch die Persis als homerisch und als zur Ilias gehörig an-
erkannt, wenn auch vielleicht als selbständiges Gedicht.
Mit der Odyssee steht es nicht anders. So wie wir sie lesen,
hat sie keinen Abschlufä, das Schicksal des Helden ist noch nicht
erfüllt, Poseidon noch nicht versöhnt, und wir erwarten eine Fort-
setzung nur um so mehr, weil Odysseus -(/; 247 ff. der Penelope
ausführlich erzählt, w^as Teiresias ihm verkündet hat und was ihm
jetzt bevorsteht. Überdies ist es im Grunde nur ein Zufall, daß uns
der Schluß unsrer Odyssee, von yj 297 an, erhalten ist; denn
schon in voralexandrinischer Zeit hat man yj 296
Ol juev ETieira
aondoioi Xexrgoio naXaiov 'äeoiudv l'y.ovro
als den Schluß der echten Odyssee betrachtet ^) und Aristophanes
und Aristarch haben das anerkannt. Wenn sie trotzdem die Fort-
setzung bis zum Ende von co in ihre Ausgaben aufnahmen , so ist
das dasselbe, wie daß uns in der Theogonie noch der Katalog der
Söhne der Göttinnen und der Übergang zu den xazdloyoi yvvaixcöv,
am Schluß der Erga die rj/uara und der Übergang zur "Oqvl^o-
fA.avTeia erhalten sind, während das weitere weggeschnitten ist.
Auch für den Eingang der Ilias ist uns bekanntlich in dem
Osannschen Anekdoton eine Fassung erhalten , die sie mit dem
vorhergehenden, also mit den Kyprien, verknüpft — ob es bei der
Odyssee etwas Ähnliches gegeben hat, wissen wir nicht. Aber hier
ist die Sachlage umgekehrt wie beim Schluß der Ilias; denn diese Verse
eonsTE vvv /xoi Movoai 'OXvjUJiia dojjuaz' Eyovoai,
önncoQ öi] jufjvig te yö^og ■??' eXe TIi^lEicova
yUjxovg t' ayXaov vlöv ' o ydg ßaodiji yoXco'&sig . . .
sind deutlich lediglich eine dürftige Überarbeitung des echten Ein-
gangs. So haben beide Epen, ebenso wie die Hesiods, zwar einen
1) Daß Apollonios von Rhodos diesen Vers als den Schluß der
Odyssee betrachtet und nachahmt, und daß sich dadm-cli auch die Be-
wunderung dieses Verses wegen seiner aoxpgoovvt] durch Demetrios von
Phaleron begreift, habe ich in d. Z. XXTX 1894 S. 478 f. bemerkt.
DIE RHAPSODEN UND DIE HOMERISCHEN EPEN 335
durchaus sachgemäßen, seihständigen Eingang, aber keinen Sclilufs.
Nach hinten setzen sie sich viehiielir immer weiter fort, teils in
alten, ursprünglich zu ihnen, oder zu einer älteren Fassung der zu-
grunde liegenden Dichtungen gehörigen Stücken, teils in neu auf-
genommenen Stoffen und Gedichten, die den Umfang immer mehr
anschwellen liefen. Daneben steht dann selbständig die Urgeschichte
in den Kyprien, und es ist zu beachten, daß, während wir für die
Fortsetzung der Ilias und der Odyssee (und zum Teil vielleicht auch
für diese selbst) mehrere Parallelgedichte kennen, für die Kyprien,
soweit wir wissen, ein solches sowenig exislirt hat, wie für die
Ilias. Aber wenigstens in der Gestalt, in der wir sie kennen, setzen
sie die Ilias voraus , und so erweist sich diese — natürlich nicht
in ihrer letzten, sondern in einer älteren Gestalt — immer wieder
als der Kern, an den alle Epen dieses Kreises ansetzen. Daneben
stehn dann die Epen der übrigen Sagenkreise , vor allem die des
thebanischen Kreises (und die verschollenen Argonauten- und He-
raklesgedichte) in lebendigster Wechselwirkung mit denen des
troischen Kreises.
Dafs alle diese untereinander zusammenhängenden, den ganzen
Umfang der Überlieferung umfassenden Dichtungen, nicht etwa nur
die des troischen Kreises, von den Rhapsoden vorgetragen wurden,
ist bekannt. Als Schöpfer der Gedichte galt ihnen Homeros, ein
fahrender Sänger wie sie, von dessen Schicksalen sie mancherlei
erzählten — diese Überlieferung hat jetzt Wilamowitz vortrefflich
analysirt — ; und ihn betrachteten sie daher, der das gesamte Leben
beherrschenden genealogischen Auffassung entsprechend, als ihren
Ahnherrn, mochte der einzelne Rhapsode auch tatsächlich ganz
andern Ursprungs sein. In diesen Verhältnissen steht die physische
Herkunft der fiktiven oder durch Adoption und Blutsverbrüderung
rechtlich geschaffenen vollständig gleich. So nennen sie sich Home-
riden, genau so, wie die Ärzte sich von Asklepios, die Bildhauer
von Daidalos ableiten und Sokrates daher ebensowohl als Athener ein
Nachkomme des Ion und Apollon (Plato Euthyd. 302 c) wie als
Bildhauer ein Nachkomme des Daidalos und Hephaistos ist (Euthyphr.
IIb. Alcib. 1 121a), oder wie die israelitischen Priester Nach-
kommen des Lewi und des Mose (später des Aharon) sind, auch
wenn ihre Eltern einem ganz andern Stamm angehörten ^) — um
1) Daß die Lewiten ein fiktives Geschlecht sind nnd tatsächlich
die Priester ganz anderer Herkunft sind, aber durch Ergreifung ihres
336 K- MEYER, RHAPSODEN UND HOMERISCHE EPEN
den Ausgleich der beiden Genealogien hat man sich nicht weiter
den Kopf zerbrochen, das war ganz irrelevant.
Daß die Homeriden dem Vortrage der Rhapsodien eine An-
rufung der Gottheit vorausschickten, die eben darum, weil sie dem
SagenstofT voranging, als jiqooijuiov bezeichnet wird, ist auch sonst
bekannt, und eine Sammlung von solchen Musterstücken ist uns
in den sogenannten homerischen Hymnen erhalten. Um so auf-
fallender ist, dem Zeugnis Pindars gegenüber, daß in diesen, ab-
gesehen von ein paar ganz armseligen Versen (hymn. 22), Zeus
gar keine Rolle spielt. Dem steht gegenüber, daß Hesiod im Prooe-
mium der Erga zwar nicht selbst den Zeus anruft, wohl aber die
Musen dazu herbeiruft. Ganz lebendig tritt uns der alte Brauch
dann bei Arat entgegen.
Berlin. EDUARD MEYER.
Berufs aus ihrem Stamm ausscheiden, sagt das älteste Zeugnis, der Segen
Moses, ausdrücklich. So stammt denn der Priester, auf den der Kultus
von Dan zurückgeht, nach Jud. 17, 7 aus Bethlehem und ist judäischen (Ge-
schlechts, wird aber 18,30 unbedenklich zu einem Nachkommen des
Mose und seines Sohnes Gerson gemacht. Daß das Geschlecht der
Homeriden auf Chios mit den Rhapsoden nichts zu tun hat, sondern
fälschlich herangezogen ist, bedarf jetzt keiner Ausführung mehr.
zu STEPHANOS BYZANTIOS.
Über die Entstehungszeit der Ethnika des Stephanos Byzantios
ist bisher Iceine völhge Sicherheit gewonnen , und die über dieses
Problem aufgestellten Meinungen weichen recht erheblich vonein-
ander ab. W. Schmid ^) begnügt sich mit der allgemein gehaltenen
Feststellung, daß der Grammatiker nach Dexippos und Markianos
gelebt haben müsse. J. Geffcken ^) versetzt ihn in den Anfang des
7. Jahrhunderts. J. E. Sandys^) denkt sich das Original „nach
400 n. Chr." geschrieben und nimmt im Einklang mit unserer
Überlieferung die Genesis des uns erhaltenen Auszuges unter lusti-
nian an. L. Cohn *) verweist den Autor ins 6. Jahrhundert, ohne
eine nähere Zeitbestimmung zu geben.
Eine Untersuchung dieser chronologischen Frage dürfte daher
wohl angebracht sein. In welcher Richtung das Ergebnis zu finden
ist, hatte seinerzeit schon A. Westermann in seiner Ausgabe des
Schriftstellers (S. IV ff.) gesehen, und mit vollem Recht knüpfte daher
neuerdings bei seiner Prüfung dieser Frage E. Stemplinger ^) an
seine Feststellungen an. Die Äußerungen von P. Sakolowski **) können
zur Hebung der Schwierigkeit nicht beitragen , da ihnen die Be-
gründung durch Beweise fehlt. Bei ihm ist der Nachdruck u. a.
darauf gelegt, daß das Lexikon vor der Abfassung des vor 535
unter lustinian entstandenen ^vvexörjfxog des Hierokles schon voll-
endet war. Diese Behauptung wird ohne Begründung ausgesprochen
1) Christ - W. Schmid , Geschichte der griechischen Literatur II
2 ^ S. 888.
2) Lübkers Reallexicon» 98413.
3) A history of classical scholarship from the 6th Century b. C. to
the end of the middle ages^ 1906 S. 379.
4) Iw. Müllers Handb. II 1* 1913 S. 702.
5) Studien zu den 'Eßrixä des Stephanos von Byzanz, Progr. d. Kgl.
Maximilians-Gymnasiums, München 1902 S. 6 ff.
6) Philologisch-historische Beiträge, Gurt Wachsmuth zum 60. Ge-
burtstage überreicht 1897 S. 107 f.
Hermes LIII. 22
338 B- A. MÜLLER
und läßt sich auch in keiner Weise stützen, wenn man beide Werke
nebeneinander durchmustert.
Ein unanfechtbares Zeugnis über Stephanos' Lebensstellung
liefert zunächst der Artikel 'AvaxxoQiov S. 92, 15 M. : 'AvaxxÖQtov,
'AxaQvaviag Jiohg .... ZocpoxXriq (frg. 830 N.^) de cprjot diä rrjg
ei „Ävaxrogeiov Trjgö' ejicbvvjnov yßovog'^ . xal Evyeviog de o
nqb fjfxcbv zag ev rfj ßaodiöi oxoXäg diaxooju/]oag ev oidloyfj
Xe^ecov did di(pd^6yyov (pr]oiv. eoixe 6' äoxiyel evieTv x^y-svai
ßißXiq) ' fifxeXg yäg diä rov ~i evQO/uev. Danach war Stephanos
von Byzanz Lehrer an der kaiserlichen Hochschule von Konstanti-
nopel. Eugenios ^) selbst, der hier erwähnt ist, wird als TiQeoßvxrjg
ijöi] öjv eji 'Avaozaoiov ßaoiXecog bei Suidas s. v. Evyeviog bezeugt.
Aus der Mitteilung des Stephanos Byzantios kann man wohl einen
Hinweis auf die Stellung entnehmen, die er später bei der Abfassung
seines Werkes oder — genauer gesprochen — bei der Niederschrift
des Artikels 'AvaxroQiov einnahm; nicht aber darf man ihn, wie
Stemplinger (S. 8) es tut, als unmittelbaren Nachfolger des Eugenios
bezeichnen und die Tätigkeit dieses Grammatikers auch in die Re-
gierungszeit lustinos' L (518 — 527) und teilweise lustinians L
(527 — 565) verlegen. Durch die Bemerkung des Stephanos wird
Eugenios nur als ein Vorgänger von ihm bezeichnet, ohne daß
daraus ein genauerer Nachweis über das Zeitalter des späteren
Grammatikers mit zwingender Sicherheit entnommen werden kann.
Über Stephanos selbst sind noch einige weitere Nachrichten
erhalten. Konstantinos Porphyrogennetos spricht in seiner Schrift
Tiegl d^efidrcov, für die er noch das vollständige Werk des Autors
benutzen konnte 2), im Abschnitt über Sicilien^) von dem yga/bi-
/uarixog Zrecpavog, eine Äußerung , die , so unbedeutend und fast
selbstverständlich sie auch sein mag, doch das Zeugnis des Artikels
'AvaxxÖQiov bestätigt. Der Artikel rördoi lehrt dann ein historisches
Werk über Byzanz von ihm kennen (S. 212, 8 ff.): Poz&oi, e&vog
ndXai oixfjoav evxog xfjg Maitoxiöog. voxegov de eig xrjv ixxög
Ooaxtjv /uexaveoxyjoav , (bg ei'Q7]xai juoi ev xoig Bvl^avxiaxoig.
/biejuvi]xai xovxcov 6 ^ojxaevg üaQ'&eviog *). Auf Grund dieser
1) VgL L. Cohn, Realencykl. VI 987 f. W. Schmid a. a. 0. S. 879.
2) VgL A. Westermaims Ausgabe S. Xff.
3) II 10 S. 7 der Tafelschen Ausgabe des 2. Buches von 1847.
4) Zur Datirung des Parthenios vgL A. Meineke, Analecta Alexan-
drina S. 264f.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 339
Mitteilung darf man unsern Lexikographen in eine Reihe mit Chri-
stodoros und Hesychios lUustrios stellen, die, worüber weiter unten
noch zu sprechen sein wird, um 500 oder nicht wesentlich später
über die Anfange und die Vorgeschichte von Konstantinopel schrieben.
Die allgemeine, wohl stark methodologisch gerichtete Einleitung der
Ethnika selbst wird im Artikel Al&ioxp (S. 47, 19) erwähnt: tieq!
Tov Al'&iOTiioon nXaxvxEQOV ev xoTg rcoj' Id^vixcbv JiQorexvoXoyrj-
juaoiv EiQrjzai ^).
Die Entstehungszeit von Stephanos' Ethnika selbst zu gewinnen,
mufs von einer anderen Basis aus versucht werden. Diese liefert,
wie wiederum zuerst A. Westermann gesehen hat, der Artikel
'Axovai, und bei genauer Interpretation dieses Zeugnisses gelangt
man zu einer schärferen Datirung des Lexikons, als sie bisher
ausgesprochen worden ist. Der Artikel selbst, dem in unsrer
Überlieferung übel mitgespielt und der in unserm Auszug stark
verkürzt worden ist, lautet (S. 61,4): 'AxovaL, jioXiyviov tiXt]-
oiov 'HQaxXeiag. XeyEzai xard Jt£Qi(pQaöiv 6 olxcbv rag "Axo-
vag. t6 ed^vixov 'Axovirrjg , xb '&i]Xvx6v 'Axcovixig. ovxco ydq
Tig vf]oog diacpEQOvoa juev xco jiavEvcp^j/icp jiaxQixlcp xal xä
Tidvxa oocpMxdrcp juayioxQü) Uexqo) , XEijuh't] ök xaxavxixgv xfjg
Evdaifxovog jioXEwg XaXxi]d6vog. E7iix£xXi.r]xai ds did x6 nXrj-
'd'og xCbv EV avxfj jigög dxovag nEütoirj/jiEvoiv Xid'Oiv. XiyExai xal
dxovixov drjXrjxrjQiov cpdqfiaxov , (bg 'Ad-tp'aiog ev xqixco Öeljivo-
oo(pioxa>v (III 85 B), oxi xovg 7tQO(pay6vxag x6 Tiijyavov jurjÖEv
7tdox£i-v EX xov dxovixov. xXij'&rjvai Öe (paoi did xb cpvEod^ai
EV TOTTcp 'Axovaig xaXovjUEvo) ovxc jieqI 'HgdxXsiav. Die Mittei-
lungen über das Städtchen 'Axovai in Bithynien am Pontos , das
in der antiken Überlieferung stets mit der Giftpflanze dxovixov in
Zusammenhang gebracht wird 2), interessiren hier nicht, wohl aber,
was über die Insel 'Axcovixig berichtet wird. Den über sie in
diesen Artikel eingefügten Zusatz, der zu einem Auszug gar nicht
paßt, hat Meineke als in der Epitome zugefügte Interpolation be-
zeichnen zu müssen geglaubt, eine Auffassung, die als unrichtig
1) Vgl. über jiQOTExvoloysTv , einen in Schriften dieses Kreises bei
Späteren beliebten Ausdruck, H. Stephanus, Thesaurus VI 2064 f.
2) Vgl. von den älteren Erklärern namentlich Gl. Salmasius, Plini-
anae exercitationes 1629, 881, von den neueren besonders 0. Schneider,
Nicandrea , zu Alexiph. 41 (nebst Schol.) ; über die Sache ist auch bei
Eustath. in Dionys. Perieget. 791 berichtet, wo der Name 'Jxovai fehlt.
22*
340 B- ^- MÜLLER
angesichts der nicht seltenen persönhchen und individuellen Bemer-
kungen im Lexikon des Stephanos') bezeichnet werden muß.
Daß die sprachliche Form der Mitteikmg über die Insel "ähco-
vTng bei Chalkedon mit dem Gebrauch von diacpegeiv tlvi im
Sinne von „Eigentum sein "2) völlig der Gräcität jenes Zeitalters
entspricht, in das man überhaupt von vornherein ganz aUgemein
auf Grund anderer Judicien das Werk versetzen würde, sei beiläufig
vermerkt. Es darf also an der Ursprünglichkeit der in so eigen-
tümlichem Maße persönlich abgestimmten Bemerkung festgehalten
werden. Der Artikel 'Axovai wurde also geschrieben, als Petros,
der Geschichtschreiber, Schriftsteller und Staatsmann der iustiniane-
ischen Zeit^), zugleich /udyiorgog und jiaxQixiog war. Zum magister
officiorum wurde Petros nach dem Bericht Prokops*) von lustinian
ernannt, als er am Ende des 4. Kriegsjahres (538/39) aus seiner
Internirung im Gotenreich entlassen wurde und nach Konstantinopel
zurückkehrte; als Datum dieser Beförderung kann wohl unbedenklich
das Jahr 589 angesetzt werden. Als jiargixiog erscheint Petros
zuerst im Jahre 550, wo er als Gesandter lustinians zum Perser-
könig Chosroes geht. Von den Neueren haben Arnold Schäfer
und Ernst A. Stückelberg ^) dieses Jahr als Zeitpunkt seiner Er-
nennung bezeichnet. Diese Auffassung findet keine Stütze in dem
einzigen hierauf bezüglichen Zeugnis, das erhalten ist: Procop.
bell. VIII (Goth. IV) 11, 2 xal Uergov jLih ävdga Tiarginiov rr]v
Tov juayioTQOv ugyjp eyovja jiagä Xoog6i]v 'lovonviavög ßaodevg
eoxeXXev. Hier erscheint vielmehr Petros im Jahre 550 schon als
Inhaber des Patriciats. Die Ernennung zum Patricier ist auch nicht
1) VgL die Nachweise bei E. Stemplinger S. 6,3, sowie z. B. aucli
die Artikel 'Ay.y.aßixov zsT/^og, 'Ay./iwvia, NsävÖQsia,
2) Vgl. Stephanus, Thes. II 1377 f.; H. van Herwerden , Lexicon
Graecum suppletorium et dialecticum I- 375.
3) Vgl. über ihn B. G. Niebuhr, Corpus scriptorum liistoriae Byzan-
tinae I S. XXI ff.; A. Schäfer, Quellenkunde IP 193f.; K. Krumbacher,
Gesch. d. byzantin. Litt.* S. 237 ff.
4) Bell. VI (Goth. II) 22, 24 ig BvCdvnov dfpixo/nirovg (seil. 'Adavd-
oiov y.ai Uexqov) ysQwv ßaodsvg rwv /XEyiOTCOV tj^icoasv, "Aßaväoiov fih rcöv
iv 'IzaXla TTQairwotcov y.aTaazyaä/Lievog, IlezQco 8s zrjv rov fiaytazoov nalov-
/isvrjv UQxijv jiaQaoyöfurog.
5) Das Constantinische Patriciat, Inaug.-Diss. Zürich 1891 S. 84.
Über navevcprii.iog als Prädikat für Träger dieses Ranges vgl. außer den
Bemerkungen in dieser Schrift S. 36 noch P. Koch , Die byzantinischen
Beamtentitel, Diss. Jena 1903 S. 94f.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 341
an den Stand des Kandidaten , an eine bestimmte Station in der
Ämterlaufbahn oder an eine Altersstufe gebunden ^). Nur der
Umstand, dafs die Kaiser ihre Gesandten mit Vorliebe aus den
Patriciern auswählten oder dem Überbringer ihrer Botschaft, wenn
sie ihm mehr Gewicht verschaffen wollten, das Patriciat übertrugen'^),
kann zugunsten der allgemein herrschenden Anschauung, Petros
sei 550 Patricier geworden, geltend gemacht werden, allerdings
angesichts des eben wiedergegebenen Zeugnisses aus Prokop nur
mit sehr bedingtem Recht. Wohl aber kann mit Bestimmtheit
ausgesprochen werden, daß vor 539 Petros als jiarQixioq unmöglich
ist, so dafs dieses Jahr als der äußerste terminus post quem für
die Entstehung der Ethnika in Betracht kommt.
Als terminus ante quem wird gleichfalls durch den Artikel
'Axovai Petros' Todesjahr geliefert. Darüber liegt folgende Über-
lieferung vor: 562 wurde Petros abermals als Gesandter nach
Persien geschickt ^). Seine Beschäftigung in dieser Funktion und
seine Rückkehr zogen sich bis zum Jahre 563 hin; bald nach seiner
Ankunft in Byzanz starb er dann. Bei Menander Protector, der
einzigen Quelle auch über diese Tatsache, wird das Ergebnis noch
unter lustinians Regierungszeit berichtet (p. 373, 12 N. = 13 p. 33,
16 D.): äXX' 6 ÜETQog äTZQaxrog drsxcoQ)]os rcov MijÖLxcbv öqicov
. . . aTCLQ ig rb BvCdmov ä(pix6/.ievog 6 UexQog ov nollo)
voiegov xariXvos xbv ßiov.
Es darf also nunmehr wohl ausgesprochen werden, daß die
Ethnika des Stephanos Byzantios zwischen 539 und 565 entstanden
sind. Angesichts des Umstandes, daß das Werk nach einem Zeugnisse
bei Suidas noch unter lustinian in Hermolaos einen Excerptor fand,
wird man geneigt sein, die Entstehungszeit dieses Lexikons geo-
graphischer Namensformen eher an den früheren als an den späteren
Termin heranzurücken. Das Werk, obgleich ein Ergebnis rein
grammatischer Forschung, zeugt doch wie der ^vvexötj/nog des Hie-
rokles und die XQioriavtxi] xojioyQacpta des Kosmas Indikopleustes,
die in demselben Zeitalter entstanden, von dem starken geographi-
schen Interesse, das der iustinianeischen Epoche eigen ist, von einem
Interesse, wie es im byzantinischen Reich im 7. Jahrhundert an-
gesichts der politischen, besonders auch der kulturpolitischen Lage
1) Stückelberg a. a. 0. 16 ff.
2) Stückelberg a. a. O. 38.
3) Menander Protector p. 346 ff. Nieb. = 11 p. 10 ff. Dclf.
342 B. A. MÜLLER
kaum denkbar und trotz der Fülle und Vielseitigkeit des erhaltenen
Quellenmaterials auch nicht nachweisbar ist.
Ein gleiches Ergebnis, wenn auch nicht so genaue und enge
Abgrenzungen für die Zeitpunkte, innerhalb welcher das Werk ge-
schrieben ist, liefern weitere chronologische Judicien in verschiedenen
Artikeln. Aus dem Inhalt des Artikels Aagai^) hat schon Stemp-
linger (S. 7) den zutreffenden Schluß gezogen, daß er nicht nach
573 geschrieben sein kann. Noch schärfer und sachlich richtiger
wird man das von ihm gewonnene Ergebnis dahin präcisiren, daß
eine Niederschrift des Artikels Aaqai in der vorliegenden Fassung
seit dem Augenblick unmöglich war, wo dem Verfasser die Tat-
sache der 573 erfolgten Zerstörung dieses Bollwerkes bekannt wurde.
Dagegen sind die aus dem Artikel OeovjtoXig gewonnenen Folge-
rungen nicht in dem Sinne beweiskräftig, den ihnen Stemplinger
beimißt. Nach Joannes Malalas, dessen Mitteilung von diesem Ge-
lehrten übersehen worden ist, erfolgte die Umnennung Antiochias
in Theupolis bald nach dem Erdbeben, das die Stadt im Jahre 528
arg zerstörte 2). Gegen Sakolowskis (a.a.O. S. 108, 1) excessive,
aber kaum begründete Skepsis gegenüber dieser Nachricht wird
man zunächst geltend machen müssen, daß Joannes Malalas, der
in seiner christhch-byzantinischen Weltchronik fast alle Geschehnisse
des Orbis terrarum vom Standpunkt des Antiocheners aus betrachtet,
gerade über alles, was mit seiner Vaterstadt zusammenhängt, stets
sehr gut und zutreffend unterrichtet ist. Ferner liefert, was Sako-
lowski und Stemplinger entgangen ist, die Cod. lust. I 1, 6 erlassene
Anweisung in ihrem Subscriptum den Beweis, daß die Stadt schon
533 Theupolis genannt wurde, ein Zeugnis, durch welches Malalas'
Nachricht bestätigt wird. Schließlich wird bei Prokop in der
Schrift jiEQi xnojuaTcov die Umnennung der Stadt nirgendwo in
Zusammenhang mit ihrem Wiederaufbau gebracht, der nach der
540 erfolgten Eroberung durch Chosroes am wahrscheinlichsten
wohl 545 oder später stattfand, wo zwischen Byzanz und Persien
ein für diese Gebiete gültiger Waffenstillstand eintrat. Bei Prokop
heißt es in der erwähnten Schrift, die nach 560, in keinem Fall
aber vor 558 vollendet und herausgegeben wurde ^), vielmehr II 10, 2
1) 219, 6 Aagai , o v[vv Adjgag (paoi, (pgovgiov 'Avaozaacovjiohg Xeyö-
tXEVOV, oyvQcozaTov xze.
2) 433, 16 Ddf. h avxu> dk rä> XQ'^^V f^£^£x^^^ 'JvTiöxsia ßsoinoXig.
8) Vgl. Krumbacher a. a. 0. 232.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 343
'AvTc6x£io.v, i] rvv Oeovnohg emxexXt]Tai; V 5, 1 ^Avrioyeiag, Pj
vvv OeovjioXig imyJxXtjrai ; V9,29 OeovTtohv (der Name Anliochia
fehlt). Diese imxXijoig der Stadt hat sich gegenüber dem alten
Namen nicht durchgesetzt. Prokop, Joannes Malalas und, um von
den Späteren nur einen zu nennen, Menander Protector, der nach
lustinian schrieb, bezeichnen Antiochia stets mit seinem alten, durch
die Jahrhunderte geheiligten Namen. Bei Stephanos Byzantios er-
scheinen beide Namen nun in folgendem Verhältnis:
S. 62, 7 vTiEQ 'Avxioy^Eiav tyjv jieqI Ad(pvrjv.
S. 99, 9 'Avzioyßia. dexa Jioleig dvaygdq^ovrai, elol de nXeiovg.
JigcoTt] 2vQ<x>v. fj öevrega IxXtj'&ri dnb "Avxiöyov xov ^Enicpavovg,
Avöiag. TQixt] MsooTioxajulag, MvyÖovia xaXovjuevr], "j xtg ngog
r&v mixcoQicov Näoißtg xaXeXxai xxe.
S. 222, 6 Adcpvr] rcQodoxeiOv ejiiorjjuöxaxov xrjg eco 'Arxioyeiag
jxrjXQonoXecog.
S. 446, 6 xrjg jiegl Adq)V}]v Avxioyeiag.
S. 309, 9 QeovnoXig f] jueyioxr] xfjg tco jioXig yxig e^ Avxco-
%eiag [xexd xov oetojuov ojvojudo'i}?] ano 'lovoxiviavov.
Man wird einerseits aus dieser Citatenreihe wiederum eine Be-
stätigung für die Meinung, daß das Lexikon unter lustinian ent-
standen ist, ableiten dürfen, zumal da diese smxXrjoig für Antiochia
sonst nur in der Zeit dieses Kaisers neben dem herkömmlichen
Namen auftritt, andererseits aber auch dazu gelangen, Sakolowskis
Anschauung (S. 108, 1) für unberechtigt zu halten, das Lemma
©eovTioXig sei interpolirt, da der „echte Stephanos" die Stadt sonst
nur als ArxioyEia f) tieqI Adrpvrjv kenne. Beide Nam.en werden
vielmehr wie bei Prokop und Malalas nebeneinander gebraucht;
der Lexikograph liegt uns an allen Stellen, wo die syrische Stadt
erwähnt wird, nur in starker Kürzung vor, und namentlich die
Erwähnung unter AvxLÖxeia (S. 99, 9), wo die anderen Orte des-
selben Namens viel ausführlicher als die syrische Kapitale am Orontes
behandelt werden, ist ganz ungewöhnlich knapp geraten. Einem
Schlüsse ex silentio muß man also hier mit doppelter Vorsicht gegen-
übertreten.
Zu der gewonnenen Zeitbestimmung passen andere Angaben
unserer Überlieferung. Im Artikel BöonoQog werden ganz allgemein
die Schriftsteller über die Anfänge von Byzanz in folgender Weise
erwähnt (S. 178, 11): Xeyexai xal Bootioqiov xov Bv^avxiov XtfxriV
Ol de iyxcoQioi ^ojocpÖQiov avxb xaXovoi TiagayQajujuaxi^ovxeg,
344 B. A. MÜLLER
o&ev ol lä UaTQia yeyQaq^öxeg xov Bv^avr'iov ä?d7]v Jiagazi'&eaoi
(Meineke; eTimdeaoi codd.) juv&ixrjv lozoQiav, öxi ^ilinnov . . .
xb BvCoLvxiov TiohoQxovvxog xxX.'^). Nun ist ja allerdings ohne
weiteres zu bemerken, daß die Schriftstellerei über die IldxQia dieser
oder jener Stadt oder Landschaft mit Wahl des Wortes IldxQia
im Titel von Werken dieser Art schon lange vor lustinians Zeit
gepflegt wurde. Es ist aber wohl ohne Zweifel beachtenswert, daß
IldxQia KoivoxavxivovTioXewg für uns zuerst auftreten mit dem nur
durch Suidas bezeugten Werk des Epikers Ghristodoros aus Koptos,
dessen Blüte wiederum bei Suidas etii xwv 'Avaoraoiov rov ßaodeojg
XQÖvcov (491 — 518) angesetzt wird 2), und des Hesychios Illustrios ^),
der nach G. Wentzels sachkundiger Erörterung in die Zeit dieses
Kaisers, seines Nachfolgers lustinos I. und in die Anfänge lustinians
gehört *),
Einen für die Chronologie des Autors nicht unwichtigen Hin-
weis bietet ferner der Artikel ZvKaL Da A. Meineke in seiner
Ausgabe hier eine Interpolation unseres Textes angenommen hatte,
erfordert dieses Lemma eine besondere Untersuchung ; es lautet
(S. 590, 12): 2vxai, nöXig ävxixQv xrjq veaq'Pcbfxrjg, i) Ka'&' fj/xäg
'lovoxiviaval TiQOoayoQev&eToa. Die Worte j; xaß' fjfiäg 'lovoxivi-
aval nQooayoQEv&eioa, die als späterer Zusatz verdächtigt wurden,
machen nach Form und Inhalt nach jeder Richtung den Eindruck
der Ursprünglichkeit. Stephanos erwähnt regelmäßig in seinem
Werk die juexovojuaoia eines Ortes unter dem betreffenden Stichwort,
wie in dieser Untersuchung schon bei einem früheren Anlaß betont
werden durfte. Ich verweise anläßlich dieses neuen Falles auf den
Artikel über die östliche Reichshauptstadt (S. 189, 11 ff.): Bv^dvxiov,
zo iv Ggdx^] ßaoikeiov , noXig diaoi]ji(ozdzi]. . . . juezcovojudo&i]
öe xal Kon'oxavzivovTiohg xal via 'Pü)/.u]. Diese Vorstadt, das
heutige Galata, erhielt 528 durch lustinian das Stadtrecht und wurde
zugleich mit dem Namen 'lovoxiviavai oder 'lovoxiviavovjiohg be-
1) Vgl. die Nebenüberlieferung bei Eustath. in Dionys. Perieg. 142
p. 242, 34 — 243,7.
2) Vgl. Suidas s. v. XQiozödcoQog. S. ferner F. Baumgarten, De Christo-
doro, poeta Tbebano, Diss. Bonn 1881, und W. Sclimid a. a. 0. S. 776,
3) Vgl. Scriptores originum Constantinopolitanarum, rec. Tb. Preger,
I lÖOl S. I-VIIL 1-18.
4) Vgl. diese Zeitschrift XXXIII 1898 S. 310 ff. H. Schultz, Realen,
cykl. VIII 1323 nimmt an, der Schriftsteller habe mindestens das Jahr
582 noch erlebt, ohne seine Behauptung zu begründen oder zu beweisen.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 345
dacht, an dessen Stelle seit dem 8. Jahrhundert der heute geltende
Name auftritt^); in den IJaTQia des Hesychios Illustrios erscheint
der Stadtteil noch unter seinem voriustinianeischen Namen (16
p. 7, 6): iyyvg de zov xaXovfievuv ^LTQüTyyiov Atavrog xe xal
'Axi^^eoyg ßwjuovg äve&tjxaro (seil. 6 Bv^ag)' tvda y.al zo 'A^iXXscog
]^Qr]juari^si Xovtqov. 'Ajiiq)idQeco de roü ygcoog ev zaTg keyoj-ievaig
2!vxo.lg cpxoöojuyoev, ai ri]v ejicüvvjuiav ex xcov ovxocpoQCOv öer-
ÖQCOv eöe^avxo. Man darf aus diesem Zeugnis wohl schließen,
daß die UdxQia KcovoxavxivovjioXecag 528 schon abgeschlossen
vorlagen, als die Umnennung von 2vxai erfolgte. Der vermeint-
liche Zusatz in diesem Artikel, durch den ein seit 528 noch nicht
ganz zwei Jahrhunderte in Geltung befindlicher Zustand der Namens-
führung mitgeteilt wird, ist also, wie schon E. Oberhummer gegen
A. Meineke betont hat, ursprünglich und völlig unverdächtig. Auch
hier ergibt sich, wenn auch nicht gerade ein Kriterium für die Ent-
stehung des Werkes unter lustinian, so doch ein Anhaltspunkt
dafür, daß der vorliegende Artikel vor 528 nicht niedergeschrieben
sein kann; E. Stemplinger^) zieht einen falschen Schluß, wenn er
aus dieser Stelle folgert, sie sei der Zeit lustinians I. zuzuweisen.
Im Anschluß an das Lemma Svxai ist der Artikel Tafiiadig
(S. 599, 14) zu besprechen: Tai-da&ig, nohg Alyvnxov Xeyexai de
(L. Dindorf in Stephanus Thes. VII 1796; xal codd.) -dijXvxcög. f] ye-
vixij TajLudüecog. ovxco Fecogyiog 6 XoiQoßooxög ev xcö ovofiaxixco.
Auch hierauf hatte schon Stemplinger a. a. 0. kurz hingewiesen,
ohne sich allerdings über diese interessanten Bemerkungen näher
zu äußern. Der Artikel selbst erscheint in unserer Überlieferung
nicht an seinem gebührenden Ort hinter TdjLißQa^, sondern zwischen
TajLwgdxi] und Tdvayga. Auf Grund dieses Umstandes hatte
Meineke vermutet, daß vielleicht der ganze Abschnitt interpolirt und
dem Lexikon fremd sei, über die Worte ovrco Fecogyiog 6 Xoigo-
ßooxög ev xcö övojuaxixcö selbst aber mit aller Entschiedenheit das
Anathema ausgesprochen und sie als Interpolation gekennzeichnet.
Aber der Artikel sieht als Ganzes wie in seinen einzelnen Teilen
derartig aus, daß man ihn nicht ohne Not aus dem Lexikon streichen
kann. Wie ein Blick auf Meinekes Index (S. 739 f.) zeigt, sind die
Städte Ägyptens in den Ethnika in einer Reichhaltigkeit, um nicht
1) Vgl. die einzelnen Nachweise bei E. Oberhummer, Realencykl,
IV 971 f.
2) Philol. LXIII 1904 S. 619.
346 B- A. MÜLLER
zu sagen, Vollständigkeit vertreten, daß man das allerdings in der
Antike verhältnismäßig selten erwähnte Tajuiaßig hier vermissen
würde, wenn es nicht in dem Lexikon aufträte: alle Nachbarorte
von gleicher oder geringerer Bedeutung, alle Städte Ägyptens werden
genannt. Auch die Fassung und der Inhalt des Artikels sind nicht
derartig, daß man ihn oder einzelne seiner Bestandteile als Fremd-
körper in unserem Lexikon ablehnen müßte. Die Bildung des Genetivs
wird wie hier, so zu Me/ufpig^) und Zdig"^) angeführt; bei anderen
Artikeln, wie bei Zvrjvrj (S. 590, 7) und wiederum bei Udig (S. 550, 4)
wird noch das aus dem betreffenden Namen abgeleitete xxrjxixov
gebucht. Auch die Anführung des Gitats aus Georgios Ghoiroboskos,
das verificirt werden kann 3), entspricht der Weise des Lexicographen ;
ich verweise auf Belegstellen aus den wenigen in der ursprünglichen
Fassung des Lexicons erhaltenen Artikeln: S. 244,13 (s.v. Avq-
gd^iov) ojucog de vvv AvQQairjvol leyovxai. ovxo) yaQ xal BdXaxQog
ev Maxeöovixdlg (pi]oi xxe. — S. 245, 17 (s. v. Avojiovxiov) jue-
juvi]xat ö' avxTJg xal Tqvcpcov ev naQCovv fxoig ygdq^cov ovxcog xb
e&nxov xxe. — S. 246, 10. 15 (s. v. Acodcbvi]) ^ilo^evog de . . .
ovxcog — ovxcü de xal 'EnacpQodtxog. — S. 251, 3 (s. v. A&qo)
ovxco xal ^ÜQog — S. 255, 1 (s. v. Aä)Qog). Unsere Epitome bietet
die Citate sehr häufig in äußerst abgekürzter Form; daraus erklärt
sich die heutige Gestalt des Artikels. Hält man nun den Text des
Stichwortes Tafxia&ig in seinem ganzen Umfang für genuin, so
läßt sich die weiter oben gewonnene Erkenntnis über die Entstehung
des Lexikons im iustinianeischen Zeitalter für die Lösung einer
weiteren Frage der griechischen Literaturgeschichte nutzbar machen.
Über Georgios Ghoiroboskos' Lebenszeit hat sich bisher keine ge-
nügende Sicherheit gewinnen lassen *). A. Hilgard ^) hatte als
terminus post quem den Anfang des 6. Jahrhunderts bezeichnet.
R. Reitzenstein ^) war zu dem Ergebnis gelangt, daß er nicht nach
1) S. 444, 7 Msfiqng, -t) diaay^/noTdiT] Alyvnzov fitjzQÖnohg. xXivEzai xal
Mifj.(fi8og xal Mef.i<pLog.
2) S. 550, 1 2äig, nöhg Alyvnzov. xXivszai 81 Säswg wg Als/ncpecog .
3) Vgl. Georgii Choerobosei scholia in Theodosii Alexandrini canones
(Grammatici Graeci IV 1 ed. A. Hilgard), 1884, 196, 12. 344, 20. Über
den Titel 'Ovo^iazixöv vgl. A. Hilgard a. a. 0. LXXV, sowie L. Colin,
Realencykl. III 2365.
4) Vgl. z. B. W. Schmid a. a. O. S. 883, 1.
5) A. a. 0. p. LXVII.
6) Geschiclite der griechischen Etymologika S. 190, 4. 312, 1.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 347
750 gelebt haben könne; „daß er noch dem 6. Jahrliundert ange-
hört, wie ich fest überzeugt bin, vermag ich allerdings noch nicht
zu beweisen". Diese Vermutung ist richtig; die ganze Art des
Georgios Choiroboskos , die Wahl seiner gelehrten Themata, die
Technik und Methode seiner Forschungsweise sind derartig, daß man
sein Werk eher um 500 als um 600 oder gar um 700 datiren
möchte. Das von Reitzenstein vermißte äußere Zeugnis liefert jetzt
der Artikel Ta/Lua'&ig bei Stephanos. Es ist jetzt möglich zu sagen,
daß Georgios Choiroboskos dem 6. Jahrhundert angehört, da er
zwischen 500 und der Entstehungszeit von Stephanos' Ethnika an-
gesetzt werden muß.
Eine besondere Betrachtung erfordert nunmehr im Zusammen-
hang mit der chronologischen Frage die Notiz bei Suidas u. d. W.
'EgjuoXaog: 'Egjuökaog ygafi/narixög KcovoTavTivovjioXecog ygay^tag
T?)v e7iiT0jin]v rcov ^Ed^vixwv 2xeq?dvov yga/ujuariKOv JCQOoq^ojvrj-
■&Eioav 'lovoriviavcp zcb ßaodei. Ich unterlasse es, auf die Frage
einzugehen, ob unsere Epitome mit der des Hermolaos zusammen-
hängt, und bemerke nur, daß die von E. Stemplinger ^) versuchte
Lösung des Problems einer Nachprüfung bedarf, seitdem R. Reitzen-
stein 2) und W. Knauß ^) beobachtet haben, daß sowohl die im
Etymologicum Magnum , als auch die von Eustathios benutzten
Handschriften wenig mehr boten als der Archetypus unserer stark
verkürzten, lückenhaften und verderbten Epitome. Nach der Über-
lieferung bei Suidas hat also der sonst unbekannte Grammatiker
Hermolaos aus Konstantinopel einen Auszug von Stephanos'
lexikographischem Werk geliefert und ihn lustinian gewidmet, seine
Arbeit also bald nach dem Original erscheinen lassen. Stemplinger*)
hat es für ganz und gar unwahrscheinlich erklärt, daß die Epitome
unmittelbar oder doch sehr bald nach dem vollständigen Werk
erschien. Dieses Bedenken dürfte kaum durchschlagend sein, wenn
man erwägt, daß jenes Zeitalter der ausgehenden Antike, ein Zeit-
alter des kurzen, handlichen Buches, durchaus nicht mehr fähig
war, große Werke aus dem Gebiet der grammatischen Forschung
und Literatur aufzunehmen, sondern vielmehr solche umfangreiche
1) Progr. S. 8ff.; Philol. a. a. 0. S. 614 ff.
2) A. a. 0. S. 327.
3) De Stephan! Byzantii Ethnicorum exemplo Eustathiano, Diss.
Bonn 1910.
4) Philol. a. a. 0. S. 619.
348 B- A. MÜLLER
Arbeiten lieber in bequemer Verkürzung genoß. Ich verweise als auf
ein Beispiel auf die Entvvicklungslinie, an deren Anfang Pamphilos'
Glossen werk von 95 Büchern und an deren Ende Hesychios' Lexikon
steht, das doch wohl ins 5. Jahrhundert gehört. Das 52 Bücher
umfassende Lexikon des Stephanos mit seinem auf der Basis der
Sprachreinheit fußenden Nachweis der Ethnika zu den einzelnen
Ortsnamen mußte damals ein bestimmtes Bedürfnis erfüllen, wo —
wie unser Zeitalter seine kurzen orthographischen Handbücher —
man für den praktischen Bedarf ein Behelfsbuch zur Auffindung
oder auch correcten Bildung der e&rtxd haben mußte, wie sie z. B.
die Regierungen in den Adressen ihrer Gesetze und ihrer amtlichen
Anweisungen 1), die Historiker und die theologischen Schriftsteller
mit ihren z. T. doch recht starken stilistischen Aspirationen in ihren
Büchern anwendeten. Noch viel mehr mußte aber eine Epitome
des gewaltigen Werkes von Namensformen jenem Zeitalter will-
kommen sein. Daher lehne ich es ab, an den Worten ijtiio^rjv ....
7rgooqja>v7]'&eioav 'lovoiiviavcö reo ßaoiXei herumzudeuteln oder
sie durch Conjectur zu entstellen. Da G. Wentzel (in d. Z. XXXIII
1898 S. 311) in seinen äußerst vorsichtig formulirten Ausführungen
immerhin die Möglichkeit offen läßt, daß Hermolaos unter einem andern
als lustinian I. gelebt haben kann, mache ich darauf aufmerksam, daß
nach Suidas' Wortlaut und nach der Art, in der dieser Schriftsteller
die beiden Kaiser dieses Namens bezeichnet, nur lustinian I. gemeint
sein kann. lustinian II. (685 — 695 und wieder 705 — 711) ist aus-
geschlossen; er wird bei ihm 'lovoiiviavög 6'Piv6r^u)]Tog genannt^).
Stemplinger ^) hat dann unter Hinweis auf die Suidasartikel Boj^avog *)
und BooTTOQog^) und die Tatsache, daß Bochanos 576 unter
lustinos II. Bosporos angriff, vermutet, bei Suidas sei im Artikel
über "EgiAÖlaog zu lesen eTtixojiiijv . . . nQoocp<x>v'>]'&eloav 'lov-
OTivqy TCO ßaoikei. Diese Vermutung könnte als Basis einer Dis-
kussion dienen, wenn Stemplinger der Nachweis geglückt wäre, der
bei Suidas u. d. W. BooJiogog erhaltene Nebensatz gehe auf Stephanos
1) VgL z. B. cod. Just. I 1, 6.
2) Vgl. u. d. W. und u. BovlyuQOi.
3) Philol. a. a. 0. S. 619.
4) Bco/avog, ovo/xa xvqiov. t~]v dk Tovqxcov dgxVY^^ °^ ^-"^^ 'lovortriavov
zov BöojioQov ijiögdi^as. C^rsi iv reo BöonoQog.
5) BöonoQog, jiohg jisqI rov 'ElXrjajiovxov i]v Bd)'/_avog 6 Tovqxo; eju
'lovozifiavov ßaadsojg inögütjoei'.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 349
von Byzanz zurück. Bei diesem fehlt aber im Artikel B6o:iooog
und überhaupt im ganzen Lexikon jeder Hinweis auf diese Talsache
und auf die Zeit lustinos' II. Beiläufig erwähne ich — nicht als
Argument von besonderer Bedeutung, sondern nur der Ordnung
und Vollständigkeit halber — , daß bei Suidas dieser Kaiser selbst
nirgendwo genannt ist; wo bei ihm ' lovoxTvog xorkommt, ist stets
der erste Inhaber dieses Namens gemeint. So ergibt also auch
diese Überlieferung einen Beleg dafür, daß Stephanos sein Werk
nicht nach lustinians Ausgang geschrieben haben kann.
Ich lasse nunmehr einige Beiträge zum Text einiger Stellen
der Ethnika folgen, die mir der Erklärung oder Heilung zu bedürfen
scheinen.
Völlig rätselhaft ist zunächst der Artikel 'Adodv)] S. 27, 14:
'Adgav)], nohg Ogaxijg, // jluxoov vtteq zfjg BsQEvixi^g xehai,
(hg OeoTiojUTzog. UoAvßiog ök did xou rj zi]v jueo7]v ?>.eysi Iv
TOioy.aidexdr)]' 'Adg/jv)]. rö Idvixöv 'AdQi]viTr}g , d)g ZviqvYj
2!vi]vm]c, 2eh]vi-i ZeX^jviTi-jg. tovtojv xä f.iaQTvqia Iv xoTg oixeioig.
övvarai ök y.al 'AÖQijraTog, (hg KvQi]vaTog IIe?Jj]vaiog Mitvh]-
vdiog. diöcooi de y Teyvi] y.al rö 'AdQ7]vevg, (bg IIsXXr]vevg. Eine
Stadt oder einen Ort oder, um einen an sich vielleicht möglichen,
wenn auch unwahrscheinlichen Fall zu setzen , ein Gebiet des
Namens BeQEvixt] gibt es in Thrakien nicht. Diese Tatsache
macht die Stellung des Relativsatzes // juixqov vtieq Tfjg BsQevixrjg
xeixai hinter jioXig &Qay}]g sehr verdächtig. Von vornherein wird
man aber an der Ursprünglichkeit des Einschiebsels festhalten und
den Fehler an einer andern Stelle suchen wollen. Wer dieses
Vorgehen billigt, muß zugleich schließen, daß durch den Relativsatz
ihrer Lage nach eine andre Stadt des Namens Adgdvi] in einem
andern Gebiet bezeichnet wird, auf welche die gekennzeichnete
Eigentümlichkeit zutrifft; die Bestimmung des Landes selbst ist in
unserer Überheferung untergegangen. Stephanos kennt in seinem
allerdings arg verstümmelten Artikel S. 164, 3 sieben Städte dieses
Namens, die freilich nicht alle von ihm müt gleicher Deutlichkeit
bezeichnet werden. Unsere moderne Forschung vermag seiner Liste
■vielleicht noch die eine oder andere hinzuzufügen ^). Sucht man die
Umgebung eines jeden dieser Orte ab, soweit sie einwandfrei be-
stimmt sind, so stößt man in keinem Fall auf ein Topographicum
des Namens Adrane, wohl aber in der unmittelbaren Umgebung
1) Vgl. die Einzelartikel in der Realeiicykl. III 280 ff.
350 B- A. MÜLLER
der Stadt Berenike in der afrikanischen Pentapolis auf einen ganz
ähnlichen Namen. Auf der Peutingerschen Tafel erscheint ganz
nahe bei diesem Orte, fast senkrecht über ihm in die Karte ein-
getragen , der Ort Hadrimiopolis ^) , der an andern Stellen mit
folgenden Namensformen bezeichnet wird: Itin. Anton, p. 67, 2
Adriane (67, 1 Beronice); Hierocl. synecd. p. 733, 2 "AÖQiavri
(733, 3 Begovixr]); Ravenn. p. 137, 17 Adriani (137, 18 Ver-
meide), p. 353, 14 Adrianopolis (353, 13 Vcrnicide); Ravenn.
Guid. p. 522, 12 Hadrianopolis (p. 522, 11 ■Vernicida). Diese
Stadt, das heutige Soluk, führt also in unserer Überlieferung
neben dem längeren auch den kürzeren Namen Adriane. Sie liegt
nordnordöstlich von Berenike; zur Bestimmung dieser Lage wird
die Präposition vjisq verwendet, welche häufig zur Bezeichnung
von Lagen geographischer Punkte im Verhältnis zu anderen
Orten gebraucht wird; angesichts des vorliegenden Artikels aus
Stephanos Byzantios darf wohl darauf hingewiesen werden, daß
sie beim Periegeten Pausanias unter anderem auch im Sinne von
, nördlich" erscheint^). Diese Umstände in ihrer Gesamtheit gestatten
wohl, die Schwierigkeiten in dem vorliegenden Artikel des Lexiko-
graphen zu lösen oder doch wenigstens aufzuklären. Stephanos fand
in seiner Quelle für dieses Stichwort oder in den Materialien für die
Zusammenstellung seines Werkes die Form Adgävt] als Namen
für die Stadt, welche wie in der Tabula Peutingeriana /jUxqov vueq
rrjg BsQEvixrjg lag, oder beging bei der Niederschrift einen ent-
sprechenden Irrtum und behandelte diesen und den thrakischen
Ort in einem Artikel. Die hier vorgetragene Ansicht wird dadurch
gestützt, daß Stephanos auch sonst beim Excerpiren seiner Quellen
und der Zusammenstellung seines Textes sich ähnliche Fehler und
Nachlässigkeiten zuschulden kommen ließ; W. Schmid') hat
einige bezeichnende Beispiele zusammengestellt. Seit der diocletia-
nischen Provincialorganisation ist das Gebiet der afrikanischen
Pentapolis die provincia Libya superior oder 7) ävco Aißvr] *). Auch
1) Vgl. H. Barth, Wanderungen durch die Küstenländer des Mittel-
meeres 1 390, 484 ; K.Miller, Itineraria Romana 878. In der Realencyklo-
pädie ist der Ort unberücksichtigt geblieben.
2) A. Rüger, Die Präpositionen bei Pausanias, Diss. Erlangen
1889 S. 50. E. Reitz, De praepositionis v.Teß apud Pausaniam periegetam
usu locali, Diss. Freiburg 1891 S. 7flf.
3) A. a. 0. S. 889.
4) Vgl. Provinc. laterc. Veron. 1, 3. Not. dign. or. 1, 81. 2, 25. 23,
zu STEPHANOS BYZANTIOS 351
bei Stephanos heißt das Gebiet Aißvt]^). Ich ergänze daher, was
er bringt, folgendermaßen: 'Aögavt] , noXig {Aißvrjg), fj juixqov
VJieg Ti]q Begsviy.ijg xeixai. {eori xal ^Adgavt] oder äXXi] de
jioXig oder mit ähnhcher beim Autor gebräuchlicher Wendung)
Ogaxrjg, cbg OeonofXTiog. IloXvßiog de öid rov r/ rt]v juearjv
XeyeL iv igioxaiöeyAzt]' 'Aögip'}]. Die Citate aus Theopomp, der
die Namensform 'Adgdv7] hatte, und aus Polybios beziehen sich
nur auf den thrakischen Ort. Jener ist nie auf die Pentapolis und
ihre Städte, insbesondere nie auf Euhesperides oder Berenike zu
sprechen gekommen, soweit man aus den erhaltenen Resten seiner
Werke einen Schluß ziehen kann; dieser hat gleichfalls in seinem
13. Buch nie Topographika der Pentapolis berührt, wohl aber an
mehreren Stellen thrakische Orte erwähnt^).
Im Anschluß an diese Stelle darf vielleicht eine sehr schöne
Ergänzung von A. Westermann, von der Meineke in seiner Ausgabe
keine Notiz genommen hat, und die auch sonst nie beachtet worden
ist, wieder in ihr Recht eingesetzt werden: S. 558, 12 2!avgo/.idTai,
E'&vog "Ivöixov. xal ^ay^aXizrig xohiog. 'xaxä tovtov tov 2!aya-
Xirrjv xÖXjiov xeTvxai neXdyioi v^ooi ejixa . Um den ersten und
zweiten Teil dieses Artikels miteinander einigermaßen in Einklang
zu bringen, war schon L. Holstenius ^) auf den Ausweg verfallen,
statt "Ivöixov zu schreiben Agaßtxov. Nun erscheinen aber die
Zavgofidxai durchgängig als skythisches Volk*), die Zay^aXixai
als indischer Stamm. So drängt sich hier die Annahme auf, daß
zwei Artikel in einen verschmolzen wurden. Ursprünglich dürfte
der Text ungefähr gelautet haben:
2!avgo/xdxai, e&vog 2xv&lx6v
ZaiaXixai, k'd'vog 'Iv&ixöv. xal ^^a^aXirrjg xöXnog xxX.
Als verderbt erkannt, wenn auch noch nicht geheilt ist der
Artikel BiXßiva, der in unsrer Überlieferung hinter Bi'&vojioXig
2. 9. Pol. Silv. prov. 10, 5, chron. I p. 542. Zosim. II 33. Hierocl. synecd.
732, 8. S. auch J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung I ^ 462.
1) Vgl. z. B. S. 159, 11. 164. 6. 184, 19.
2) Vgl. S. 868, 26—869, 7 H. = S. 274, 10—15 B.-W.
3) Notae et castigationes in Stephanum Byzantium de urbibus,
1684 S. 286.
4) Vgl. die Lexika, besonders das allerdings einer kritischen Sichtung
bedürfende Material von R. G. Latham bei W. Smith, Dictionary of Greek
and Roman geography II 925.
352 B. A. MÜLLER
und Bloa und vor Bioahia auftritt (S. 170, 14): BiXßiva nohg
IJsQoix/j. TO i&vixöv BtXßivdnjg (bg Atyivdr^jg. Schon A. Ber-
kelius hat in seiner Ausgabe (1694 p. 225) zu diesem Artikel be-
merkt: liic aliquid monstri laterc mcridiana Jucc clarius est.
Die von ihm angeführten Argumente , die heute auf Grund eines
sehr vermehrten Materials nachgeprüft werden können , sind zu-
treffend : unsere gesamte ziemlich reichhaltige Überlieferung über
persische Geographika der Antike sowie über persische Glossen
bei den Alten i) bietet nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür,
daß eine im Sinne des Lexikographen persische Stadt des Namens
Bllßiva in den Bereich der Realität gehört. Ferner ist, worauf
nach Berkelius erneut Carl Otfried Müller in seiner Erstlings-
schrift ^) aufmerksam gemacht hat , wesentlich , daß die von
persischen Städte- und Ortsnamen abgeleiteten Ethnika in ganz
anderer Weise gebildet werden. Wie diese Bildung erfolgte, darüber
belehrt uns der Artikel 'AdagovTioXig (S. 26, 5): 'AöuQovjioXig,
nöhg UeQOiTi't], cog Maqy.iavog iv neginXco rov IJsqoixov xöXnov.
6 jioXiTfjg 'AdaQOJto?Jn]g , d)g 'H)d07io?drt]g, 'HcpaiorojioXmjg, reo
TEyvixcp Xoym, ei ju^] ocpeiXei reo Usqoixcö rvjico, (hg Kajußvörjvög
Zaxprjvog IlaQairaxrjvog^). Den Weg zur Beseitigung der Corruptel
haben gleichfalls Berkelius und C. 0. Müller gezeigt, indem sie den
Ort BiXßiva mit dem peloponnesischen BeXßiva identificirten :
jener las Aaxojvix)) ; dieser schlug IlEXoTiovvrjOiayJ] vor, bemerkte
dazu: Gentile Alyivdrtjg forma Peloponnesris propria memoraf
Stcphaniis s. vv. Kdmvva, Be/ußiva und verwies auf den Ar-
tikel 'AfKfiyevEia (S. 89, 10): Ajug^iyEveia, jioXig ^leoorjviaxrj.
.... TO eOvixov Ajuq)iyEVEidr'i]g diä rov üeXoTiovvrjoiov yaqax-
rijoa fj xal AfiepiyEVEvg. Die Gleichsetzung von BiXßtva und
BkXßLva ist richtig; Stephanos hat an anderer Stelle (S. 161, 12),
irrigerweise den peloponnesischen Ort und die südsüdwestlich vom
Vorgebirge Sunion gelegene Insel *) von gleichem Namen zusammen-
werfend, BeXßiva einen besonderen Artikel gewidmet: BeXßiva,
noXig Aaxcovixrj , Uavoaviag öyöSo) [VIII 35, 4]. 'AgzEjui.dcoQog
vYjOOv avriqv (ptjoi. xb Eurixor BEXßnn']ri]g (bg Atyivrjxiig. Ein
1) Vgl. P. de Lagarde. Gesammelte Abhandlungen 186(3 S. 147 ff.
2) Aegineticorum über 1817 S. 91 f.
3) Vgl. auch S. 155, 5. 175, 5. 229, 12. 351, 11. 430, 1. 572, 23 und
häufig.
4) E. Oberhummer, Realencykl. III 198.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 353
kurzer Überblick über dieses peloponnesische Belbina dürfte gestatten,
eine Verbesserung des überlieferten nöXig IJegoixi'j zu finden , die
vielleicht einleuchtender und leichler als die früheren Vorschläge ist.
Unter dieser topographischen Bezeichnung, deren Namensform in
unserer Überlieferung schwankt , muß ein Ort im Grenzgebiet
zwischen Lakonien und Arkadien, der sogenannten BeJ^juivärig,
verstanden werden, der in der Nähe des Berges Ghelmos zu loka-
lisiren ist. Dieser Berg selbst mit seinen Resten von allen Be-
festigungswerken bildete das von Plutarch ^) erwähnte tieqI rrjv
Belßivav 'Ädrjvaiov und war geradezu die Akropolis des Platzes 2).
Ort und Gegend werden von Pausanias^) zu Lakonien gerechnet,
eine Angabe, die zunächst nur als für das Zeitalter des Periegeten
gültig bezeichnet werden darf. Das Gebiet war fortgesetzt ein
Gegenstand des Streites zwischen Sparta und Arkadien und wird
gerade deshalb regelmäßig in unserer Überlieferung erwähnt *) ; bald
gehörte es zur nördlichen, bald zur südlichen Landschaft. Die
Arkadier nahmen es als ihnen eigentlich und von altersher gehörig
in Anspruch: Paus. VIII 35,4 Xeyovoi jiiev dt] ol 'AgyAdeg xrjv Bele-
/xtvav Trjg ocperegag ovoav ro ägyaiov dnorejueo'&ai Aaxedaijuoviovg'
Mysiv de ovx elxöra scpaivovxo fxoi y.al ulXmv evexa xai judhora oxi
fxoi öoxovoi SrjßdioL /^?;(5' dv (Bekker; ixY]de Hdschr. ) roüro eXaooo-
fxevovg nsQUÖeXv zovg ^ÄQxdöag, et oq)ioiv eoeo'&ai ovv rw öixaiq)
ro STiavoQßojfia 8f.ieX?<.ev. Belbina kann also auf Grund dieser Lage
der Dinge mit demselben Recht als lakonische und als arkadische Stadt
bezeichnet werden. Nun sind als südlichster arkadischer Stamm die
Parrhasier zu bezeichnen. Der Kern ihres Gebietes ^) liegt südöstlich
vom Lykaion; sie füllten den westlichen und südlichsten Teil der
Ebene von Megalopolis, nach dessen Gründung ihre Ausdehnung nach
1) Cleom. 4 i>i TOVTOV Klso^iiv^ itgürov ol scpogoi ;iE^in:ovai xaza?.>]ip6-
fiBPOV ro TiEQi rtjv BsXßivav /i{}7'jvaiov. if.ißo?.i] ds zfjg AaHon'ixfjg xo yjaqiov
iazt xal zöze jzgog zovg Meyalojiolizag fjv in:i8iH0v.
2) Vgl. darüber auf Grund eingehender Autopsie W. Loring, Journal
of Hellenic studies XV 1895, 36 ff. S. auch Blümner zu Pausan. III 21, 3
sowie J. Kromayer, Antike Schlachtfelder I 205f. 211.
3) III 21, 3 zijg . . '/cogag zfjg Äay.coviHijg t) Belz^dva fiähoza ägdea&ai
ns(pvxEv.
4) Vgl. die Einzelnachweise-bei E. Oberhummer, Realencykl. III 198
sowie Frazer zu Pausan. III 21, 3, H. Blümner zu Pausan. VIII 35, 4.
5) Vgl. Frazer und Blümner zu Pausan. VIII 27, 4. Hiller von
Gaertringen IG V 2 p. VIII 83—144.
Hermes LIII. 23
354 ß- A. MÜLLER
Lakonien und nach Osten zu natürlicherweise etwas eingeschränkt
gewesen sein muß. Daß zu Thukydides' Zeit ihr Gebiet an die Skiritis
stieß, lehrt, was dieser Geschichtschreiber zum Jahre 421 über den
Zug der Spartaner gegen to iv KvyeXoig Tslxog berichtet, das sich
leider nicht topographisch fixiren läßt (V 33): Äaxedaijuovioi de
rov avrov ß^egovg Tzavdrjfxel ioTgarevoav . . . Trjg ''AgyMÖiag ig
UaQQaoiovg Maviivecov vjirjxoovg öviag xara ordoiv ejiixaXe-
oa[j,EV(üv ofpäg, afia de zb ev KvipeXoig zeTy^og ävaiQiqaovxeg, rjv
övvcovrai, o ereixioav Mavnvrjg xal avrol ecpgovgovv. ev ttj ITag-
gaoixfj xeijuevov eni rf] 2!xiQizidi rrjg Äaxcovixrjg. Das hier er-
wähnte ev Kv^ieXotg xelyog, sowie KvxpeXa selbst, das man durch-
aus nicht mit dem Kvx^eXa zu identifiziren braucht, welches Nikias
h roTg'ÄQxadixorg (Athen. XIII 609 E = FHG IV 463) zu Kypselos'
Geschichte nennt ^), läßt sich topographisch nicht fixiren; aber gleich-
wohl kann man aus der thukydideischen Darstellung schließen, daß
421 das Gebiet der Parrhasier an die Skiritis stieß. Diese selbst,
ein rauhes Bergland, lag zwischen dem oberen Eurotas und dem
Oinustal^). Das Gebiet der Parrhasier berührte also einstmals und
zwar im Grenzgebiet der Skiritis Lakonien , von dem die Alymig,
der nördlichste Grenzgau, früher arkadisch gewesen war, während
die südlich davon gelegene BeXjuivaTig von altersher nach einem
oben ausgeschriebenen Zeugnis noch später als altarkadisches Land
in Anspruch genommen wurde, Soll nun ein bestimmter arkadischer
Stamm als Herr dieses Gebiets, als Herr insbesondere von Belbina
oder, um die hier in Frage kommende Namensform zu brauchen,
von Bilbina bezeichnet werden, so können das nur die Parrhasier
sein. Ich schlage daher nunmehr vor, bei Stephanos zu lesen:
BiXßiva, jiöXig UaQQaoixr} und verweise wegen des Adjektivums
auf Thucyd. V 33. Die Änderung dürfte sich durch die Erwägung
1) YgL E. Curtius, Peloponnesos I 339, 16. Hiller von Gaertringen
a. a. 0. 128, 90.
2) VgL E. Curtius a. a. 0. 1 18. II 217. 263 ff., Inschriften von Olympia
91—98, bes. 95—97, sowie R Lattermanns Karte: IG V 1 tab. VII. Diesen
Feststellungen gegenüber ist unzutreffend und irreführend die jüngst vor-
gelegte Hypothese E. Ziebarths in Lübkers Reallexikon ^ 956 a, der die
Skiritis im oberen Eurotastal allein unterbringt; sie widerspricht nicht
nur unseren sämtlichen Zeugnissen und Nachrichten über dieses Gebiet,
sondern ist auch an sich unmöglich: im oberen Eurotastal läßt sich, wie
ein Blick auf die Karte lehrt, eine so umfangreiche Grenzlandschaft, wie
die Skiritis es war, schlechterdings gar nicht ansetzen.
I
zu STEPHAN OS BYZANTIOS 355
empfehlen, dafs IIeqoixi] sehr leicht aus dem immerhin seltenen
und wenig gebräuchlichen IJaQQaoix/j verderbt werden konnte.
Aus dem Umstände selbst, daß an der einen Stelle die Stadt
als lakonischer, an der anderen als parrhasischer Ort bezeichnet
wird, wird man kein Argument gegen die vorgetragene Conjectur
ableiten können: der Artikel 'A&ajLiavia lehrt, daß Stephanos bei
seinen Formulirungen solchen doppelten Zuweisungen auch unter
ein und demselben Stichwort Rechnung trug (S. 33,10): "A^ajua-
via, xwQa 'IXXvQiag, ol de OeooaUag. Andrerseits kann die Lesung
BiXßiva, nohz IlaQQaoiy.i] noch durch eine andere Erwägung ge-
stützt werden. Schon längst ist beobachtet worden, daß bei „spä-
teren" Autoren parrhasisch soviel wie arkadisch bedeutet^). In
glücklicher Weise hat Hiller von Gaertringen ■'^) darauf hingedeutet,
daß ein Vers des Kallimachos der Ausgangspunkt dieses Gebrauches
ist (hymn. 1, 10):
ev de oe Uaggaoirj 'Pect] zexev.
Wer in diesem Vers Uaggaoia im weiteren Sinn verstand, setzte
es mit 'AgyMÖia in v. 7 gleich. Mit noch besserem Recht kann
neben diesem Kallimachosvers eine von Aristaios handelnde Stelle
des Apollonios Rhodios als Beleg für die Gleichung „parrhasisch
= arkadisch" genannt werden (II 520 ff.):
€v de Keq) xazEvdooaro, Xaov äyeigag
UaQQaoiov, roi jceg re Avxdovog eloi yeve^^Xrjg.
Unzutreffend ist es dagegen, für diesen Sprachgebrauch auf Pind.
Ol. 9, 143 zu verweisen, wo der Dichter sich nur auf die Parrhasier
selbst bezieht.
S. 240, 3 Agvg, noXig 0Qqxr]g, 'ExaraXog EvQCOJtf]. eori xal
TioXig r&v (Berkelius; Ttxcoxoioxcbv AR; Jircoxcoorcö V) Oivcotqcov.
6 noXixrjg Agvevg xal Agvfjig (Meineke; Agvoig codd.). eort xal
xcojui] KiXuxiag Ttagd (RV; Avxiag enl A) reo 'Aqco TTorajuco.
Gegen die Überlieferung über die Lage des kilikischen Ortes nimmt
der Umstand ein, daß ein Fluß '^^d? nirgends sonst erwähnt wird,
ein Bedenken, das deshalb um so schwerer wiegt, weil der Nachrichten-
1) Pape- Benseier, Wörterbuch der griechischen Eigennamen II',
lUl^. Blümner zu Pausan. VIII 27, 4; vgl. ferner Serv. Aen. VIII 344.
Steph. Byz. S. 120,7 (Eustath. in Dionys. Perieg. 414); Schol. Pind. Ol.
9, 143. Schol. Apoll. Rh. II 521.
2) A. a. 0. p. VIII 137 a
23*
356 B. A. MÜLLER
bestand unserer Quellen über Topographika Kilikiens im Altertum
außerordentlich reichhaltig ist. An Kilikien selbst als dem Land,
in welchem das Dorf lag, wird man wohl gegenüber Lucas Hol-
stenius ^), der von der Lesart Ävxiag ausging und Maiävögcp ver-
mutete, festhalten dürfen. Auch Gl. Salmasius, gegen den sich
Holstenius seinerzeit wandte, hielt KiXiyJag für richtig und schrieb
Uivagcp (sie), indem er annahm, hier sei der am Amanos ent-
springende und bei Issos in Kilikien ins Meer mündende Küstenfluß
von allerdings recht geringer Länge seines Laufes gemeint, der von
Stephanos S. 340, 4 u. 'looog, nohg juera^v 2^vQiag xal Kihxiag
genannt und sonst im Altertum nur wegen der Nähe des Ortes
der Alexanderschlacht erwähnt wird. Berkelius billigte dann 1694
in seiner Ausgabe diese Lesart mit folgenden Worten: cjuae lectio
ianto confidentiiis admittcnda est, qiiia in 3ISS ante rö 'Äqm
lacuna conspicitur. Schon dieser Umstand — Meineke sagt aller-
dings nur, daß der codex Vossianus zwischen tm und 'AqÖ) eine
Lücke aufweise, deren Umfang er nicht bestimmt — lehrt, daß
gegenüber dem nur hier überlieferten Wort 'Aqm eine Gonjectur
berechtigt ist. Eine leichtere Änderung als das von Salmasius vor-
geschlagene Uivagcp dürfte 2!dQcp sein. Neben dem Pyramos und
Kydnos erscheint der häufig erwähnte Saros^) als einer der wich-
tigsten Flüsse Kilikiens von einer außerordentlich beträchtlichen
Stromlänge. Wenn {Z)rjLQ<x> zur Ausfüllung der Lücke sich als nicht
genügend erweisen sollte, schlage ich {2!iv)dQcp unter Verweis auf
Ptol. geogr. V 8, 4 Zdqov y 2^ivdQov jiozajuov ixßoXai vor. Selbst
wer diesen Vermutungen nicht beistimmt, wird doch zugeben müssen,
daß der 'Agög Tzoxajuög nur noch als ungenügend beglaubigt in
unseren Lexika geführt werden darf.
Der Heilung bedarf wohl auch der Artikel WvUa (S. 703, 10):
WvlXa yojgiov juera^v 'HoaxXeiag xal rov Uovxov. MeviTcnog iv
jieoiTilcp rov TIovzov '' dno KQr\viboiv eig Wvllav xcoqiov orddia
x , ano Wv}Ji.i]g ycoQiov stg Tiov nöXiv xal noxafxbv BiXXaiov
ordöia n? x6 edvixöv WvXXdxi^g. Gemeint ist der kleine Ort
1) A. a. 0. 105.
2) Vgl. die Belege bei Pape - Benseier IP 1348; s. Steph. Byz.
S. 24, 21flf. ; 547,5 'PoT^og, imvsiov Kihxiag sjii taig ixßokaig xov Sägov no-
rafiov. S. femer W. M. Ramsay, Historical geography of Asia minor
(Royal Geographical Society, Supplementary papers IV) 1890, 18. 53.
221. 276. 289. 310. 311. 385.
zu STEPHANOS BYZANTIOS 357
Wv2.Xa^) an der bithynischen Küste zwischen dem pontischen Hera-
kleia und Tios'-). Psylla selbst liegt nicht zwischen Herakleia, das
seinerseits selbst eine ponlische Hafenstadt ist, und dem Meere.
Der Text, der in der überlieferten Form sachlich unmöglich ist,
mu(.^ also verderbt sein. Schon Gl. Salmasius^) hatte die Meinung
ausgesprochen, es sei zu lesen WvXXa iooqiov jUEia^b 'IlQaxXeiag
xal Tiov. Näher dürfte unserer Überlieferung folgende Vermutung
kommen : WvXla ycogiov fiera^v 'HgaxXeiag xcü (Tiov) tov IIovtov.
Zur Empfehlung der Conjectur verweise ich auf Steph. S. 624, 20
Tiog, jioXtg JJafpXayoviag tov IIovtov. Ich führe ferner aus dem
gleichen Autor folgende Stellen an: 77, 9 'AXom] . . . TQiTf] (seil.
noXig) TOV IIovxov ; 96, 2 eotiv "Avd^eia xal tov IIovtov JioXig
TiQog TTj Ogfix}]; 347, 13 eoTi xal tov IIovtov KaXddovoa; 882,
19 Kgejut], TToXig IIovtov ; 571, 8 Zivoin)], noXig öiacpaveaTaTYj
TOV IIovtov; 642,12 Tvqitolx}], noXig IIovtov; 667,3 (Piveiov,
TOJiog TOV IIovtov.
Hamburg. B. A. MÜLLER.
1) Vgl. Arrian. pevipl. ponti Euxini 19 (= Anon. peripl. p. Eux. 13).
Ptol. geogr. V 1, 7. Marcian. epit. peripl. Menippi 8. Tab. Peut. segm.
9, 4 mit der Form Scylleum.
2) Vgl. außer den zu Psylla angeführten Stellen besonders Strabo
XII 542. 543. 565. Mela I 104. Memnon 16.19 (FHGIII 535 f.). Ptol. geogr.
V 1, 7. Tab. Peut. segm. 9, 5.
3) Plinianae exercitationes 880.
NACHTRÄGLICHES ZUR EPIKUREISCHEN
GÖTTERLEHRE.
In d. Z. LI 1916 S. 568 ff. sprach ich (S. 586, 1) die Erwartung
aus, daß wir die Philodemschrift über die Lebensweise der Götter
von H, Diels bald in verbesserter Gestalt erhalten würden. Diese
Hoffnung ist durch seine Ausgabe und Erläuterung des Textes in den
Abhandlungen der Pr. Akad. d. Wissensch. 1916 Nr. 4 und 6 aufs
glänzendste erfüllt. Auch meine Arbeit erwähnt er dort in freund-
licher Weise. Aber er kommt doch in Hauptpunkten zu wesentlich
anderen Ansichten als ich, und auch Auffassungen von mir, denen
er in Anmerkungen zustimmt, widerspricht er zum Teil im Texte,
wahrscheinlich weil seine Arbeit fertig vorlag, als er meine zu
Gesicht bekam. Da es sich um wichtige Punkte handelt, die ich
endgültig klargestellt zu haben dachte, möchte ich hier nochmals
auf sie eingehen, um so mehr da ich auf Grund der Dielsschen
Veröffentlichungen auch meine Begründung an einigen Stellen zu
ändern habe. Höflichkeitsumschreibungen bei der Darlegung unsrer
Gegensätze erläßt mir der hochverehrte Gelehrte gewiß gern.
Der wesentlichste Punkt, in dem wir voneinander abweichen
und um den sich unsre sonstigen Meinungsverschiedenheiten grup-
piren, ist seine Ansicht, daß die Epikureer zwei Arten von Göttern
anerkannt haben : die eigentlichen Götter, die in ewiger Glückselig-
keit in der Zwischenwelt wohnen, und eine Art sekundärer Gott-
heiten, die Gestirngötter, wie Sonne und Mond, die wie diese
Gestirne unsrer Welt angehören und, an deren Geschick geknüpft,
mit jenen höheren Göttern nicht gleiche Seligkeit und Unvergäng-
lichkeit genießen. Der Zwiespalt, den diese Unterscheidung in die
Götterlehre der Epikureer bringt, soll in der Unklarheit ihrer Be-
richte zum Ausdruck kommen, und bedeutende Vertreter der Schule,
wie Apollodor, der Gartentyrann, und sein Schüler Demetrios Lakon^),
1) Dieser erklärt Pap. 1055 Col. 16 ov] y.oofiov &e6v, ovo' ,"Hhov t' axd-
fiavza aeXrjvrjv tb 7ih]&ovoav".
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 359
ebenso auch Lukrez, sollen die zweite Götterart ausdrücklich ver-
worfen haben. Ja auch Philodem habe in eigentümlichem Schwanken
sie bald anerkannt, bald geleugnet.
Ehe ich nun auf die Dielsschen Beweisgründe für die Doppel-
natur der epikureischen Götter im einzelnen eingehe, schicke ich
einiges Allgemeine voraus, das mir gegen seine Ansicht zu sprechen
scheint. Ich könnte mich gegen die epikureischen Gestirngötter
auf Augustin berufen, der De civ. dei XVIII 41 (Us. S. 229, 23 ff.)
sagt: Epicurus . . . soleni vel ulliim siderum deum esse non
crcdens, ebenso auf Plutarch Adv. Colot. 27 p. 1123A ol . . .
(pdoxovreg ju^]öe röv yXiov e'juifvxov elvai jurjde rrjv oeXtjvtjv,
während Epikur selbst ausdrücklich (Us. 59, 16) Gott für ein Cfpov,
also für e^ipvyov erklärt. Plutarch hat wahrscheinlich eine aka-
demische Schrift gegen die Epikureer, die älter als ApoUodor war
und sich gegen den Epikurschüler Kolotes richtete, benutzt. Über-
haupt, wenn Epikur irgendein Schwanken in seiner Verwerfung der
Sterngötter zeigte, würden seine Gegner sicher das gegen ihn in
erster Reihe ausgenutzt haben. Aber weder bei den Akademikern
noch bei den Stoikern ist eine Spur von einer solchen Kritik er-
halten. Indessen bedarf es solcher mittelbaren Zeugnisse nicht.
Epikur hat sich in seinen Briefen selbst mit genügender Deut-
lichkeit ausgesprochen. So heißt es im ersten § 76 (Us. S. 27,
17 ff.) in bezug auf die Himmelserscheinungen: fXYire XeiTOVQyovvjog
xivog vojuiCeiv öeT yiveod^ai xal diazatrovrog fj öiard^avTog xal
d.[xa ri]v jiäoav fxaxaQioxrjja e^oviog juetd ätp^agoiag, und wenn
man einwenden sollte, hier sei von den eigentlichen Göttern die Rede,
nicht von den sekundären, so sagt der zweite Brief § 97 (Us.
S. 42, 11 f.) allgemein: xal fj ■&sTa cpvoig nqbg ravra (zu dem
gesetzmäßigen Umlauf der Gestirne) /utjöa/uf] nQogayeo&o). In der
Tat: die Epikureer hätten ihre ganze Theologie auf den Kopf stellen
müssen, wenn sie in irgendeiner Weise göttliche Wesen zu den
Himmelskörpern in eine nähere Beziehung gesetzt hätten. Denn
Seligkeit, Anfanglosigkeit, Un Vergänglichkeit sind die wesentlichen
Eigenschaften der Götter. Darum werden sie in die Zwischenwelt
versetzt, wo diese Eigenschaften geschützt sein sollen. Dagegen
ist unsre Welt und mit ihr Sonne, Mond und Sterne entstanden
und vergänglich. Das gleiche Los würde also die Sterngötter
treffen ; sie könnten somit nach epikureischer Auffassung keine
Götter sein. So geschieht denn auch an keiner Stelle, wo Epikur
360 R- PHILIPPSON
von Sonne, Mond und Sternen spricht, der Sterngötter die leiseste
Erwähnung. Ebensowenig in den übrigen Quellen, wenn ich von den
Herculanensia fürs erste absehe. Lukrez vollends schließt ausdrücklich
jedes göttliche Element von den Gestirnen aus. So an der Stelle,
wo er ankündigt (V 76 ff.), er werde darlegen, wie die Bewegungen
der Sonne und des Mondes von der Natur gelenkt würden, ne . . .
aliqua divom volvi rafione putemus. Wer das behaupte, verfalle
dem alten Aberglauben. Und nicht minder deutlich erklärt er
V 114ff.: ne forte rearis terms et solem et caelum, mare, sidera,
hin am corpore divino dehere aeterna manere . . . qtiae
procul iisque adeo divino a numine distent, inque deum
numero quae sint indigna videri, notiiiam potius praebere
ut imsse pidentiir, quid sit vitali motu sensuque remotum.
Ferner V146f.: illud item non est ut possis credere, sedes
esse deum sanctas in mundi partihus ullis. Und wenn auch
Lukrez hier Darstellungen jüngerer Epikureer gefolgt sein sollte,
ist es glaubhch, daß diese eine Lehre für „alten Aberglauben"
erklärt hätten, die irgendwie von ihrem vergötterten Meister
vertreten worden wäre? Dazu bedürfte es zwingender Beweise.
Untersuchen wir, ob die von Diels angeführten Stellen solche
bieten.
„Auszugehen ist", sagt er Nr. 6 S. 29, „von dem Scholiasten der
KvQiai do^ai bei Diog. X 139, der zwei Arten von Göttern unter-
scheidet, ovg juev xar dgidjudv vcfsorcöiai;, ovg de yMxä öjuoeideiav
EX TYJg ovvexovg etiiqqvoeok rcöv djuoicov elöüiXcov im rö avxo
djioTETekEojuEvcov, äv&QcojioEidEtg. Es freut mich, daß er meine
Auffassung von ovg jLih' — ovg ös als Zweiteilung nicht des Sub-
jektes, sondern des Prädikates in Anm. 3 billigt und durch zwei
weitere Beispiele belegt^). Um so befremdlicher ist, daß nach seiner
Meinung doch zwei Arten der Götter unterschieden werden sollen.
Damit hätten wir wieder die von uns beiden abgelehnte Zweiteilung
des Subjektes. Daran ändert auch nichts, wenn er fortfährt: „Zunächst
macht es keinen großen Unterschied, ob man zwei Arten von
Göttern als objektive Wesen oder von Göttererscheinungen als
subjektive q:avtaoiai unterscheidet. Denn es kommt hier nur auf
die Entstehung der Güttervorstellungen an." Denn nach meiner
von ihm gebilhgten Auffassung des ovg [xev — ovg de werden beide
1) Ein viertes gibt Isokr. Helena 1, 1 o'i fiiv — o'i ös, vgl. Zeller
IIa 3 S. 265,5.
ZUR EPIKUREISCHEN GUTTERLEHRE 361
Prädikate y.ar' ägi^judv vcpsoxöjxng und äv&ocoTioeiöelq auf die
Götter im allgemeinen bezogen. Sie werden erkannt einerseits als
Einzelwesen , andrerseits nach der Gleichartigkeit der von ihnen
herrührenden Bilder als menschenähnlich. Aber vor allem ist es
irrtümlich , wenn Diels glaubt , hier werde von der Erkenntnis der
Götter durch cpavTaoiai gesprochen. Sein Fehler ist, dafs er die
wichtigen einleitenden Wörter: (pt]ol rovg 'deovg Xoyco 'd^ecoQrj-
rovg fort- und unberücksichtigt gelassen hat. Diels meint nämlich
des weiteren, nach Epikurs Ansicht erhielten wir von den Göttern
teils reine, teils entstellte, wenn auch ähnliche Bilder (wovon später!);
jene ergäben die Erkenntnis der Götter als Einzelwesen, diese nur
die ihres Gattungswesens. Eine solche Erkenntnis wäre aber keine
logische, wie sie hier nach obigen Worten geliefert werden soll,
sondern eine Erkenntnis durch unser Vorstellungsvermögen {öidvoia).
So bleibt nur meine Erklärung der, wie ich glaube, sehr verkürzt
wiedergegebenen Worte Epikurs übrig. Wir erkennen durch die
Vernunft wohl, daß die Götter Einzelwesen sind (dafür spricht schon
ihre Menschenähnlichkeit), wir können uns aber bei der Beschaffen-
heit der von ihnen zuströmenden eldcola wiederum durch die
Vernunft nur ein Bild ihres Gattungscharakters machen. Nicht also
von einer doppelten Art der Götter noch von einer doppelten Art
ihrer Erscheinungen spricht nach meiner Auffassung Epikur in diesem
Scholion, sondern von einem doppelten Ergebnis unsrer Erkenntnis
ihres Wesens durch die Vernunft. Dazu stimmt auch die Aeliosstelle
(Us. 239, 11 ff.), nach der Epikur alle Götter nur durch die Vernunft
erkennbar nennt, weil ihre Bilder eine zu zarte Beschaffenheit haben.
Von einer doppelten Art Götter ist da nicht die Rede und noch
weniger davon, daß gerade die eigenthchen Götter uns als Bilder
„rein gehaltene Atomcomplexe" senden. Gerade dies wird von
allen Göttern geleugnet.
„Von dieser doppelten Entstehung (der Göttervorstellungen) " ,
fährt Diels S. 30 fort, „handelt Epikur, wie Philodem in der Schrift
von der Frömmigkeit berichtet, folgendermaßen (S. 134 Gomp.) :
.... Tcbv \Ei\d\(X)X(x>\v öfioiav 2.ajußa[v6v]ra)v 1/ y£y£vvrj[jiiev7]]v
xäv i^ v7iEQßd[oe(jog] töjv jLiETa$v [ri]v avr]i][v xar' ägiüpov ovy]-
XQiGiv Öte juev [t?)j'^) ex röJv] avrojv xale{I)v, oxe d\e t)]v ex
Tcbv öjuoiojv.'^ Diels nimmt an, daß hier von einer doppelten Ent-
1) Dieses schon von Gomperz ergänzte ti'jv, das bei Diels fehlt, ist
wohl notwendig.
362 R- PHILIPPSON
Stellung der Göttererscheinungen aus reinen und entstellten
Bildern die Rede ist. Das ist schon nicht sicher. Ich stelle die
vorhergehenden Zeichen unsrer Columne (Z. 2Ü.) ungefähr so her:
sTtioJv d' iyoj [yMi nQOze-
Qov xri\vde ttjv [ov]o-
Taoi\v xal Td[?] (pvoeig
tov]tcov töjv [Ei]d[cü-
Xcü]v
Tag (pvoeig ^) rcöv eIömXcov braucht hier nicht die Götterbilder
im besonderen zu bezeichnen, sondern kann auf die Bilder im
allgemeinen gehen. Diese nennt Epikur bald die aus denselben,
bald aus den ähnlichen stammenden (ovoTaGig oder ovyHoioig),
je nachdem die Bilder eine ähnliche, oder wenn möglich
(also Ausnahmefall) individuell identische Zusammensetzung er-
halten. Das erstere ist, wie ich in d. Z. a. a. 0. S. 569 und 586
nachzuweisen suchte, bei den Götterbildern der Fall, während
die Bilder der irdischen Dinge unter günstigen Bedingungen^)
durch Überspringen der Zwischenkörper ^) die Gegenstände genau
wiedergeben. Daß Philodem im Zusammenhange mit den Göttern,
von denen die Schrift handelt, den Nachdruck auf die nur ähn-
lichen Bilder legt, ergibt sich daraus, daß er entgegen der Reihen-
folge in dem vorhergehenden Participialsatze ex rcbv öfxoicov
ans Ende setzt und nach meiner wohl sicheren Ergänzung weiter
hinzufügt: y.al rijv tovtcov rd^iv ovx äjtoßaXXovxoiv , cjore xal
t6 ovzco TiQayßkv iu7]dajuä)g äora&Eg eJvai. Also auch diese nur
ähnhchen Bilder geben eine sichere Kenntnis, wenn auch nicht
von der individuellen , so doch von der allgemeinen Beschaffenheit
der Götter. Aber auch wenn hier von einer Unterscheidung der
Götterbilder die Rede sein sollte, so bildeten nach dem xäv Z. 8
1) Dieses Wort halte ich für sicher. Auch im Herodotbriefe 48
(Us, S. 11, 10) nennt er die sidcola (pvoeig, ebendort spricht er von ihrer
ovaxaoig.
2) Im Herodotbrief §47 sagt Epikur von den sl'dcaXa im allgemeinen:
TÖ> amiQn) avTCüv /nrjßkv dvztxojizeiv ?] oXiya ävrcxöjiTeiv (das ist also die
i'jisQßaoig zöjv fieza^v unsrer Stelle^ noXloTg (Us. jioU.aTg) ös nal 0.1:1 si-
Qo ig Evdvg ävtixÖTireiv xi.
3) So übersetzt Diels an dieser Stelle richtig tcüv fieza^v, während
er vorher von Überspringen der Zwischenvpelt spricht; doch davon
später!
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 363
die reinen Bilder nur einen Ausnahmefall, der sich im einzelnen
gar nicht feststellen ließe, da wir kein Kriterion haben, um durch
e7iifiaQTVQi]oig die reinen und entstellten Bilder zu unterscheiden.
Jedenfalls träfe aucli dann zu, dafs Philodem nach Maßgabe seiner
Worte die nur ähnlichen Bilder als eigentliche Quelle unsrer Götter-
erkenntnis betrachtete. Da nun auch in der ganzen Umgebung
unsrer Stelle, soweit ich sehen kann, von Gestirngöttern nicht die
Rede ist, glaube ich nicht, daß sie für die Annahme solcher seitens
Epikurs verwertet werden kann ; ebensowenig, wie wir sehen werden,
die Anführung derselben Epikurworte im 3. Buche über die Lebens-
führung der Götter.
Die Metrodorstelle endhch, die Diels heranzieht^), hat mit
obigen Epikursätzen überhaupt nichts zu tun; denn in ihr ist
nicht von einer Unterscheidung der Arten der Göttererkenntnis
oder des Verhältnisses der Bilder zur Erkenntnis ihrer Gegenstände
die Rede, sondern von dem Unterschiede zwischen ewigen und ver-
gänglichen Atomverbindungen (ovyxQioeig). In der Sextusstelle
(Adv. math. IX 44 f.), die Diels heranzieht, wird die Entstehung des
Volksglaubens nicht auf das Erscheinen von Sterngötter- Bildern,
sondern auf die Beobachtung der evxoojuia der Himmelsvorgänge
zurückgeführt. Diese Beobachtung gibt aber nicht, wie Diels meint,
nach Epikur ein unreines Bild der Götterwelt, sondern überhaupt
1) Philodem. jt. eva. fr. 123 S. 138 Gomp. Es ist bedauerlich, daß
die vorhergehenden und folgenden Zeilen so arg beschädigt sind. Ich
lese vorher zweimal fr. 117, 20 und fr. 118, 1 :rtQ6g 8id[?.t]yjiv], nach meiner
Annahme der siöcöXoiv. Fr. 118,21 etwa:
[Ja: zoiovTOiv (pavzaoiMV ejtc-]
voi]av xaza[?.a-
ßsTv] Hai Twv [ex
tov]ra>v y.Qioscov
zov ä](p&aQTOv [si-
vai x\ai jiäv vq\7]-
zov zo\ zä>v [i?£(üj'] elg \ev
ä&Qoi]a/j.a.
Diels ist geneigt, mit mir 123, 12 [ziva] ovyxQioiv zu ergänzen; wenn er aber
meint, es werde damit angedeutet, daß man diesen Terminus nur un-
eigentlich von den Göttern gebrauchen dürfe, so kann ich dem nicht bei-
stimmen, denn ein Drittes neben Atomen und ihren Zusammensetzungen
gibt es nach Epikur für Körper nicht. Da also die Götter keine Atome
sind, müssen sie ovyxQiaeig sein; das ziva würde sie nur als eine besondere
Art dieser bezeichnen.
364 R- PHILIPPSON
keines, da die Götter mit der Lenkung der Gestirne nichts zu tun
haben (vgl. in d. Z. a. a. 0. S. 5 75 f.).
Aber auch der Beweggrund, mit dem Diels die Annahme von
Sterngöttern seitens der Epikureer zu erklären sucht, die Erinnerung
an das Schicksal des Anaxagoras, scheint mir nicht stichhaltig.
Schon Augustin (Us. S. 229, 21ff.) bemerkt, daß im Gegensatz zu
Anaxagoras Epikur ruhig habe in Athen leben können, obwohl auch
er weder Sonne noch Sterne für Götter gehalten habe, und Zeller
(III b* S. 445) meint, der epikureische Deismus habe damals eben-
sowenig Gefahr gebracht wie der erklärte Atheismus. Epikur wußte
auf andere Weise Rücksicht auf die Volksmeinung zu nehmen.
Philodem vollends hatte in einer Zeit, in der der Gonsular und.
Augur Cicero das Gedicht des Lukrez herausgab, gewiß keinen
Anlaß, in so schwankender Weise, wie Diels annimmt, die Stern-
götter bald anzuerkennen, bald zu leugnen.
Sehen wir nun, ob die Stellen unsrer Schrift, auf die Diels
sich stützt, in eindeutiger Weise dafür sprechen, daß nach ihnen
Philodem das Bestehen von Sterngöttern zugegeben hat.
In der achten Columne handelt er von den Wohnsitzen der
Götter und weist ihnen in Übereinstimmung mit seiner Schule die
Zwischenwelt als solche an, wo sie vor jeder, auch der geringsten
Schädigung geschützt sein sollen. Von dorther, sagt er Z. 35 ff.
in leider höchst lückenhafter Überlieferung, empfangen wir reine Vor-
stellungen von ihnen, und fährt Z. 37 fort: ol de jzsqI ti]v yfjv
7taQeniiJ.oXvvovTai rivojv dvoiy.eioreQcov emvoiaig. Diels übersetzt:
„Die Götter aber, die um die Erde (kreisen), werden durch die sich
daneben eindrängenden Vorstellungen von gewissen fremden (Ele-
menten) entstellt". Wenn diese Deutung der Worte richtig ist, so
wäre damit Philodems Annahme von Göttern zweiter Klasse be-
wiesen. Aber schon der Ausdruck ijiivoiaig warnt davor; dieser
bedeutet auch nach Diels' Auffassung nie Anschauungen sinnlicher
oder phantastischer Art, sondern logische Gedanken über verborgene
Dinge. Also nicht die Götter selbst, wie Philodem ungeschickt
sagt, sondern die Göttervorstellungen (ihre vorjoetg) werden auf diese
Weise entstellt. Es steht aber nichts im Wege, tieqI ri]v yijv an-
statt zu dem Subjekt ol de zu dem unmittelbar folgenden Prädikat
zu ziehen und zu übersetzen: „Die aber (die vorjOEig der aus der
Zwischenwelt in reiner Gestalt uns zuströmenden Götterbilder) werden
auf Erden durch falsche Zugedanken entstellt. " Das ist in der Tat
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 365
die Lehre Epikurs : ov yao q^vldrzovoiv {ol noXkol) avzovg, oTovg
voovoiv . . . Ol) yuQ JiQoXTqxpeig eiolv, alV vTtohl]\pEi<; yjsvdeig
ai TCüv noXXan' vtxeo "decbv änocpaoeig (Br. III 123 Us. S. 60, 6 0'.).
Im folgenden bringt nun Philodem ein Beispiel solcher Ent-
stellung, das sich themagemäß mit der falschen Vorstellung von
den Göttersitzen beschäftigt. Ich will der Kürze halber meine Auf-
fassung der zwar, wie so oft bei Philodem, sprachlich oft unge-
schickten und z. T. nur in Bruchstücken überlieferten, aber ihrem
Inhalt nach mir durchaus verständlichen Sätze vortragen. Er geht
dabei, wie Diels vortrefflich zeigt, von gewissen Epiphanien aus, bei
denen Götter in demselben Abstand wie gewisse Sterne und andere
Sternbilder vergötterter Menschen vorgestellt ^) werden. Insonder-
heit werden mit Sonne und Mond ähnlich gestaltete Wesen ver-
knüpft, weil sie auf demselben Abstand vorgestellt werden, obgleich
sie weit größer als jene Himmelskörper sind. Aber auch die
Spiegelbilder sind oft viel größer als die Spiegel, in denen sie er-
scheinen. Wie man aber bei dem Spiegelbild nicht zahlenmäßig
bestimmen kann, wie weit sein Gegenstand von dem Spiegel ent-
fernt ist, so auch bei den Götterbildern, die über die Gestirne hin-
weggehen (vjisgßaiveiv), aus welcher Ferne sie kommen. Es ist
daher falsch, zu glauben, daß diese Göttergestalten mit Sonne, Mond
usw. wirklich verbunden seien {TiaQaßeßXrlodai). „Denn nicht",
schließt er 9, 22 ff., „darf man annehmen, daß die Götter mit
diesen Gestirnen untrennbar verbunden sind und mit ihnen umlier-
wandeln, sondern daß sie, wenn die Objekte , denen sie ihre Ent-
stehung verdanken , auch noch so weit von dem Zwischenraum
entfernt sind , (über die Gestirne) hinweggehen ^) und nicht (oder
1) Nach der Papyruslesung Scotts muß es Z. 41 v^oovvtül (nicht
oQöivtai, wie bei Diels) heißen (ebenso 9, 10 roovfier, Z. 11 vosTzat, Z. 13
voovfXEv). Auch die Sterngötter wären nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern
(pavTaazixal kjiißoXai trjg diavoiag.
2) Diels faßt das vjtsgßalvsiv und v:iEgßaoig (dies auch in der
oben angeführten Epikurstelle) als ein Überspringen der Zwischenwelt
(d. h. wohl des Raumes zwischen dem Intermundium und uns) auf, durch
das die Götterbilder unmittelbar und rein in unsre Seele gelangen. Aber
wie ist das möglich? Um zu uns zu gelangen, müssen sie doch immer
durch unsre unreine Erdatmosphäre gehen, in der sie bei ihrer Zartheit
Veränderungen erfahren. Richtiger übersetzt er die v:^£Qßaoig tcöv ßsza-
§v (Philod. jr. Evo. fr. 118) mit „Überspringen der.Zwischenköri^er". S. oben
S. 362. Es ist das /.itjdkv ävzixöjitEiv Epikurs (Us. S. 10,4 und 11,1) und
366 R- PHILIPPSON
Aielleicht cbg = gleichsam für /o; herzustellen) mit ihnen verknüpft
zu uns gelangen. Daher nennt Epikur, glaube ich {oJjuai hinter
'Emy.ovQov zu ergänzen?), die Bilder bald die aus denselbigen
(Gegenständen), bald die (wie diese Götterbilder) aus ähnlichen
stammenden." Ich glaube, daß die Stelle, so aufgefaßt, in sich
klar ist und den Glauben an Sterngötter schon durch die oben an-
geführten Worte deutlich ablehnt.
Daran schließt sich dann vortrefflich die Erklärung Apollodors
gegen die Wohnsitze der Götter auf Erden ^), und nur so erklärt
sich Philodems unbedingte Zustimmung zu ihr.
Zu dieser Ablehnung der Sterngötter scheinen mir die im
einzelnen durch die lückenhafte Überlieferung getrübten, im ganzen
aber klaren Ausführungen über die Bewegung der Götter zu stimmen
(Gol. 10, 6 ff.). „Denn weder darf man glauben," heißt es da,
„daß sie weiter nichts zu tun haben, als durch die Unendlichkeit
der (Stern) bahnen umherzuwandeln und sich im Kreise zu drehen ;
denn nicht glückhch ist ein solcher, der sich sein ganzes Leben
wie ein Kreisel herumdreht. Noch darf man sie für unbewegt
halten." Mit dem ersten Teile der Disjunktion wird aufs deutlichste
der Sterngott verspottet. Diels vergleicht treffend die ähnliche Ver-
spottung des rotundus, ardens, volubilis deus durch den Epikureer
Velleius (Cic. de nat. d. I 18 und 24), der wahrscheinlich die Schrift
eines Philodem nahestehenden Epikureers oder dessen selbst wiedergibt.
Die folgende, durch eine Lücke von zwei Zeilen vom vorigen
getrennte und höchst zerstückelte Stelle läßt sich leider mit Sicher-
heit nicht herstellen. In der Fassung von Diels ist [xal dC] äg
unmögUch. Diels übersetzt es: „und durch diese (Zuflüsse)"; aber
weder ist die relativische Anknüpfung nach xai (und) möglich, noch
das transire bei Lucrez IV 145 und 247. Meine Ergänzung von Col. 9
Z. 13 ff. s. weiter unten.
1) Ich lese nämlicli 9, 35 rwv xaT[o)t]y.iofzsv(ov [&ecöv] „der (in
Tempeln) angesiedelten Götter\ Vgl. Lukrez V 146 f. illud item non
est, ut possis credere, sedes esse detim sanctas in mundi partibus ullis.
Auch 10, 3 stand ursprünglich (nicht durch eine Interpolation des Schrei-
bers): man müsse diese eigentümlichen Götterwesen verehren und zwar
mehr rj xa y.aTaay.evaCöfxeva ngö? ?;/<c5v edr] xai väov? (über den vermut-
lichen Grund der übergeschriebenen Änderung später). An die Ablehnung
dieser irdischen Göttersitze schließt sich Z. 36: [e\v (nach meiner Er-
gänzung) yao av (poßeTo&ai ysirovEiav 'jjioXXodcoQog eljiev , womit zu ver-
gleichen Epikur Br. I 77 (Us. S. 28 Z. 5 f.): (pößw . . . tcöv jiÄrjaiov.
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 367
kann sich äg auf tu ijiiQgeovTa beziehen. Ich lese im Anschluß
an meine Wiederherstellung a. a. 0. S. 587 und mit Benutzung der
Dielsschen :
tÖ] yäg e[x] tojv €[7iigQe6v-
Tcov] an al(bvo\q\ vna\^Qyo\v xa?.eTxai, xa{y ov t\(jq6710v)
ai r\E\ cpäoeig xäcp[avl'\öe[ig a.\7i' nlw'[}'og ye\vvon'\Tai^), y.ad'
bv\ de ev äXXoiq x{oX) aXX[oig xQ{ovoig) uXXcü[v] x{al) \u\XX(jov
7l{QOg)-
yivojuevcov 6Qar[(bv x(af)] Aoj^co[<] '&eojQovju[£vcjov'\
ahicov tzega xa-ß' exaorov [aljod^rjrdv ['/^q(6vov) yiiyexai),
t6 yeyevvrj/usvov ov^ [^V '^(ciO "^ol^xo ycalx ä]Qi'&/biöv
jiQog xbv aküva, xa'&djisQ fjfxeig o\y\ ^) 7iQ{bg') [oXov] xbv ßiov.
Zu deutsch: ,Das aus den stets zuströmenden (Stoffen sich ergän-
zende) Gebilde heißt 'seit Weltbeginn bestehend', sofern seine Licht-
erscheinungen und sein Erlöschen ') seit Weltbeginn erzeugt werden,
sofern es aber zu immer andern Zeiten, indem immer andre sicht-
bare und nur durch Vernunft erkennbare Grundstoffe hinzukommen,
in jeder wahrnehmbaren Zeit anders wird, (heißt) das Gewordene nicht
individuell ein und dasselbe für die Weltzeit, wie wir nicht für unser
ganzes Leben." Daß hier nicht von den eigentlichen Göttern die Rede
ist, ergibt sich, wie Diels bemerkt, klar aus den ögazcbv alxicbv,
die bei jenen ausgeschlossen sind*), wie aus der Leugnung der
CJN U)N UN
1) Scott las in p. An . N (A duhitanter), N. Fl AI • HC, 0. N Fl . N N .
Die Verbesserung über der Zeile deutet auf ein Verschreiben. Ich ver-
mute, daß infolge von Haplographie für an ahovog ysvvwvzai stand:
(jNOcre
AnAlUNNTAi.
2) la 0. steht OP; Diels meint, für ov müsse ovds stehen. Nach
meiner Ansicht wäre dies nötig vor tjfisTg, aber nicht vor Jigög.
3) 'A(pdvioig im Gegensatz zu avacpavfjvai. und EX(pavfj ysvsodai auch
bei Epikur ßr. II 111 (Us. S. 52, 10).
4) Ich halte es nicht für richtig, wenn Diels S. 37, 1 sagt: „Die
svagyeia bezieht sich strenggenommen nur auf die Sinneswahmehmung"
und weiter: „Die Traumerscheinungen, die ... höchstens indirekt, inso-
fern sie der ivagyeta nicht widersprechen, ivagyeig heißen könnten."
Schon im Kanon sagt Epikur (Us. S. 106, Iflf,): ra re zmv fiaivofiivcov (pav-
rdofiaza xal za xaz' ovag äXrjdf], und im. ersten Briefe § 38 und 50 f., sowie
in den x. d. 24 setzt er die (pavzaazixai snißoXal zi]? dtavoiag als xgizrjQia
zä xazd zag ivagysiag den Sinneswahmehmungen völlig gleich. Nur die
öö^a bedarf der i:n:ifiaQzvQ7]oig und ovx dvzi/:iaQzvQr]oig. — Wie soll sich
übrigens Philodem die Stemgötter gedacht haben? Als die sichtbaren
368 R- PHILTPPSON
individuellen Ein- und Selbigkeit. Aber ebensowenig nach meiner
Ansicht von Sterngöttern, sondern von den Gestirnen selbst; von
ihnen soll nachgewiesen werden, daß sie nicht göttlicher Art sein
können. Denn sie bewahren nicht für die Weltz.eit die individuelle
Einheit und Identität wie wir nicht für die ganze Lebenszeit. Die
Götter dagegen, wie ich das a.a.O. S. 587 ff. zu beweisen suchte,
wechseln zwar auch ihren Stoff, aber durch Zuströmen der ojuoia
oder oly.eia, so dafs sie immerdar ihre Gestalt einheitlich und iden-
tisch bewahren.
Wiederum in Übereinstimmung mit meiner Auffassung wendet
sich Philodem nach einer Lücke in den Zeilen 10, 34 — 38 gegen
die Gestirngötter und ihre Verteidiger, wie auch Diels hervorhebt:
„Sie heben das Dasein der Götter auf, wie ihre Bewegung; denn
eine Einheit {ev) muß das Bewegte sein, nicht aber eine Vielheit
{jioXXd) auf den aufeinanderfolgenden Orten und das Lebewesen
{^(öv, nämlich das göttliche, vielleicht als deiov zu lesen) immer
dasselbe {raviov) und nicht vieles Ähnliche (ojuoia noXXd). Die
Gestirne können also keine Götter sein, da sie im Verlaufe ihrer
Bahnen keine individuelle Einheit bleiben, sondern eine nur ähn-
liche Vielheit bilden. Die Gottheit aber bleibt auch bei ihrer Be-
wegung immer ein und dasselbe."
Merkwürdigerweise soll nun in den folgenden Zeilen (10, 38
bis 11. 20) Philodem doch wieder die Gestirngötter anerkennen.
Ich halte ein solches „unklares Schwanken" auch bei einem Philo-
dem für ausgeschlossen. Allerdings kann ich auch meine a. a. 0.
S. 588 vorgetragene Ansicht, daß hier weiter gegen die Sterngötter
der Gegner gestritten wird, nicht aufrechterhalten. Mit ov ju)]v
dXXd geht der Schriftsteller zu der Bewegung der wahren Götter
über: rov eigi^uEvov rgonov 6 roiovrog äusißei deog, auf die
(oben, vielleicht in den Lücken) geschilderte Weise wechselt ein
solcher Gott (wie wir ihn uns denken). Denn eine Bewegung (also
auch ein djuecßeiv) erkennen auch wir ihm zu — og oi'x ^) iy, tcov
Gestirne? Die sind aber nach epikureischer Lehre keine ^wa und
können es nicht sein. Oder als die mit diesen verbundenen Epi-
phanien? Die sind aber auch Phantasievorstellungen, also nicht sinn-
lich wahrnehmbar.
1) So schreibe ich für die von Scott mit Fragezeichen gegebene,
von Diels gebilligte Ergänzung: o[arig ix]. Denn jt. sva. 80 ■wird die
Gottheit ^ ix zfjg ofxoiözrjrog vjiäoyovaa (ivörtjg) bezeichnet; ix rcöv avTcäv
bestehen nur die unwandelbaren {anEzäßXrjxa) Atome.
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 369
avrojv ovreozi]xcbg jLieraka/ußdvei xöjv hegcov, ovrco y^avcüv (so
wohl besser Diels als mein avxov qpvoecov) ml xoXg {e^fj<;) XQo-
voig tojv yevvi]xiy.(bv ^). Der epikureische Gott hat immer die-
selbe Gestalt (während der Mond z. B. seine Gestalt stetig ver-
ändert); aber, wie das später auseinandergesetzt wird, bedarf
auch er der Ergänzung, wie er ja schon durch die Entsen-
dung der Bilder an Stoff verliert. Deshalb nimmt er teil an
den andern Stoffen, die aber nicht wie bei den Körpern unsrer
Welt äXlocpvla, sondern oixeia sind, indem er so in der Auf-
einanderfolge der Zeiten die erzeugenden Stoffe berührt: e'oziv
/.isv yaQ xig WQiofiEvog xovog (so N.), ov ovx exßaivei xbv alöiva
xa axor/da, es besteht ein gewisses begrenztes Spannungsmaß,
das die Elemente (auch bei den Göttern) nicht überschreiten, d. h.
die Elemente, die durch eine Art Spannung in den ovyxQioeig
zusammengehalten werden , müssen sich von Zeit zu Zeit aus
ihrem Zusammenhalt lösen, da die Spannung 2) nicht ewig dauert.
„An den bei diesem Vorgange (berührten) Teilorten nehmen ab-
w^echselnd naturgemäß bald diese (Götter) teil, bald diese, so daß
auch die aus ihnen (den wechselnden Elementen) bestehenden Ein-
heiten als in geordneter Bewegung vorgestellt werden können." So
denken sich also die Epikureer Art und Zweck der Bewegung ihrer
Götter, und diese darzulegen war ja die Aufgabe, die sich Philo-
dem in diesem Abschnitte gestellt hatte. Die ganze Lehre ist zwar
sehr verwunderlich und ausgeklügelt, aber in sich durchaus ge-
schlossen.
Es folgt dann (Z. 7 — 20) auf den Einwand, eine Bewegung
sei nur auf einer festen Grundlage möglich, die Erwiderung, dies
treffe nur bei festen Körpern zu, nicht aber bei feinteiligen, wie den
Göttern (die nur ein quasi corpus haben). „Ohne Schwierigkeit
würde die Natur (ich lese mit N. cpvoig) eine nur in der Phantasie
vorstellbare Zusammensetzung mit ebenso vorstellbarer Dichtigkeit
zulassen." Mit den letzteren Worten sind deutlich die Intermun-
dialgötter bezeichnet.
Zum Schluß zeigt Philodem noch einmal die Widersprüche,
1) Dieses Wort wird aucli Col. 9, 24 in bezug auf die Zwischenwelt-
götter gebraucht, 9, 38 im Gegensatz rcDj' Tiag' 7)jj,äg rä yEvvi^zixä . . .
JiaQExövTow.
2) Über den Begriff des roVo? bei den Stoikern vgl. Zeller III a
S. 121,2.
Hermes LIH. 24
370 R- PHILIPPSON
in die sich der Gegner durch seine Annahmen über die Gestirn-
götter verwickelt. Diels hat diese Stelle schon zutreffend erläutert;
nur daß die Widerlegung auch die von ihm angenommenen Gestirn-
götter Philodems treffen würde ^).
Damit schließt der Abschnitt über die Bewegung der Götter,
und ich glaube nach dem Gesagten, daß man sowohl ihn wie den
über den Wohnsitz der Götter gar wohl verstehen kann, ohne dem
Philodem oder gar Epikur und Metrodor selbst ein so seltsames
Schwanken zwischen Annahme und Verwerfung von Gestirngöttern
zuzuschreiben. Daß Diels' Text und Erörterungen auch mich zur
Klärung mancher Punkte meiner Auffassung veranlaßt haben, geht
aus meinen Darlegungen hervor.
Und das gilt auch von dem Folgenden. Diels sagt S. 32, 4,
daß er von meiner Auffassung des ev y.al ravröv principiell ab-
weiche, ohne dies allerdings näher zu erörtern. Das hat mich
veranlaßt, diesen und den zugehörigen Begriffen bei Aristoteles, der
sie im Anschluß an Piaton an verschiedenen Stellen behandelt hat ^)
und von dem Epikur offensichtlich auch hier beeinflußt ist, genauer
nachzugehen. Es macht sich übrigens auch hier die mehr zer-
gliedernde, als zusammenschauende Art des Aristoteles geltend, die
ihn so oft verhindert, bei Erwägungen und Unterscheidungen zu klaren
Ergebnissen zu gelangen. Ich beschränke mich daher auf die seiner
Ausführungen, die für Epikur von Wichtigkeit sind.
Am ausführlichsten werden die uns angehenden Begriffe in
Metaphysik B. IV 6 und 9 behandelt. Der allgemeinste ist das
SV. Von diesem heißt es 1016^ 8 ff. rä de TiQOjrcog keyöjueva ev,
wv f] ovoia juia. juia de avveyeia f] el'dei Tj Xoyo). Danach
1) Auch hat er den Ausdruck si-i :rv^v6Ti]Ti :jo6g Siäroiav nicht richtig
aufgefaßt. Die dcdvoia an sich, ohne Mitwirkung der Sinneswerkzeuge,
ist im Gegensatz zur ogaocg nur für Phantasievorstellungen empfänglich.
Körper also, die nur eine für die didvoia wahrnehmbare Dichtigkeit haben,
können nicht mit den Augen sichtbar sein. Für T[axvr(i]ro)v ist vielleicht
!i[a-/vrd]TO}v zu lesen, im Gegensatz zu ^.sjizo/xsQscor (Z. 13); vgl. Demetnos
Pap. 1055 Col. 17 zö fiev' fia/v/usg soregov xal xiveiv al'adrjotv 8vvdfj.Evov
— tÖ ds ?.sjizofiEQeoTSQOv y.ai rrjv (j.ev aiodrjaiv ovx d!i[aQ]x[ovv >ici]%'[s]Tv,
z[^v 8s dcdvoiav.
2) Nach Alexandres zu Arist. Metaph. III 2 (1004 b 34) und IX 3
(1054 * 30) fr. 31 R. hat Aristoteles die Siaigiaetg zdv ivavzi'cov eingehend
im zweiten Buche seiner Gespräche :;ieqI zdyaOov auf Grund der platoni-
schen Vorträge behandelt. In ihm wurde gezeigt , daß zd iyavzi'a crdvza
elg TÖ ev xai jiXfj^og dvdyexai.
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 371
wird das k'v Z. 31 ff. eingeteilt: en de rd juev y.ar^ ägn') /nov
iariv ev , rä de xar' elöog, xa de xara yevog, m de xax'
ävaXoyiav. Für uns kommen namentlich die beiden ersten Arten
in Betracht. aQi&jiicp juev, d)v t) v?j] juia. Hier besteht also die
Einheitlichkeit des Seins (ovoia) in der Einheit des Stoffes. Näher
ist schon oben diese Einheitlichkeit auf den Zusammenhalt {ovveyeia)
begründet. Ebenso 1015^ 36 f. xcbv de xad' eavxd ev hyojuevcov
xd juev leyexai reo owey^fj elvai und zwar (1016* 4): fxäXlov ev
rd (pvoei ovveyij Tj xeyv}]. ovveyeg de Xeyexai, ov xivyoig
juia y.ad-' avxö y.al jui] oJov te ällcog' fua d' ov ddiaioerog,
ädiaigexog de y.axd iqovov. Nun ist das dgiß^jucö ev gleich dem
xa&' exaoxov , dem Einzelwesen (vgl. Metaph. II 4 p. 999^ 34
rd ydg dgi-^/iicö ev y rd y.a^' ey.aoxov Xeyetv diacpegei ov&ev,
ebenso n. C- yev. II 1 p. TSl'' 34). Demnach ist das individuell
Eine {rd y.ar dgi^judv ev) im strengsten Sinne (jzQcorcog) ein
Einzelwesen von einheitlichem Stoffe, dessen Zusammenhalt von Natur
derart ist, daß er sich zur gleichen Zeit einheitlich bewegen muß.
Ein Baumstamm ist wegen seines natürlichen Zusammenhaltes
mehr eine solche Einheit als ein Holzbündel , ein Schenkel mehr
als das Bein, weil des letzteren Teile sich gesondert bewegen können.
el'dei ev, cov 6 Xoyog elg 1016^ 33, wobei nach 1016^
33 ff. unter Xoyog die Definition zu verstehen ist; so ist der Art
nach eins der Mensch, die ebene Figur usw. Ähnlich steht es mit
der Gattungs- und Analogieeinheit. Die näheren Auseinandersetzungen
über eldog, yevog, Xoyog 1016* 17 — 1016^ 6 können wir übergehen.
Der Einheit ist nach 1017 --^ 3 ff . die Vielheit, xd noXXd, ent-
gegengesetzt, und zwar der individuellen Einheit das, was des Zu-
sammenhaltes entbehrt (t(5 ^n/ ovveyy\ etvat). Die Unterscheidungen
des der Art nach Vielen entsprechen denen des Einen 1016* 17 ff.
Kurz berührt wird der Gegensatz des ev und rd noXXd auch
Metaph. IX c. 3 p. 1054* 20 ff., wo als eine Art ihres Unterschiedes
hervorgehoben wird: xd fiev ydg y dirjgrjfiEvov T] diaigexdv
nXfj'&og XI Xeyexai, xd de ddiaigerdv y fxrj di7] gy juevov ev.
Desto wichtiger ist dagegen hier (Z. 29 ff.) für unsere Zwecke der
Satz: eori de rov juev evdg . . . . rd ravrd xal ojlioiov xal
Ibov, rov de jiXiyßovg t6 eregov xal dvöjiioiov xal dvioov.
Danach sind das Selbige und das Ähnhche Unterbegriffe des Einen
und ebenso das Andere und Unähnliche solche des Vielen. Es
fragt sich nun, wie sich die über- und untergeordneten Begriffe
24*
372 R- PHILIPPSON
unterscheiden. Metapli. IV 9 p. 1018^ 7 ff. heißt es: fj ravzozrjg
evoTijg rig eoriv y jtIeiov oov . . . Tj orav xQpj'f^ai (bg nXeiooiv.
Ebenso wird an der Stelle der Topik (I 7 p. 103* 9 f.), wo von
dem xavTOV gehandelt wird, hervorgehoben, daß sich sowohl das
ägi'&jucp als ei'dei ravrov auf nleioi bezieht. Während also die
Einheit sich, wie schon der Name sagt, auf einen Gegenstand oder
Begriff bezieht , beruht das zavTov auf einer Vergleichung ver-
schiedener Namen , Gegenstände oder Begriffe. Dies kommt auch
in ihren verschiedenen Gegensätzen, den noXld und dem ersga,
zum Ausdruck.
Auch das ramo und eregov zerfällt in die Arten : ägi^jucö,
ei'dei, yevei (1054=^ 33 ff. , 1016* 6, 103=^ 8 ff.). Das aQi^iiCc,
ravzö teilt er 1054^ 34 ff. wieder in zwei Unterarten 1) das
2.6yq) KOI dgi-djUM ev (=zcp ei'dei xai zfj vXij ev) wie „du dir
selbst", 2) das zm loyo) zfjg TXQcbzyg ovoiag ev , olov al i'oai
yga/ujuai evßeiai al avzal xai zä i'oa xai zd looycövia zezgd-
yayva, xaizoi nXeico. Also rechnet er auch die mathematische
Congruenz unter das zavzov xax' dgidjudv. Der Zusatz xaizoi
jileio) zeigt deutlich, daß das dgi'&jucp zavzo in diesem Falle
nicht immer dem dgi'&juco ev gleich ist, denn die congruenten
Figuren sind mehrere, ihnen fehlt die stoffliche Einheit, z6 vir]
ev, und damit die ovvexeia. Dagegen fällt die erste Art völlig
mit dem dgi^juco ev zusammen, wie er denn auch 103* 28 aus-
drücklich sagt: jiidXioza ö' 6juoloyovfj.ev(jog z6 ev dgi^juM zavzov.
Beide bezeichnen das Einzelwesen, aber jenes an sich nach seinem
natürlichen Zusammenhalt, dieses in seiner logischen Einheit bei
Verschiedenheit der Namen oder begrifflichen Beziehungen^).
Ähnlich ist das Verhältnis von el'öei ev und zavzo ; der Mensch
ist seiner Art nach eine Einheit, weil ihm der Art nach stofflicher
Zusammenhalt eigen ist, Menschen sind der Art nach dieselben,
weil sie zur selben Art gehören.
Besonders wichtig sind dann die Bestimmungen des o/iioiov
und ezeQOv im Verhältnis zum zavzov. Es heißt nämlich 1054^
3ff. : 6/uoia de, edv jurj zd avzd änXcbg övza jurjöe xazd zi]v
1) Nicht ganz richtig sagt er 263 ^ 1 2 fF. ro orjfisTov . . Tavrov aal
ev aQidfxü), Xöyo) 6s ov zavzov, letzteres insofern der Punkt zugleich Ende
der einen und Anfang der anderen Linie sein könne. Denn danach ist
es SV, aber nicht zavzov, da dieses nach 1054* 34 ff. immer die logische
Gleichheit fordert.
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 373
ovoiav ädtd(fOQa rljv ovyy.£if.ih')]v, y.ara. ro eldog raviu fj. Und
über das exeqov Z. 16 f. x6 de eäv f.aj xal (zugleich) y vXt'j xal
6 XöyoQ Eig, öio ob xal 6 jT?,i]oiov t'zeQog. Danach sind Sokrates
und Piaton ähnlich, weil ihr eldog dasselbe, verschieden, weil
ihr Stoff nicht derselbe; sie sind aber auch el'dei oi avxoi, weil
ihr koyog derselbe. Dagegen sind sie nicht yMx^ aQi^juov ol avr oi.
Dem entspricht, wenn Aristoteles 103^ 19 ff. sagt: jiäv . . . vöojq
navxl Tavrbv reo el'öei Xeyerai öiä ro ey^eiv rivä 6juoiör}]ra.
Ebenso beantwortet er (357^ 27 ff.) die Frage, ndreQov y.al i)
■&ä?Mrra del öiajLievei rcov avrcöv ovoa jlioqicov doiü^ucp y reo
ei'dei y.al reo Jiooeo, jLiezaßaVMvrojv äel reöv fiegeJöv, xadaneq
drjQ y.al ro Jiorijiiov vöeoQ y.al jzvq. del ydg ullo xal älXo
yiverai rovreov exaorov , ro de eldog rov TtXrjdovg ixdoxov
rovzeüv jLievei xaddneQ ro reöv Qeovreov vddreov xal ro n)g
eployog gev/na. Das Meer also und die übrigen genannten Dinge
ändern sich stetig, aber sie bleiben dieselben der Art nach. Endlich
führt er jt. ^eoeov yev. II 1 p. 731^ 25 ff. in Übereinstimmung mit
Piatons Gastmahl von den sterblichen Wesen aus: dgi^f^ico jLiev
{dtdia elvai) ddvvarov, el'dei d' evdex^rai und zwar durch die
Zeugung.
In Metaph. II 4 p. 1000^ 5 berührt er nun eine ovdevbg
eXdrreov diroQia, die unmittelbar auf die uns bei Epikur vorliegende
Frage führt: Tioregov al avral xebv ef&aQreöv xed reov dcpßaQxeov
dg^at eloiv T] exegai. Die früheren Denker hätten sich schlechtweg
für dieselben Elemente entschieden, aber die daraus entstehende
Schwierigkeit, als ob sie eine Kleinigkeit wäre, nur „angenagt".
Auch in dieser Frage wie in so vielen knüpft Epikur an seinen
großen Vorgänger an.
Denn seine Lehre von den dQyai und den aus ihnen ent-
stehenden Gebilden bot eigentlich für die Götter keinen Platz.
Nach ihr gibt es nichts als die Körper und das Leere. Die Körper
sind aber entweder Atome oder Zusammensetzungen aus ihnen.
Ein Körperloses ist nur das Leere. Dies können die Götter nicht
sein; denn es ist ja nur der Raum, in dem die Dinge sich bewegen.
Also müssen die Götter Körper sein. Aber, sagen die (stoischen)
Gegner bei Philodem n. evoeß. fr. 121 (Gomp. S. 136, Diels
Abh. d. Ak. 1916, 6 S. 31, 1, teilweise nach meiner Ergänzung
Z. 6 ff.) : ovd' ev xoTg ocojnaaiv xaxaQi&juet xovg deovg reJöv ocojud-
roiv Xeyexiv rd [xev elvai ovvxQioeig rd 6' e^ ü)v al ovyxQi-
374 R. PHILIPPSON
osig jTEJi6i]VTai. /.lyrs yäg ärojuovg vojui^eiv rovg Seovg fxrjxe
avyxQioeig , eneiöiqjieQ [al juev ä] vaigß [rjx] oi rs^ecog ^) , al öe
näoai q)[&aQxa'i\. Dieser Folgerung konnten sich die Epikureer
schwer entziehen. Denn in der Tat, den gefühllosen Atomen konnten
sie die Götter nicht gleichsetzen, und dafür, daß alle Zusammen-
setzungen aus diesen vergänglich seien, konnten sich die Gegner
auf Metrodor berufen, der nach derselben Philodemschrift fr. 122
Z. 13 ff. (Diels ebenda) an zwei Stellen sagte: to ^)) [äexexov xov
y.evov (die Atome) diajueveiv, änaoav <3' av ovvhqioiv q?&aQxrjv.
Aber Metrodor muß an dieser Stelle die Götter außer acht gelassen
haben, und Philodem muß daher a.a.O. Z. 8 f. gesagt haben: y.al
MrjxQO [öoiQog o v\ xvyxo.vei xrjg ^vjxiqoecog. Denn in der Tat
erklärten die Epikureer vermittels einer Reihe kühner Hypothesen,
die ich in meinem Aufsatz in d. Z. näher dargelegt habe, die Götter
für eine besondere Art von ovyxQiosig. Hier will ich diese
Annahmen nur insoweit noch einmal prüfen , als sie in Beziehung
zu dem aristotehschen Begriffe der evoxtig stehen.
Ganz in Übereinstimmung mit diesem bezeichnet im Herodot-
brief 50 (Us. S. 12, 3) Epikur die Gegenstände, von denen uns die
Bildercomplexe Vorstellungen übermitteln , als ev xal ovvexeg.
Der natürliche Zusammenhalt war auch für Aristoteles das Kenn-
zeichen des yMx' ägi^judv ev ; es ist aber zu beachten, daß Epikur
den Ausdruck xax' dgidjuov hier nicht gebraucht. Außerdem finden
wir ivöxfjg im selben Briefe 52 (S. 13, 14) für die vergänglichen
Einheiten der öyyoi gebraucht, die den Schall nach allen Seiten
verbreiten.
Den Ausdruck yax^ äQidfiov, aber ohne ev und xavxov finden
wir dagegen in dem schon besprochenen Schohon zu x. ö. 1, in
dem Epikur sagt, daß die Vernunft die Götter als xax' aQißjuov
vcpeoxöjxag erschheße, d. h. als Einzelwesen im Gegensatze zu der
bloßen Arterkenntnis, die uns ihre zu uns gelangenden, nur ähn-
lichen Bilder lediglich ermöglichen. Dem entspricht, wie ich a. a. 0.
S. 600 f. dargelegt habe, wenn der Epikureer bei Cicero de nat. d. I
45 (vgl. 105) erklärt, vim etnaturarn deorum . . , nee ad numerum
{cerni), daß wir die Götter nicht als Einzelwesen schauen, was
natürlich nicht gegen ihr Einzelsein, das wir mit der Vernunft
1) Bei Diels' Ergänzung [ovroi /nkv 8 [i] atoo [rt] oc zs^ecog fehlt der
Beweis, daß die Götter keine Atome sein können. Auch sonst lese ich
die Columne etwas anders (s. weiter unteu).
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 375
erschließen, streitet. Der Ausdruck xar' äoi^juov ist also an beiden
Stellen in Übereinstimmung mit Aristoteles hier nur = xad'^ exaorov
gebraucht. Vis et natura umschreibt die Bezeichnung (pvoig, die,
wie wir sehen werden, von Epikur für die natürlichen Einheiten
gebraucht wird. Wichtig ist aber, daß Cotta in seiner Erwiderung
von der Erscheinung der Götter (species) sagt, neque candem
ad numerum per mauere. Danach wird den Götterbildern
die bleibende individuelle Selbigkeit abgesprochen : ov xax' aQi&juöv
xamov diajueveiv.
Der Ausdruck ev6r't]g wird uns ferner als von Epikur ver-
wendet, unter Angabe der Schrift 71. öoioTipog durch Philodem
Ttegl evoeßsiag fr. 80 (Gomp. S. 110) bezeugt. Die Stelle lautet
(der Anfang ungefähr von mir hergestellt)
[y.al yoLQ
1 roia[vz7] ov]oTa[[A]]-
oig ö/.i[olcov ögdöjg
(paivq[iT]' ä[v £v]6rr]g.
dvvaxai ya.Q ey. xijg
5 6juoi6T}]rog vtcolq-
Xovoa öiaiojviov
eyeiv r}]v TeXeiav
evdaijLioviav, e-
nEiÖYjTtEQ ovx yjx-
10 Tov EX rcöv \[avTU)v]\ {öjuotcov)
T] rcöv [[öjuoicov]] {amcöv) otoi-
yELOiv ev{6r)}]Teg
aTioTEXEio^ai dv-
v]avzai xal vnb tov
15 "Etzixovqov xaxalEi-
Jiovzai, xa&äjiEQ iv
TWL ^regl ooiott]-
rog avroraxa'
In Z. 12 erscheint sicher evöx7]xeg; danach darf man auch Z. 4
und zu vjiaQyovoa Z. 5 f. ev6xi]g ergänzen. Unter der Einheit aber,
die die vollkommene Glückseligkeit als eine ewige besitzt, kann nur
die Gottheit gemeint sein. Diese wird t] ix xi^g öjuoiöxrjxog genannt;
danach muß Z. 10 f. eine Verwechslung von ex xcöv avxcov und
öjuoimv vorliegen, wie schon Scott bemerkt hat. Ich habe a. a. 0.
376 R- PHILIPPSON
S. 592 f. und S. 603 ff. (in der Gicerostelle liest Diels im Anschluß
an meine Darlegungen wohl sicher richtig: simü'mm rerum) aus-
einandergesetzt, wie Epikur sich die Erhaltung der Götter durch den
steten Zustrom ähnlicher und ihrem Wesen entsprechender Stoffe
denkt. Schwieriger ist, was wir unter den Einheiten aus denselbigen
Elementen verstehen sollen. Jedenfalls nicht, wie ich a. a. 0. an-
nahm, die vergänglichen Dinge ; denn sie ändern sich ja fortwährend.
Ich nehme an, daß sie die Atome bezeichnen, die stets aus den-
selben Teilen bestehen, wie Lukrez I 609 ff. bezeugt:
sunt igitur solida primordia simplicitate,
quae minimis stipata cohaerent pnrtibus arte,
11 on ex uUorum conventu conciliata,
sed magis aeierna pollentia simplicitate.
Aeterna simplicitas ist Epikurs diaicovia Ev6Ti]g, und den minimis
dartihus entsprechen Epikurs oToi^sia (Grundbestandteile), unter
denen hier also nicht äro/ua zu verstehen sind ^).
So haben wir also zwei Arten ewiger Einheiten : die Atome
und die Götter. In der Fortsetzung Z. 25 ff. erscheint aber sogleich
auch der Gegensatz zum eV, den wir aus Aristoteles als solchen
kennen :
ra TioXXct
juijv], ejieiödv ix
Tfjg ojuoicov äXXcov
XaX\ XcOV [e71i\ OVVXQl-
oe]cog y[ev]}]Tai Jio[i6v n,
[xar' ägid^judv ev xal
xavTOv ov ÖLaiJ,evEi\.
Unter den noXXd sind die vergänglichen Dinge zu verstehen, die
sich wie die Götter aus ähnlichen , aber immer anderen Stoffen
ergänzen; äXXwv entspricht an andern Stellen (vgl. a. a. 0. S. 592)
äXX6q)vXa, was die Götter ablehnen , während sie die olxeXa auf-
nehmen. Die übrigen Dinge können sich eben dieses Fremdartigen
nicht erwehren und bleiben deshalb, wie ich ergänze, nicht ein
und dasselbige, sondern gehen, wie sie entstanden sind, schließlich
unter.
1) Dem widersi^richt nicht, wenn er (Us. 36, 8) sagt Sri äzofia tä
oror/Eia. Den Ausdruck oroiyjTov braucht Epikur auch Br. I 47 (Us. 10, 14)
in allgemeinerem Sinne.
1^
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 377
Noch ist aber der Zusatz Z. 22fT. von Wichtigkeit: el'o)i)e
roivvv ovrrojiKog (so wohl richtig Usener) javza (pvo iv unoxe-
XeToß^ai Xeyeiv. Aristoteles setzt Metaph. IV 4 die verschiednen Be-
deutungen des Wortes cpvGiq auseinander. Die meisten finden sich
auch bei Epikur. Die hier von ihm benutzte ist die, welche Aristo-
teles 1015^ 12 bestimmt: i'jdt] xal oXcog Jiäoa ovoia (pvoig Xeye-
xai, wenn man 1014'' 23 dazu nimmt: Iv de rdlg ov/ime(pv>c6oiv
eori Ti ev X 6 avrb . . ., 3 noiei dvxi xov änxeodai ovjU7is(pv-
xevai xal sJvai ev xaxd xö ovvex^Q ^glI tiooov, äXlä /«) xaxä
tÖ Jioiov. Denn nach unsrer Golumne nannte auch Epikur die-
jenigen Dinge Naturen, die solche Einheiten bilden, und zwar, wie
wir sehen werden , sowohl ewige als auch vergängliche ^). So
finden wir denn auch in den Briefen Epikurs das Wort q)voig
(Us. 6, 12) von den Körpern im allgemeinen im Gegensatz zu ihren
ovjußeßi^xoxa und ovjujixco^iaxa (vgl. 2, 16), von den Atomen (7,5
und 38,15; vgl. 116,16), von der Gottheit (29,4; 42,11; 53,14;
54,16; vgl. Gic. de nat. deor. I 45: vim et nahtram), aber auch
von den eldoXa (11, 10) und der Seele (jt. <pvo. AB in Pap. 998
fr. 11, vgl. Grönert, Rh. Mus. LVI 1901 S. 619). Er erweitert aller-
dings den Gebrauch des Wortes, indem er das Leere eine ävaq)i)g
(pvotg nennt (6, 9 und 86, 8). Nach Maßgabe unsrer Philodemstelle
bezeichnet also cpvoLg bei Epikur wie bei Aristoteles eine natür-
liche Einheit, wohl wie bei diesem im Gegensatze zur künstlichen
oder logischen.
In Gol. 83 liegt nun, wie mir scheint, der Wortlaut der Gol. 80
berührten Stelle oder einer ähnlichen aus Epikurs TieQi ooioiyxog
vor; es heißt da nämlich nach meiner gegen a. a. 0. S. 589 etwas
veränderten Ergänzung:
3 ygäipag
de xal IIeqI öoioxrj-
5 xog äXXo ßvßXiov
xäv xovxcoi öiaoa-
(pei xö jLi)] juovov ä-
cp§dQxojg, äXXä x[al
1) Wenn Plutarch Amat. 24 p. 769F sagt: t) öh rcöv aXXcog (ohne
Heirat) ov/ußiovvTcoj' zaig naz' 'Ejiixovqov acpatg xal jieQiJiXoxaig eoixs, . . ,
Evöxrjxa . . Ol) jioiovoa roiavxi]v, o'iav "Eqoig jioieT xrX., so spricht er
nicht, wie Zeller HI a* S. 416, 2 meint, Epikur die hörrig überhaupt,
sondern die innige Einheit der Ehe ab.
378 R. PHILIPPSON
j^ajrct ovvre?.e[iav
10 8[v] xal Tav[TÖv ovv-
ey(i)[g vtiolq^ov xa&' 6-
[xeü\iav q)voEig (oder evoTtjrag)
7iQooayoQevs\o^ai xal
xäg usv el[vai ix
15 Tcöj' avT[cJijv xal xa-
le.[io]'&ai, rd[g d' ix tcöv
ojuoicov.
Die Stelle enthält manche Schwierigkeiten. Bei dem to jurj
juovov äq)§dQrcog ist man zuerst geneigt, an die Gottheit zu denken ;
aber der Schluß, der die (pvosig in Tag ix rcov avrcöv und rag
ex T(hv oixoioiv teilt, spricht dagegen; denn nach Gol. 80 sind
unter den ersteren (nach meiner Erklärung) die Atome zu verstehen,
die ja in erster Linie „nicht nur unvergänglich, sondern auch in
Vollkommenheit eine auf Zusammenhalt gegründete identische Einheit
besitzen, die immer aus denselben Bestandteilen besteht." Das Neue
ist, daß solche stets identischen Einheiten auch aus wechselnden ähn-
lichen Bestandteilen zusammengesetzt sein können. Dies sind die
Götter. Für unsre Frage aber ist von Wichtigkeit, daß Epikur hier
von einem vollkommen {xara ovvxeXEiav) Ein und Demselben spricht,
dem Unvergänglichkeit zueignet. Das ev xal xavxöv ist also eine be-
sondere Art der ev6xt]g, der die vergänglichen, nicht bleibenden Ein-
heiten gegenüberstehen. Auch hier wie im Herodotbrief (12, 13) be-
zeichnet Epikur nach Aristoteles die ovrex^ia als Merkmal der evoxtjg.
Von Metrodors Äußerungen ist die von Philodem {ti. evo. fr. 123)
aus ji. fXExaßoXrjg berichtete bedeutungsvoll: xal cprjoiv \xiva ovy-^
XQioiv xcöv [ye xax^ ä]Qi{}ju6v ov fx6vo\v ä^cp'&aQxov, aXXa [xal
äidt\qv (?). Denn wenn er die Gottheit , die hier deutlich gekenn-
zeichnet ist, als ovyxQioig xwv xax' aQi&fiöv hervorhebt und von
den vergänglichen Verbindungen unterscheidet, so müssen diese
nicht xax' äoiüfxöv sein , dieser Ausdruck also im engeren Sinne
von diajj.Eveiv ev xal xavxöv gebraucht sein. So würde es sich
denn auch erklären, wenn derselbe Epikureer in ji. ■decöv und n.
/uexaßoXi]g bei Philodem ti. evocß. fr. 122 (nach Diels' Ergänzung)
sagte: xö jui] [juexey^ov] xov xevov [diajueve]iv, änaoav [de ovy]xQioiv
(p'&aQX7]v. Die vergänglichen Verbindungen gehören nicht zu denen,
die xax' ägi&juov öiajuevovoiv. Der Götter hat er, wie ich schon
oben annahm, hier nicht gedacht {[ov] xvyxdvei Z. 9).
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 379
Von ferneren epikureischen Aufaerungen über die h6r}]g ist die
des Demetrios Lakon Pap. 1055 Col. 4 wichtig: [tö t}eTov ifj loiatk^j]
TiaQaXlayf] nagakka^ei rwv aloOrjxäyv ho\x]fiT[(jov z]&v fA,[ev eIq]
töv a[l]ä)[va.] diafievovoun' re yM[l (x]XkaTTOiuh'0)[v], zcov [ö' ohyo-
XQOvicov. Nach Col. 18 ist jedes aioihjTov vergänghch {did tovxo
yoLQ ovdev atodrjxov d&dvarov) ; alod)]rai evörrjrsg sind also ver-
gängliche Einheiten. Sie werden geschieden in solche, die für die
Weltzeit zugleich verharren und sich ändern, die Gestirne, und in
die kurzlebigen, die Lebewesen, Ihnen gegenüber steht die gött-
liche Einheit, die, so dürfen wir ergänzen, ewig nax' dgi'&juöv ev
xal ravxbv dia^uevei . .; diajueveiv und dXXdxxeod^ai entspräche den
ojuoia äXXa xal uXda der Epikurstelle (Philod. jz. evo. fr. 80).
Auf Lukrez I 609 ff. habe ich schon hingewiesen. Hier werden
die Atome wegen ihrer acferna simplicitas d. h. als d'töiai evoxrjxeg
den conciliata {ovyHQioeig) , also vergänglichen Einheiten, gegen-
übergestellt.
Arn aufschlufsreichsten aber sind einige schon in anderem
Zusammenhange berührte Stellen in Philodems jt. {^. diay. In
dem Abschnitte über die Bewegung der Götter heißt es Col. 10, 16
von den Gestirnen , wohl namentlich von Sonne und Mond (nach
meiner Ergänzung): ovvex&Q ydg ex xcov ijziQQeovxcov dji' al-
wvog VTiagy^ov xaXslxai, xaß-^ bv xqojzov ai' xe (puoeig xdcpa-
vioeig djt' aicövog yevvcbvxai, xad' ov de ev dXXoig xal dXXMig
XQOvoig dXXcov xal dXXmv jxQogyivoji.ievü)v . . . ezega xad^" exaoxov
aio{)i]xbv yqovov yivexai, ro yeyevvijjiievov ovy^ £v xal xavxov
xax dQid-fxov jiQÖg xöv alcbva, xa&djieQ fjfxeTg ov Jigog oXov
xbv ßiov. Es ist bemerkenswert und spricht für meine Ergänzung,
daß Philodem hier von den Gestirnen , wenn auch ausführlicher,
dasselbe sagt, wie Demetrios an der eben angeführten Stelle. Das
«3t' atcövog vjzdgyov hier entspricht dem eig xöv aidjva diajue-
vovocöv, das exega yivexai dem dXXaxxojuevcov. Dasselbe gilt von
den Ccpci, wenn auch Philodem nur die Menschen {f]jueig) heran-
zieht, Demetrios nach meiner Annahme sie allgemein (öXuyoxQovicov)
bezeichnet. Wenn nun Demetrios beide Arten als ivoxrjxeg aner-
kennt, so gilt das sicher auch von Philodem. Die Gestirne sind
also für die Weltzeit (solange unsre Welt und sie mit ihr bestehen)
ein ev, wie wir für unsre Lebenszeit; da sie aber, wie wir, sich
stetig ändern, so sind sie und wir in jedem wahrnehmbaren Augen-
blicke ein exegov. Wir wissen, daß Aristoteles das exeoov dem
880 ß- PHILIPPSON
ravröv wie rd noVid (das wir sogleich auch bei Philodem lesen
werden) dem ev entgegensetzt. So erklärt denn unser Epikureer
ganz im Sinne des Stagiriten , daß die Gestirne (wie auch wir)
nicht ev y.al ravröv Ttgög rbv aiwva (bzw. jigög öXov röv ßiov)
sind ; er setzt aber xar' dgi&jiior, daraus folgt, daß sie ev xal
ravröv el'dei sein müssen. Und wirklich stellten wir fest, daß die
ersQa, soweit sie zugleich 01.101a sind (ein Ausdruck, dem wir auch
sofort bei Philodem begegnen werden), nach Aristoteles el^dei ravrd
sein können. Da nun, wie wir feststellten, für die Epikureer die
Götter ev y.al ravröv y.ar' dgißjadv sind, so können die Gestirne,
die zu den ereoa gehören, nicht Gölter sein. Das ist nach meiner
Auffassung der Inhalt dieser leider vorher und nachher verstümmelten
Stelle. Aber der Schluß ist wieder erhalten, und da heißt es ganz
in Übereinstimmung mit meiner obigen Darlegung von der Gott-
heit im Gegensatz zu den Gestirnen (Z. 36 ff.): ev yäg elvac dsT
rö xivovjuevov, dXX' ov noXXd im rcbv e^fjg roTtwv, xal rö l^&v
dsl ravröv, dlX^ ovx ofxoia noXXd. Die Gottheit muß also ev
xal del ravröv sein, die Gestirne aber sind ojuoia jtoXXd in ihren
aufeinanderfolgenden Stellungen. Also kann es keine Sterngötter
geben. Es ist bemerkenswert, wie genau hier Philodem und gewiß vor
ihm schon Epikur im Anschluß an Aristoteles dem ev die 7ioX?<.d
und dem ravröv die ojiioia und erega entgegensetzt. Die Unbildung
Epikurs ist ebenso eine Sage wie die Starrheit seiner Schule. Schon
die Titel seiner Bücher zeigen, wie eingehend er sich mit seinen
philosophischen Vorgängern und Zeitgenossen auseinandergesetzt
hat, und ebenso seine Lehre.
In den folgenden Zeilen (10, 38 — 11, 7) versucht Philodem
dann, seinem Gotte, trotzdem er sich auch ändert und nicht aus
denselben Elementen dauernd besteht (s. meine Ergänzung oben
S. 368 f.), die stete Einheit und Selbigkeit zu retten, wore xal rag
i^ avräjv (rcöv yevvrjrixcbv und eregcov) evort^rag ev6da)g voeXo{}ai
xivovjuevag. Man kann allerdings nicht sagen, daß ihm dies nach
seinem mit Aristoteles übereinstimmenden Gebrauche dieser Begriffe
gelungen ist. Klar ist jedenfalls aus dieser und anderen von mir oben
und früher a. a. 0. besprochenen Stellen, daß im Gegensatze zu den
übrigen stetig sich ändernden Verbindungen die Zusammensetzung
der Götter immer ein und dieselbe bleiben soll , weil sie ihre
Verluste jedesmal durch ähnliche, ihr verwandte Stoffe ersetzen,
während jene zwar auch ähnliche, aber andersartige sich aneignen
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 381
müssen, die auch ihre Zusammensetzung ändern. Jeder CJolt ist
immer sich selbst gleich, aber Sokrates bleibt zwar immer Sokrates,
aber der von heute ist nicht mehr der von gestern, und der von
morgen nicht mehr der von heute. Jener ist immer xar uQidfiov
Ev xal xavTov, dieser im Verlaufe seines Lebens jzoVji hsQa, und
ebenso die Gestirne in ihren Bahnen.
Es bleiben noch zwei Fragmente, bei denen Diels eine An-
spielung auf die Sterngötter vermutet, nachdem er seilest deren
fragwürdige Verfassung im allgemeinen genügend hervorgehoben hat.
In fr. 1, 6 erscheint das Wort äjioxdxxojg , das er auf einzelne
göttliche Wesen deutet, die „abgesondert" leben. Mir scheint dagegen
von den irdischen Wesen , den Menschen , die Rede zu sein ; ich
stelle nämlich die betreffenden Zeilen ungefähr folgendermaßen her:
x6 Qdo\x(x>g Tiagex-
XEx?i.]i^u[tvcor jii]ovov xöiv änoxdxxoog [jiXi]Oi-
a^övxwv d7tü)'&e]io&ai xo 7ioir][xix6v x]fjg
d?iy')]d6vog xoTg d]vd jLiegog, äf.ia de x[ö] o/lioio[v
i]di[o]7coi£Todai Jiäoi xdig dvd fx[e.Q\og' Mo\xe
fi[8\ovrig xal xijg jLi£yioxi]g (Etvai) d[E]Kxix[d xal xe-
Xsia] Ttdvxa ' (p&o\^odg] de xal [jue-
rao^^ßoEi.
Es wird also auseinandergesetzt, daß der Mensch des reinsten
Glückes teilhaftig werden kann, indem er das Schädliche (rd dno-
rdxxcog 7t?,rjoidCovxa) meidet, das Zuträgliche sich aneignet; aller-
dings dem Vergehen unterliegt er. Im folgenden, dessen Anfang
sehr zerstückelt ist, scheint von Z. 16 an die noch vollkommenere
Seligkeit der Götter begründet zu werden. Nach dieser Auffassung
scheidet auch hier der Sterngott aus.
Ebenso in fr. 39 a ; denn der Gott, von dem hier die Rede ist,
ist nach meiner Auffassung der stoische ; dieser ist wegen der exjiv-
Qcooig nicht unsterblich und wegen seiner Belastung mit der Welt-
lenkung nicht vollkommen glückhch.
Noch möchte ich mit einigen Worten auf einen von Diels er-
örterten Punkt von weittragender Bedeutung eingehen. Diels hatte
in 71. ^ecüv A Col. 25 (Abh. d. Pr. Ak. 1915 Nr. 7 S. 44) die Z. 33 ff.
in unübertrefflicher Weise so wiederhergestellt: Der Weise wird die
berühmtesten politischen Machthaber verachten, die ihre geheime
Schlechtigkeit entzünden, öxav oqu jiaQOJoajUEVovg vcp^ ivog 'Avxco-
382 R. PHILIPPSON
viov y/AQa<; ra y.ar^ äoxv rovg ivaviiovg. Wir sehen eine Äuße-
rung, die zeitgeschichtlich ebenso bedeutungsvoll ist wie für die poli-
tische Stellung Philodems und seiner Umgebung. Es kommt aber
auf ihre Deutung an, und in dieser weiche ich von Diels etwas
ab. Er versteht unter den „Gegnern'' die Triumvirn, die die Herr-
schaft dem Antonius in die Hände spielen, und vermutet wegen rd
xar' äoxv, daß hier auf das Gesetz des Tribunen P. Titius 27. Nov. 43
angespielt sei. Um diese Zeit müßte dann Philodems vorliegendes
Buch geschrieben sein. Diesen Ansatz bestätigt er jetzt (Abh. d.
Pr. Ak. 1916 Nr. 6 S. 84, 1). Er nimmt damit den Ansatz auf 44,
den er unter Hinweis auf Pisos zeitweilige Gegnerschaft gegen Anto-
nius, aber allerdings im Widerspruch zu seinen vorhergehenden
Ausführungen an jener Stelle gemacht hatte, zurück. Und doch
halte ich diesen für den richtigen. Man darf annehmen, daß Phi-
lodem bei seinem engen Verhältnisse oder besser Abhängigkeitsver-
hältnisse zu Piso dessen politische Anschauungen geteilt hat. Dieser
war der Schwiegervater Gäsars^); so darf man ihn politisch als
Cäsarianer bezeichnen. Sein Schwiegersohn hat ihm zum Gonsulat
und Gensoramt verholfen. In diesen Ämtern sowie beim Aus-
bruch des Bürgerkrieges ist Piso für dessen Pohtik eingetreten.
Aber er war, vielleicht unter dem Einfluß der epikureischen Philo-
sophie, ein friedliebender Mann. So hatte er schon 49 für einen
Vergleich zwischen Gäsar und Pompeius gewirkt. Während des
ersteren Diktatur trat er nicht hervor; aber nach dessen Ermordung
stellte er sich so wenig auf selten der Republikaner, daß er im
Gegenteil aufs nachdrücklichste für die Ehrung Gäsars eintrat. Als
jedoch der Zwiespalt zwischen Antonius und der Freiheitspartei aus-
brach, suchte er zu vermitteln. Dies brachte ihn zeitweise in einen
Gegensatz zu ersterem; daß dieser seiner Tochter die Hinterlassen-
schaft Gäsars vorenthielt, mag den Gegensatz verschärft haben. Am
1. August 44 trat er sogar im Senate gegen ihn auf, wir wissen
nicht, in welcher Weise. Nach Gicero Phil. XII 14 soll er sogar
gesagt haben, er wolle dem Vaterlande den Rücken kehren, wenn
Antonius es unterdrücke. Aber seit Ende des Jahres sehen wir ihn
im Sinne der Vermittlung alle gewaltsamen Maßnahmen gegen diesen
bekämpfen und zugleich für die Gesetze Gäsars eintreten. Er ist
einer der Gesandten, die Anfang 48 zu Antonius gehen, und befür-
wortet eine zweite Gesandtschaft. Gicero nennt ihn damals geradezu
1) Vgl. zum Folgenden Drumann - Groebe 11 51 fF.
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 383
einen Freund des Antonius. Daß er später nicht gegen die Trium-
virn auftrat, sieht man daraus, daß er nicht auf die Ächtungsliste
gesetzt wurde. Beim Zerfall des Triumvirats trat er offenbar auf
die Seite Oktavians, des Adoptivsohnes seines Schwiegersohnes.
Wir sehen, er war und blieb Cäsarianer, aber er war eine vermit-
telnde Natur. Aus dieser entsprang sein kurzer Gegensatz gegen
Antonius, der in die Zeit zwischen dem 1. August 44 und Ende des
Jahres fällt. Nur in dieser ist auch der Ausfall Philodems ver-
ständlich. Daß Piso und sein Hausphilosoph durch einen Angriff
auf die Triumvirn im Jahre 43 Kopf und Kragen gewagt hätten,
halte ich für ausgeschlossen. In Wirklichkeit tadelt Philodem auch
nicht so sehr den Antonius, als die Gegner, die ihm die Herrschaft
in die Hand spielen; das sind aber nicht die Triumvirn, die poli-
tischen Erben von Pisos Schwiegersohn, sondern die Gegner des
Antonius, die Gäsarmörder, durch ihre Unversöhnlichkeit {viiovXö-
T)]q). Philodem wird wie sein Brotgeber, solange Cäsar lebte,
dessen Anhänger gewesen sein und nach dessen Tode nur solange
geschwankt haben, bis sich entschied, wer sein Erbe war. An
seine glühende Freiheitsliebe glaube ich nicht. Auch Epikur ist
Opportunist gewesen (vgl. meine Ausführungen Archiv für Gesch.
d. Philos. XXIII 308 f.). Wenn beide sich gegen die Tyrannis er-
klären, so doch auch gegen die Pöbelherrschaft. Das sind ja seit
Plato die beiden äußersten Verfallsformen des Staates. So sehen
wir denn auch in der von Diels erwähnten Römerode (III 3) den
Dichter zugleich diese verurteilen und die Alleinherrschaft des
Augustus in den Himmel heben. Das ist kein Widerspruch (s. jetzt
Heinze zu der Stelle). Daß Horaz erst nach der Schlacht bei Phi-
lippi in Beziehung zu Philodem getreten sein kann, habe ich schon
an andrer Stelle erwähnt. Dessen Anschluß an Brutus beweist
also nichts für Philodem.
So läßt sich mit einiger Sicherheit annehmen, daß n. d'ecöv A
ungefähr Mitte 44 abgefaßt ist. Unsicherer ist das Ergebnis bei
n. diay. F. Diels deutet die Katasterismen, die nach ihm zweimal
in letzterer Schrift bekämpft würden, auf die Versternung Cäsars.
Aber, abgesehen davon, daß mir die Ergänzung 9, 35 xazrjoreQr]-
f-iEVCov ävÖQow zweifelhaft ist, gab es doch zahllose Versternungen
schon vor der Cäsars; Eratosthenes hat bekanntlich ein ganzes
Buch darüber geschrieben. Eine frondirende Gesinnung gegen
Cäsar halte ich bei Philodem für ausgeschlossen, gegen Oktavian
384 R. PHILIPPSON
wäre sie bei dessen erstem Auftreten im Jahre 44 möglich. Eher
könnte man 10, 4 als politische Anspielung deuten. Wie ich
oben darlegte, hat hier zuerst rd Tiqoq rj/ucöv k'drj xal vaovg ge-
standen, eöi] ist aber in el'ör] geändert, über vaovg ist rovg veovg
'ßeovg geschrieben. Wir haben hier also eine spätere Änderung,
die doch wohl von Philodem selbst stammt und einen bestimmten
Anlaß haben muß. Man könnte nun bei den „neuen Göttern" an
die ägyptischen denken, deren Dienst Piso und Gabinius im Jahre 58
in Rom verboten und deren Altäre sie zerstörten (s. Drumann-Groebe
II 54, 7). Die Durchsicht unsrer Schrift fiele dann ungefähr in
dieses Jahr. Ich vermute aber eine politische Anspielung noch an
einer andern Stelle. Es finden sich nämlich am Fuße einiger
Columnen in kleinerer, jetzt kaum lesbarer Schrift Zusätze, die, wie
Diels mit Recht annimmt, Nachträge Philodems sind. In dem unter
Col. 4 glaube ich nun (zum Teil in Übereinstimmung mit Diels)
folgende Worte zu lesen : elra de xal rb jtaoä xiqiv i) jigög vßQi[v]
7ioo(v)[xevov — ojLioiov Tovr äv äv[a]idovg cpaivoiro cp6v\ov'\ —
Teio6fi\e'&a\ — ä(pQovz\^LOTOvvxEg^ — xal rcöv xdzoj [o]vro)[v].
In rpovov könnte eine Anspielung auf die Ermordung Gäsars liegen,
deren Bezeichnung als ävaid}]g im Munde eines Hausgenossen Pisos
durchaus gerechtfertigt wäre. Philodem lehnte dann eine Rache an
den Mördern ganz im Sinne der vermittelnden Stellung Pisos im
Jahre 44 ab. „Eine Tat, die zur Rache oder gegen Frevel vollführt
würde, erschiene ähnlich dem unverschämten Morde. Wir wollen
uns also nicht rächen {{ov) reioo/ue^a), ohne uns um die Toten in
der Unterwelt (d. h. Cäsar) zu sorgen." Wäre eine solche Aus-
legung dieser Stelle richtig, so stände nichts im Wege, an der
andern in der Änderung zovg veovg dsovg eine Ablehnung der
Vergötterung Gäsars zu sehen. Sie sowohl wie der Verzicht auf
Rache entspräche der epikureischen Aufklärungsphilosophie und ließe
sich mit dem gemäßigten Gäsarismus Pisos vereinigen. Auch der
zuletzt besprochene Zusatz fiele dann in das Jahr 44, während die
Schrift selbst früher verfaßt wäre. Doch sieht ein jeder, wie frag-
lich alle diese Vermutungen sind.
Zum Schluß benutze ich die Gelegenheit, noch einige Bemer-
kungen und Ergänzungen zum Texte (I) und den Erläuterungen (II)
von Diels hinzuzufügen.
Fr. 82 (I 13) schließt die Besprechung der allgemeinen Tugend
und der besonderen der Götter ab und bildet den Übergang zur
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 385
Freundschaft. Ich würde daher Z. 2 f. [tov yejvi xov schreiben;
xal rcbv eldixoiZEQCOv gehört nach seiner Stellung nicht zu xqo-
Tiov, sondern zu ovoraoig: „Nachdem aber das allgemeine Gepräge
der göttlichen Tugend aufgewiesen und die dem Gotte seit Ewig-
keit eigene Zusammenstellung auch der besonderen Tugenden vor
Augen gestellt ist, — ." Übrigens hat eidixog nichts mit „individuell"
zu tun (s. II 4); etdog wie yevog sind Gegensätze von xar' ägi^judv.
Den Schluß würde ich lesen: im ro xecpuXatov äjiocpeviö/ued-a
ojisjo evio[ig] jii[£yiorov (paiverai dya&ov], nämlich zur
Freundschaft.
Fr. 87, 12ff. würde ich folgendermaßen ergänzen:
[vojuioTEOv 6' Eivai Tovg -deohg cpdixcög äXXijXoig ejiijueiyvvo-
d^ai, tva jur] nagovrcov tc5v] e^co^ev xQEioid&v 17 avficpvXia ngög
zrjv ovvavaoxQocpriv änrji, m Jiddr] nagadiöcooiv (lehren).
So ist auch die folgende Begründung {ijiijuei^iag) verständlich.
Den Schluß lese ich: ovxen x{ai) 7iQ{bg) xo Xoi\ji6v vno-
ßX[YJ]xE[ov\ (darf man uns unterschieben) xäg E[ni\io[Qr}y lag o\vx(og
[avayxaiag elvaL\.
Fr. 83 Z. 7 wohl nQog t))[v aXo&rjoiv^, Z. 8 etwa dtä [xrjg
oipecog nag' uXXcov fjdovdg Xajußdvojuev], vgl. zum Inhalt Pap. 168
Gol. I 9 ff. (d. Z. LI 1916 S. 606 f.).
fr. 86 a Z. 2: evdaiuoviag [äxQox]dx[r]g (b]g x[Q]ei[xTOvg.
Gol. 3 Z. 11 Ende vielleicht xcov x[a&' avxcöv] nach Z. 19
xaz' avxcbv
Am Schlüsse der Columne scheint mir geschildert zu werden,
wie die Menschen dazu kamen, den Göttern die Weissagung zuzu-
schreiben :
Z. 18 ff. etwa:
[xoTg\ yd\Q ägiaioig xojv
xax^ avxwv (elvai) x{al) x[cöv s]va%>xi(jOv £de[i] xr][v
evvoia[v ' xovxoov ovv xu vor)xi\xä x{at) [rr^v nqö-
Xrjxpiv e'xovxeg, ei cbv elna/uev —
Z. 24 xovxcov juev rag exx[exQi]/uevag Xel^eig eig xovg
'&eovg dvEcpEQOv.
Col. 4 Z. 6 scheint mir t^v durch Abirren auf die vorige Zeile
(xvjv yvöjoiv) verschrieben zu sein. In Z. 7 — 10 vermutet Scott
. zum Teil sovraposti. Anfang und Ende lautet vielleicht ungefähr:
xd \^ia.e\v, \el\ y' rjv y\y\(üGxd^ — [dv etioiei X\v7ir]v \xe] x{al) dvtav
negl xov [n]Q6[x]eQov £[idEvai' xd] de usw.
Hermes LIII. 25
386 R. PHILIPPSON
Col. 5 Z. 13 könnte man den Vorschlag von Diels etwa er-
gänzen: [?.oyio]jiiovg k'xlovrag] rovg [ävd'Qcßjiovg yQfjöjbtcov] jrgog-
deio&ai [ov] dy[7']avrai [(pa.]oy.eiv.
Z. 19 jia[oayJjjTOv]
Col. 6 Z. 80 ist vielleicht im Zusammenhang mit derVerster-
nung Cäsars von den Kometen die Rede:
ä[o&evel]g de (al cpvoeig) rcov [roiovjcov o]voTdoe(ov
diä (p[vo]iy.[i]v] elkslitf'iv ovh eji'] ä'iöia öi-
auEvovocüv, dA2' ovy Öti a[T6.]xTCog' ö&ev
em xe twi jui] Te}.ea)g d7zoxo?J^^X))]ß[iiv]ai
öeX di,[o]Td^s[i]v x(al) em jcoi ijxrov [rag ö]d[ovg
y.a§'i][y]eu[6]oi q)aveQäg owreXeTv näoa ydg
Col. 8 Z. 9 ovvrj(pd^[ai xä 7ie\q\1 x-rjg xöjv '&scov d[iaya)yfjg].
Z. 11 ... yQ\eiva> x{ai) ecpdlifco xd xovxoig x]cbv ovvegyovv-
xcov owlacf&evxa ' yevqjuevoi d' \a7i\6 xovxcov eig olxsiovg] xojiovg
ev&eoiv xcöv &ecö[v E]q::djixa)f.iev' x[al ydg xovxo 7zaQei]xs xö
jLiegog d7iod6osco[g txav]a)g [6 Ztjvcov (?) ev xcöi] Jiegi xf][g di]a-
[ycoyrjg ■&Ecbv' ov ydg eq)r] xcoQig xavxrjg x}]v decöv ä](p[&a]Qoiav
x[ai] §[cjo]jU7][v navxayß'&Ev ev[o\x\a\deTv'
Col. 9 Z. 13 ff. läfst sich dem Sinne nach etwa so ergänzen:
y.al UTib f.iEQOvg ö' eoxiv el-
neiv xdg Im xavxov öiaonjjLiaxog ro)]oeig, [äg
15 "decüv] s'xojuEV [em x]avx[ov y' yXlcoi x{a.i) oe-
kijv-iji], v7iEQ[ßaiveiv xavxa xd äorga, ojo-
t' i7z[Etd]i] xn'[Eg cpaivovxm xovxoig na-
QaßEß)S]odai, xi]v vöi]oiv ovx oq'&ov lEyEiv na-
QaßEßXfjodai xovroig ovxco ojiuxQoTg tmdgxov-
20 Ol, xal xaxd xi]v vjiEoßaoiv ovöe xi]i /lExa^v oxdoEi Ji{Qog-)
OTioboxEOv xdg ov/njiXoxdg
Z. 13 deutet äjio juigovg auf ein besonderes Beispiel zu der
vorigen Ausführung; ich nehme Sonne und Mond als solches an.
Zum besseren Verständnisse gebe ich die Übersetzung: „Und im
besonderen darf man sagen, daß die im selben Abstände erschei-
nenden Vorstellungen, die %vir von Göttern auf derselben Fläche
wie Sonne und Mond haben, über diese Gestirne (in Wirklichkeit)
hingehen, so daß, wenn gewisse (Götterbilder) diesen beigesellt
scheinen, es nicht richtig zu sagen ist, die (so erhabene) Wahr-
nehmung (der Gölter) sei diesen, die doch so klein sind, beigesellt,
und daß man im Hinblick auf das Hinübergehen die Verflechtungen
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 387
nicht auf Rechnung eines zeitweihgen Verweilens (der Götterbilder
bei den Gestirnen) setzen darf."
Col. 9 Z. 30:
xev]dg ö* 6 koyog im zrji q?o[QTiy.\r]\i rov y]^iov Ijuiy.Qojrjxi,
(bg 6] ijhqg jueyag div di' ä[7iooTdoe]ojg <)^aiveT[ai juiXQog ' ov
yotg] Ttjv jLioQ(p)]v Eka[TT]qyrai [öi äji6o]Taoiv fjhog' [ovöe
rd <pe]yy7] jnet[ov]Tai Tqv[TOv.
Col. 'id Z. 30 : ' [r^v
d' emjvoiav [ore juev dv]vrog, ore d' ävaxeXXovxog x\<u
(pai\öiix(o\g elavvovxog £\cp' ä}-ia[^ixa)\v 6fA,o\iav
ov\>i\ äel (pa\li\v\eo&ai xijg 7i]Qoyivojuevi]g E7i[ivoiag
x[(jöv "äecbv, xä grj'&evxa e^ l'\oov öiqXdl'
Fr. &Q etwa:
\ol jusv av&QCOTioi ovx änaixovvxai otxia xivd, xäv jurjöe/Liiav]
ä7i6Xa]yoiv avx[a] xeXrji, xaddjiEQ ovöe
(M'd\eXxai ed\mdii xoXg JzixQoig xal ÖQijue[oi xcol
yEy[/.iaoi\v ijLKpeQijg xal nm'xeXcbg 7xaQaxeToß'a[i,
ji{QÖg)(p\oQOv imcpeQoyqa ^tt]\xd)\viov, oxi, [xäv rj-
dv dl' avxijv e'xcjooi [xd^a ju]r}dsy, xal jiiv[}]jU}]v äv-
aigei] 7idvx[cov cbv e'jia&ov xaxwv
Fr. 77, 2 bedeutet o/ixoiov eItzeTv „vergleichsweise"; s. meine
Dissertation De Philodemi libr. negl orj^iEicov xal OYjfjLEicaoEOiv
p, 10, wo ich schon auf unsre Stelle und andere hinwies. Zu
diesen kommt Menander Epitrep. V. 654 Sudh.^. Vgl. auch Philod.
n. Qtjx. I 256, 15 und II 249, 6 Sudh. xoivoxeqov eitieTv. — iäv
scheint hier wäe imEQOQäv mit dem Particip verbunden.
Ich schließe einige Vorschläge zu Philodem tieqI EvoEßEiag an.
Fr. 78 (S. 108 Gomp.) Z. 9:
"EmxovQov, aXX' ov-
10 X a\jib ipvy^rjg ex-
xidh'Yu ' tiXeTov ydg
ovÖev im xovxoov
Ol 7ld]vo[o(pOl TlETlOiq-
xaoiv e]i (3' iycb
15 ÖEiico] xodd"', ö [(pa-
oiv £X£]Tv\ [iv] xoTg
xcbv dvögcüv] ov Xe-
yEod^ai 7iQ\oq)E\Q(DV —
25 7i\aQao\xrjoag'], (hg
25*
388 R- PHILIPPSON
Fr. 81 (S. 111 Gomp.) Z. 6:
ei jut] rag ävco-
zdzcoi öiaiQovjue-
vog xoivozrjrag e-
jue^Xev evrpQcov [[t]]]
10 Tig, {t(ov) iv ravraig jiqo-
eiXr]/LijuEva>v eidcö[v
juvt]fxovev\Eiv
deov, Tovg 'ßsovg
juovov dvaiQEio^ai
15 TiQog avzov (pa.v[ai
zovzov x^Q''^ —
20 zä xazd /uegog alo-
'&7]zd ze xal vo^zd
d]v[z]a>v Eidf] xal ovv-
E\az\rj\K6zwv ' cbg ydg
ä2.k[ü)]v {ziv)(bv, ovzoig ev-
25 A[dy]co? ovde zov-
XCo\v ijUVfjfAOVEV-
o[£v • e7i]eI d' —
Fr. 82 (S. 112) Z. 1: [Uyovzsg Öe, ozi — ]
xal näoav aX[rj'&Eiav
'E\7lixOVQOg E^[EiXE-
zo zoTg 7io[XXoig
e]x zcöv övzaov, \cpXva-
5 Qovoiv, cbg xd[v icöi
d(od£xdza)[i
Z. 6—16 sind von Usener (S. 127 Z. 87 ff.) im ganzen richtig
wiederhergestellt.
17 zd z[öj]v dEcov [jiQayjbia-
za, \xa\d'd7iEQ dv \ov zi-
■&£[izo] zd xoiv6[v
20 vjio zivoiv, dXkd
zd xazd jUEQog [jiei-
GEi xal did zi,[vog dnd-
zy]g' hl tiqöt^eqov
xal zovß'' "E[gjLi]a[Qxog
25 iv z(bi zEXEvx\a'Laii
Z^CJV TlQÖg 'EjUTlEÖO-
ZUR EPIKUREISCHEN GÜTTERLEHRE 389
y.Xm 7iaQaor][juaivet
xal jiQooTi^eT [ro /uaxd-
q[i]ov just äq^oßia[g votjxeov.
Fr. 83 (S. 113) [den Anfang s. oben S. 377]:
17 [Xeycov dk
xäv \raXq\ xv^Qiaig
21 rav-
xbv [xal a\jio(paive-
x\ai\, xäv T(bi dco-
öexdx\(X)\i Tiegl (p[v-
25 a[£]ct)[g xo]vg uQcbxovg
q)rj\olv ä^v&Qwnovg
EJiiv[oi'i\iJ,axa ^qju-
ßdvsiv a.q)'ddQX(x>v
cpvaecov '
Fr. 84 (S. 114):
5 ovde
ydg hl x\rj\Qeixai x[6
7iavxE\X\wQ o[v evö\cu-
fjLov xal xb TiQog ^[ta-
Xvoi\y a\örix\xo)\g
£Xo\y.
Fr. 102 (S. 120) Z. 3:
edoiev] d>g xdig
5 jieqI xo\v *EmxovQov
iäv x]oiavxag ive- ,
dglag, alg äv vqxe\QOV
doxco\qL xal (jue)xa/LieXeq-
'&]ai, olag xxX.
20 v[7Te-
Q]dv(ü ydg oJjuai xbv
Xoyov] ye ^Qrjvai xe-
'&et]o'&at ndvxcov, Xe-
yco dh xbv äXrj'&f] xal
XEIJu]eVOV EV XTjl ■&£-
coQijai, oldv 'EmxovlQog
7lQ0[v'&t]XEV.
390 R. PHILIPPSON
Fr. 103 (S. 121) Z. 4:
Ceo[av-
5 reg dq?i]evT [ov]de
?.oidoQi]cöv k'vioi zöjv
ivavzi](JOv, Tiveg (5' e\jiai-
veiv To\vg TiQoyovovg
ye Tjyv] avrcov aige-
10 oiv, dAA' r]]juäg juovovg
elvai rE]TV(pcojUE-
vovg ävao]TiX?^ov-
oiv 6 d'] ovv 'Enixov-
- Qog '^ju^g] xevajv [do~
15 ^öjv anoXvjei rcbi ■{)'e[i-
0)1 ßXajjLfxdzoov
änav äjiayoQsvjua
TiQogdelg aldov/ns-
vog ■ ovde (pojßovjuai
20 juij y ovxog\ adeog £[t-
Vai TlVt\ bÖ^Tß XOiV
00i(pQ6v\(ÜV ÖVTOiV,
ovr\cog änavxa xaxa-
^icog keyco]v xä jisqI
25 '&Ea)v xal a\7io(paiv6-
fxevog xb [fxaxaQLOV
näv d.tdiov\ y.al ä(f&aQ-
xov lelvai]'
Fr. 105 (S. 123) Z. 5:
OJO-
■&' Ol Xeyöjuelvoi dei-
oiöaii^iovEg El[g ävv-
7iEQßh]xov ä\xaQa^L-
av ExßdXkEiv ' [xal
10 yoLQ 6 zr]v d'&ar[aoiav
x[al x^-jv äxqav /ua-
xa[Qi6zi]x]a xov •»^'[gjot;
aco[<^a)v e\v ä7iaoi[v äya-
'doTg xal ov]va7ixo/X£-
15 {vaig 7]do)v]aTg' Ev]oEßi]g x[al
ji£q[1 iu7]dE\vög Exd[x£-
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 391
QO}' [a7iod]o^afi£r[og'
6 d\£ TO &ei]qv x^Qig
ÖQy[fjg xai] y^dgiTog
20 do&£vovot]g [[tag]] £-
^atT (enr)' ov ragaTTol/uevcov]
Fr. 116(S. 133)Z. 1:
\6u de
7CQ]ogXo[yiCeo&ai X6-
ycoi] 7id[vTag '&ecoQt]-
rov]g v[oy]]o[ei JisQilr]-
7i\za)v TMv [elöco-
5 Xmv ju}]d' [aiOT&ijoe-
oi, 7iaQejii[oTt]od~
juevov TO f.irj [tivx-
vov elvai voe[Toß', aio-
davofievov t' elg
10 TO orEQ£ix\^>io\v Jido-
yeiv avTO ' [rovg] d[€
voovjuivovg rijv
7iaQaio&7]oei oaQH[i-
vrjL 7ieQikr]JiTi]v al'o-
15 '&r]]oiv, i]v xal ä7i\6 cpv-
oecog ey[voj]oav €[ig fifjLäg
dvajieixneod^ai, \xqi-
oiv xav[rt]v vofxi-
t,e\o&ai 7ieQ\l votj-
judTCOv] 7idvT0j[v
TÖJv äX?.[cov
Fr. 117 (S. 183) Z. 2:
aVTo[TEXfj Tld-
oa\v elvai ti]v xöiv
■&E(o\v ovvxq[ioiv
5 (paiv]ojuevü)[v oi'dev
€'x£i]v vjiqvXov
Ev ök] T(x)i negl "&£-
Cbv dv]aju(piXExra>g
ri'&EJrai xb xtjv
10 cpvoiv] dvvxrjv [e-
892 R- PHILIPPSON
yov deiv\ änav \el-
vai (pd^ovjsQoy xa[t 6q-
yiXov] fXYj voeTo\&ai
Tolg\ öXoig
Fr. 119 (S. 134):
\tovtcov yoiQ\
vjiag [xal övag '^juag
£^£t[r q)]av[Taoiag, alg
ju6k[ig] av [jieio'&eTjuEv
rcbi xa[l regaoiv äk-
5 Xoig '&' (bju[oia)0'&ai'
dl' ijv /' v[7i6Xr]yjiv
xarayva}[oeTai Jiai-
dojuaxia[v zcöv öi-
aßaHövraw t^]v fjfie-
10 xEQav 6 ovv\d^eig^ ä
Tiagd ToTg älgy^aloig
fjLvix\r]£TO x\aTa rag
n6[XE\ig "Alprjväi xal
"AQe[i ■&]voju[Evoig '
15 Tav[Ta xal äXXa
jiQo\griy'\ayo\y tiqoze-
Qov\, ä 7' Ei'xa[^ov jiav-
TOfJotg 7i6.'d\^Eoiv, ä
r' EÖoyfiajiI^lov ' ov-
20 T£ yoLQ E^f]o[av
ßXEJiovrsg [sig xovg
noXXovg ovdk \xe-
vä{g) öo^ag xaT\a ovjlc-
TtEQKpOQOLV ay[T(ÖV £-
25 ^Ed^rixav, öjo[rs xaxä
xavxrjv vji6[Xt}yHv
ovo' öXcog eyljurjxdvEi-
av EJioiov[vxo xa-
■&d7l£Q Ol Xg[i7ioL
Z. 16 , führte ich früher an", wohl im ersten Teile der Kritik
der Volksgötter, Zu iyjutjxdvEia Z. 27 vgl. Philodem ji.oQy. 11,10
iy[jurj]xaväxai (Grönert, Mem. Herc. S. 53), wo Wilke allerdings
Inifjirjyaväxai liest.
ZDR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 393
Fr. 121 (S. 136)Z. 4: , ., „,
od aX-
5 Xovg (}i]o]l Xe[y\eiv —
15 ovv[xQioeig,
E7ieidi)7ieQ [al juev d-
vaiod[7]T]oi zeXefog,
al de näoai q)\&aQxai'
jui]dEV [de Xeyetv
20 rovg '&e[ovg (p^aq-
Tovg öX]cog, d[AA'] ov-
X ävai[o&/]r]o[vg] juö-
vov el[vac] vojui-
Covrag, [ö]v u ■&e[v-
25 rag ei]vac ya[l ä-
od)jua\rov [röv ■ßeSv
.dAA' oljjuac owlfia juev
Tov] '&e6v, a[<pd'aQTOv
öe eT]vai xal riöv
30 (p'&aQljüyv [äöexrov.
Z. 6 — 15 gleich Gomperz, der Schluß wie Diels (11 S, 31, 1).
Die aXXoi, gegen die Philodem hier streitet, sind wohl Stoiker. Ihre
Götter sind nach epikureischer Anschauung empfindungslos wegen
ihrer Körperlosigkeit, sterblich, weil in der exjivQcooig alle Götter
in das eine göttliche nvevjua aufgehen.
Fr. 122 (S. 137) Z. 17:
'E7zi]xovQa>i ö' ev
TÖJi jisQi 'd']eä)r> rö jurj
ye (pvo]et, rt]v do-
20 ■&evfj fx]ev ovvxq[ioiv
e'xov], ov[v]d)[vvjuov de
rfji -deiai] xal ro jut] rfjg
cpvoEOjg bv\ [xeTE^ov-
orjg rä>]v äXyr]d6[va>v,
25 Sor' £| ä]vdyxr]g jua-
kaxiag 7ioX\käg noijoai
ätdia (pv]oig ovoa
(paivexai\ xai rig
Fr. 123 (S. 138) Z. 1:
ex Tov]ra)[v oyjoj/ue'd'a
avT^ovg x[al xov] rrjg 6-
394 R. PHILTPPSON
fioiör]r]rog [tqotiov] xal
T?y]c Tojv \a.x\6ix(ov [ftg ekd-
5 ;t<]cTrov 7iaQe\y\xlioe[a)g
TiaracpdoHOvxag ex
yQa(pco]v avTCoV xal xzX.
In den folgenden beiden Fragmenten kann die Ergänzung mehr
noch als in den vorigen teilweise nur nach dem Sinne erfolgen, da
meist nur die Anfänge der Zeilen in ihnen erhalten sind.
Fr. 124 (S. 139): 6 [<3'] ä[cp\^aQT[og, el xal
juovov Ef.i[m/xjiXa-
rai Xax[d.vcp, nhjgoT
T7]v e[jiiß v/iäav fmX-
5 X\o\v \i] TQvq)wv, ov rag
x&v aXX\(jC)v äßgäg di-
aiiag d\iaircöv, äX-
Xä zag 6ju[oiag rcöv e-
vovTcov [avTCOi xaxä
10 TYiv \cpvoiv oixeicojud-
xcov xdl^eXey^siv
dv]vaT[6v ioriv
ex x(bv [äorarov
Trjv öl^id'&eoiv Jiag-
15 exovTCOv \Tovg övei-
diCovi\ag rag ä-
nXäg dta\iTag ijjucöv,
dXXd 7ivx[vdg x^QO.'^
djiOTeXovo[ag ' öi-
20 ddaxei ö' 6 'E[mxov-
Qo]g ev xcbi N[eoxX£T,
(hg ra\ jigög to o[(b/Lt' dvay-
xdia \^dn6X\av\oLv juei-
Cü) Jioijei Tüiv [docÖTCOv '
25 7ioi\eiv y[dQ tö oöjju' d-
OTa§eg cpa\veQ6v
eJv' V7iv[i]a}[v xaxcöv
did jüiv z\Qvq)eQ(bv
\diaiTcbv yivo/uEvcov].
Fr. 125 (S. 139) Z. 3: [ei de xaxd
XTjv lo[xoQiav xd
ZUR EPIKUREISCHEN GÖTTERLEHRE 395
5 aco[/^]aT[a Jidvxa
x]az' E'v[voiav diakv-
exai, xal r[?)v yeve-
oiv avrijv [äßereiv
xal TtQog t[6 ovveywg
10 diafxevE^iv ramöv ä-
7iokei7ie[oüai jui]-
d[ev] roTg [ßsoTg' tov-
ro (paoi jueyiq[T07'
elvai rexju/]Qioi'
15 TOV 7isQiaiQ[eTv ro
'ßeiq[v] EX Tcöv [öv-
rcov xov Ex{f\EVxa oco-
juaTc\xöv [eIv' avro '
akX a\nEXi7i\oiiEv
20 avx(bi\ xalG&i]oiv
xal xi]v 'f]dovi]v
xal x[i]v £o]'&?J][v e^iv
xäjiEOx^oajUEv xa-
TCt xd ivvo/jjuaxa
25 7zd]vxa xi][v] y[evEOiv
jUEv dv[xa)v] fii] \q)'&o-
[^a? ÖExxixcöv . . .
Ich mache übrigens auf die wichtigen slichometrischen Beob-
achtungen Dom. Bassis in seiner Sticometria Ercolanense (Riv. d.
Filologia 1909, Estratto p. 65 ff.) aufmerksam, aus denen zweifellos
hervorgeht, daß Pap. 1098 vor Pap. 1077 und Pap. 229 zu setzen
ist. Ein Irrtum ist es allerdings, wenn er Pap. 1428 an das Ende
des ganzen Werkes setzen will. Denn am Schlüsse dieser Hand-
schrift wird deutlich daraufhingewiesen, daß in einem neuen Buche
nun die Ansichten Epikurs selbst über die Frömmigkeit besprochen
werden sollen. Wir haben also mindestens zwei Bücher, wie Gom-
perz auch annimmt, vorauszusetzen; mit dem zweiten beginnt eine
neue Reihe stichometrischer Zeichen. Doch mit dieser Frage wird
sich ein neuer Herausgeber dieses wichtigen Werkes eingehend zu
beschäftigen haben ; hoffentlich stehen ihm dann auch die Urschriften
wieder zur Verfügung.
Magdeburg. ROBERT PHILIPPSON.
DAS ZWANZIGSTE KAPITEL VON HIPPOKRATES
DE PRISCA MEDICINA.
I.
Die Textüberlieferung.
Die vielverzweigte Entwicklung der Hippokratischen Briefsamm-
lung hat kürzlich dadurch eine neue Beleuchtung erfahren, daß Diels
in d. Z. oben S. 57-87 aus dem Urbinas 68 s, XIV den 19. Brief
in einer Gestalt herausgegeben hat, die von der bisher bekannten
sehr stark abweicht und viel ausführlicher ist. Daß zwischen den
beiden Fassungen dasselbe Verhältnis besteht wie zwischen den
längst bekannten Doppelfassungen der kleinen Briefe 4 und 5, hat
Diels sofort ausgesprochen und gewiß mit Recht angenommen, daß
auch die neue Form des 19. Briefes im Anfang der Kaiserzeit ent-
standen sein muß. Gomponirt ist dieser sogenannte Brief, in
Wirklichkeit ein Xoyog jisqI juavirjg, den angeblich Demokrit dem
Arzte übersendet, ganz in der Weise wie etwa die Abhandlung
Tiegl iXXeßoQiojuov, die das 21. Stück des Briefromans bildet; hier
wie dort sind die Hippokratischen Schriften aufs stärkste aus-
gebeutet. Auch das hat Diels sofort dargetan. Doch läßt sich zu
den reichlichen Quellennachweisen, die er vorgelegt hat, noch ein
kleiner Nachtrag geben, der vielleicht ein gewisses Interesse be-
anspruchen darf.
Außer den Epidemien, de victu I, de morbo sacro, de morbis IV
ist nämlich auch die Schrift über die alte Medicin im Eingang be-
nützt. Da die Sache nicht ohne Bedeutung für die Textgeschichte
ist und das 20. Kapitel von de prisca medicina, um das es sich
hier handelt, starke Varianten aufweist, wird es nötig sein, zunächst
den Text des benützten Abschnittes vorzulegen und kurz zu be-
sprechen.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 397
Äsyovoi de Tiveg xal irjTQol xal ooqpioxal, (hg ovx eh] övva-
röv it]roixi]v elöevai öorig jur] olöev 6 n earlv avß'Qwnog, ulla
rovzo öeT xarajuad^eiv röv jueXlovxa ögß'ajg d-eganevoeiv zovg
dvd^QCüjTOvg. reivei de amoXg 6 Xoyog eg cpiXooocpirjv, xad^dneQ
5 'JEjujiedoxhJg ?j äXXoi oi jisqI cpvoiog yeyQdrpaoiv {el^yjxrixaoiv)
ei dgi^jg o ri eorlv äv§Qcojiog xal ojtcog eyevexo tiqcoxov xal
önod^ev ovvendy^]. eycb de xovxo juev, öoa xivl el'grjxai i] oo-
(pioxf] }] IrjXQM i] yeyQanxai neql cpvoiog, rjooov vojuiCo) xfj bjxgixfj
xeyvi] ngooijxeiv y] xfj yQacpixf], vojui^co de negl q)voiog yväjvai xi
10 oacpeg ovdajuö&ev aXXo&ev eivai i] e^ itjXQixfjg' xovxo de olov xe
xaxajua^eTv, oxav avxrjv xig xrjv irjXQixijv oQ&ojg Jiäoav neqiXdßij '
juexQi- de xovxov jioXXov /.loi doxei deTv ' Xeyo) de xrjv loxoQirjv
xavxYjv, eldevai äv&QCOJiog xi eoxiv xal dC oXag alxiag yivexai xal
xdXXa dxQtßewg. enel xovxo ye /xoi doxel dvayxaiov elvai irjxgo)
15 Tiegl (pvocog eldevai xal ndvv ojzovddoai (hg el'oexai, emeQ xi
jueXXei x(hv deovxoiv noitjoeiv, ö xi xe eoxiv ävd'QCOxcog Ttgög xd
Eoß^iojuevd xe xal nivojueva xal ö xi jigög xd dXXa ejiixrjdevjuaxa,
xal o XI d(p' exdoxov exdoxcp ovjiißyoexai, xal /xrj djiXiCdg ovxcog '
^novriQOv eoxiv ßgcofia xvgog' novov ydg naqeiei xco nXr]Q(o§^evxi
20 avxov^, dXXd xiva xe novov xal did xi, xal xivi xcöv ev xco dv-
'&Q(OJi(x) eveovxojv dvejiixr'jdeiov.
A = Par. 2253 s. XI; M = Marc. 269 s. XI; ^- = vulgati Codices.
1 xal ante trjXQol om. A, secl p/". 7/8 // ootpiaxfi rj Itjxqöj el'rj A; eV; M;
EVI vel eoTi g; s'vi [övi'azdi'] Reinhold dvvazog Kühlewein sine nee. 3 8eiv
Gomperz, Apol. d. Heilk.- p. 171 ß^egamveiv M 4 relvei] rj rivi A* mg.
ös] ze M. 5 "E/ii.-isSoxXei]? M add. Fohlenz, (sleyov) ^Tmerins; {8eixvv-
aoiv?) Gomperz, Apol. d. Heilk.' p. 171 6 verba äUä {2)—äv&Qcojiog (6)
quae propter homoioteleuton in omnibus codd. praeter AM exciderunt post
ovvETiäyr} (7) trcmspos. Rhd. Kühl., ita tarnen tct alterum o rc iailv äv&gcojiog
delerent, i^ ag^f]? post avvE.-räyi] ponerent 7 d.Tdi^er A; o&ev M; 6'jicog g
TovTOiv M'^ i) om. Ms 10 olöv rai A' corr.* 11 rijv i)]zq. clel.
Ilberg jiäoav om. A 12 jioXXovg /lwi öoxdei lösTv Mg 12/13 ravztjv
xrjv ioxoQirjv slvai ävß-. A 14 ejtsI xovxo M; sjtl xovxo {xovxco A*) A ;
insi rot g navxi itjxqö) g; irjxgqj om. A 15 OJiovdd^at. nonnulli g
wojiEQ A 16 Jioitjoiv A XE om. Mg 17 re om. M?, cf. Schonack,
Curae Hippocraticae, Regimont. 1908 p. 81 sqq. xai 5 xi — EJiixt]8sv^iaxa
{cf. p. 11,2 Kühl, al.) om. omnes pr. A 18 priiis xai om. A fitj] 8tj A
18/19 xai /Lirj anXöjg ovxoi 8oxeeiv oxi jiovyjqÖv g 19 Jiövov^ jiovrjQovA. jzaq-
ixsi A; EXEi M; q)EQEi g 20 Ttovov] xqÖjiov A 20/21 xmv ev xä) dv&QcoTiq)
iveovxwv A; tcüv dvd'QcöjKov Mf
398 M. POHLENZ
Der Autor legt hier grundsätzlich seinen Standpunkt gegenüber
den Ärzten dar, die als Voraussetzung für jede medicinische Tätig-
keit ein volles Wissen über die Natur des Menschen betrachten.
Eiösrai o ri lorlv ävdocoTiog ist das Schlagwort, in dem er ihre
Anschauung zusammenfaßt, um als seine eigene Ansicht die Be-
schränkung auf ein Wissen o rt te Iotiv ävOgoiTioi; Tigög rd
eo&iojLierd te y.al Tiivouera xtL gegenüberzustellen. Er kenn-
zeichnet seine Gegner, ähnlich wie es der Verfasser von jt. cpvoiog
d.v&Q(ü7iov im Eingang tut^), als Leute, die über das Fachwissen
der h]rQiy.)] hinaus zu einer allgemeineren Wissenschaft, einer cfilo-
oo(pb] vordringen wollen, wie ja Empedokles und andere Natur-
philosophen Untersuchungen über das ursprüngliche Wesen des
Menschen 2), über die Art seiner Entstehung, die Stoffe, aus denen
er zusammengesetzt ist, angestellt haben. „Ich aber", so fährt er
mit der starken Betonung der subjektiven Überzeugung, die wir an
diesen Ärzten kennen, fort, „meine, daß die Frage, was Gelehrte
oder Ärzte über Naturphilosophie geschrieben haben, die ärztliche
Kunst gar nichts angeht" — wir erwarten nach dem tovxo }x,ev
die Fortsetzung, was er positiv selbst für notwendig hält. Statt
dessen biegt er zunächst ab, um im Gegensatz zu den Männern,
die ihren Ausgangspunkt bei der Naturphilosophie nehmen, zu er-
klären: „Vielmehr halte ich den umgekehrten Weg für geboten:
wer zu sicheren Ergebnissen in der Naturerkenntnis gelangen will,
muß von der Medicin ausgehen" — ehe er nun darlegt, woran er
bei diesem sicheren Ergebnis denkt, schiebt er wieder erst noch mit
Rücksicht auf die richtige Methode den Gedanken ein: „Das kann
man aber erst erreichen, wenn man die Medicin selber in ganzem
Umfange erfaßt hat, und so weit sind wir noch lange nicht", und
nun kommt er erst damit heraus, was für ein sicheres Ergeb-
1) "OoTig i-iEv sl'ojdev äxoveiv leyövrcov afxtpl zfjg (pvaio? rfj? avdgo)-
7iivr]5 jioQQOiXEQO) fj oxöaov avxrig ig IrjTQiHrjv iffi]y.ti, tovtco /nev ovx E:nTtj-
dsiog o8e 6 Xöyog axoveiv.
2) Bei Ergänzung eines Verbums wie i^ijit'jy.aoiv fällt die Umstellung
Reinholds von selbst weg. i^ UQ/Jig ist wohl absichtlich so gestellt, daß
es sowohl zu s'Qt^xrjy.aoiv wie auch zum Folgenden gezogen werden kann.
Vgl. de victu 2 (prjfii dt] 8eTv rov fiE/J.ovza doßwg ov/ygärpeiv :tsoi öiaixTjg
dv&Qcojiivrjg ngcörov fihv navrog qwaiv äv&QCOJiov yvwvai y.at öiayvcövai, yvtö-
vai (liv OjiÖ Tivcov ovvioxrjy.ev i^ ägyijg . . . shs yäg rip' i^ ao/fjg avaxaaiv
fif] yvojaexac, aber auch die nachher S. 408 ff. zu besprechenden Plato-
stellen.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 399
nis ihm vorschwebt: „ich meine das exakte Wissen vom Wesen
des Menschen, den Ursachen seiner Entstehung usw." Dieses Wissen
lehnt er also nicht, wie es ursprünglich scheinen konnte, ganz ab.
Er will nur zeigen, man dürfe es nicht von irgendwelchen natur-
philosophischen Hypothesen aus zu erreichen hoffen. Vielmehr dürfe
man es nur von der Vollendung der medicinischen Wissenschaft
erwarten. Aber diese ist ein Ideal, das noch in weiter Ferne steht,
und so wäre es verfehlt, wollte man vom praktischen Mediciner
dieses Wissen verlangen. Auf dieses will also unser Autor im
Gegensatz zu den spekulativen Ärzten verzichten. Freilich nur auf
dieses; „denn so viel muß der Arzt freilich von der Natur wissen
und sich unbedingt anzueignen suchen, wie sich der menschliche
Leib gegenüber Nahrung, Bädern, Übungen usw. verhält, was diese
auf jeden einzelnen Organismus für einen Einfluß haben, warum
dies der Fall ist, welche Bestandteile des Körpers auf den äußeren
Reiz reagiren". Das ejtel — y£ Z. 14 ist natürlich nach dem von
Vahlen, Opusc. I p. 99 ff. für das lateinische na)n erläuterten Sprach-
gebrauch zu verstehen ^). rovrö ye bringt endlich die Fortsetzung
zu dem rovro fiev aus Z. 7, ist also unbedingt dem enei roi ye
der Vulgärcodices vorzuziehen. Auch wenn diese gleich darauf vor
IrjTQCp ein navTi einfügen, so ist das ein zwar sinngemäßer, aber
unnötiger und die Prägnanz des Ausdrucks beeinträchtigender Zu-
satz. Das Fehlen von h^xQcö in A dagegen beruht wohl nur auf
einem Versehen.
Nun zu dem neuen Hippokratesbriefe. Dem Verfasser war
offenbar unser Kapitel wegen seines allgemeinen Charakters sehr
willkom.men, und wenn er für die Erörterung der Principienfragen
auch weder Verständnis noch Interesse hatte, so konnte er doch die
einzelnen Wendungen für seine Einleitung gut verwerten. So lesen
wir denn an deren Schluß § 10: T]v jut] yoLQ rrjv £| äg^^g ovoxa-
1) Plato Symp. 187 A: &OJieo l'ooig aal 'HgäxXeirog ßoHsrai, XeyEiv
ETiEi ToTg ye gr^f-iaotv ov xa'/.wg ?Jysi. 'Ich betone, er hat die Absicht; denn
zum Ausdruck bringt er diese nicht richtig.' Prot. 333 C: aioxi'voi/:it]v
av k'ycoys rovzo ofw?Myeiv' etieI jtoXXoi ye <paoi rcöv av&Qchnoiv . Die Ver-
kennung des Sprachgebrauchs hat in de prisca med. 4 manche zur falschen
Annahme einer Lücke geführt: 'Wenn man die naturgemäße Auswahl
der Nahrung in der alten Zeit nicht als rEyji] betrachtet hat, so ist das
kein Wunder. Wo es keine Idiwxm gibt, gilt auch niemand als TEyvm]?.
'Es gilt', sage ich; denn sachlich ist die Erfindung durchaus ein Zeichen
der XEyvrf — ejieI tö yE EVQrj/iia /nsya rs xal noXlfjg axevnös ze xal zeyv7]g.
400 M. POHLENZ
oiv ijiiyvcüoijrai rfjg vovoov öxoit] rig eozi xal dt' olag ahiag
yiyvEzai xal xäXXa äxQißecog {Xsyco de rov jueXXovra oQ'&cbg a.7to-
cpatveo'&ai Tiegl amerjg), ovx olog t av eirj rä ^vficpEQOVxa xcp
äXövTi jiQooeveyxeiv. Hier stammt nicht nur der Schluß, wie schon
Diels vermerkt hat, aus de victu I 2, sondern ebendaher auch der An-
fang, vgl, die S. 398 A. 2 angeführten Worte slre yag rrjv i^ otg^^jg
ovoxaoiv juf] yvcooExai. Was dagegen dazwischen steht, stammt aus
de prisca med. 20, vgl. für die Parenthese Z. 3 und 15, für das übrige
Z. 12 Xeyco de xi]v loxoQirjv xavxrjv, elöevai äv^QConog xi eoxiv
xal <5(' olag aixiag yivexai xal xäXXa dxgißeoyg. Auch die hier
zunächst nicht verwerteten Anfangsworte Xeyco — xavxrjv hat der
Briefschreiber sich nicht entgehen lassen. Denn nach einigen vor-
läufigen Bemerkungen über die Hundswut nimmt er § 24 den Faden
genau da wieder auf, wo er ihn fallen gelassen: dAA' ävaßijoofxat
O'&ev aneXiTtov, Xeyu> de xrjv loxoQirjv xavxrjv, ixdirjyevjuevog
Xvooa xi ioxi xal öxoioioi diayiyvcboxexai xal xiva xqojiov ano-
Xaxpeoixo^). enet xoi ye juoi doxeei ävayxaiov elvai jiavxl
IrjxQO) jieqI exdoxov xöv vovoijjiidxwv eldevai, exaoxov xi eoxi
xal dl' oi'ag aixiag yiyvexai, xal Jidvv ye oxcovdd^eiv (bg
el'oerai. fjv ydg xig eldeiij xijv alxirjv xov voorjfxaxog, ajoneq [xoi
TiecpQaoxai xal exEQOJiJi, oiög t' äv eirj xd ^vju<peQovxa Jigoodyeiv
xcö ocofxaxi xxl. Die letzten Worte wiederholen, was am Schluß
von § 10 aus de victu gegeben war. Vorher schreibt der Autor aber
die Stelle aus de prisca med. weiter aus. Und hier ergibt sich nun
Interessantes für die Beurteilung unsrer Überlieferung. Daß die
Lesart von Mg xyjv loxoQirjv xavxrjv, eldevai bestätigt wird, braucht
freilich nicht zu verwundern, da A mit xavxrjv xrjv loxoqirjv elvai
eine offenbare Corruptel bietet (Kühlewein hätte deshalb auch die
Stellung xavxrjv xrjv lox. nicht aufnehmen sollen). Aber wesentlich
ist, daß der Brief mit enei xoi ye juoi doxeei ävayxaiov elvai
navxl irjxQcp . . . eldevai die verfälschte Lesart der Vulgärhand-
schriften voraussetzt. Diese hat also am Beginn unsrer Zeitrechnung
schon vorgelegen.
Das ist merkwürdig. So viel stand freilich schon früher fest,
daß die beiden Zweige der Überlieferung, die für uns durch die
Handschriften A und M repräsentirt werden, sich schon im Alter-
tum getrennt haben. Und ebenso war klar, daß die Vulgärhand-
1) Die Interpunktion habe ich gegen Diels im Hinblick auf das
Vorbild von de prisca med etwas geändert.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 401
Schriften zwar eng mit M verwandt sind — man sehe z. B. Z. 12
TioXkovg juoi öoxeei ideTv und Z. 20 rcov äv&gcojiayv — , aber nicht
aus M stammen können (vgl. Gomperz, Apol. d. Heilk.^ S. 64). Aber
erst jetzt sehen wir, dafs auch M und g sich schon vor Beginn
unsrer Zeitrechnung getrennt haben, die Scheidung von A und Mg
also noch viel früher erfolgt sein muß.
Macht man sich dies klar, so wird es das erste sein, daß man
sich fragt, ob denn unter diesen Umständen Kühleweins Princip
aufrechterhalten werden kann, der die Vulgärhandschriften in seinem
Apparat im allgemeinen überhaupt nicht erwähnt. Tatsächlich ist,
soweit man nach Littres Angaben sich ein Urteil bilden kann, der
praktische Wert dieser Überlieferung für die Textgestaltung nicht
groß. Stimmen A und M überein, so verlangt die Recensio die
Ignorirung der andern Codices von vornherein, und es gibt keine
Sonderlesart von g, die sicher Aufnahme verdiente ^). Eine gewisse
Bedeutung kann aber die Vulgata als Controlle von M beanspruchen.
Wo sowolil M wie g von A abweichen, stellt g freilich zumeist
nur eine weitere Station auf dem Wege der Verwilderung dar, die
der Hippokratestext in den für praktische Zwecke gemachten antiken
Ausgaben erfahren hat. Aber gelegentlich können wir doch durch
den Vergleich mit g die Lesart von M auf eine ältere Form zurück-
führen, häufig durch die Übereinstimmung von Ag eine Sonder-
lesart von M als jung und wertlos erkennen (z. B. Z. 3 deganeveiv,
4 te), und vor allen Dingen haben wir im Falle der Übereinstim-
mung von Mg die Gewißheit, daß die Lesart antik ist. Gerade das
scheint mir nicht unwichtig. Es ist ja kein Zweifel, daß im all-
gemeinen A zuverlässiger ist als M. Da liegt nun die Gefahr nahe
daß man seinen Wert überschätzt, und das scheint mir Kühlewein
nicht selten getan zu haben. Ich führe ein paar Fälle an.
Am Ende von c. 2 schließt der Arzt die Einleitung mit den
1) Man könnte meinen, daß in Z. 1 in dem ivi dvvaiöv eines Teiles
der Vulgärcodices ein bloßes svi als ursprüngliche Lesart stecke, die
nachträglicli durch ein et?] (ion) dvvarov verdrängt sei. Aber in diesem
Sinne kommt evi. in de prisca med. nicht vor (sonst p. 16,2), und das sh]
dvvaxöv nach P.iyovoi ist natürlich berechtigt so gut wie etwa bei Arist.
Eq. 135 agarsTv, ecog ersQog dvijQ ßdsP.vQcoTSQog aviov ysvouo, wo 6 xQf}Ofidg
ävxixQvg Isysi vorhergeht. Die Stelle aus de prisca med. 17: iyco 8s ^wi zovxo
(isyiozov csxfj.i^Qiov ^ysiificu elvai, ort ov 8ia ro ■dsQfiov anl&g jivQeraivovaiv
Ol äv&Qconoi ov8s zovto sl'r] x6 al'xiov xt'/g xaxcöoiog fxovvov darf man aller-
dings nicht heranziehen; denn da ist vor sl'rj wohl ein av ausgefallen.
Hermes LIII. 26
402 M. POHLEiMZ
Worten ab: y.al diä rama ovv ravra ovdev dsT vTio'&eoiog. So
lesen wir wenigstens nach A bei Kühlewein. Allein ravra als
Subjekt ist ganz nichtssagend und hat im Vorigen keinen Bezug.
Die Medicin selber ist es, die keiner Hypothesen bedarf. Das hat
der Autor vorher ausgeführt und will er jetzt zusammenfassend ein-
prägen. Und wenn wir nun an seine Worte in c. 1 (p. 2, 1 K.)
denken dio ovx fj^iow avrrjv Eywye xevtjg vjto^eoiog deXod^ai,
so ist kein Zweifel, daß Mg richtig überliefern xal diä ravra ovv
ovdev deaai vjro^EOiog. A hat ravra interpolirt, weil man das
Subjekt vermifste. Tatsächlich müssen wir auch ziemlich weit (bis
p. 2, 20 K.) zurückgehen, um die hjrQix)] ausdrücklich erwähnt zu
finden. Aber dem Arzte schwebt eben die Medicin als der Haupt-
begriff, als sein Thema vor, und so setzt er unwillkürlich die rich-
tige Beziehung bei seinem Leser voraus. Genau den gleichen Fall
treffen wir nachher in c. 9. „Die Sache liegt bei der Medicin nicht
so einfach, daß nur die starke Nahrung schadet; auch der Mangel
an Nahrung, der Hunger, wirkt verderblich. jioÄXä de xal äXXa
xaxd, eregola juev (juev om. A) rcbv äuo TtlrjQcooiog ovy^ fjooov
de öeivä, xal dico xevcooiog. öiorc (öiöv M di' d>v g) nolXov Jioi-
xiXwreqa re {noixiXcoreQf] re Mg) xal öid nXeiovog äxQißehjg eoriv. "
Hier könnte sich jioixiXcorega nur auf die eben genannten xaxd,
die aus der xevcooig hervorgehen, beziehen. Aber das widerspricht
dem ganzen Zusammenhang. Der Satz schließt vielmehr den Ge-
danken ganz ab, der am Anfang des Kapitels mit ei /.lev fjv djiXovv
eingeleitet ist, und was das Subjekt sein muß, zeigen uns Stellen
wie c. 12 (p. 13, 2) yaXenov di] {de A mit Teil von g) roiavri]g
dxQißeh]g eovorjg Jtegl ri]v reyvrjv rvyydveiv del rov args-
xeordrov [dxQareordrov A) (vgl. auch das Folgende) und noch
besser der Schluß von c. 7, wo der Arzt den Nachweis, daß die
wissenschaftliche Medicin sich von der naturgemäßen Auswahl der
Nahrung in der älteren Zeit dem Wesen nach nicht unterscheidet,
mit den Worten abschließt: ri di] rovro exeivov diacpegei dXX' i]
[jiXeov] ro re {ye k)^) eidog xal öri noixiXcoregov xal nXeio-
vog TiQfjy ju areif] g ; dg^i] de exeivt] t) Jigoregov yevofievi]. Also
schwebt auch in c. 9 die irjrgix"^ als Subjekt vor, die freilich seit
dem Schluß von 8 nicht mehr genannt ist, und TTOixiXo^regt] ist
die richtige Lesart. Ganz ähnlich steht es endlich mit einer Stelle
1) Vgl. p. 5, 14 sjisi t6 ye svgtjfia fieya zs xal TioXki]? axsxpiög re xai
rexvrjg u. Ö.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 403
des 3. Kapitels. „Die ävdyxi] ist es gewesen, die zur Entdeckung
der diätetischen Medicin, zur richtigen Auswahl der Krankennahrung
führte. Sie hat es ja auch schon in der alten Zeit bewirkt, daß
die Gesunden zu einer specifisch menschlichen Ernährungsweise
übergingen. Ursprünglich teilten die Menschen nämlich die tierische
Nahrung, hatten aber natürlich davon starke Beschwerden, dia di)
rain}]v t))v ahh]v xal ovroi jlwi öoxeovoi Cv^fjoai xQO(pi]v dg/Lio-
Covoav jfj cpvoei xal sugeTv TavT)]v, f] vvv ygecüjueüa (p. 4, 16).
So liest Külilewein mit A, aber Mg haben nicht aizit]}', sondern
XQeirjv, und wenn es schon an sich unwahrscheinlich ist, daß
dieses signifikantere Wort für das blasse ahhjv eingedrungen sein
sollte, so wird seine Ursprünglichkeit dadurch erwiesen, daß das
ganze Kapitel eine Specialanwendung der kulturhistorischen Theorie
ist, wonach der Zwang der Not es war, der alle Kulturfortschritte
hervorgerufen hat. Darauf hat schon Wilh. Meyer in seiner Göt-
tinger Dissertation Laudes inopiae (1915) p. 28 hingewiesen, und
er hat zugleich gezeigt, daß als Termini zur Bezeichnung der Not-
lage dvdyxi] und XQeh] abwechseln (xgeia z. B. in der kultur-
geschichtlichen Darstellung, die Diodor I 8 nach Demokrit gibt:
xa&6Xov yuQ rijv xQsiay avT)jv diddoKaXov yeveo&ai roTg dv&gco-
jioig Kxl.). Wenn wir nun sehen, wie auch der Arzt am Anfang
von 3 (p. 3, 14) gleich das Stichwort bringt: vvv de avxi] fj
dvdyxi] a]Tgixi]v enoirjoev ^i]Tt]'&}~p'ai iE xal evQe^fjvai dvßgcojtoig
und in c. 4 es mit den Worten rjg ydg /u7]Ö£ig ioriv idicoTijg, dXld
TidvTsg enioxrifJiovEg did xi]v xQTJoiv xs xal dvdyxt]v wieder auf-
nimmt, müssen wir auch das engverwandte XQ^h^' 4, 16 festhalten,
statt es mit A deswegen zu ändern, weil die ausdrückliche Nen-
nung des Begriffes nicht unmittelbar vorher erfolgte.
Die schwersten Schäden der Überlieferung sind natürlich auch
hier in der Zeit eingetreten, die der Scheidung der beiden Klassen
vorauslag. Das sei wenigstens noch an einem Beispiel beleuchtet.
Im c. 3 heißt es in unmittelbarem Anschluß an die zuletzt bespro-
chene Stelle über den Fortschritt zur menschlichen Nahrung: ex
juev ovv xcbv tivqow ßge^avxeg o(pag xal nxioavxeg (so A, ßge-
^avxeg xal nxioavxeg ndvxa Mg) xal xaxaXeoavxeg xe xal öiaorj-
oavxeg xal (poQv^avxeg ((pgv^avxeg M und Teil von g) xal önxi^-
aavxeg dnexeXeoav {djisxeXeoajuev A) dgxov^ ex de xcbv XQi'&ecüv
fxä^av. Wenn hier Schroten, Mahlen, Durchsieben, Backen nach-
einander erwähnt werden, so will uns der Arzt offenbar zeithch
26*
404 M.POHLENZ
die einzelnen Stadien der Brotbereitung vorführen. Dann hat vor
oTtiriGavTeg nicht cpQv^avxeg, sondern „Kneten" cpoQv^avxeg seinen
Platz, und so hat wohl Galen gelesen, der im Glossar (poqv^avzeg
durch q^vgoLoavTeg erklärt. In Mg ist das Wort ofTenbar deshalb
geändert, weil sich damit das vorhergehende ßge^avzeg nicht ver-
trägt. Aber kann denn vor dem Schroten von einem Einweichen
der Körner die Rede sein? Nötig ist hier ein anderer Begriff, das
Worfeln, die Reinigung des Kornes von der Spreu. Wie das grie-
chisch heißt, zeige Plato Soph. 226 B: olov dnidetv re leyofiev xal
öiarräv y.al ßgdzretv xal diaxQiveiv, wozu im Timaeuslexicon die
Erklärung steht: ßgarxEiv dvaxiveiv cootisq oi rov oTrov xa'&ai-
govxeg, vgl. Geop. III 7 : jttioteov xal ßgaoreov und Aristophanes,
der fr. 271 ohne chronologische Folge nebeneinander nennt nzirxa)
ßgdxxco jiidxxco dsvco jtsxxco xaxalcb, vgl. Pherekr. 183. Zu lesen
ist für ßgd^avxeg also ßgdoavxeg (Anth. Pal. VI 258 eq?' äXmog,
eq)' q noXvv eßgaosv dvzlov), falls man nicht etwa einen Über-
gang in die Flexion der Gutturalstämme annehmen und ßgdoavxeg
ansetzen darf. Das ndvxa von Mg ist selbstverständlich verkehrt,
aber auch das oq^ag von A verdächtig, da ein Objekt aus jivgcbv
leicht zu entnehmen war.
II.
Die Auffassung der medicinischen Wissenschaft.
Das zwanzigste Kapitel von de prisca medicina ist durch seine
principiellen Erörterungen eines der interessantesten Stücke des
Hippokratischen Corpus^). Der Arzt hat vorher den Nachweis er-
bracht, daß die medicinische zs^rrj sich qjvoei durch empirische
Feststellung der für den Kranken geeigneten Ernährungs- und Be-
handlungsweise allmählich entwickelt hat, und hat dabei scharf
gegen die Arzte Stellung genommen, die sich nicht auf die mit
dieser bewährten Methode erzielten Ergebnisse verlassen, sondern
zu Hypothesen greifen und willkürlich irgendwelche Grundstoffe
beim menschlichen Leibe ansetzen, um von da aus alle Krankheiten
des Organismus zu erklären und danach die Therapie einzurichten.
Jetzt tritt er in eine methodische Auseinandersetzung mit den Ge-
lehrten und Ärzten ein, die als Voraussetzung einer wissenschaft-
lichen Medicin wie der medicinischen Praxis die Naturphilosophie
ansehen. Die Anschauung, gegen die er sich hier wendet, ist sach-
1) Th. Gomperz, Griech. Denker I 238 ff.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 405
lieh von der vorlier bekämpften an sich nicht scharf zu sondern.
Aber daß der Arzt sich hier einer bestimmten neuen Gruppe von
Gegnern zuwendet, zeigt der Eingang: Xeyovoi de riveg xal h-jXQoi
xal ooq)iozat, und dafür spricht auch, daß man im Ton der Polemik
eine Änderung zu verspüren meint. Während er die Willkür der
Hypothesen vorher nicht ohne Animosität und Sarkasmus abgefer-
tigt hat, legt er jetzt trotz der Schärfe, mit der er die Naturphilo-
sophie ablehnt, doch Wert darauf, das hervorzukehren, was ihm
mit den Gegnern gemeinsam ist.
Drei Momente sind es, die er in seiner Erörterung scheidet:
die Naturphilosophie, eine Anthropologie, die das ursprüngliche
Wesen des Menschen zu ergründen strebt, endlich eine unmittelbar
für die Praxis verwendbare Physiologie, die über das Verhalten des
menschlichen Organismus zu Nahrung usw. aufklären und danach
Diät und Therapie regeln will. Die Naturphilosophie als Ausgangs-
punkt weist der Arzt mit Entschiedenheit ab; die Anthropologie läßt
er als ideales Ergebnis der medicinischen Wissenschaft gelten, das
physiologische Wissen betrachtet er für den praktischen Arzt als
notwendig. Ob er die letzte Forderung von sich aus formulirt oder
sich einen Programmpunkt der Gegner zu eigen macht, kann zu-
nächst zweifelhaft sein. Aber hier hilft uns eine Parallele weiter.
An der berühmten Stelle des Phaidros (270G) fragt Sokrates:
tpvx'i]? ovv (pvoiv d^icog Xoyov xaravofjoai oTsi övvardv ävev
xfjg xov öXov (pvoecog; und Phaidros antwortet: ei juev 'Ijijio-
TtQOLTEi ye TM Tcbv 'AoxXi]7tiadä)v öei rt Tti^sod'ai, ovde tteqI
oibfxaTog ävev rrjg fiedööov xaviTjg. Daß unter rfjg tov oXov
(pvoecog die Natur des Alls zu verstehen ist, nicht etwa die Natur
des Ganzen im Gegensatz zu den Teilen der Seele oder des Leibes^),
ergibt der Zusammenhang und die kurz vorher gegebene Fest-
stellung: Jiäoai ooai jueyuXai r&v xeyvcbv TiQoodeovxai ädoXeoxiag
xal juexecoQoXoyiag cpvoeoig tieql (269E)2). Hippokrates befolgt
also die jui^odog, daß er die allgemeine Naturphilosophie als
1) Fredrich, Hippokr. Untersuchungen S. 4 scheint die Sache so auf-
zufassen, wenn er paraphrasirt: 'Hierbei muß die Natur des Ganzen (^ rov
oAov (pvoig) stets im Auge behalten werden' und den Satz hinter die Vor-
schriften über die Einwirkung auf die einzelnen Körperteile (nach 270 D)
rückt. Aber bei Plato steht er eben vorher. Richtiger stellt Fredrich
gleich darauf den Satz mit jisqI asgcov vödrcov röjicov 1 zusammen.
2) Vgl. Jiegi degcov vödicov tÖjicov 1 (Fredrich S. 5).
406 M. POHLENZ
Grundlage nimmt und daraus ein Wissen vom menschlichen Leibe
entwickelt. Sokrates fährt dann fort: xb roivvv jieqI (pvoecog
oxojisi Ti Tiore Xeyei 'IjtJioxQarrjg re xal 6 d?j]'&i]g Xöyoq. a^
ov% oibe dei diavouod^ai jiegl özovovv (pvoecog' jiqcötov fxev,
änXovv T] noXveiöeg iortv ov jieQi ßovXr]o6jue'&a elvai avxol re^-
vixol xal äXXov dvvaroi noieiv, STieira de, äv juev änXovv ^,
oxojieTv T7]v övvafuv avxov, riva jcgog xt Jieqjvxsv elg x6 dqäv
e'xov i) xiva eig xb xia^eTv vjib xov, idv de jiXeico ei'd)] exf], xavxa
agi'&fxrjodfxevov, öneg eq?' evog, xovx' löeTv 699' exdoxov, xcb xi
TioieTv avxb Jieqpvxev tj xco xi Jia'&eiv vnb xov; . . . fj yovv ävev
xovxüov jue'&oöog eoixoi äv ojoJieQ xv(pXov noQeia, und geht dann
zur Anwendung dieser jueßodog auf die Seele über.
Daß auch diese Methode nicht nur aus den Voraussetzungen
des Hippokrates abgeleitet, sondern von ihm selber entwickelt ist,
wird durch den Zusammenhang nahegelegt. Sicher wird es, wenn
man de prisca med. 20 heranzieht. Denn wenn es dort heißt, der
Arzt muß wissen, o xi xe eoxiv äv&QConog Jigog xd eo&iojuevd xe xal
nivofxeva xal 6 xi ngog xd uXXa ejiixi]devjuaxa, xal o xi dcp'
exdoxov exdoxo) ovjußtjoexai, xal jut] änXcbg ovxcog ... — dXXd
xiva xe jzovov xal öid xi xal xivi xwv ev xco dv&Qomco eveovxoiv
dvenixrideLov, so ist der Parahelismus m.it der im Phaidros dar-
gelegten Methode unverkennbar (so auch Fred rieh, Hippokr. Unters.
S. 6). Und wenn nach Plato die erste Frage ist, ob der zu beein-
flussende Organismus änXovv oder jioXveiöeg ist, so darf man de
prisca med. 23 vergleichen: jioXXd de xal äXXa xal eow xal e^co xov
owjuaxog el'dea ox^judxü)v, ä jueydXa dXXrjXayv diacpegei xcgbg xd
na'&riixaxa xal vooeovxi xal vyiaivovxi . . . ä öeT Jidvxa elöevai fj
diaq^egei, öncog xd aixia exdoxcov eiöcog ög&öjg g)vXdoo)]xai.
Somit haben wir die drei Momente, die de prisca med. 20 unter-
schieden werden, bei keinem andern wiedergefunden als dem großen
Hippokrates. Aber wenn man daraufhin den Verfasser als Hippo-
kratiker schlechthin oder auch gar Hippokrates als Vertreter der
empirischen Richtung von de prisca medicina angesehen hat, so ver-
kennt man die ganz verschiedene Stellung der beiden Ärzte zu ihrer
Wissenschaft. Nur den dritten von den drei Programmpunkten des
Hippokrates macht sich der Verfasser von de prisca med. zu eigen,
während er sich sonst in scharfen Gegensatz zu ihm stellt. Hippo-
krates ist es in erster Linie, der dem empirischen Arzte als Gegner
vorschwebt, und wenn er ihn einfach unter die ojxqoI xal oo(pioxai
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 407
einreiht, so zeigt uns das nur, daß für ihn Hippokrates noch nicht
die unbedingte Autorität ist wie für die Späteren. Andrerseits
sahen wir ja sclion, daß er den hier bekämpften Gegnern mit
Achtung begegnet, wie er auch durchaus nicht verschmäht hat,
von dem hier als Führer der spekulativen Arzte genannten Empe-
dokles zu lernen (VVellroann, Fragm. d. sikel. Ärzte 37. 86).
Als die Anschauung des Hippokrates dürfen wir folgendes er-
schließen. Die Medicin muß in einer allgemeinen Naturerkenntnis
wurzeln. Nur so kann sie zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis
des mensclilichen Körpers gelangen, und diese wieder ist auch für
die medicinische Praxis notwendig. Der Arzt muß wissen, welche
Teile der Körper hat, welche Funktionen diese haben, wie und
durch was für äußere Einflüsse sie afficirt werden und worauf das
beruht. Sonst kann er nicht den Anspruch erheben, ein Mann der
Wissenschaft zu heißen ^).
Es ist offenbar eine programmatische Erklärung, die Hippo-
krates abgegeben hat, mag er das nun in einer besonders ver-
öffentlichten Schrift oder auf andrem Wege getan haben. Nach
zwei Richtungen hat er dabei seine Stellung präcisirt. Gegenüber
den bloßen Routiniers, die da meinen im Besitze der ärztlichen
Kunst zu sein, wenn sie über ein paar mechanisch erlernte Recepte
und Behandlungsweisen verfügen (Phaidr. 268 A), betont er mit aller
Schärfe, von Wissenschaft könne nur die Rede sein, wenn der Arzt
sich über Grund und Zweck seiner Maßnahmen klar sei, und das
sei nur durch ein wirkliches Studium des menschlichen Körpers
iauf Grund einer allgemeinen Naturerkenntnis zu erreichen. Aber
ebenso unwissenschaftlich ist ihm auch die andere Richtung, die in
irgendeiner grauen Theorie, in irgendeiner vorgefaßten Meinung über
die Zusammensetzung des menschlichen Organismus das Allheil-
mittel für die Krankheiten gefunden zu haben glaubt. An deren
Adresse ist es gerichtet, wenn er das genaueste Studium der ein-
1) Vgl. z. B. auch, was Galen de haer. .3 von der rationalen Medicin
sagt: rj de 8ia zov löyov qpvaiv ixfia'&sTv naQaxskevszai rov re ocofiarog, ov
SJiiXsiQsT läodai, xal zwv aixiwv djidvzcov zag 8vvdf/,ecg, oig 6at]fiSQai Jiegcmjtzov
z6 ocöf^a 7] vyisivözsQov ^ voosqcozeqov avzo eavvov yiyvezai. fiszä 8e zavz'
fjörj xal deocov xal vSdrcov xal x^oqIojv xal ijiiztjSevfidziov xal sdsofidzcov xal
nof-idzmv xal l&wv ijiiozrj/Liova, cfaoiv, sirai 8eT zov lazQÖv, oncog zöJv zs vo-
OTjfidzwv djidvzwv zag alziag i^svQiox?] xal zcöv lafxdzwv zag Svvdfisig xal
jiaQaßd).).Eiv otög t' fj xal XoyH^saßai, ozi zü> zoicoSe ztjg alziag sldsi z6 zoidvde
dvva/itv E/ov uiooaaydev zoiöv zi Egyd^Eodai jiEcpvxEV.
408 M. POHLENZ
zelnen Organe wie auch der einzelnen Heilmittel und ihrer Wirkun-
gen verlangt. Daß hier sichere Erkenntnis nicht ohne gründliche
empirische Beobachtung erreicht werden kann, hebt Plato nach seiner
ganzen Tendenz nicht hervor. Es ist aber selbstverständlich, und
das ist ja auch der Boden, auf dem sich der Bekämpfer der rein
spekulativen Richtung mit Hippokrates zusammenfindet. Den Ein-
fluß des Hippokrates werden wir dabei in der Geflissentlichkeit er-
blicken dürfen, mit der auch dieser Arzt betont, man müsse sich
über das öid xl der Wirkungen klar sein, müsse die Beschaffenheit
der körperlichen Organe wie die im Körper wirksamen Kräfte genau
kennen. Andrerseits geht ihm die Anerkennung des empirischen
Elementes durch Hippokrates offenbar längst nicht weit genug, und
in dem Zurückgreifen auf die Naturphilosophie sieht er ein verhäng-
nisvolles Entgegenkommen gegen die von ihm vorher bekämpften
rein spekulativen Ärzte, die den festen Boden unter den Füßen ver-
lieren, und hält hier deshalb eine scharfe Zurückweisung für not-
wendig.
Gegen Hippokrates wendet er sich in diesem 20. Kapitel sogar
in erster Linie. Die Eingangsworte zeigen aber, daß er sich bewußt
ist, einer Mehrzahl von Gelehrten gegenüberzustehen, die solche An-
schauungen hegt. Danach wäre es nicht befremdlich, wenn er
seine Polemik zugleich auch gegen andre Ärzte richtete. In der
Tat hat Th. Gomperz in dem ersten Satze unsres Kapitels eine
direkte Polemik gegen de victu I 2 gefunden: q}^^iju dt] öeTv röv
fieXXovxa ogd^cbg ovyyQdrpeiv negl diairrjg dv&QCOJirjir]g jiqcotov
fjLev Tiavzög cpvoiv äv^Qcojiov yvcövai xal diayvwvai ' yvajvai
fJLEv OLTio rivojv ovveoxrjxev i^ dQ/fjg, diayvcövai de vnb rivcov
[xeQeiüv KEXQdzrjjai ' ehe ydg rr]v e| dg'/fjg ovoxaoiv jui] yvdioexai
xxL (Apol. d. Heilk.2 S. 171; Gr. D. I 242). Die Ähnlichkeit ist tat-
sächlich da, und es wäre wohl möglich, daß diese Stelle unserm
Arzte auch vorschwebte. Aber näher liegt etwas andres. Der Ver-
fasser von de victu hat sich bei der Behandlung seines Special-
themas die grundsätzlichen Ausführungen seines großen Collegen
zu eigen gemacht. Wenn das richtig ist, dürfen wir in den Worten
von de prisca med. e^ dgyrjg o xi eoxlv äv&gcojiog xal oncog eyevexo
ngönov xal onodev ovvendyy] einen Nachhall aus Hippokrates er-
blicken. Und dafür läßt sich noch ein Moment geltend machen.
In den Ges. IV p, 720 ff. führt Plato aus, warum er es für not-
wendig hält, nicht nur Specialbeslimmungen zu erlassen und deren
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 409
Übertretung unter Strafe zu stellen, sondern allgemeine Prooimien
zur Aufklärung über Zweck und Nutzen der Gesetze vorauszuschicken.
Er beruft sich dabei auf das Vorbild der guten Ärzte, die sich auch
nicht wie ihre banausischen Gollegen damit begnügen, im Einzel-
falle die einmal erlernten Anordnungen zu treffen, sondern überall
die Kranklieit von Grund aus untersuchen und sich wie dem Pa-
tienten Klarheit über die Ursache der Krankheit wie über den Sinn
ihrer Maßregeln verschaffen. IX p. 857 G kommt er ausdrücklich auf
diese Analogie zurück : ev yatq enioxaoi^ai öei ro roiovöe, (hg, d
aaxaXdßoi tzote xig largög xcbv xaig EfxiiEiQiaig ävev Xoyov xi]v
laxQiyJjv jLiexa'^EiQiCo/uh'cov iXevßegov ekev^egco vooovvxi dia?.ey6-
jiievov iaxQov xal xov (pilooocpeXv eyyvg iQch^evov juev roig loyoig
i^ OLQxfjg de änxojuevov xov vootjjuaxog, negl (pvoecog jzdotjg ijiav-
tövxa xrjg xcbv GCOjLidxcov, xa^v xal og^odga yeldoeiev äv xxX. An
dieser zweiten Stelle lassen die Worte tzeqI (pvoEoog ndorjg EJiav-
lövxa xfjg xcbv ocojudxcov keinen Zweifel, daß Plato bei dem wissen-
schaftlichen Arzte an Hippokrates denkt. Dann ist es wohl kaum
ein Zufall, daß wir unmittelbar vorher die Worte e^ OLQyJ]g dnxo-
fjLEVOv xov vooYjfxaxog und genau so IV 720 D E^exd^cov an' dgyrjg
xal xaxd cpvoiv (xd voorjfiaxa) lesen und daß uns dieses selbe e^
äQxfjg im selben Zusammenhang de prisca med. 20 und zweimal
in der verwandten Stelle von de victu begegnet.
Wenn ferner Plato IX 857 D den wahren Arzt so charakterisirt:
xov (pilooocpElv Eyyvg yodiixEvov xoTg Xoyoig, so werden wir die
Worte in de prisca med. 20 xeivei Öe avxoTg 6 löyog ig cpdooo(ph]v
wohl so interpretiren müssen, daß nicht erst der Gegner diese
Kennzeichnung der hippokratischen Auffassung gegeben, sondern
Hippokrates selber die Beschränkung auf ein enges Fachwissen für
unzulänglich angesehen und die cpiXooocpir] für notwendig er-
klärt hat.
Wichtiger ist etwas andres. An beiden Stellen der Gesetze
stellt Plato den „ freien" Ärzten von der Art des Hippokrates die
, Sklaven" gegenüber, die zwar auch Ärzte heißen, in Wirkhchkeit
aber nur Diener der Ärzte sind (720A) und es meist auch mit der
Sorge für die Sklaven und niederen Leute zu tun haben. Dem ent-
spricht ihre banausische Auffassung ihres Berufs. Es sind Leute,
die sich sklavisch an das empirisch Angeeignete halten, die xaTg
EjUTiEiQiaig ävEv Xoyov xrjv laxQixrjv /xExayEiQiCovxai (857 D), die
xax' EfiJiEiQiav xijv XE^vt-jv xxcbvxai, xaxd cpvoiv ös {.nq (7 2 OB),
410 M. POHLENZ
xal ovre rivä Xoyov ixdoTOv tcsqi vooijjuarog eyAoiov ra)v üIxE"
rcöv ovöelg rcöv roiomcov largcöv didcooiv ovÖ^ djiodeyeTai, tiqoo-
TOL^ag d' avxä) xä öo^avxa e^ efxneiQiag wg äxQißcög eldcbg . . ,
ol'x€T:ai' äjio7irjöi]oag Jigog äXXov xäf.ivovxa olxhrjv (720 G). Daß
die Einzelheiten dieser Schilderung durch Piatos eigene philoso-
phische Anschauung (z. B. öo^avxa — elddig) wie auch durch die
Tendenz, die er hier verfolgt, bestimmt sind, ist klar. Aber wie
steht es mit der Scheidung der beiden Richtungen selber? Wenn
Plato diese benützt, um für seine eigene Methode in der Gesetz-
gebung etwas zu entnehmen, möchte man doch meinen, da& die
Scheidung in der medicinischen Welt selbst anerkannt war. Hat
also schon Hippokrates selber seine Wissenschaft, bei der er überall
die Ursachen der Krankheiten wie der Arzneiwirkungen angibt und
dadurch Rechenschaft für seine Maßnahmen abzulegen imstande ist,
in Gegensatz zum rein empirischen Betriebe gestellt, hat er den
Gegensatz EfxneiQia — xe'x^vrj formulirt?
Ich habe dieses Problem schon in meinem Buche Aus Piatos
Werdezeit S. 134 ff. behandelt und kann mich deshalb kurz fassen.
Wenn zunächst als Kriterium der medicinischen xeivyj in den Ge-
setzen bezeichnet wird, daß sie durch Angabe der Gründe Rechen-
schaft über ihr Verfahren abzulegen vermag, so finden wir dasselbe
schon Gorg. 465 A: xeyvr]v ök avx/p' (sc. Ti]v öy,<o7iouxi]v) ov (prjjui
elvai d2A' ejuneigiav^ oxi ovx eyei Xoyov ovdeva, co ngootpegsi
ä jiQoocpegei ottoV äxxa xrjv cpvoiv eoxiv, cöoxe xi]v alxiav exd-
oxov jii)] eyeiv eIjieTv. iya) Öe xexvtjv ov xaXcö o dv j) aXoyov
ngayjua ' xovxow ök Tzlgi ei djU(pioßr]X£lg, e§eX(o vtcooxeTv Xoyov,
und wenn wir hier sehen, daß Plato trotz der grundlegenden Be-
deutung, die diese Begriffsbestimmung der XE^vr] für seine Unter-
suchung hat, sie einfach verwertet, ohne den angebotenen Beweis
wirklich zu führen, so läßt sich das nur dadurch erklären, daß er
hier keinen neuen Satz aufstellt, sondern diese Bestimmung ander-
weit vorgefunden hat und im ganzen als anerkannt betrachten darf.
Woher er sie aber entnimmt, das zeigt sich deutlich genug darin,
daß er hier von der Medicin und ihrem Zerrbild, der Kochkunst
redet, daß er sich dabei in der medicinischen Terminologie bewegt
{7igoo(p£gEiv\) und daß der Gedanke in den hippokratischen Schriften
vielfache Parallelen hat (Aus Piatos Werdezeit S. 136). Und wie
z. B. in der Apologie der Heilkunst der Charakter der Irjxgixij als
Techne damit erwiesen wird, daß sie xal iv xoloi öid xi xal iv
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 411
toToi TiQOvoovjuevoioi (paiverai xe xal cpaveTraL äel ovoirjv e'^ovoa,
so übernimmt der Verfasser von de prisca med. aus Hippokrates die
Ansicht, es sei die ideale Aufgabe der Medicin, zu wissen, äv}}QO)jiog
xi eoTiv xal öC oTag ah lag yivenai y.al xäXXa dxQißecog, und im
Phaidros sagt Plato bei der Übertragung der hippokratisclien Grund-
sätze auf die Seelenleitung (271 B): tq'ltov de öi) diara^u/tevog rä
Xoyoiv re xal ipvyßg ysv}] xal tu rovrcov 7ia&)jjuara öieioi Tidoag
ah tag, jtgoGaojnözrcov t'xaorov Exdoxco xal öiödoxcov oia ovaa
vq?' oiü)v X6ya)7' öi' yv ahiav i^ ävdyxi]g y ßkv Jiei&exai fj dk
dTtei&et und macht davon die Geltung der Rhetorik als Techne
abhängig.
Danach dürfen wir diese Bestimmung der Techne wohl un-
bedenklich in der Sache auf Hippokrates zurückführen. Mit ihr ist
aber der Gegensatz ijuTcsigia — xexvi] eng verbunden, und auch er
wird an der Gorgiasstelle, von der wir ausgingen, so kurz vor-
getragen, daß man schon deshalb annehmen möchte, auch er sei
von Plato übernommen. Sicher wird das dadurch, daß Plato damit
einen ganz andern Gegensatz nicht ohne Zwang combinirt, den
aus ethischen Gesichtspunkten erwachsenen und in den Grund-
gedanken des Dialoges wurzelnden Gegensatz zwischen den wahren
Künsten, die das Gute, und ihren Zerrbildern, die das Angenehme
zum Ziele haben. Denn es ist sicher eine sekundäre Umgestaltung,
wenn Plato auf diese Weise dazu kommt, der Medicin als Techne
die Kochkunde als Empirie entgegenzustellen. Ursprünglich kann
der Gegensatz ejujzeiQia : — xex^'V °^^ aufgestellt sein, um zwei ver-
schiedene Arten des Betriebes einer auf dasselbe Ziel gerichteten
Tätigkeit zu scheiden.
Wieder legt uns der ganze Zusammenhang im Gorgias die
Vermutung nahe, daß es die Mediciner sind, von denen Plato die
Scheidung von Empirie und Wissenschaft übernimmt, und wenn wir
auch darauf nicht weiter bauen dürfen, daß diese im Phaidros
(2 TOB) unmittelbar vor der Nennung des Hippokrates ausdrücklich
wiederholt wird — denn das könnte einfach durch die Anknüpfung
an den Gorgias bedingt sein — , so ist es doch schwerlich Zufall,
daß mit Ausnahme der Stellen, wo Plato in direktem Anschluß an
den Gorgias von der Rhetorik spricht (vgl. noch Ges. XI 938 A), der
Gegensatz von Empirie und Wissenschaft von ihm nur da zur Be-
urteilung der Einzelfächer verwertet wird^), wo die Medicin ent-
1) Anders z. B. ep. VI p. 322 a. E.
412 M. POHLENZ
weder mit andern Fächern zusammen (Phileb. 56 B) oder aber wie
an den besprochenen Stellen der Gesetze ganz allein in Frage
kommt.
Kann aber überhaupt Hippokrates nach seiner ganzen An-
schauung diesen Gegensatz aufgestellt haben? Wir sahen doch,
daß er das empirische Element in seiner Kunst keineswegs missen
wollte, ja es gegen die rein spekulativen Ärzte ausdrücklich als
notwendig verfocht. Hier war der Punkt, wo der Verfasser von
de prisca med. ihm zustimmte, und gerade dieser zeigt uns auch, daß
man sehr wohl ein Gegner des Hippokrates, ein Mann von sehr
starken empirischen Neigungen sein konnte, ohne auf die Piechen-
schaft über die getroffenen Maßnahmen, auf die Ätiologie zu ver-
zichten (c. 20 p. 25, 4K. Tiva te tiovov y.al dtä t'l, c. 23 p. 30, 1 onoog
rd ahia iyAoTCOv elöojg öo{}cog cfv)AoGt]rai, c. 21 u. ö.). Aber das
tut er eben schon unter dem Einfluß von Hippokrates' Programm,
und andrerseits waren es überhaupt nicht Männer seiner Art, denen
gegenübe-r Hippokrates die Notwendigkeit eines gründlichen Studiums
des menschlichen Körpers hervorhob. Das waren, nach Plato (Phaidr.
268 A, vgl. Ges. IV 720ff. und IX 857) zu urteilen, die reinen Prak-
tiker, die sich ausschließlich auf die Empirie verließen und sich damit
begnügten, ohne Einsicht in die Natur des Patienten und seines Lei-
dens die hergebrachten Recepte zu verordnen. Eine Schulrichtung
innerhalb der Medicin stellten diese Leute natürlich zunächst über-
haupt nicht dar. Aber wenn dann etwa auch Theoretiker sich auf
diese reine Erfahrung festlegten, hatte gewiß auch ein Mann, der
einen vermittelnden Standpunkt zwischen den Extremen einnahm,
Veranlassung, diese reine Empirie als unwissenschaftlich zu brand-
marken, sie in Gegensatz zur TEyvi-j zu stellen.
Andrerseits ist zu beachten, daß der Verfasser von de prisca med.
den Gegensatz Empirie und Wissenschaft nicht zu kennen scheint,
ebensowenig wie etwa der Autor von neQl xeyvqg. Überhaupt
spürt man innerhalb des hippokratischen Corpus von diesem Pro-
blem etwas wohl nur im Eingang der IlaoayyeXiai. Hier wird
freilich sogar schon eine Versöhnung des rationalen und des empi-
rischen Elementes empfohlen, wenn es heißt: deX ye jurjv xavia
eidoza fxr] XoyiOfXM tiqoteqov TTf&avco Tioooeyovxa bpoeveiv äVA
TQißfj juerd koyov (ejujisigia xal zQißrj Gorg. 463 A. 501A, Phaidr.
2 TOB). Aber diese Schrift ist schwerlich vor Epikurs Zeit ent-
standen (Aus Piatos Werdezeit 137); sie steht schon an der
HIPPOKRATRS DE PRISCA MEDICINA 413
Schwelle der Zeit, wo sich der scharfe Gegensatz der empirischen
zur dogmatischen Medicin herausbildete '). Den Unterschied zwi-
schen diesen beiden Schulen finden wir dann in einer Weise for-
mulirt, die auffallend mit Plato übereinstimmt. So lesen wir bei
Celsus Prooem. 12: prima in eo dissensio est, quod alii sibi
experimentorum tantummodo notitiam necessariam esse conten-
dunt, alii nisi corporum rerunique ratione comperta non satis
potentem nsum esse proponnnt (vgl. 9 — 11, 13 — 17, 27 — 39; Galen
de haer. 2. 3 u. ö.), imd in den Erörterungen, ob Dionysius Thrax
die Grammatik mit Pvecht als tjUJieiQia bestimmt habe — wieder
holt man sich wie zu Piatos Zeiten bei den Medicinern Auskunft,
was der ursprüngliche Unterschied von ijUTteigia und lexvi] ist — ,
heißt es bei seinen Scholiasten (Gr. gr. I 8 p. 166, 25) sjUTteigla
yoLQ eoxiv t) äXoyog XQißij, d)g xal sjUJietQixovg Xsyojuev laxQovg
Tovg ävev löyov xäg d-eganeiag xoTg 7ia.o](Ovoi JCQOodyovxag. öxi
jusv yäg d^eganeveiv olov xe soxi xö gyaQjuaxov nobg (del. ?) xb
elxog, ETxioxavxai ' ei de xig sooixo, xivog svexa noog xode lo
jxd&og ETiixrjöeioig eyßi, änooovoi, vgl. p. 10, 27 öio xal rovg laxQovg
xovg eidoxag /.ih' ix rijg ovvey^ovg xgißrjg Tiegioöeveiv xal xag
-d^egaTieiag xoTg Jido^ovoi jiQoodyeiv, jui] dvvauevovg Se loyov
äjiodovvai xfjg jiegioöeiag e/iTceigixovg q)ajn8v (vgl. 113, 3. 162, 28).
Nun ist ja freilich offensichtlich, wie sehr besonders die empirische
Ärzteschule bestrebt ist, zur Pvechtfertigung ihres Standpunktes an
die Philosophie und deren Terminologie anzuknüpfen. Aber auf-
fallend wäre es doch, wenn die Mediciner für eine ganz aus der
Eigenheit ihres Faches naturgemäß erwachsene Verschiedenheit der
Methoden die Charakteristika aus einem Philosophen hätten ent-
nehmen müssen. Und wenn nun bei Plato, wie wir gesehen haben,
alles dafür spricht, daß er den Gegensatz von Wissenschaft und
Empirie den Medicinern verdankt, so ist eben die Annahme geboten,
daß jener Gegensatz schon im Ausgang des 5. Jahrhunderts in der
medicinischen Wissenschaft aufgekommen und von da aus teils zu
1) Wenn es JTaQ. 1 heißt: ^vyy.azaivico fiev ovv xal röv Xoyiai.i6%',
^vjiEQ EX jiEQijtrcöoiog noifjxai xrjv üQyjp', SO hätte ich Aus Platos "Werde-
zeit 137 A. 1 nicht nur auf den epikureischen und stoischen Gebrauch des
Terminus, sondern auch auf die ähnliche, wenn auch schärfer präcisirte
und enger abgegrenzte Verwendung in der empirischen Ärzteschule hin-
weisen sollen. Auch der m§av6g ?Myta/iwg wird ja für diese zum
Schlagwort.
414 M.POHLENZ
Plato, teils auch in direkter Tradition zu den medicinischen Schulen
der hellenistischen Zeit gelangt ist. Und wenigstens ein sicheres
äußeres Zeugnis haben wir ja noch, daß schon zu Piatos Zeit diese
Scheidung medicinischen Kreisen ganz geläufig war, Diokles hat
in seinem diätetischen Werke im scharfen Gegensatz zu de victu
den Satz verfochten, es sei verkehrt, bei jedem Nahrungsmittel die
Ursache feststellen zu wollen, warum es in bestimmter Weise auf
Ernährung, Verdauung usw. wirke : rdig juev ovv ovrojg ahio-
Xoyovoiv xal roTg ndvxoiv olojiievoig dsTv Xeyeiv alriav ov del
jigooeysiv, nioxeveiv öh [xälkov joiig ex rfjg ijuneiQiag ex tioXaov
rov yoovov xazavevorjjuevoig (fr. 112 Wellm.; vgl. Fredrich, Hipp.
Unters. 171 fT.). Bei Diokles wird niemand Einfluß Piatos an-
nehmen wollen, zumal beide die Empirie ganz entgegengesetzt be-
urteilen. So bleibt nur die Abhängigkeit beider von der medicini-
schen Tradition übrig.
Celsus Prooem. 47 erklärt bei der Kritik der entgegenstehen-
den Ansichten: verumque est ad ipsam curandi rationem nihil
plus conferre quam experientiam, fügt aber dann hinzu: ista
quoque naturae rerum contemplatio, quamvis non faciat mcdi-
cum, aptiorem tarnen medicinae reddit perfeduniqiie. verique
simile est et Hippocrafcn et Erasistratum et quicumque alii non
contenti febres et idcera agitare rerum quoque naturam aliqua
parte scridaU sunt, non ideo quidem medicos fuisse, verum ideo
quoque maiores medicos extitisse. Hier wird also richtig Hippo-
krates als Gegner der bloßen Empiriker betrachtet^). Ob er aber
in seiner programmatischen Erklärung selbst schon seinen Gegen-
satz zu den unwissenschaftlichen Medicinern auf die Formel xsxvrj — :
tjuTieigia gebracht hat, wird man mit Rücksicht auf das Schweigen
des Verfassers von de prisca med. über diesen Punkt doch als zweifel-
haft ansehen müssen. Es kann sehr wohl auch so sein, daß erst
im Verlaufe der an jenes Programm anschließenden Erörterungen
der Gegensatz schärfer herausgearbeitet und formulirt worden ist.
Festhalten muß man dabei in jedem Falle, daß Hippokrates, auch
wenn er die bloße Routine als unwissenschaftlich brandmarkte, nicht
im entferntesten daran dachte, aus der eigenen Wissenschaft das
empirische Element zu verbannen. Das wußte natürlich auch Plato
1) Dazu ist kein Widerspruch, daß nach § 8 gerade Hippokrates
die Medicin a studio sapientiae separavit, d. h. zur selbständigen Wissen-
schaft erhob.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 415
genau, und ebenso war er sich darüber klar, wie sehr bei der
praktischen Anwendung der Medicin der Charakter der reinen
Wissenschaft beeinträchtigt würde. So dankbar er deshalb aner-
kannte, was er für die Auffassung der Wissenschaft bei Hippokrates
gelernt halte, so dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn er ge-
gebenenfalls auch die andere Seite der iMedicin hervorkehrte. So
stellt er im Philebos p. 55 E fest, dafs der Grad der Exaktheit bei
den Technai davon abhängt, wieweit bei ihnen das mathemalische
Element beteiligt ist, und zu den Fächern, die ov juetqü) dz/ct
fieXexrjg oioxciojucp vorgehen, deren Vertreter darauf angewiesen sind
rag aio&iioeig xaTa^elexäv efineiQia xai xivi TQißfj, xaTg xfjg axo-
Xaoxixrig 7iQooxQ(o/J.h'Ovg dvvdfieoiv äg noXXol xexvag ejxovojud-
Covoi, jueXexr] xal Jiövco xrjv qcojutjv äjieiQyaojuevag rechnet er
dabei außer Musik, Landbau und der Tätigkeit von Steuermann und
Feldherrn auch die Medicin. Daß auch diese Anschauung schon im
5. Jahrhundert vorbereitet war, zeigt uns das 9. Kapitel von de prisca
med., wo der Arzt mit Bedauern feststellt, die praktische Medicin
sei deshalb so schwer, weil der Maßstab, auf den man alle Maß-
nahmen zu beziehen habe, nicht Zahl und Gewicht sei, sondern die
nicht exakt faßbare körperliche Empfindung: dei yäg [.iexqov rcvog
oxoydoao&ai. f^iexoov de ovxs ägi^juav ovxe oxa&juov uXXov, Jigog
0 äraq)eQCOv ei'o)] xb äxQißeg, ovx av evgoig all' ]) xov ocojuaxog
x}]v al'o&}]oiv ^). Besondere Beachtung verdient dabei das Wort
oxo'idoao&ai. Denn wenn wir sehen, daß Plalo in dem Abschnitt
des Philebos das Wort dreimal gebraucht (außer in den ausgeschrie-
benen Worten noch 56 A von der Musik x6 (.iexqov Exäox7]g xoQÖfjg
xä) oxo^dC^o'&ac cpeQOfxevt'jg '&tjQ£vovoa), und den Gorgias hinzu-
nehmen, wo es von der Afterkunst der xolaxEia heißt, sie sei ein
ETiLxvjdevfia xeyvixbv juev ov, ipi'X'fjg Se oxoxaoxixfjg (463 A), sie
gehe vor ov yvovoa älld oxo^aoaiuevr] (464 G), so kann ja kein
Zweifel bestehen, daß wir einen festen, im 5. Jahrhundert geprägten
Terminus vor uns haben. Man hat mit Grund vermutet, daß Plato
1) Man denke auch daran, wie bei Aristophanes Ran. 797 Euripides
die rgaytHJ] xiyyy] oraß^ico und ^ihgco prüfen will. Dies erwächst also so
aus der Anschauung der Zeit und es ließen sich damit so viele dem Pu-
blikum verständliche Spaße anbringen, daß ich nicht daran glaube,
Aristophanes habe zwecklos all die Meßinstrumente herausbringen lassen
(trotz Kranz in d. Z. LH 1917, 585, vgl. Fränkel Sokr. 1916 Jb. d. ph.Ver.
134 ff.).
416 xM. POHLENZ
ihn zunächst von Gorgias übernahm, der ihn mit Bezug auf die
Rhetorik verwertet habe (Süfs, Ethos 24 ff. Aus Piatos Werdezeit
135). Von Gorgias ist auch der Verfasser von de prisca med. stili-
stisch beeinflufst (besonders in der Einleitung c. 1. 2); aber die Stelle
in c. 9 zeigt uns in Verbindung mit Piatos Philebos mindestens
soviel, daß der Terminus nicht etwa für die Rhetorik allein er-
funden ist.
Endlich sei hier noch eine Platostelle besprochen, in der wir
die Medicin in einer ganz anderen Klassifikation der Technai finden.
In den Proömien zu den religiösen Gesetzen, die Plato dem 10. Buche
der Leges vorausschickt, wendet er sich 888 D ff. gegen die irreli-
giöse Weltanschauung des Materialismus, der bei der Entstehung
von Welt, von Erde, Sonne und Mond, von Tieren und Pflanzen
nichts von einem Wirken der Intelligenz spürt und diese erst da in
Tätigkeit glaubt, wo der Mensch die Technai erfindet und schließ-
lich auch zum Glauben an die Götter fortschreitet, die für diesen
'&aviuaoTÖg koyog ov (pvoEi äXXd rioiv vo/xoig existiren. Plato
will hier die allem Immateriellen, aller Religion feindliche Welt-
anschauung des Materialismus im ganzen vorführen ; dagegen liegt
ihm nichts daran, etwa ein einzelnes materialistisches System mit
seinen Eigenheiten genau wiederzugeben. Wenn also Plato bei der
Weltentslehung nicht von Atomen redet, sondern von Wasser,
Feuer, Luft und Erde, aus deren Mischung sich alles entwickle, so
werden wir daraus nicht schließen dürfen, daß er den ihm sicher
bekannten Hauptvertreter des Materialismus bewußt ausschalten
will, sondern lieber sagen, daß er seinen Athener mit Rücksicht
auf die ungebildeten Zuhörer aus Kreta und Sparta den Materialis-
mus in einer möglichst gemeinverständlichen Form vortragen läßt
und damit zugleich ein ablenkendes Eingehen auf die Atomistik
vermeidet. Er konnte um so eher so vorgehen, als ja auch Demo-
krit die vier Elemente verwertete, und z. B. auch in der Kosmo-
gonie Diodors I 7. 8, die über Hekataios auf Demokrit zurückgeht,
lesen wir von den vier Elementen, aber nicht von der Atomtheorie
(Reinhardt in d. Z. XLVII 1912 S. 499). Ebensowenig werden wir
einen Gegensatz zu Demokrit darin erblicken dürfen, daß nach Piatos
Schilderung im Materialismus die Tyche als Ursache des Geschehens
betrachtet wird, nicht die Naturnotwendigkeit. Gewiß ist das gegen
Demokrits Grundanschauung: aber wir wissen ja, wie jedenfalls
schon Aristoteles das avxojuaxov Demokrits , weil es nicht aus be-
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 417
wußter Zwecksetzung hervorgeht, mit der Tyche gleichgesetzt hat
(Zeller I 870). Daß ihm Plato darin vorausgegangen ist, wird
durch seine ganze Denkrichtung wahrscheinlich, und an unsrer
Stelle kommt noch hinzu, daß ihm nur das negative Moment
wichtig ist, daß die Welt entsteht ov diä vovv ovöe did riva d^ebv
ovök did TEyvi]v, äXXd, o Xeyo/uev, cpvoei xal xvyj]. Danach muß
man doch sogar eine bestimmte Absicht voraussetzen, wenn es un-
mittelbar vorher heißt: Jidvia onooa zfj rcov ivavriojv y.odoEi y.ard
rvyi]v e^ dvdyy.}]g ovrexegdod^i]. Freilich weicht nun gerade dieser
Satz so weit von Demokrit ab, daß daraufhin Diels nicht ohne Grund
die ganze Kosmogonie unserer Stelle auf Anhänger des Empedokles
zurückgeführt hat (Vorsokr. 21 A 48). Aber daß Plato jedenfalls
nicht ausschließlich an irgendwelche obskuren Empedokleer gedacht
hat, ergibt zunächst die ganze Tendenz der Stelle. Denn wenn
er offenbar bestrebt ist, den Widersinn herauszuarbeiten, daß
gerade in den größten Geschehnissen die Tyche regieren und nur
in den vergänglichen Erzeugnissen vergänglicher Wesen die Ver-
nunft zur Herrschaft kommen soll, so rügt denselben Widersinn an
Demokrit der Bischof Dionys bei Eusebios Fr. ev. XIV p. 781 D (55 B
118 Diels): rt]v xvyrjv rwv juev xa§6Xov xal tcüv deicov öeojioi-
vav £(pioTdg xal ßaoiXida xal ndvra ysveoj^ai xar' amy-jv äjio-
cpaivojuevog, tov de tcöv dv&Qcbnmv avri]v djioxy]QVTTü)v ßiov
xal Tovg jiQeoßevovrag avzijv IXeyyjcov dyvoifxovaq.
Noch wichtiger aber ist die Schilderung der menschlichen Tsyvai,
die sich 889 C anschließt: Teyvr]v de voxeqov ex rovzojv voiegav
y£vojuevt]v, avrrjv '&vr]Trjv ex '&vr]xä)v vorega yeyevvi]xevai Tiaididg
Tivag, äXi]ß^eiag ov ocpoÖQa iiezeyovoag, äXXd el'dcuX' äxza ovyyevfj
eavxcbv (1. eavzrjg), oV fj ygacpixi] yevvä xal juovoixr] xal ooai xav-
xaig elolv ovveoid^oi xeyvai' at de xi xal onovöaTov äga yevvojoi
zü)v xeyvcbv, elvai xavxag ojiooai xf] (pvoei exoivawav zijv avzwv
dxjvaj.uv, olov av laxQix)] xal yeojoyixij xal yvjuvaozixi]. xal dt]
xal xijv 7ioXixixi]v 0/.UXQÖV XI ^ueoog elvai (paoiv xolvojvovv cpvaei,
xeyvj] de xb noXv ' ovxoi de xal xi]v vojuo'&eoiav näoav ov cpvoei,
reyvf] de, fjg ovx ä?a]ßeig elvai xdg -^eoeig. Zwei Klassen von
Technai werden also hier unterschieden. Die einen wie Landbau
und Medicin verfolgen ein ernstes Ziel; sie haben Anteil an der
Natur und setzen ihr Werk fort, die andern sind die eigentlichen
„Künste", die dem Vergnügen dienen und frei nach ihrem eigenen
Wesen Schöpfungen hervorbringen, die unursprünglich wie die
Hermes LIII. 27
418 M. POHLENZ
Kunst selbst mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben und bloße
Abbilder des Wirklichen sind. Wenn Plato diese voranstellt, will
er damit natürlich nicht die chronologische Folge der Entwicklung
bezeichnen. Er rückt die oTTOvöaiöregai an zweite Stelle, weil
er von ihnen übergehen will zu der noXiTiKY}, die nach der geg-
nerischen Ansicht einen gemischten Charakter hat, teils (pvoei er-
wächst, teils aber auch in den Nomoi aus sich heraus künstliche
Gebilde schafft.
Hier ist es selbstverständlich, daß Plato die Darstellung einer
ganz bestimmten Einzelpersönlichkeit vor Augen steht. Und wo
wir diese zu suchen haben, ist nicht zweifelhaft. Nicht nur daß die
menschliche Intelligenz überall an die vorausliegende Tätigkeit der
Natur anknüpft, ist entscheidend für die ganze kulturgeschichtliche
Auffassung Demokrits, wie wir sie bei Lucrez im 5. Buche, bei
Epikur im Briefe an Herodot § 75 und sonst (vgl. Reinhardt in d. Z.
XLVII 1912 S. 492 fT.) kennenlernen. Vor allem ist er es, der die
für Piatos Darstellung charakteristische scharfe Scheidung der zwei
Klassen von Künsten, der ernsten und der dem Scherz und Lebens-
genuß dienenden, aufgebracht hat (Reinhardt a. a. 0.; W. Meyer,
Laudes inopiae p. 25). Ausdrücklich sagt ja Philodem de musica
von Demokrit (B 144 Diels): juovoixijv (prjoi vecotEgav elvai
xal ri]v ahiav äjiodidcooi leycov jur] äuoKQXvai xävayxaTov
aXlä EU Tov TiEQievvTog fjdtj yeveodai, und mit Recht hat mit
dieser Stelle schon Reinhardt a. a. 0. S. 504 Piatos Skizze der für
die einfachste Staatenbildung notwendigen Elemente (Rep. II 373 B)
verglichen, in der die Malerei und die andern Künste angeführt
werden als Technai, die nachträglich hinzukommen, ovkexl tov
avayxaiov k'vExa ^). Und wenn man Bedenken tragen sollte, mit
der hier getroffenen Unterscheidung der durch Zwang und der nach-
träglich ohne Zwang entstandenen Technai die platonische Einteilung
nach dem Gesichtspunkt der jiaidid und ojiovd)] zu identificiren,
so genügt es, auf Lucrez zu verweisen, wo V 1361 ff. zunächst das
Aufkommen des Landbaus geschildert und dann die Erfindung der
Musik angeschlossen wird, die sich bei den ländlichen jiaidiai ent-
1) Ich glaube auch, daß Plato dort auf Demokrits Staatslehre zu-
rückgreift. Aber er will eben zeigen, daß die materiellen Bedürfnisse,
die Demokrit allein berücksichtigt, nur eine vcöv jrolt? hervorrufen
könnten. Wer einen wahrhaft menschlichen Staat errichten will, wird
erst da recht anfangen, wo der Materialismus am Ziel zu sein glaubt.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 419
wickelt: tum ioca, tum sermo, tum dulces esse cachinni consu-
crant; agrestis enim tum musa vigehaf, und wir am Sclilufs (1448)
nochmals die ausdrückliche Scheidung linden:
navigia atque agri cuUuras nioenia leges
arma vias vestes et cetera de genere horum
praemia, delicias quoqtie vitae funditus omnis
carmina, picturas, et daedala signa polire,
usus et impigrae simid experientia mentis
paulatim docuit pedctemptlm progredientis.
Musik und Malerei erscheinen also hier wie dort als die Künste,
die auf höherer Kulturstufe zur Verschönerung des Lebens er-
funden werden^), und wenn dabei Plato als Kennzeichen dieser
Künste ansieht, daß sie nur £idco}.a des Wirklichen hervorbringen,
so werden wir natürlich daran denken, wie nach Demokrit fr. 154a
und Lucrez V 1379 die Menschen den Gesang von den Vögeln ge-
lernt haben xaid fÄijii7]oiv und wie nach Lucrez (ebendort) das Säu-
seln des Windes im Röhricht dazu angeregt hat, mit Hilfe der
Rohrflöte Nachbildungen dieser Töne hervorzubringen. Wenn ferner
bei Plato der Ackerbau in engstem Zusammenhang mit der Natur
steht, so wird dieser Gedanke illustrirt durch Lucrez 1361:
at specimen sationis et insitionis origo
ipsa fiiit rerum ^)rm^^tm natura creatrix,
und daß Xenophon aus Demokrit schöpft, wenn er Oec. 15, 17 aus-
führt, der Landmann folge nur der Natur selber, wenn er dem
Weinstock Stützen gebe, um sich emporzuranken, wenn er die
jungen Trauben beschatte, im Herbste aber die beschattenden
Rlätter entferne, hat Frachter in d. Z. L 1915 S. 144 ff. erwiesen.
Für die Medicin werden wir das 3. Kapitel von de prisca med.
heranziehen, wo ausgeführt wird, daß die Medicin q)voEi ist, da sie als
Auswahl der für den Kranken geeigneten Nahrungsmittel im Wesen
nicht verschieden ist von der Diät der gesunden Menschen, die sich
1) Das Fragment B 223 darf man mit dieser Einteilung nicht com-
biniren. Denn wenn es dort heißt, daß an allen Bestrebungen, die Mühe,
Not und Beschwerden verursachen, nicht das Bedürfnis des Körpers
schuld ist, sondern rj rffg yvcoiurjg xaxo&iyir], so ist natürlich nicht an
Musik und Malerei gedacht, sondern an Erfindungen, die nur dem Luxus
dienen. Etwas andres ist es natürlich, wenn Plato Soph. 219 A den Land-
bau und oarj jteqI t6 ■&vi]t6v jiäv ow/xa &SQa7iEta mit der gesamten /Liifirjzixf'j
als jioifjTixal xe^vai im Gegensatz zu den uztjzixai zusammenfaßt.
27*
420 M. POHLENZ
im Laufe der Zeit ganz naturgemäß herausgebildet hat. In welcher
Sphäre wir uns aber dort befinden, zeigt uns die schon S. 403 be-
sprochene Tendenz des ganzen Abschnitts, nach der xqeü] und
arayA)] als die entscheidenden Faktoren der Kulturentwicklung zu
betrachten sind (vgl.W. Meyer, Laudes inopiae p. 23. 28).
Was endlich Plato mit der kurzen Andeutung besagen will,
die Staatskunst wurzle zum kleinen Teile in der Natur, in der
Hauptsache aber in der reyj'i], und so sei auch die Gesetzgebung
ov fpvoEi, TEyvi] de, das verstehen wir am besten aus Ges. III 681,
wo die Entstehung des Staatswesens in der Weise geschildert wird,
daß verschiedene einzelne Familien sich zusammenschließen, die ihre
naturgemäß entwickelten Sitten mitbringen, und nun durch bewußte
Auswahl aus diesen Gewohnheiten feste vojuoi für das neue Ge-
meinwesen geschaffen werden. Daß aber Plato die Grundzüge dieser
Theorie Demokrit verdankt, hat Reinhardt a. a. 0. S. 507 dadurch
wahrscheinlich gemacht, daß Epikur im Briefe an Herodot § 75 f.
offenbar nach Demokrit in ganz analoger Weise aus den Einzel-
mundarten die Gesamtsprache sich entwickeln läßt.
Mag also Plato auch vorher ebenso wie vielleicht im folgen-
den, wo er als Ansicht des MateriaUsmus angibt, die Götterver-
ehrung wie das Recht seien ov cpvoei äX/A rioi vofioig und die
geltenden sittlichen Begriffe seien von den natürlichen verschieden^),
die Farben aus verschiedenen Töpfen mischen, daran kann kein
Zweifel sein, daß er in der Klassificirung der Künste eine Theorie
Demokrits wiedergibt.
Werfen wir nun zum Schluß noch einmal einen Blick auf das
20. Kapitel der Schrift von der alten Medicin, so fällt von dieser
Einteilung der Künste vielleicht ein Licht auf eine dunkle Stelle.
Um zu bezeichnen, daß die Medicin sich um die Theorien der
Naturphilosophen überhaupt nicht zu kümmern habe, sagt dort der
Arzt: lyoj de rovro fxiv, öoa rivl el'orjtai T] oocpiorfj r) itjtqw T] ye-
yqaTixai Jiegi cpvoiog, fjaoov vo/xiCo) rfj i}]Tgixfj Teyvi] Ttgooijy.eiv
V vi YQOfpiy-f]- Man hat sich oft gefragt, warum hier gerade die
Malerei als Parallele herangezogen wird. Wenn der Verfasser sie
1) Piatos Darstellung ist hier in jedem Falle tendenziös, und daß
man auch sonst Demokrits Ansicht in ähnlichem Sinne ausgedeutet hat,
zeigt Epiphan. adv. haer. III 2, 9 (A 166 Diels). Natürlich darf man
nicht etwa die Platostelle als Grundlage zu einem Urteil über Demokrits
Lehre nehmen.
HIPPOKRATES DE PRISCA MEDICINA 421
mit Demokril als typische Vertreterin der Künste ansieht, die nicht
das Werk der Natur fortsetzen, sondern frei aus sich heraus
schaffen, so erhält der Ausdruck: „Die Medicin ist auf die Theorien
über die Natur noch weniger angewiesen als die Malerei" seine
volle Pointe.
An eine Kenntnis Demokrits können wir aber bei unserm Arzte
um so eher glauben, als auch sein 3. Kapitel, wie wir sahen, eine
Specialanwendung der demokritischen Theorie von dem Einfluß der
Not auf die Kulturentwicklung zu sein scheint (vgl.W. Meyer a. a.O.
p. 28, der sich aber vorsichtig äußert). Auch chronologische Be-
denken fallen kaum ins Gewicht. Die Art, wie Empedokles im
20. Kapitel als Archeget der spekulativen Ärzte genannt wird, deutet
darauf hin, daß dieser schon einige Zeit tot ist. Wir werden also
die Abfassung der Schrift nicht vor das letzte Jahrzehnt des 5. Jahr-
hunderts setzen dürfen. Mag man dann aber auch Reinhardts
Hypothese, die kulturhistorischen Gedanken Demokrits stammten aus
dem MixQÖg didxoojuog für ebenso unsicher halten wie den zeit-
lichen Ansatz dieses Werkes auf 420, so viel wird man ohne wei-
teres als möglich betrachten, daß um 410 Demokrits Gedanken
unserm Arzte bekannt sein konnten. Immerhin wird man gut tun,
für die Benützung nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit in Anspruch
zu nehmen.
Göttingen. M. POHLENZ.
SER. SULPICIUS SIMILIS.
Von einem Similis erzählt Dio, wo er der hervorragendsten
Männer der trajanisch-hadrianischen Zeit gedenkt, mehrere sehr be-
zeichnende Züge. Schon als Centurio sei er von Traian ausgezeichnet
worden, indem ihn der Kaiser vor den Präfekten der Leibwache zu
sich hereingerufen habe. Später wurde er selbst Präfekt der Prä-
torianer, legte aber diese hohe Stellung, die er nur zögernd an-
genommen hatte, bald nieder und lebte dann auf seinem Landgut
im Ruhestande noch sieben Jahre, die er erst als sein eigentliches
Leben betrachtete, ein Gedanke, dem er in der von ihm selbst ver-
faßten Grabschrift Ausdruck gab^). Diese bemerkenswerte Grab-
schrift scheint in die verbreiteten Sammlungen von Exempla über-
1) Dio exe. LXIX 19 (vgl. 18, 1) o 8s 8rj Sifidig . . . iv xQÖnoig ov8e-
vog Tcö)' jidvv, &g ys iya) vofxiCco, 88vrEQog rjv, e^saxi 8s nal s^ oktyioicöv
zEXj.irjQao'&ai. rcp rs yag Tgaiavco sxaTOVTaQxovvra sri avxov saxaXsoavii
noxB Eiooi JTQO xäjv EJiägxiof Eqptj 'atoxQov ioxi, Kalaag, exaxovrdgx(p oe xwv
ertaQXCov k'^co eoxtjxÖxcov 8ia?JyE0&ai^, xai xijv xöjv 8oQvq?ÖQU>v dg^ip' axtov xe
D.aßs xai Xaßcbv i^iaxaxo, fiohg xe dqPE^Eig iv dyQco tjovxog snxa sit] xä Xoind
xov ßiov 8iriyayE, xai sni ys x6 fivfjixa avxov xovxo EJisyQaipEV oxi '2ifxihg ev-
xav'^a XEixat ßiovg (iev hrj xöoa, l^rjoag 8e extj Inxd'. Diesen Auszug aus
Dio bieten sowohl Xiphilinus als auch die Exe. Const. II (De virtut. et
Vit.) 2 p. 369, n. 298. 299 (ed. Roos), ferner Zonar. XI 24 p. 76 Dind. III.
In den Exe. de sent. (Exe. Const. IV p. 2.56 ed. Boissevain), n. 111. 112
(Petr. Patr. ?) ist diese Notiz, da sie bei Dio unter Hadrian erzählt ist,
so abgefaßt, als ob sieh alles dies zur Zeit Hadrians ereignet hätte, Si-
milis also erst unter Hadrian Centurio gewesen wäre ; aueh raaeht dieses
Excerpt (und einige andere, s. Boissevain, Dio-Ausgabe III 238f.) aus IV?;
xöoa in der Grabschrift hrj jiEvxi'jxovxa, so aueh die Exe. Salmas. (Cramer,
Aneed. Gr. Paris. II 396 = FHG IV 581, 114, aueh in Boissevains Dio-
Ausgabe III 765 f. abgedruckt). Einen Teil davon nimmt in ähnlicher
Weise der Anonymus (Leo Gramm.?) Cramer a. a. 0. S. 284 auf und fast
wörtlich übereinstimmend Kedren. I 438. Bei Kedrenos haben einige
Hss. nach der Mitteilung des Leunelavius og (= 76), was offensichtlich
aus xöoa verdorben ist (Boissevain z. St.). Wir erfahren aus Dio nur, daß
er an Jahren älter war als sein Amtsnachfolger Turbo.
SER. SÜLPICIUS SIMILIS 423
gegangen zu sein; denn der Scholiast zu Pers. sat. II 1 erwähnt
sie als Beispiel, wenn auch recht ungenau und ohne Nennung des
Simihs.
Die Gardepräfektur des Similis wird aber auch in der Vita
Hadriani (c. 9, 5. 6) verzeichnet. Hadrian entheß, heifst es, die
beiden Präfekten, denen er die Herrschaft verdankte, (P. Acihus)
Attianus^) und Simihs; ihre Nachfolger wurden (lulius Priscus Gal-
lonius Fronto Q. Marcius) Turbo (Publicius Severus)^) und Septicius
Clarus. Schon daraus geht hervor, daß Similis und P. Acilius
Attianus bereits unter Traian Praefecti praetorio waren und es in
der ersten Zeit Hadrians noch blieben. Bestätigt finden wir das
durch die Nachricht Dios (-Xiphil.) LXIX 1, 2 (vgl. Zonar. XI 23 p. 71
Dind. III), daß Attianus im Verein mit Plotina dem Hadrian nach
dem Ableben Traians zur Herrschaft verhelfen habe^).
Nun kennen wir aber einen Praefectus annonae Sulpicius
Similis unter Traian, und zwar aus Ulpians Monographie De officio
praetoris tutelaris*). Ulpian handelt hier über die Gründe, die von
der Verpflichtung zur Übernahmxe der Vormundschaft befreien. Zu
den davon Enthobenen gehörten auch die Mitglieder des Gollegs der
Bäcker, soweit sie einen selbständigen Betrieb führen, der eine be-
stimmte Menge Brots erzeugen kann; Ulpian beruft sich dafür auf
einen Brief Traians an Sulpicius Similis. Dessen Amt ist zwar
I
1) V. Hadr. 1, 4 ist celium taeianum im cod. Bamb., caelium tattia-
num im Palat. überliefert; sonst (von anderen Corruptelen abgesehen)
Attianus. Den richtigen Namen hat Hülsen, Rom. Mitt. XVIIl 190.3,
64—67 aus der Inschrift (CIL XI 7248) eines in Elba gefundenen Altars
festgestellt.
2) Vgl. über ihn Dessau, Prosop. imp. Rom. II 339, 179. Den volleren
Namen erfahren wir durch eine Inschrift aus Rapidum in Mauretanien,
die Pallu de Lessert, Bull. soc. nat. des antiqu. de France 1911 p. 167 f.
veröflfentlicht hat, auch Bull, des trav. bist. 1911 p. 93, dazu Cagnat
p. 135 (= Ann. epigr. 1911 n. 108).
3) Nur die Exe. Salmas. (s. oben) schreiben dem Kaiser Hadrian die
Übertragung des Gardecommandos an Similis zu, ganz zu schweigen
von dem erwähnten Anachronismus, den die Exe. de sent. begehen.
4) Fragm.Vat. 233 Ulpianus de officio praetoris tulelaris. Sed qui in
collegio pistorum sunt, a tutelis excusantur, si modo per semet ipsos pistri-
num exerceant; sed non alios puto excusandos, quam qui intra numerum
constituti centenarium pistrinum (vgl. Gai inst. I 34) secundum litteras
divi Traiani ad Sulpicium Similem excerceant; quae omnia litteris praefecti
annonae significanda sunt.
424 A. STEIN
nicht ausdrücklich angegeben ; aber nicht nur der Zusammenhang
zeigt, dafs es sich um einen Praefectus annonae handelt, da diesem
das corpus pistorum unterstellt war, sondern auch der Zusatz, daß
das Zutreffen aller dieser Voraussetzungen durch den Praefectus
annonae bestätigt werden müsse. Auch fragm.Vat. 235 liegt ein
Reskript Hadrians an den Praefectus annonae in einer denselben
Gegenstand betreffenden Frage vor.
Die Ulpianstelle nun, die uns den Gentilnamen des Similis und
eine wichtige Stufe in seiner Beamtenlaufbahn kennen lehrt, bildete
damit die Brücke zur Deutung einer Inschrift aus Ägypten, in der
ein Präfekt von Ägypten Sulpicius Simius genannt wird. Die In-
schrift ^) befindet sich auf einer quadratischen Ära, die vor den
Eingangsstufen zum Serapistempel am Djebel Fatire, dem antiken
Mons Glaudianus, gefunden wurde. Drei Seiten der Ära sind be-
schrieben ; die Vorderseite, nur lateinisch, tPägt die Inschrift an.
XII Imp. Nerva Traiano Caesare Aug. Germanico Dacico per
Sulpicium Simium pracf. Aeg., auf der linken (s. unten S. 425
Anm. 2) Seitenfläche steht gleichfalls lateinisch Föns felicissinms
Traianus Daciciis, auf der rechten griechisch "Ydqevfxa svrvxs-
oraxov Tqaiavbv Aaxixov ; aufserdem liest man auf den Plinthen
dieser drei Seiten Ajiijiiojvi{o)g (1.), Krjocjoviov (r.), MaXXirrjg
(Vorderseite)^). Die Inschrift gibt also den Namen der Örtlichkeit
an; es ist eine um die Wasserstation an der Karawanenstrafse vom
Nil zum Roten Meere angelegte befestigte Niederlassung, die den
Namen Föns Traianus {^'YÖQEVfia Tgaiavör) führte, offenbar weil
die Anlage der Station eben damals durch Traian erfolgt ist.
Die Ruinen des dazugehörigen Kastells sind noch erhalten^). Die
Inschrift ist von Wilkinson gesehen und copirt worden; seine Ab-
schrift bietet das Cognomen in der Form Simium. Nun hat zu-
erst schon der italienische Gelehrte Giovanni Labus*) die Identität
des hier genannten Präfekten mit dem Praefectus annonae Sulpicius
Similis und dem Praefectus praetorio Similis gesehen und daher
1) CIG III 4713 c = CIL III 24 (dazu p. 968; = Dessau II 5741 =
Cagnat IGR I 1259.
2) Es ist der Name des Architekten: Ammonius, der Sohn des Cae-
sonius, aus Mallos (in Kilikien) ; vgl. Letronne, Recueil des inscr. I 424f.
3) Vgl. auch Baedeker, Ägypten' (1913) 357.
4) G. Labus, Di un epigrafe latina scoperta in Egitto, Milano 1826,
j). 101. Über die Autorschaft des Labus (gegenüber Borghesi) s. Canta-
relli, La serie dei prefetti di Egitto I (1906) 8 f.
SER. SULPICIUS SIMILIS 425
das überlieferte Siniiion in Sünilcni emendirl. Das 12. Jalir Tra-
ians in Ägypten entspricht der Zeit vom 29. August 108 bis
28. August 109. So ist die Ämterlaufbahn des Mannes noch klarer.
Er begann also im militärischen Dienst und war noch nach der
Thronbesteigung Traians (im J. 98) nur Centurio ^), ist aber, was
sich bei der Bevorzugung erklärt, deren er sich bei dem Kaiser er-
freute, sehr rasch avancirt, so dafi er binnen 10 Jahren die vor-
nehmsten ritterlichen Ämter bekleidete, erst die Praefectura anno-
nae, dann die Statthalterschaft von Ägypten und noch vor dem Tode
Traians (im August 117) die höchste für einen Mann ritterlichen
Ranges erreichbare Stufe, das Gardecommando.
Gegen die Emendation des Labus hat aber erst Letronne^)
und dann Franz (GIG a. 0. und p. 312 I) Einsprache erhoben; sie
halten an der Abschrift VVilkinsons fest, da dieser sonst sehr genau
ist. Und auf Grund dieser Abschrift hat Letronne (vgl. I 115. 421)
den Namen des Präfekten in derselben Form auch in einer andern
Inschrift aus dem nämlichen Jahr eingesetzt. Es ist dies die Bau-
inschrift des Tempels von Panopolis, der dem Gotte Pan, der Haupt-
gottheit in dem Gau, geweiht war, bei Letronne I 103 — 119,
n. XIII, pl.VIb und (nach einer etwas besseren Gopie) f, dann von
Franz edirt GIG III 4714 (dazu p. 1191). Der Name des Präfekten
in Z. 5 ist gewaltsam ausgekratzt und daher bis auf geringe Reste
nicht erhalten. Nach diesen (ihm durch verschiedene Abschriften
überlieferten) Resten glaubte nun Letronne mit Rücksicht auf die
Inschrift vom Föns Traianus ergänzen zu können im [ÄevH]iov
\2^ovXnixiov ^ijxiov e7i\dQxov Alyvnrov. Lepsius, der die In-
schrift selbst sah und copirte, hat seine sehr viel bessere Abschrift
in den Denkm. aus Ägypten und Äthiopien Bd. XII Abt. VI Bl. 75
1) Wahrscheinlicli, wie Ritterling (briefb'ch) meint, schon Primipilus
mit Ritterrang.
2) Letronne, Recueil I 420—425, n. XXXIX, pl. XV 4 auf Grund
der ihm von Wilkinson geschickten Copie, vgl. auch 1 152. Hier (wie
im CIG) ist die griechische Inschrift auf der linken, die lateinische auf
der rechten Seite eingezeichnet (danach auch beschrieben I 424), und
ebenso Kt]oo}viov auf der linken Plinthe, ^Afifi(i)vi{p)g rechts. Mommsen
gibt CIL a. 0. die lateinische Inschrift der Seitenfläche links, wie ich
meine, mit Recht. Denn der lateinische Text geht in bilinguen In-
schriften immer voran und auch die oben gegebene Namenfolge auf der
Plinthe weist auf diese Anordnung hin. Auch Cagnat IGR l 125Ü folgt
dieser Anordnung.
426 A. STEIN
Nr. 24 wiedergegeben^). Überdies besitzen wir zu dieser Abbildung
seine Tagebuchnolizen in den aus seinem Nachlaß von Naville,
Borchardt und Sethe herausgegebenen Textbänden zu den Denk-
mälern II (1904) 162. Lepsius nimmt die Ergänzung Letronnes
mit Rücksicht auf die Größe der Lücke als im wesentlichen richtig
an, stellt aber fest, daß zu Beginn em Faiov trotz der Rasur deut-
lich sei ^), so daß er dem Präfekten den Vornamen C. statt L.
gibt ^), das Cognomen Simius aber beibehält. Dabei ist jedoch über-
sehen, daß der Präfekt, dessen Name hier genannt ist, nicht wie
der in der Inschrift vom Föns Traianus genannte im J. 109, son-
dern vorher an der Spitze Ägyptens gestanden hat. Denn der
Statthalter, dessen Name ausgemeißelt ist, wird nur genannt, um
den Beginn des Tempelbaus zu datiren {em . . . ejrdgxov Äiyv-
71T0V ^jo^GTO rö eQ-yov), während das Datum 19. Pachon*) des
12. Jahres Traians = 14. Mai 109 sich auf die Vollendung (ovv-
ereXeo^y] de) bezieht. Nun wissen wir aber, daß bis mindestens
zum 26. März 107^) C.Vibius Maximus im Amte war, und tat-
sächlich finden wir seinen Namen auf mehreren Denkmälern ausradirt
(CIL III 14148 2 und Cagnat IGR I 1175)6). ßei Sulpicius Similis
aber — denn er ist, wie aus den weiterhin anzuführenden Beispielen
ersichtlich ist, der unmittelbare Nachfolger des G. Vibius Maximus
und er ist sicher der auf dem Stein von W^adi Fatire genannte
Präfekt, einerlei wie dort die Überlieferung lautet — kann es sich
nach dem, was wir über sein Ende wissen, keinesfalls um eine
Tilgung seines Namens infolge einer Damnatio memoriae handeln.
Es ist daher aller Wahrscheinhchkeit nach auch in der Tempel-
1) Auch bei Cagnat IGR I 1148 findet sich die Inschrift.
2) Von den übrigen Namen will Lepsius CO CI . lOY er-
kennen.
3) Labus hatte anstatt [Aevx]iov den Vornamen [novß?.]iov ergänzt j
vgl. auch Borghesi, Oeuvres VI 280.
4) Im CIG ist das Tagesdatum unrichtig edirt. IJa/cov le anstatt i&'.
5) P. Amh. II 64. C. Minicius Italus war nicht der Nachfolger des
C. Vibius Maximus, wie noch Dessau, Prosop. Imp. Rom. III 423, 389 und
P. Meyer in d. Z. XXXII 1897 S. 213 annahmen, sondern dessen Vor-
gänger.
6) Dabei soll hier unerörtert bleiben, ob wir ihn in dem Maximus
des P. Oxy. III 471 erkennen und einen Fingerzeig für die Ursache seiner
Verurteilung erblicken wollen oder nicht (vgl. Wilcken, P. Arch. IV 381;
Zweifel äußert P.M.Meyer, Berl. phil.Woch. 1907 S. 465).
SER. SÜLPICIUS SIMILIS 427
inschrift von Panopolis der Prüfekt, dessen Name gewaltsam aus-
gemeißelt ist, niemand anders als C. Vibius Maximus ^). Dazu paßt
von den Resten des Namens allerdings nur der Vorname ganz,
nicht die andern Buchstabenreste, die Lepsius anführt (s. oben
S. 426 Anm. 2). Doch scheint bei der Wiedergabe dieser gewiß
nur ganz undeutlich zu erkennenden Zeichen die Suggestion durch
den von vornherein angenommenen Namen mit eine Rolle gespielt
zu haben. Zur Not ließe es sich erklären, daß unter diesen er-
schwerenden Umständen CO anstatt OY und Gl . lOY anstatt
EIMOY gelesen wurde.
Nun hat aber W. Schwarz (Jahrb. f. kl. Phil. CLI 1895 S. 640)
geglaubt, gegen Labus'^), dem auch Mommsen (zu CIL III 24) bei-
stimmt^), die Ansicht Letronnes und Franz' wieder zu Ehren
bringen zu können, bewegt sich jedoch dabei in einem seltsamen
Girculus vitiosus, denn er beruft sich auf Lepsius, ohne zu bemerken,
daß hier nur eine Ergänzung aus der andern Inschrift vorliegt.
So ist die Form Simius nicht, wie Schwarz meint, durch beide In-
schriften bezeugt, sondern beruht nur auf Wilkinsons Abschrift der
einen vom Föns Traianus. Schwarz geht aber noch weiter, indem
er nicht nur dem Präfekten den Namen C. Sulpicius Simius zu-
schreibt, sondern auch eine Gleichstellung mit dem bei Dio er-
wähnten Similis ablehnt (von Sulpicius Similis in der Ulpianstelle
ist hier keine Rede), und er hat Zustimmung bei Boissevain (in
seiner Dio -Ausgabe III 237 Anm. zu Z. 12) gefunden (s. auch
unten S. 428 Anm. 2). Die Identität der an allen den erwähnten
Stellen genannten Persönlichkeiten nimmt zwar Dessau, Prosop. Imp.
Rom. III 289 f., 735 selbstverständlich an, aber auch er glaubt noch,
1) Icli hatte diese Vermutung schon früher ausgesprochen (bei Can-
tarelli a. 0. I 42), doch fehlt da noch die nähere Begründung. Seither
habe ich bemerkt, daß auch schon Franz (bei Letronne II 535 und CIö
z. St.) an diese Möglichkeit gedacht hatte.
2) Er citirt Labus (Di un' epigrafe latina S. 100 ff.) und Borghesi
(Epigr. scop. in Egitto S. 111); das letztere gibt es natürlich nicht, son-
dern Schwarz hat einfach die Notiz Mommsens zu CIL III 24 mißver-
standen: Lahus sive Borghesius epigr. scop. in Egitto p. 111 (Druckfehler
anstatt 101). S. oben S. 424 Anm. 4.
3) Auch Henzen in seiner Inschriftsammlung (Orelli - Henzen III
5309, obwohl er in der Edition sowie Orelli I 803 an dem überlieferten
Text festhält) und Hirschfeld, Philolog XXIX 1870, 30; Rom. Verw.
I 225, 33.
428 A. STEIN
daß der Name Siniilis in Ägypten mit Angleichung an das Grie-
chische 2^iju(/u)iog geschrieben wurde, und er wird in dieser An-
nahme bestärkt durch einen Papyrustext (BGU I 140 = Mitteis,
ehrest, d. Pap. 373 = Bruns-Gradenwitz '' 196), der früher unrichtig
gelesen worden war^). Es ist eine Epistula des Kaisers; der Kaiser-
name war von Wilcken in Z. 3 TQat[a]vo[v Kaioagog xov xvQio\v
ergänzt und der Name des Empfängers in Z. 10 2!ijiijuie gelesen
worden 2). Eine erneute Revision des Textes durch Wilcken (in d. Z.
XXXVII 1902 S. 84—90) ergab aber statt dessen den Namen Tdjii/iue,
also Q. Rammius Martiahs, der Kaisername kann daher nur Tga-
i[a]vo[v "Adgiarov 2^eßaoTo]v lauten und das an sich nicht ganz
sichere 3. Jahr wird bestätigt durch die Consulatsdatirung. Es scheiden
somit zwei von den Zeugnissen für die Namensform Sim(;m)ius
aus; der Gebrauch von Siniius anstatt Shnilis reducirt sich ledig-
lich auf die Wilkinsonsche Copie der Inschrift von Wadi Fatire,
und hierin steckt oh.ne Zweifel ein Fehler^). Denn der Präfekt
von Ägypten Sulpicius Similis ist uns seither durch eine ganze An-
zahl anderer Urkunden aus Ägypten bekannt geworden, und in allen
diesen wird er mit seinem richtigen Cognomen genannt.
Der früher (S. 426 A. 5) erwähnte P. Amh. II 64 (vgl. 65) nennt
ihn 2Jov/.myuo\g] ^ifuXig ohne Titel; aus dem Zusammenhang geht
aber unzweideutig hervor, daß es nur der Präfekt sein kann. Dieser
Papyrus läßt uns auch ziemlich genau den Zeitpunkt erkennen, in
welchem Sulpicius Similis die Verwaltung Ägyptens antrat; er ist
datirt nach dem 10. Jahr des Kaisers Traian, 29. Aug. 106—29. Aug.
107. Da aber nach dem Zeugnis derselben Urkunde am 26. März
107 noch C. Vibius Maximus als Präfekt tätig ist, so muß Similis
zwischen diesem Tage und dem 29. August 107 nach Ägypten ge-
kommen sein. Auch in dem Auszug aus einem Prozeßprotokoll, den
1) Auch in den Inscr. sei. zu n. 5741 bemerkt Dessau (Anm. 3):
2ifiiog vel 2'i/ii/j.tog pltrumque dictns in Aegypto.
2) P. M. Meyer hat dann (in d. Z. XXXII 1897 S. 215 f.) diesen Adi-es-
saten als den Präfekten von Ägypten erkannt und mit dem vermeint-
lichen Sulpicius Simius identificirt, zugleich aber sich die Ansicht von
Schwarz zu eigen gemacht, daß Sulpicius Similis von diesem verschieden
sei (später hingegen auf Grund des seither bekannt gewordenen Mate-
rials diese Ansicht richtiggestellt, Berl. phil. Woch. 1907 S. 464f.).
3) Ich möchte dafür auch die sonst allerdings sehr mangelhafte
Abschrift von Brocchi anführen, der hier SPIMILIM hat (CIL III
p. 968).
SER. SULPICIUS SIMILIS 429
wir P. Amh. II 65 lesen, ist ^LovXnixtog üifxiXiQ ohne Titel und ohne
Datum genannt, während für Vibius Maximus der 19. April lü5 an-
gegeben ist. Ein bisher unverüfi'entlichter Heidelberger Papyrus, den
Wilcken in d. Z. XXXVII 1902 S. 88 citirt, nennt lovXnimog ZifJLiXig
als Präfekten von Ägypten für das 11. Jahr (107/8); für das 12. Jahr
ist er durch die Inschrift vom Föns Traianus bezeugt. Das späteste
Datum aus seiner Verwaltungsperiode besitzen wir in dem gleich-
falls noch unveröffentlichten Wiener Papyrus (vgl. Gantarelli a. 0.),
den ich dank der Freundlichkeit Wesselys einzusehen Gelegenheit
hatte. Auch hier ist nur der Name ZovXniy.iog Zi/xiXig ohne den
Titel gegeben und die Datirung exovg is ßeov ^) Tqaiavov ^a^ie-
vcl)§ xe, das ist der 22. März 112. Als Terminus ante (piem für
das Ende der Präfektur des Sulpicius Similis kann der 25. Februar
114 gelten, weil im Phamenoth des 17. Jahres schon sein Nach-
folger M. Piutilius Lupus im Amte war^).
Haben alle diese Texte eine so genaue Fixirung der Präfektur
des Sulpicius Similis ermöglicht, so hat ein anderer Papyrus bzw.
seine Lesung und Erklärung durch die Herausgeber dazu bei-
getragen, die Forschung zu verwirren. Es ist der umfangreiche
sog. Dionysia- Papyrus (P. Oxy. II 237). In der Eingabe der Dio-
nysia wird eine Reihe von Entscheidungen und Erlassen früherer
Präfekten mitgeteilt, darunter (col. VIII 21 — 27, mit dem angehäng-
ten Erlaß des M. Metlius Rufus bis Z. 43) ein Edikt {i:if.dXidog
diaTayjud), das im Wortlaut folgt: (PXdoviog ZovXnixiog ZijuiXig
e'jiagl'/ßg] Aiyvnjou Xeyei' xxX. Das Datum (Z. 27) dieses Erlasses
ist {exovg) xy 'A&vq iß', es sind also die Lesungen der entscheiden-
den Ziffern unsicher. Von diesem Erlaß ist auch an einer andern
Stelle der Urkunde die Rede, col. IV 36: ZijLu?udog xov f]ye[juo]-
vevoa[vxo]g . . . ejiioxoXtjv, und ebenso von andern Entscheidun-
gen desselben Präfekten VI 27: xgioeig Z[i]iuiXtdog, doch läßt sich
hieraus für die Datirung nichts weiter gewinnen. Die Herausgeber
Grenfell und Hunt nehmen an, daß es sich wegen der Auslassung
des Kaisernamens nur um Jahre der laufenden Regierung, d. i. die
des Commodus, handeln könne; dies führt, wenn die angenommene
Lesung richtig ist, auf den 8. November 182. Aber selbst wenn
diese Lesung nicht richtig wäre, käme nur ein Spielraum von
1) Der Papyrus stammt aus einer späteren Zeit.
2) Vgl. meinen Artikel bei Pauly-Wissowa-Kroll RE, Zweite Reihe
I 1263; Pharmuthi steht hier versehentlich anstatt Phamenoth.
430 -^- STEIN
wenigen Jahren in Betracht; denn die Zählung der Regierungsjahre
des Gommodus beginnt beim Antritt seiner Alleinherrschaft mit dem
J. 20, und vom J. 25 angefangen sind als Präfekten schon Longaeus
Rufus und sein unmittelbarer Nachfolger Pomponius Faustianus aus
der Eingabe selbst bekannt, die an den letztgenannten Präfekten
gerichtet ist. Daher könnte, wenn die gelesene Zahl 23 nicht
richtig ist, nur 21 bis höchstens 25 angenommen werden, also
180 — 184 n. Chr. In der Tat ist das oben erwähnte Datum un-
annehmbar; denn zu diesem Zeitpunkt war, wie wir sicher wissen,
noch Veturius Macrinus im Amte. Deshalb schlägt Gantarelli
(a. 0. I 60) die Lesung y.b' vor, die auf das einzige Datum inner-
halb des angegebenen Zeitraumes führe, zu welchem bis jetzt kein
Präfekt nachweisbar ist ^) ; das wäre also der 8. November 183.
Doch scheint mir die Schlußfolgerung auf Gommodus überhaupt
nicht zwingend; der Kaisername in der Jahreszahl kann auch aus
Versehen oder Flüchtigkeit weggelassen sein. Ich hatte daher ver-
mutet 2), daß wir es hier nicht mit einem Statthalter aus der Zeit
des Gommodus, sondern vielmehr mit dem uns schon bekannten
Präfekten Sulpicius Similis zu tun haben, daß somit die undeutlich
erhaltene Jahreszahl statt y.y vielleicht ly zu lesen sei, was sich auf
die Regierung Traians beziehe; dann würde das Datum zu der uns
bekannten Amtszeit dieses Präfekten vortrefflich passen. Doch möchte
ich auf diese Zahl auch nicht allzuviel Wert legen, nur darauf, daß
es sich um unsern Sulpicius Similis und daher um Jahre Traians
handelt. Daß auch ly gelesen werden kann, haben die Heraus-
geber selbst zugegeben (P. Oxy. IV p. 262), sie haben aber meine
Gonjectur doch nicht angenommen, und Gantarelli (a. 0. 1 43. 60)
sowie P. M. Meyer, Berl. ph iL Wo eh. 1907 S. 465 sind ihnen darin
gefolgt, weil der Name des Sulpicius Similis auch in einem andern
Oxyrhynchospapyrus (P. Oxy. IV 712) genannt ist, der sicher aus
späterer Zeit stammt, und zwar, wie die Herausgeber meinen, aus
der Zeit des Gommodus, jedenfalls aber nach dem 10. Regierungs-
jahr des Pius (146/7), das hier Z. 13 erwähnt ist. In Z. 22, die
nur zu einem geringen Teil erhalten ist, lesen wir den Namen
ZovlniyAov Ziiii\)?\EOK ohne erkennbaren Zusammenhang; es läßt
sich nicht einmal ersehen, ob auch der Titel hier angegeben war.
Unter diesen Umständen beweist die Nennung dieses Namens doch
1) Strenggenommen müßte man doch auch den 8. Nov. 180 zulassen.
2) Jahresh. d. österr. archäol. Inst. III 1900 Beibl. 209.
SEE. SULPICIUS SIMILIS 431
wirklich nicht im geringsten, daß Sulpicius SimiHs zur Zeit des
Commodus Präfekt von Ägypten war.
Auffälhg bleibt nur noch, dafs im P. Oxy. II 237 col. VIII 21
der Name des Präfekten Flavlus Sulpicius Similis lauten soll, wäh-
rend er sonst nirgends den Namen Flavius führt. Aber auch die
Lösung dieses Rätsels ist, wenn ich recht sehe, nunmehr möglich.
Sie wird uns geboten durch den Text der Felseninschrift von
Dehmit im nördlichen Nubien, die wir jetzt bequem bei Preisigke,
Sammelb. 3919 lesen. Sie enthält eine auf Befehl des Statthalters
durch den Gohortenpräfekten vorgenommene Grenzregulirung: e^
Evxelevoeog (sie) Zeqoviov ZovXnixiov 2!tjuiXeog xov XQaxioTOv
-^yejiiovog vom 29. März 111 (3. Pharmuthi im 14. Jahre Traians),
also in der Zeit, in der der bisher besprochene Sulpicius Similis
sicher Präfekt von Ägypten war. Hieraus erst erfahren wir seinen
richtigen und vollen Namen, Ser. Sulpicius Similis. Das Pränomen
Servius war ja auch seit jeher bei den Sulpiciern sehr verbreitet;
und ich zweifle nicht, daß auch in dem Dionysiapapyrus VIII 21
anstatt <^läovioq richtig Zegoviog zu lesen sei '). In diesem Fall
hätten wir auch einen Beweis mehr dafür, daß hier der Präfekt
unter Traian gemeint ist.
In die nun von 107 bis mindestens 112 bezeugte Amtszeit
dieses Präfekten fällt auch P. Fay. 117 vom 15. Januar 108, wo
(Z. 5 f.) ein xQäreioxog rjyEfXfhv erwähnt ist (vgl. auch 119, 11
fjyefiovog); hier kann natürlich auch nur Ser. Sulpicius Similis ge-
meint sein.
Hervorzuheben ist, daß wir seit kurzem seine Verwaltung
1) In der Edition ist allerdings kein Zeichen einer unsicheren
Lesung des ^Idoviog angedeutet, und die Zeitverhältnisse gestatten es
dermalen nicht, in Oxford anzufragen und den Papyrus nachprüfen zu
lassen. Aber selbst wenn dort ^kdoviog stünde, würde dies keine starke
Instanz gegen meine oben geäußerte Vermutung bilden, da das ganze
Schriftstück sich aus einer Reihe später und zum Teil sehr flüchtiger
Copien und stark verkürzter Excerpte zusammensetzt, in die sich leicht
ein solcher Schreibfehler einschleichen konnte. [Nachtrag. Mittler-
weile konnte ich durch die gütige Vermittlung Prof. Hitzigs in Zürich
(dem hierfür an dieser Stelle aufrichtiger Dank ausgesprochen sei) von
Grenfell, der das Original einer erneuten Durchsicht unterzog, eine volle
Bestätigung meiner Vermutung erlangen : „ I hare looked, at P. Oxy. 237
VIII 21 and the correct reading is ZeQoviog {not ^Xaoviog), as Arthur Stein
suggesfs."]
432 A. STEIN
Ägyptens auch durch ein außerhalb Ägyptens gefundenes Zeug-
nis belegen können, nämlich durch ein Inschriftfragment aus Kar-
thago^), wo von seinem Namen nur .... Siinü .... erhalten ist,
weiterhin der Titel [p]rac/'. Aeg., auch die Bekleidung eines Priester-
amtes und die Beteiligung an einem Kriege.
Wir besitzen noch ein Denkmal, das den Namen Sulpicius
Similis nennt; es ist die stadtrömische Grabschrift CIL VI 31865;
doch scheint es mir höchst unwahrscheinlich, daß hier unser Ser.
Sulpicius Similis gemeint ist, da sonst wohl seine Ämterlaufbahn
angegeben worden wäre. Muß schon hier die von Borghesi (Oeuvres
III 235 f.) vermutete Identität als zweifelhaft bezeichnet werden, so
hängt eine andere von Borghesi (ebd. 127, vgl. auch X 42 — 44)
ohne weiteres angenommene Gleichstellung völlig in der Luft: es
besteht nicht der geringste Anhalt dafür, daß wir es CIL VI 259
= Dessau II 8643 (Genio Si)}iilis familia) mit unserem Präfekten
zu tun haben.
Dem raschen und glänzenden Aufstieg des Ser. Sulpicius Simihs
vom Genturio zum Vicekönig von Ägypten entsprach das weitere Vor-
rücken nicht. Bis 112, höchstens 113 war er Statthalter von
Ägypten und erst 117 (kaum frülier, da ja Dio berichtet, daß er
nur kurze Zeit die Gardepräfektur innegehabt habe) Praefectus prae-
torio, w^ährend in vielen andern Fällen das Gommando über die
Prätorianer unmittelbar nach der Präfektur von Ägypten über-
nommen wird. Die Erklärung dafür liegt eben darin, daß Similis,
wie wir aus Dio erfahren, sich nur widerstrebend zur Übernahme
des vornehmsten ritterlichen Amtes bereit erklärte, zu dem ihn der
1) CIL VIII 24587: .... Simil
ß]amen p
hello Ra
p]raef. Aeg
In Z. 2 wäre flaiiien Palatualis, vielleicht auch ßamen Pomonalis möglich
(vgl CIL III 12732). Die Vermutung Reglings, daß Z. 3 hello Raelico
denkbar sei, ist allerdings sehr unsicher. Ritterling, an den ich mich
brieflich wandte, hatte die Freundlichkeit, mir zu antworten: „Ein
bellum Raeticum zu Traians oder Hadrians Zeit gibt es nicht; jedenfalls
können in einem solchen dona militaria nicht verliehen worden sein.
Mir scheint es nicht ausgeschlossen, daß statt R vielmehr P auf dem
Steine steht oder stehen sollte: also Pa[rthico]. Sulpicius Similis kann
als Praefectus praetorio und Comes des Traian im orientalischen Kriege
decorirt worden sein. Aber auch das ist natürlich ganz unsicher."
SER. SULPICIUS SIMILIS 433
Kaiser in Würdigung seiner Verdienste berief. Wahrscheinlich hatte
er sich schon nach der Rückkehr aus Ägypten dem otium cum
dignitate hingeben wollen, das ihm erst unter Hadrian zuteil wurde.
Unsere Untersuchung hat also gelehrt, einmal, daß G. Sul-
picius Simius ^), C. Sulpicius Similis und Flavius Sulpicius Similis
zu streichen sind; es hört ferner die Zweiteilung des Sulpicius
Similis in einen Präfekten Ägyptens unter Traian und einen unter
Commodus, unter dem es in Wahrheit keinen dieses Namens ge-
geben hat, auf, und es schwindet endlich jeder Zweifel, daß der uns
durch so viele Texte bekannte Vicekönig von Ägypten in den Jahren
zwischen 107 und 113, Ser. Sulpicius Similis, identisch ist mit dem
Manne, der unter Traian erst Centurio, dann Praefectus annonae
und zu Ende der Regierung dieses Kaisers sowie zu Beginn der
Herrschaft Hadrians Praefectus praetorio gemeinsam mit P. Acilius
Attianus war.
Prag. ARTHUR STEIN.
1) Speciell dieses Ergebnis hatte bereits "Wilcken nach seiner ver-
besserten Lesung zu BGU 1 140 gewonnen; aber die Zahl der Zeugnisse
hat sich seither erheblich vermehrt.
Hermes LIII. 28
DIE HEIMAT DES EPIGRAMMATIKERS
POSEIDIPPOS.
Es ist bisher unbekannt gewesen, woher der Epigrammatiker
Poseidipp stammt. Knaack hatte Alexandria vermutet, mit Gründen,
die zu einem solchen Schluß nicht ausreichten. P. Schott hat sie
in seiner tüchtigen Dissertation 'Posidippi epigrammata collecta et
illustrata' (Berlin 1905) widerlegt und seinerseits vermutet (p. 113):
Posidippus . . . in una aut prope unam ex maris Aegaei insidis
non prociil a Mileto natus esse videtur. Die Gründe für diese
Annahme sind aber um nichts zwingender als die, welche Knaack
auf Alexandria führten. Mit berechtigter Zurückhaltung hat W. Schmid
(Christ II 1 ^ S. 117) darauf verzichtet, eine der Hypothesen über die
Heimat Poseidipps aufzunehmen. Erst ein wirkliches Zeugnis aus
dem Altertum kann da Gewißheit geben.
Wie über den Geburtsort, bestand auch über die Geburtszeit
keine Sicherheit. Als äußerste Grenzen für die Geburtszeit nahm
Schott (p. 46) die Jahre 312 — 290, als engere 307—295 an, mit
dem Schluß, daß es geraten sei, möglichst nahe an 300 heran-
zugehen. Bestimmend ist dabei für ihn hauptsächlich das Epi-
gramm AP V 133 (8 bei Schott; 257 bei Geffcken, Griech. Epigr.)
gewesen :
KexQOJil QoXvE Xdyvve tioXvÖqooov ix/udda Bd^x^ov,
QoXve, ögooiCsoßo) ovjußo?uxi] Jigönooig.
oiydodoj Z/]vcov 6 ooq)bg xvxvog ä^) rs KXedv&ovg
juovoa ■ jLuXiOi <5' f]juTi> 6 yXvxvjiixQog "Egcog.
Schott hat dies Epigramm in sehr weitgehender Weise biogra-
phisch ausgedeutet: Poseidipp als Student in Athen zu der Zeit, als
Zenon, von Kleanthes unterstützt, die Stoa leitet, Poseidipp aber
nicht ganz jung, nicht jiaTg, des ylvxvnixQog "Egcog wegen, also
sei etwa 282 — 270 als Abfassungszeit des Gedichts anzunehmen.
1) ?7 Schott, was nicht mehr zulässig ist, vgl. unten S. 439. Auch
Pohlenz und Geffcken egalisiren nicht.
HEIMAT DES EPIGRAMMATIKERS POSEIDIPPOS 435
Wenn man eine Elegie in dieser Weise biographisch-chronologisch
verwertete, würde man heute wohl allenthalben auf starken Wider-
spruch stoßen. Sollte dies Trink- und Liebesepigramm wirklich
subjektiv aufgefaßt und biographisch wörtlich genommen werden
dürfen? Gerhard, Phoinix von Kolophon S, 103f. und 238 f. tut
es noch ebenso wie Knaack und Schott (offenbar ohne den letzteren
zu kennen) und identificirt den von Phoinix angeredeten TIooEidui-
Tiog mit dem Epigrammatiker — was Pohlenz, XdoiTEg für Leo
S. 95 ablehnt. Da ist es entschieden ein Fortschritt, wenn Poh-
lenz a. a. 0. S. 93 jener älteren Auffassung des Poseidipp-Epigramms
gegenüber feststellt: „Daß hier nicht der Student improvisirt, der
den ganzen Vormittag studirt hat, zeigt schon die Anrede an die
attische Flasche, die ihn offenbar in der Heimat an die attische
Studienzeit erinnert. Es soll vielmehr eine ausdrückliche
Absage an die Philosophie sein"^). Pohlenz gibt also die
Studentenpoesie preis, behält aber den attischen Studienaufenthalt
bei. Aber auch da noch kann man fragen: muß ein Epigramma-
tiker, um die stoische Modephilosophie und den cpihjdovog ßiog bei
Wein und Liebe wirksam zu contrastiren, gerade Student bei den
zwei Vertretern dieser Philosophie gewesen sein, die er anführt,
um daraus eine lebendige, aktuelle Pointe zu gewinnen ? In Wirk-
lichkeit gibt, meine ich, dies Epigramm nur einen chronologischen
Anhaltspunkt: während oder nach der Zeit des gemeinsamen Schol-
archates ist es gedichtet, aber über Poseidipp selbst gewährt es
keinen sicheren biographischen Aufschluß, beweist weder, daß er
damals dort Student war, noch gar, daß er es als Student dort
verfaßt hatte. Mit anderen Worten: es ist für die poetische Chro-
nologie ein terminus post quem, ist aber für das Geburtsdatum
des Poseidipp nicht in der von Schott geübten Weise verwertbar.
Wir sind also nicht genötigt, möglichst nahe an 300 herunter-
zurücken, sondern haben durchaus die Möglichkeit, bis zur obersten
Grenze, die Schott angab, also bis etwa 312 hinaufzugehen 2).
1) Von mir gesperrt. Das ist, wie ich meine, durchaus das Ziel
des Epigramms. Das andere kann Einkleidung sein, rein als poetische
Situation gedacht; ob biographischer Kern darin steckt, können wir nicht
mit Gewißheit sagen.
2) Auch G. Pasquali in d. Z. XLVIII 1913 S. 207 A. 6 lehnt Knaacks
Chronologie ab : „ um 280 war Poseidippos . . . schon in Alexandrien ; er
hat dann das zephyritische Heiligtum der Aphrodite Arsinoe . . . ge-
feiert, als sie noch lebte, und zwar sehr officiell. So wird er schwer-
28*
436 0. WEINREICH
Und daß wir dazu greifen müssen, beweist ein neues Zeugnis
für den Epigrammatiker Poseidipp, das uns vor allem auch den so
erwünschten Aufschluß über seine Heimat gewährt. Es ist eine von
den bei den griechischen Ausgrabungen in Thermen gefundenen
Inschriften mit Proxeniedekreten, deren Abklatsche Rhomaios, der
Ephoros Ätoliens und jetzige Leiter der Grabungen, der epigraphi-
schen Commission der Kgl. Akademie zu Berlin in liberalster Weise
zur Verfügung gestellt hat für das in Vorbereitung befindliche Sup-
plement zu IG IX 1. Mit gütiger Erlaubnis der epigraphischen
Commission kann diese Einzelheit, die ja von allgemeinerem Inter-
esse ist, hier schon bekanntgegeben werden. Die Inschrift (im
Museum zu Thermon, Inventar Nr. 68) ist leider unvollständig, so
daß das Präskript mit der genauen Datirung durch die eponymen
Beamten des ätolischen Bundes fehlt. Aber die Zeit des Textes
ist mit ausreichender Genauigkeit durch den Schriftcharakter und
durch prosopographische Indicien zu bestimmen. Die in zwei
Columnen angeordnete Sammlung von Proxeniedekreten ist aufs
sorgfältigste auf dem Stein eingetragen. Die einfach-strengen Buch-
stabenformen zeigen noch keine Biegung der Hasten, keinerlei Ver-
dickung der Hastenenden oder gar Apices; O und ß sind kleiner
als die andern Buchstaben, A hat geraden Querstrich, X, schräge,
n noch nicht gleichlange Schenkel, und vor allem das E ist noch
vierstrichig. Dem gesamten Schriftcharakter nach ist die Inschrift
in die Zeit um 280 zu datiren.
Dazu passen die prosopographischen Indicien, die sich, da das
Präskript mit Strategen, Hipparch und Schreiber fehlt, aus den
Namen der syyvoi ergeben und zu deren näherer Bestimmung
H. Pomtow seine fördernde Hilfe geliehen hat, für die ihm auch an
dieser Stelle gedankt sei. Gleich in den ersten Zeilen von Gol. A
begegnet als Bürge Agdxcov Uohevg. Er ist identisch mit dem
Hipparchen Aodxojv no?uEvg, den eine ebenfalls noch unedirte In-
schrift aus Thermon (Inv. Nr. 32) bietet, die der Schrift nach etwa
der gleichen Zeit angehört, vielleicht etwas jünger ist. Da wird
neben Aq6.xcov der Bularch Ävxeag genannt, den Pomtow mit dem
Hieromnemon des Jahres 269 (Syll.^ 422) identificirt. Ferner ist
unser Aqolxojv aller Wahrscheinlichkeit nach identisch mit dem Vater
lieh um 270 oder später, d. h. in der Zeit, als Zenon ein Greis war und
Kleanthes schon berühmt sein konnte, noch in seiner Studienzeit ge-
standen haben."
HEIMAT DES EPIGRAMMATIKERS POSEIDIPPOS 437
Agdxwv in dem schönen Epigramm, das Soteriades im AeXriov
dg-/. I 1915 Nr. 35 publicirl und abgebildet hat. Einige Versehen
können auf Grund des von Rhomaios gesandten Abklatsches (Ther-
men Inv. 33) verbessert werden. Die Schrift ist etwas älter als die
unserer Proxeniedekrete und könnte nach Hiller von Gaertringen zu
einer Ansetzung um 285 wohl passen. In AQnxcov haben wir
endlich noch den Grofsvater des im Jahr 194 bezeugten Agdpccov
UoXievg (Syll.3 598 D 12) zu erblicken.
Dann erscheint als eyyvog ein Nixavögog Tgixovevg, das ist
der mir auch aus andern, noch unveröfi'entlichten Thermoninschriften
bekannte Großvater des nachmaligen Strategen Nikander {Bitrov
Tqii. a. 190; 184; 177). Weiterhin begegnet NeojiroXsjuog Nav-
jidxTiog als Bürge, in ihm erkannte Pomtow den NeonröXe/uog
0VOXOV Ätxoilog, der 274 eine Statue erhält und der 266 in
Delphi ätolischer Hieromnemon ist (Syll.^ 424 G. 411. 412). Den
Sohn dieses NeojiroXejuog NavTidxxiog, der gleich seinem Groß-
vater 0voxog heißt, lehren uns die neuen Texte als Strategen
kennen. Wichtig ist — um von andern Judicien zu schweigen —
vor allem noch der mehrmals genannte eyyvog Tgi/äg 'Eoizdv, in
dem wir den Hieromnemon von 273/2 und 272 zu erkennen haben
(Syll.' 417. 418). Zxonag Tgixovevg, der auch als eyyvog hier
vorkommt, ist also wieder der Großvater des gleichnamigen Stra-
tegen, dessen erste Strategie 220 fällt.
In dieser Inschrift nun, die also durch ihren Schriftcharakter
wie durch die prosopographischen Indicien auf die Zeit um 280 fest-
zulegen ist, erscheint unter den ätolischen jigö^evoi in Gol. A 23 f.:
UooeidiJiJiojt roji eTiiyQajUjiiaroTioiöji IleXXaioii,
evyvog KXeoxQdrrjg 'HgaxXecorag.
Die unterstrichenen Buchstaben werden durch die Abschrift von
Rhomaios bestätigt, der die Inschrift aber nur zum kleinen Teil und
provisorisch abgeschrieben hatte und vieles nicht mitteilt, was auf
dem Abklatsch noch deuthch zu erkennen ist. Die ersten zwei
Buchstaben des Namens bestätigt auch Hiller von Gaertringen am
Abklatsch, oeidm kann ich bei gutem Licht so bestimmt erkennen,
daß ich es nicht einmal für nötig halten würde, Punkte darunter
zu setzen. Und um etwaigen Versuchen, einen andern Namen zu
vermuten und FlO zu Anfang anders zu deuten, den Boden zu ent-
ziehen, muß ich bemerken, daß die vorhergehende Zeile mit evyvog
438 0. WEINREICH
IIoXvdcoQqq "Hgay-Aecorag schließt. Silbentrennung ist in der
ganzen Inschrift vermieden, jede Zeile beginnt mit einem vollen
Namen. Selbst wenn ich nicht zwischen IIo- und dem absolut
sicheren Schluß die Buchstaben oeidiTz auf dem Abklatsch läse,
müßte man den Anfang und das Ende, da Raum dazwischen für
7 Zeichen ist, zu IJooeidiJiJicoi ergänzen. An dem Namen ist ein
Zweifel nicht möglich ; es erhält ein emyQajuuaroTioiog Poseidippos
die Proxenie von den Ätolern. Ganz singulär ist nun, daß dieser
Mann nicht wie sonst bei den jigöievot durch Patronymikon und
Ethnikon bezeichnet wird, sondern allein durch eine Berufsbezeich-
nung und das Ethnikon. Mir ist aus all den zahlreichen ätolischen
Proxeniedekreten keine Analogie dazu bekannt, und auf der großen
Stele 68 haben sonst alle ngö^evot die übliche Bestimmung durch
Vatersnamen und Heimatsangabe. Wenn man hier eine Ausnahme
machte, konnte der Grund nur der sein, daß man sicher war,
diesen Mann dadurch eindeutiger zu bezeichnen, als wenn man ihn
Sohn des N. N. genannt hätte. Um diese Zeit kennen wir zwei
Dichter des Namens Poseidipp, den Komiker und den Epigramma-
tiker. Ersterer ist ausgeschlossen, der ejiiyQajujuarojioiog gemeint.
Hätte es nun — den Fall einmal gesetzt — außer dem bekannten,
um diese Zeit lebenden Epigrammatiker Poseidipp noch einen
zweiten Epigrammendichter dieses Namens gegeben, so würde das
Patronymikon als unterscheidendes Merkmal notwendig gewesen
sein. Es fehlt, also steht die Identität des hier geehrten mit dem
uns bekannten fest — und gerade dieser wird ja auch in der lite-
rarischen Überlieferung zum Unterschied vom Komüdiendichter als
iTiiyQa^iifiaxoyodcfog bezeichnet (Schol. Apoll. Rhod. I 1290, Schott
S. 106), so wie hier als EJiiyQajufiaroTioiög. Wir lernen nun aus
dem neuen Testimonium, daß er aus Pella stammt. Damit sind
Knaacks wie Schotts unzureichende Combinationen — unzureichend,
weil eben unser bisheriges Material zu wenig Grundlagen bot —
erledigt.
Die Heimat ist sichergestellt. Was ergibt sich aber noch für
die Frage der Geburtszeit? Wenn Poseidipp um 280 vom ätoli-
schen Bund die Proxenie erhält, war er gewiß nicht ein 20jähriger
Student. Denn er hat sie doch wohl auf Grund seiner dichterischen
Leistungen erhalten, darauf führt eben die Tatsache, daß man statt
des Patronymikons die Bezeichnung eTnyQaju/biazoJioiög wählt, und
diese kann man ihm nur geben, wenn er sich durch Epigramme
HEIMAT DES EPIGRAMMATIKERS POSEIDIPPOS 439
schon einen Namen gemacht hat. Die Vermutung Hegt nahe, dafs
er solche für den ätohschen Bund gedichtet hat — etwa Grab- oder
Weihepigramme für hervorragende Männer des Bundes, Steinepi-
gramme für historische Persönhchkeiten dieser Zeit. Dafür ehrt
man ihn durch Verleihung der Proxenie, so wie Ende dieses Jahr-
hunderts dem Nikander als ejiecov jiou]Täi, doch wohl für seine
Ahcohxd und jisgl xq'>]oz}]Q(cov tkIvtwv, in Delphi, das ja damals
dem ätolischen Bund unterstand, die Proxenie gegeben wird und
er, von Herkunft Kolocpcoviog, also mit Recht auch als AhoXog
in der Überlieferung bezeichnet werden konnte (vgl. Pomtow in der
Syll.^ 452). Durch die neue Inschrift sind wir demnach auch ge-
nötigt, mit dem Geburtsdatum des Poseidipp bis mindestens 312
hinaufzugehen.
Ein weiteres Ergebnis bezieht sich endlich auf den Dialekt der
Poseidippepigramme. Schott hatte das Schwanken in der Über-
lieferung, die meist u, aber auch fj bot, dadurch beseitigt (vgl.
S. 112), daß er überall i) herstellte. Das geht nun nicht mehr
an; \')Mog 17, 3 und d stützen sich, die dorischen Artikel werden
nicht mehr librarorium libidini zuzuschreiben, sondern Posei-
dipps Beziehungen zu Nordwestgriechenland, wo ä und i] neben-
einander vorkommen, zu verdanken sein. Daß er Epigramme im
Dialekt Atoliens geschrieben hat und daß neue Epigramme Posei-
dipps aus den Inschriften dieser Gegend, die den ersten Decennien
des 3. Jahrhunderts angehören, zu gewinnen sind, wird Pomtow
demnächst versuchen nachzuweisen.
Heidelberg. OTTO WEINREICH.
DIE ÄLTESTE DEFINITION DER RHETORIK.
Im Verlaufe seiner Untersuchung über das Wesen der Rhetorik
wird der Sokrates des platonischen Gorgias darauf geführt, diese
TExvr] als die jisi&ovg drjjuiovQyög zu definiren (453 A). Das
ist ein ungezwungenes Ergebnis des bisher geführten Gespräches.
Sokrates sucht nach der di/ferenfia specifica, durch die sich die
Rhetorik aus der großen Schar von jeyvai abhebt, cov Jiäoa fj
jigä^tg Hoi ro xvQog did Xöyoiv eoti (450 D). Erst nach langem
Hin und Her ist es ihm gelungen, den philosophisch völlig unge-
bildeten Gorgias endlich dahin zu bringen, daß er das xÜQog der
Rhetorik als das Tiel^eiv bezeichnet (452 E). Beachtenswert ist
aber, daß nicht Gorgias selbst, sondern Sokrates die Consequenz
aus dieser Feststellung zieht und die genannte Definition aufstellt.
Gorgias erklärt sich nur im allgemeinen mit ihr einverstanden, denn
auf die Frage des Sokrates: ?j s'x^ig ti keyeiv im nXeov zi]v qyj-
TOQiH}]v dvvao&at Tj nei^o) roTg aaovovoiv ev t^ W^XÜ ^oieTv;
antwortet er in seiner gönnerhaften Art: ovöa/icbg, d> ZcbxQaxsg,
aXXd juoi doxeig ixavojg oQiC^o'&ai' eon ydg xovzo ro xsq)dkaiov
avrfjg (453 A). Dieser Sophist ist eben weder selbst imstande,
einen ogog aufzustellen, noch einen solchen, falls er von einem
andern begründet wird, in seiner ganzen Tragweite zu würdigen.
Deshalb ist die Vermutung, Piaton citire an unserer Stelle die Defi-
nition des Gorgias selbst, von vornherein abzuweisen. Ein so
später Autor wie Doxapatres, der dies behauptet (II 104, 18 W.),
hat sicher aus dem platonischen Gorgias geschöpft. Aber er hat
den Dialog schlecht gelesen, und das gleiche gilt von den Neuern,
die denselben Schluß wie er gezogen oder gar seine Weisheit für
Überlieferung genommen haben.
Nach einem andern antiken Zeugnis soll die Definition auf die
Begründer der sicihschen rexvrj, auf Korax und Tisias, zurückgehen.
So berichtet der anonyme Verfasser der Prolegomena in Herm.o-
genem (IV 19, 19 W.). Auf welcher Quelle seine Angabe beruht.
DIE ÄLTESTE DEFINITION DER RHETORIK 441
wissen wir nicht. M()glicli ist aber auch, dafs er oder sein Ge-
währsmann gleichfalls nur eine Vermutung auf Grund jener Piaton-
stelle äußert; eine derartige Schlußfolgerung wäre zwar recht kühn,
aber gewiß nicht undenkbar. Die Eigenart des Ausdrucks nei&ovg
drjjiuovQyog für eine leblose Teyvi] hebt ihn ja bei Piaton aus seiner
rein dialektischen Umgebung so deutlich heraus, daß man leicht an
ein Citat denken konnte. War man aber einmal auf diesem Wege
und mußte Gorgias aus den oben genannten Gründen als Vater des
ÖQog ausscheiden, so blieb keine große Auswahl von Namen mehr,
auf die man raten konnte. Und was lag da näher, als diese primi-
tivste Definition dem ältesten Handbuch der Rhetorik zuzuschreiben?
Aber nehmen wir einmal an, sie habe in Wirklichkeit in jener
sagenhaften reyvt] ihren Platz gehabt, so konnte sie nur zu Anfang,
in einer principiellen Auseinandersetzung über das Wesen der Be-
redsamkeit vorgetragen werden. Da erhebt sich aber die Frage, ob
wir derartige theoretische Erörterungen bei den äQp]yeTai der
rabuHstischen Advokatenrhetorik überhaupt voraussetzen dürfen, Sie
waren zu ihnen sicher nicht mehr befähigt als Gorgias, so sehr
auch Piaton von seinem Standpunkte aus übertreiben mag. Piaton
erhebt noch in dem später verfaßten Phaidros das Postulat, daß die
Regeln der Didaktik, vor allem die auf Einteilung und Begriffs-
bestimmung hinzielenden, bei dem — erst noch zu vollziehenden
— Aufbau der Rhetorik angewandt werden müssen, und macht der
Vulgärrhetorik zum Vorwurf, daß sie dies bisher versäumt habe.
Und in der Tat kennt weder die Sophistik und erst recht nicht die
e/ujiEiQia KOI TQiß)'j der Gerichtsrede jene fast fanatische Sucht des
Definirens, die erst die Sokratik beherrscht hat. So zieht es ja
auch Gorgias in seiner Helena vor, anstatt einen ogog der Rhetorik
aufzustellen, die Macht des Xoyog in allen Tönen zu preisen. Und
seine Vorgänger werden sich noch weniger auf Abstraktionen ver-
legt haben als er.
Wenn man trotzdem fortfährt, jene Definition im platonischen
Gorgias nicht als ein natürliches Ergebnis des fiktiven Gesprächs,
sondern als ein mit Vorbedacht angewandtes Citat zu betrachten,
so wirkt hier die Autorität des um die Erforschung der griechischen
Rhetorik so hochverdienten Leonhard Spengel nach. Spengel (Rhein.
Mus. XVIII 1863 S. 482) hielt es für ausgemacht, daß der seltsame
Ausdruck nei'&ovg drjfxiovQyog von den Dorern ausgegangen sein
müsse. Denn d^]jLuovQy6g sei in unserm Falle nicht mit den Lateinern
442 fl- MUTSCHMANN
als opifcx (wie es u. a. Quintil.II 15,4 und Ammian.Marcell.XXX4,3
bei der Wiedergabe unserer Definition tun), sondern als „Leiterin,
Herrin, Schöpferin" zu fassen, und die metaphorische Redewendung
sei der Sprache der Sophisten durchaus angemessen. Wir besitzen
noch immer nicht die Biographie des Wortes d)]/iuovQy6g, die seiner-
zeit Paul Wendland gefordert hat, dürfen aber wohl behaupten, daß es
für eine specifisch dorische Bedeutungsnuance dieses Terminus an
Belegen fehlt, die auch Spengel nicht beigebracht hat. Was aber
die Metapher angeht, so ist sie Piaton selbst ohne weiteres zuzu-
trauen. Haben doch spätere Kritiker (vgl. z. B. negl vif>ovg c. 32 ff.)
gerade seine übertriebene Vorliebe für Metaphern getadelt. Der-
selbe Autor, der im Phaidros (261 A) die ?Myoi wie lebendige
Wesen herbeicitirt, konnte auch die tsxv)] personificiren und auf
sie die Funktionen ihres Texvixrjg übertragen. Wir dürften das ge-
trost behaupten, auch wenn uns nicht zwei weitere platonische
Parallelen zur Verfügung stünden.
Im Charmides (174E) bezeichnet Sokrates die lazQiHrj als die
vyieiag di]juiovQy6g, und im Symposion (188 D) lesen wir: xal eoxiv
av fj jiiavTixrj cpiXiag d^ewv y.al ärdgcoTicov drjfxiovQyog. An der
zeitlichen Reihenfolge Charmides — Gorgias — Symposion wird heute
wohl niemand mehr zweifeln. Will man also schon einmal eine
Abhängigkeit Piatons annehmen, so liegt es doch am nächsten, die
Definition der Medicin im Charmides als das Citat und die beiden
andern Stellen als dessen freie Nachbildungen aufzufassen. Dann
hätte Piaton nicht eine rhetorische, sondern eine medicinische tech-
nische Schrift benutzt, etwa eine jener Abhandlungen jieQi reyvtjg,
wie sie durch die theoretischen Debatten der Sophistenzeit in Masse
hervorgebracht wurden. Daß Piaton sich schon im Gorgias, der
nicht allzulange nach dem Charmides verfaßt sein kann, mit der
medicinischen Literatur wohlvertraut zeigt, hat vor kurzem Pohlenz
(Aus Piatos Werdezeit S. 135 ff.) überzeugend erwiesen. Seine Aus-
führungen erhalten durch die nunmehr festgestellte Beziehung der
Charmides- und Gorgiasstelle einen tiefern Hintergrund.
Wir können aber ferner noch verstehen, weshalb Piaton zu dem
metaphorischen Ausdruck griff, wobei es gleichgültig bleiben kann,
ob er zu ihm durch eine medicinische Schrift angeregt wurde, oder
ob er ihn selbst geprägt hat. An allen drei Stellen, an denen er
ihn anwandte, lag es ihm gar nicht daran, eine regelrechte Defi-
nition der betreffenden rexn] aufzustellen, sondern er wollte nur
DIE ÄLTESTE DEFINITION DER RHETORIK 443
deren Wirkungskreis, ihre Jigä^ig und ihr egyov, vorläufig ab-
grenzen, ohne etwas über ihren Charakter zu präjudiciren. Er
hätte es sonst kaum vermeiden können, die schwierige Frage zu
erledigen, ob jene re'pn) denn eine Ejnox'ijiurj sei oder nicht. Dieses
Motiv wird im Gorgias beim Fortgang des Dialogs besonders deut-
lich. Denn es stellt sich zum Schluß heraus, daß Gorgias irrtüm-
licherweise in der Treidco das xerpdXaiov der Rhetorik erblickt hat,
während es doch die xoXaxeta ist (463 B). Die Rhetorik ist no-
}.niy.)~jg juoQiov eldcoXov (463 D) und deshalb nicht einmal eine
re/vi], sondern nur eine Schein- und Afterkunst, eine ifuieiota y.al
XQtßri (463 B. 465 A). In Ermangelung eines Oberbegriffs, der so-
wohl die TEyvi] als auch die ejujieiQia umfaßt, hat Piaton zu dem
bildlichen Ausdruck dt]jiuovQy6g gegrifTen, den er vielleicht einem
medicinischen Schriftsteller entlehnte. Dann wäre diese Bedeutung
des Wortes aber nicht dorischen, sondern ionischen Ursprungs.
Nach dem Gesagten ist die Bezeichnung der Rhetorik als der
neid^ovg d7]/.aovQy6g nicht die älteste Definition der Redekunst, ja
vielmehr überhaupt keine Definition, sondern nur eine vorläufige
Feststellung, durch die die erste Phase der Untersuchung im plato-
nischen Gorgias folgerichtig abgeschlossen wird. Mit Korax und
Tisias hat sie gar nichts zu tun. Und es steht zu befürchten, daß
sie nicht das einzige Fragment des ersten Handbuches der grie-
chischen Rhetorik bleibt, das sich bei näherm Zusehen in Nebel
auflöst.
Königsberg i. Pr. f HERMANN MUTSCHMANN.
MISCELLEN.
DER SGHLUSS DER ODYSSEE UND APOLLONIOS VON RHODOS.
Ed. Meyer ist in d. Z. LIII 1918 S. 334 auf seine Vermutung
(in d.Z. XXIX 1894 S.478) zurückgekommen, Apollonios von Rhodos
habe im Schlußverse seines Argonautenepos den Homervers y.> 296
nachgebildet, den Aristophanes von Byzanz und Aristarch für das
Ende der Odyssee erklärt hatten. Auch v. Wilamowitz (Ihas und
Homer 12) hat sie aufgenommen, als etwas Selbstverständliches
und allgemein Anerkanntes hingestellt und die kühne Schlußfolge-
rung aus ihr gezogen, daß es damals Handschriften der Odyssee
gegeben habe, die nicht weiter reichten als bis if 296. Dadurch
gewinnt sie weittragende Bedeutung für die Überlieferungsgeschichte
Homers, und es würde mich nicht wundern, wenn sie, von zwei
solchen Gelehrten vertreten, bald 'Allgemeingut der Wissenschaft'
würde und weiteres Unheil anrichtete. So ist's Zeit, gegen sie
Verwahrung einzulegen.
Sie ist unrichtig. Aristophanes' Bemerkung ist fein und tref-
fend : die Wiedervereinigung des so lange getrennten Paares ip 296
sei ein befriedigender Abschluß des Odysseusabenteuers
äoTidoioi XexTQOio ztalaiov ^sojuöv ixovro.
Apollonios schließt sein Epos mit einer Anrede an die Argonau-
ten: 'ich bin nun am Ende eurer Mühen, denn jetzt von Aigina
ab gingt ihr ohne Gefahren bei Aulis vorbei in die Heimat
äoTiaoicog anrag Uayaoyiöag eioa7ieß}]TE.'
Stimmung, Gedanke, Form sind von der Odysseestelle grundver-
schieden. Was in aller Welt konnte jemals auch den Gelehrtesten
an tp 296 erinnern? Ich lernte die Behauptung, Apollonios ahme
diesen Vers nach, erst aus Wilamowitz' kurzer Notiz kennen : lange
habe ich ratlos vor dem Rätsel gesessen. Ebenso ging es meh-
reren Philologen von Ansehen. Wir verglichen, aber wir begriffen
nicht, daß aus dem einzigen Worte äonaoicog — äoTcdoioi solcher
Schluß gezogen werden könne. Ich behaupte, den zeitgenössischen
Lesern des Apollonios kann hier sowenig wie uns auch nur die
leiseste Erinnerung an die Odyssee und diesen Vers gekommen sein.
Hätte Apollonios die ihm untergelegte Absicht, seine Leser an ihn
zu erinnern, gehabt, so hätte er ja so leicht seinen Schluß jener
MISCELLEN 445
Odysseusslelle parallelisiren können: brauchte er doch nur mit dem
Beilager lasons und Medeias zu schhefaen^).
Aber tp 296 hat niemals am Schlüsse unserer Odyssee ge-
standen. Wer das co streicht, muß doch alle Stellen streichen, die
es vorbereiten, d. h. alle, die von Laertes als einem Lebenden und
Harrenden reden. Ihrer sind doch nicht ganz wenige und sie
ziehen sich durch das ganze Epos hin. Z. B. werden Laertes',
Penelopes, Telemachs Klagen und Sehnsucht nach Odysseus <5 111
ebenso zusammengefaßt wie ^ 173, und wie selbstverständlich wird
er n 302 neben Penelope genannt, an ihn will sie sich in ihrer
Sorge um Telemach wenden ö 738, seine einsame Trauer schil-
dert Eumaios o 353 und im Hades Antikleia X 187, und da wird
das Bild von seinen Kasteiungen im Fruchtgarten fern der Stadt
entworfen, das im co ausgeführt ist. Wer so den Leser vorbereitet,
der will von Laertes etwas erzählen, der will auch ihm wie der
Penelope den Odysseus zuführen. Darüber ist man doch nie in
Zweifel gewesen. Wie aber ist dann die Athetese des Odyssee-
schlusses möglich? Sollen wir wirklich glauben, der kluge Aristo-
phanes habe diese Verbindungslinien nicht gesehen oder habe trotz-
dem sie durchschnitten? Was gibt uns das Recht, ihn für blöder
und täppischer zu halten als den Durchschnittsphilologen von heute?
Also darf man nicht glauben, daß er in ip 296 den Schluß der
Odyssee gesehen und den Rest nur als gewissenhafter Philologe
trotzdem weitergegeben und kritisch behandelt habe. Das Scholion
rovTO TsXog vijg ^Odvooelag (prjolv 'AgioxaQ^oi; xal "AQiojocpdvrjg
muß etwas anderes bedeuten. Herr Heinze hat daraufhin zuerst
die Vermutung geäußert, Aristophanes habe gesagt, die Wiederver-
einigung des Ehepaares sei das Ziel, auf das die Dichtung hin-
strebe, vom Ende des Buches sei keine Rede. Ich kann dem nur
zustimmen. Unsere Odyssee ist so, wie sie uns vorliegt, eine Ein-
1) Will man durchaus im letzten Apolloniosvers einen Anklang an
die Odyssee finden, so empfiehlt sich vielmehr xp 238 aonäoioi ö' sjießav
yalrig xaxÖTrjxa (pvyövrsg, aus dem schönen Vergleich der Freude Penelopes,
die ihren Gatten sicher im Arm hält, mit der Freude der SchiflF brüchigen,
die nach vielen Mühen und Gefahren dem Meere entrinnen. Da ist
Stimmung und Gedanke ähnlich und ein etwas stärkerer wörtlicher An-
klang. — Daß Demetrios von Phaleron, weil er mit Hermipp bei Stobäus
Flor. V 43 Hense (Bd. II p. 269) ip 296 ob seiner ococpgoavvrj bewunderte,
ihn 'offenbar als Schlußvers der Odyssee' gelesen habe, wird doch hofient-
lich niemand unterschreiben.
446 MISCELLEN
heit und will es sein, mag man auch noch so sehr den Mann
schelten, der sie so gestaltet hat. Das haben die Alten anerkannt.
Es hat sicher früher manche Odysseegeschichte gegeben, aber
unsere Odyssee, als Einheit mit Bewußtsein und sicherer Compo-
sitionskunst ins Große aufgebaut und in ihren Einzelteilen sorg-
fältig verklammert, ist niemals weder kürzer noch länger noch
sonstwie anders gewesen, als wir sie lesen, von nichtssagenden
Kleinigkeiten abgesehen.
'Ajii£vi]va. yAgrjva sind beide, die schwanzlose Odyssee so gut
wie die Apolloniosimitation von tp 296: mögen sie nicht mehr lange
im Lichte der Wissenschaft herumspuken!
Leipzig. E. BETHE.
ZU SENEGAS HERGULES.
Es scheint noch nicht beobachtet worden zu sein, daß in dem
Ghorlied 560 ff. zwei Verse umgestellt werden müssen. Jetzt lesen wir:
hie qiii rex ipoyulis plurihus imperat,
hello eum peteres Nestoream Pylon,
teeum eonseruit pestiferas manus
telum tergemina cuspide praeferens,
effugii tenui vidnere saucius
et mortis dominus pertimuit mori.
Danach würde Pluto eine Waffe mit dreifacher Spitze, also den Drei-
zack, geführt haben, der aber nicht ihm, sondern dem Poseidon eignet.
Wohl aber führt eine solche Waffe, nämlich einen Pfeil mit drei-
facher Spitze, Herakles in dem Homerischen Vorbild ^392 ff.:
jXrj <5' "Hqt], öre juiv y.Qareoög Jidig 'Ajuq)itQva)vog
deicrsQov xaid /uaCov öiozcöi rQiyXoiy^ivi
ßeßXrjxei' röte xai fxiv ävrjxeoxov }Aßev äXyog.
xXrj d' 'Aidi]g ev toXol nelcogiog (hxvv öioröv,
evre juiv covrög ävrjo, viög Aiog aiyiö^oio,
ev JJvXoiL EV vsHVEooi ßaXcov ddvvtjiaiv edcoxev.
Es ist also zu lesen:
hello eum peteres Nestoream Pylon
telum tergemina cuspide praeferens,
tecum eonseruit pestiferas manus.
Die fast gleichen Versanfänge telum, tecum haben die Verwirrung
veranlaßt.
Halle (Saale). G. ROBERT.
REGISTER.
Aera, makedonische 102 flF.
AggregatzAistände bei Lukrez 197 ff.
Akonitis, Insel 339 f.
Alexandros, S. d. Amyntas 129.
Annaeus Serenus 193 ff.
M. Annius 102 ff'.
Anthol. Pal. V 133: 434ff.
Antonius bei Philodem 381 ff.
Apollonios, Argon., Schlufsvers 334.
444 ff
Apuleius, Wundergeschichten 244 ff.
Argeios v. Keos 118 ff.
Argos, axvTa?uofi6c:, 94 ff.
Argos in Makedonien 103 f.
Athen, Vertrag mit Chalkis, 107 ff'.
Athenaios XIV 630 E ff.: 6.
Bakchylides, Lebenszeit 140ff.; Ver-
bannung 145 ff. ; Ordnung des Nach-
lasses 13!^); 'Eyy.ojftia 137 ff'.; —
(I. II): 118f.; (Vli. VIII): 119ff;
(XI II): 142 ff".; (Ox. Pap. fr. 1 an
Amyntas: 125ff.; (fr. 4 an Hieron):
130 ff; (fr. 5): 134 fl.; (fr. 12): 137.
Bündnismünzen, großgriech. 180 ff".
Caecina Paetus 83.
Chalkis, Vertrag mit Athen, 107 ff.
Christodoros IJdzQ. Kiovot. 343 f.
Clemens Alex., Xenophoncitate 105 ff.
— (Paedag. I 7, 55): 106 f.
Darai, Kastell, 342.
Ö7]/iuovQyög 440 ff.
Demokrit. u.Platon416f.,7r.^<a}'<'j;?59.
diaqpegeiv zirl „Eigentum sein": 91 ff.
Drusus Castor 217 ff'.
Elegie, ionische, 5. 298 ff
Empedokles, Einfluß auf Hippias 48 f.
iujTsigi'a u. te'^'V 411.
Epikur. Götterlehre 358 ff.
ijiiordztjc der Prytanen 314 f.
Erigonefest in Athen 152.
iodosiev 86.
Gemmen mit MNHI&H 88 fl^
y7]zsiov 170 f.
äyiazvg 152.
IV xal ravröv 370 ff.
Helvius Honoratus Pontius 221 ff.
Herniolaos, Epitomator des Steph.
Byz. 347 f.
Hippias V. Elis45ff. ; Verhältnis zu
Empedokles 48, zu Protagoras 52;
TQOiixog 49 ff.
Hippokrates, Stellung zur Philoso-
phie 40.-. ff'.; Einfluß auf Piaton
409 ff.; Textgeschichte r>7 ff. 40üff.;
.T. ägyairj? lazQ. 20. 39tjff'., Abfas-
sungszeit 420; jraQayyF.Xiai, Abfas-
sungszeit 412; XIX. Brief (.t^. ^la-
vu]?) 57 ff'. 399 ff.
iJT.-zöfiaxot 289.
Honieriden 335 f.
6'/L(oiov etJTEiv 387.
vßoig 273 ff'.
Hygin (fab.Jl): 224.
vTisQßaivsn', vn:£(),kwig bei Epikur 365.
Icherzählung 233 ff. 242 ff. 249 ff.
Inschriften, griech. : Athen (IG I
Suppl. 27a) i07ff.; Keos (IG XII
5, 60S): 113 ff-.; Delphi (Dittenb.
Syll. 13 452) 112; Lete (Dittenb.
Svll.r-318) 102ff;; Thermon436ff.;
lät. (CIL III 24): 424ff'.; (VI 9783):
211 ff (31865): 432; (VIH 24587):
432.
lulianus, Philosoph, 211 ff.
Uovaziviavai 344 f.
Keos. Siegerliste, 113 ff.
Kallimachos^rr/a,neuesFragm.ll4ff.
Kallinos 298 A. 1; (fr. 1, 17) 292;
(2) 298 A. 1; (3.4) 298 A. 3.
Kleisthenes 315 f.
Krateuas, Arzt, 81 ff.
Lachon v. Keos 118 ff.
}.7^ög für ladg 290 ff.
Lete, Ehrendekret. 102 ff:
Liparion v. Keos 123 f.
Lucilius, Freund des Seneca, 196.
Lucretius (II 444ff.): 197.
Lukian. (PLXo^<£v8eTg 2A(!){.\ Ps.-, Jou-
xiog i] "Orog 225 ff'.; Technik 260f.;
Motive der Volkserzählung 257 ff.
Lukios von Patrai 226 ff.
Lysias 'OXvfci. 220 f.
fiavca 12 S.
Mimnermos, Charakter 303 f. ; Lebens-
anschauung 278 ff.; Nanno 300 f.;
448
REGISTER
Aulet 283; Buchzahl 302 f.: Ge-
dicht auf die Schlacht mit Gyges
21)6 ff. ; ifr. 9 ) : 262 ff. ; (fr. 10) : 284 ff. ;
(fr. 14) : 287 ff.
fxvr]o&>] auf Gemmen 88 ff.
Municipalbeamte, röm., Alter 221ff.
Nikander, Lebenszeit 110 ff.; Hymnos
auf Attalos Ulf.
Odyssee, urspr. Schluß, 384. 444 ff.
'Oqsoteioc yÖE? 151.
Orestis, Landschaft, 103 f.
Ovid, Rahmen und Verknüpfung
174 ff.; (Met. VI 313 ff.): 236 ff.
Paetus Caecina 83.
Papyri Hercul. Demetr. Lakon (1055)
379, s. auch Philodem ; Amh. (II 64) :
426 A.5. 428ff. Oxyr. (II 237): 43L
(XI 1362): 125 ff.
Paulinus, praefectus annonae, 188.
Pausanias, spart. König, über Ly-
kurg 8 A. 1. ^
Tieidovg dt]/j.iovQy6g 440 ff.
Peleus, Tod auf Ikos, 168 f.
m~]f(n in der Orakelsprache 275 f.
Petrou, Wundererzählungen, 243 f.
Petros, byzant. Historiker, 340 f.
Philodem, Abfassungszeit v. Jt. &ewv
382ff. — .T. svaeß. (80 p.UO): 375. |
(83 p. 113): 377 f. (118 p. 134): 1
361. (122. 123 p. 137 f.): 378; n.
^Ewv (4): 384. (2.5): 381 ff.; -t. ^ecbv
dycoyfjg (Col. III): 385. (IV): 385 f.
(V. VI): 386. (VIII): 364 f. 386.
(IX): 387. (Xff.): 366 ff'. 379 ff 387.
(fr. 1): 381. (fr. 4): 385 f. (5. 6. 8):
386. (9. 10): 387. (78): 387 f. (81):
388. (82): 384 f. 388 f. (83): 385.
389. (84): 389. (86 a. 87): 38-5. (102):
389. (103): 390. (105): 390 f. (116):
391. (117): .391f. (119): 392. (121.
122): 393. (123): 393 f. (124): 394.
(125): -394 f.
Phlegon Mirab. 247 f.
q;voig, verschiedene Bedeutung bei
den Philosophen 377.
Pindar (Nem. II 1 ff'.): 330f. (fr. 124) :
128 f.
Piso, Cäsars Schwiegervater, 382 f.
Piaton, Verhältnis zu Demokrit 417 f. ;
zu Hippokrates 409 ff. — (Charmid.
174 E): 442. (Gorg. 4.53 A): 440ff.
(465 A): 410f. (Hipp. mai. 281 C):
54. (304 A B):51ff.(Leg.IV.720ff):
409. (1X857 D): 409 f. (888 D): 415 f.
(889 C): 416. (Lys. 214 B): 47.
(Phaedr. 270 0): 405. (Protag.
337 D): 47. (Sympos. 188 D): 442.
Pollis bei Kallimachos 150 f. 173 f.
Pontios V. Curubis 221 ff.
Poseidippos d. Epigrammatiker, Hei-
mat u. Lebenszeit 434 ff.
Properz, Nachahmer des Mimnermos
3U4f.; Verknüpfung 177 f.
Ptolemaios, Commentator des Bak-
chylides 124 f.
Pythagoreer, ihre Katastrophe 185 ff.
Rhapsoden 330 ff.
Rhetorik, Definition 440 ff.
ov&uög 325 ff.
Seneca, Abfassungszeit von Dial. 2. 8.
9: 193 ff.; von 10: 188 ff. (Herc.
560 ff.): 446.
Sisenna, Milesiaca 253 f.
oy.vTahauog in Arges 94 ff.
Smyrna, Verhältnis zu Ephesos,263f.
Solon, von Lysias citirt, 220f.
oöjua ,das Wirkliche'' 46.
Stephanos v. Bvzanz, Lebensstellung
338 f.; Abfassungszeit d. Ethnika
337 ff. (v. 'Aöo.): 349 ff. C^ßYog):
103. [Baß.): 351 ff. {Aovg): 355 f.
(Savoou.): 351. {Svy.ai): 344 f. {Ta-
uia&ig): 345 ff (WvUa): 356 f.
Strabon (XIV 633): 262 ff 284.
Suidas (v. 'Eo/nö/.aog) 347 ff.
Ser. Sulpicius Similis 422 ff.
Sybaris 180 ff.
rsyv)) U. £jii::zEiQca 411.
OEov.-io?ug — Antiocheia 342 f.
Themistokles , Parteistellung 308ff.
Tlesimenes, S. d. Parthenopaios 224.
Turraoius, praefectus annonae, 187 ff.
Tyrtaios Iff.; Name 4 A.2. 43 f.; Au-
let 283 A. 1. - (fr. 5): 286. (10 A):
I2ff (lOB. 11): 19ff (12): 31ff.
Xenophon Kvvtjysnxog 317 ff. ; Citate
bei Clem. Alex. 105 ff.
Zwiebel, kathartisch, 170f.
"Weimar. — Hof- Buchdruckerei.
0
jK'MJ
PA Hermes
3
H5
Bd. 53
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